Cover Image

Marlene Faro

Blutiger Klee

Roman

Ausgewählt von Claudia Senghaas

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

 

 

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Nailia Schwarz - Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-3896-7

 

 

 

 

Für Heinz

 

 

 

 

Lass dich nicht vom Bösen überwinden

Römer 12, 21

 

Endlich bog der Bus auf den großen Parkplatz am Ortsende ein. Anna stand auf und angelte nach ihrer Reisetasche, den Frauen in der Bank hinter ihr gönnte sie keinen Blick. Die hatten ununterbrochen gequasselt und sich in schauerlichsten Vermutungen über den Tod vom ›Herrn Baron‹ ergangen, sie hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Aber das hatte sie dann doch schön bleiben lassen, denn das wäre bestimmt aufgefallen. Und Auffallen war das Allerletzte, was sie jetzt brauchen konnte. Hoffentlich kamen ihr auf dem Weg zum Haus von der Tante Kathi keine Bekannten entgegen, das würde sie jetzt einfach nicht ertragen. Sie stieg aus, hinter zwei Burschen, die ihre Baseballkappen verkehrt herum aufgesetzt hatten, in London oder Berlin trug man das bestimmt nicht mehr so. Aber Modetrends kamen eben immer mit mindestens einem Lichtjahr Verspätung am See an, Internet hin oder her.

Sie umrundete vorsichtig den Bus und spähte die Straße in den Ort hinunter, dann ging sie erst zögernd, dann immer schneller an den Zäunen vorbei, die die Anwesen bewachten. Die Tante Kathi hatte keinen Zaun vor dem Haus, sondern nur ein paar Büsche, die den Staub der Straße von den Kletterrosen und dem Lavendel abhalten sollten. Das eigentliche Bauerngartl befand sich hinter dem Haus, dort zog die Tante Kathi Erdäpfel und Zucchini, Rosmarin und Salbei und Thymian. Den Thymian hatte Anna in ihrer Kindheit immer als Tee gegen ihren hartnäckigen Husten trinken müssen, das war vielleicht ein Drama gewesen! Anna merkte, dass sich ihre Mundwinkel um Haaresbreite anhoben. So ging es ihr immer, wenn sie zu ihrer Tante kam, mit Husten oder Liebeskummer oder Weltschmerz, was ja oft dasselbe war. Eine Biegung noch, dann würde das kleine Haus auftauchen, ein ›Bauernsachl‹, wie die Immobilienhändler aus der Stadt solche alten Anwesen nannten. In regelmäßigen Abständen sahen Männer in schicken Klamotten bei der Tante Kathi vorbei und schmückten ihr in leuchtenden Farben ein Leben in der ›Seniorenresidenz‹ aus, ›Altersheim‹ sagte ja kein Mensch mehr. Reiche Deutsche wären bereit, geradezu Fantasiepreise für das kleine, nun ja, doch etwas renovierungsbedürftige Häuschen zu bezahlen, ›aber nicht zu lange zuwarten, Frau Luggauer, Sie wissen ja, die Weltwirtschaftslage schaut nicht allzu rosig aus!‹ Am Anfang hatte die Tante Kathi, gastfreundlich wie sie war, die Herren Makler noch ins Haus gebeten und ihnen sogar Kaffee und Schmalzringe serviert. Aber mit der Zeit hatte sie dazugelernt, jetzt kam ihr keiner mehr über die Schwelle, nur die pompösen Visitenkarten nahm sie jedes Mal entgegen, um sich lange Diskussionen zu ersparen. ›Jaja, ich überleg’s mir und ruf zurück.‹ Anschließend wurden die Visitenkarten im Küchenherd verbrannt.

Anna bog um die Ecke und bremste jäh ab. Vor dem Haus stand ein Paar, der junge Mann hielt das armlange Objektiv seiner Kamera auf die Haustür von der Tante Kathi gerichtet und klickte wie wild, die Frau, die um einiges älter war, kritzelte in ein College-Heft. Anna wäre am liebsten auf die beiden losgestürmt und hätte sie angespuckt, diese Schmeißfliegen. Oder sich umdrehen und davonlaufen, einfach weg von dem ganzen Schlamassel und dem Schrecken, und ein Last-Minute-Angebot nach Ibiza buchen, dort hatte sie noch immer Freunde. Aber natürlich gab es noch eine dritte Möglichkeit, die einzig anständige. Sie holte tief Luft und nahm die Schultern zurück, dann ging sie möglichst gelassen auf den Fotografen und die Journalistin zu. »Was tun Sie hier?«, fragte sie, Anna merkte selbst, wie zittrig und aufgebracht ihre Stimme klang.

Die beiden drehten sich zu ihr um, einen Moment lang verblüfft und verunsichert, dann ganz offensichtlich begeistert. Der junge Mann stellte sein Objektiv auf Anna ein, die Frau lächelte gewinnend. »Wir sind vom Wochenmagazin und machen eine Reportage.«

Sie machte eine ausladende Handbewegung: »Wie gehen die Bewohner dieses Ortes mit dem Schock um, welche Hintergründe haben zu dieser Tat geführt, was sagen die Betroffenen? Es soll eine absolut seriöse Darstellung werden. Natürlich würden wir ganz besonderen Wert auf die Eindrücke von Frau Luggauer legen, die das Opfer ja gefunden hat. Leider war sie bisher noch nicht bereit, mit uns zu sprechen. Sind Sie vielleicht eine Angehörige? Meinen Sie, dass es möglich wäre, Frau Luggauer einen ganz kurzen Besuch abzustatten? Ich garantiere Ihnen, dass wir …«

»Hauen Sie ab«, krächzte Anna, sie zitterte jetzt wirklich am ganzen Körper. »Verschwinden Sie und lassen Sie meine Tante in Ruhe! Oder ich rufe die Polizei!«

Der Fotograf klickte auf ihr wütendes Gesicht, sie hielt abwehrend den abgewinkelten Unterarm vor das Objektiv, am liebsten hätte sie ihm das monströse Ding aus der Hand geschlagen. Die Frau lächelte nicht mehr. »Diese aggressive Reaktion finde ich absolut übertrieben. Ich wollte Ihnen nur ein paar Fragen stellen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Information, ganz besonders in diesem Fall, in dem es höchstwahrscheinlich sogar politische Hintergründe gibt.«

Anna ließ sie einfach stehen und ging auf die Büsche zu, dabei rammte sie ihre Reisetasche dem Fotografen gegen das Schienbein, der grinste bloß, wahrscheinlich waren ihm solche Szenen nichts Neues. Sie wollte gerade ihren Schlüssel aus der Tasche holen, verdammt, wo steckte der bloß wieder, sie musste endlich einmal das Durcheinander aus Taschentüchern und Lippenpflegestiften und sauren Drops aufräumen, da öffnete sich die Tür einen Spalt breit.

»Komm g’schwind herein«, sagte ihre Tante und zog sie am Ärmel, dann fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Anna stand da und hätte am liebsten geheult, sie hätte sich dafür ohrfeigen können. Da war sie extra gekommen, um die Tante Kathi zu trösten und ihr beizustehen, und jetzt ließ sie sich in die Arme nehmen und tätscheln wie ein kleines Kind. Endlich löste sie sich aus der Umarmung. Ihre Tante stand da, klein und kompakt und so unerschütterlich wie immer. Anna deutete mit dem Kopf nach draußen. »Sind die schon lange da?«

Die Tante Kathi schüttelte den Kopf. »Ich schau schon gar nicht mehr raus. Ständig klingelt irgendwer, am Anfang hab ich noch die Tür aufgemacht, aber jetzt hab ich alle Vorhänge zugezogen und einen Polster auf das Telefon gelegt. Zum Glück hab ich ja gewusst, mit welchem Bus du kommst. Und zum Essen hab ich auch genug im Haus.«

Anna musste lachen, endlich. Die Vorratskammer von der Tanti Kathi reichte aus, um einen Atomkrieg zu überstehen, falls man das überhaupt wollte. Jedes Restl wurde von ihr noch verwertet, und im Keller standen die Marmeladen und Kompotte, fein säuberlich beschriftet. Sie fühlte sich plötzlich unendlich müde und geborgen zugleich. So war das immer gewesen, wenn sie zu ihrer Tante kam, schon als Kind, wenn ihre Mutter wieder einmal mit einem neuen Freund ein neues Leben begonnen hatte. Die Tante Kathi war dann für sie da gewesen, hatte sie bekocht und getröstet, nie viele Worte gemacht, aber ihr Apfelkompott war gegen Bauchschmerzen und Schnupfen hilfreicher gewesen als jede Medizin. Anna legte den Arm um die kleine Frau, und gemeinsam gingen sie in die Stube. Auf dem Tisch in der Fensterecke zum Garten war schon fürs Mittagessen gedeckt, mit den tiefen Suppentellern und dem Fliegenpilz aus Porzellan, der in Wirklichkeit ein Salzstreuer war.

»Jetzt setz dich einmal nieder und ruh dich aus«, sagte die Tante Kathi. »Ich bin gleich wieder bei dir.«

Sie goss ein Glas mit Apfelsaft voll und stellte es vor Anna hin und sah der Nichte zu, wie die es mit tiefen Schlucken leer trank. Dann ging sie in die Küche hinaus. Anna blieb zurück und lauschte dem Klappern von Topfdeckeln, der Duft von Rosmarin schlängelte sich zur Tür herein. Als Kind war ihr die Stube immer wie die Höhle aus einem Märchen erschienen, so warm und gemütlich. Die dunklen Deckenbalken ließen sie noch niederer scheinen, auf dem Boden lagen bunte Flickenteppiche, in der Vitrine stand das schöne Geschirr für die Feiertage. Und die Zierkissen auf der Holzbank waren noch immer da, fein säuberlich aufgereiht, gehäkelt und gestrickt und mit gestickten Borten verziert. ›Du herzigs Dirndl, du bist mei Seligkeit in alle Ewigkeit‹ stand in winzigkleinem Kreuzstich auf Annas Lieblingskissen, darauf hatte sie ihren Kopf gelegt und dem Wind gelauscht, der im Herbst das Laub durch den Garten trudeln ließ. Und wenn selbst die warmen Pullover nicht mehr gegen das Frösteln halfen, dann hatte die Tante Kathi zum ersten Mal eingeheizt, das war immer ein richtiges Fest gewesen. Die Holzscheite aus dem Schuppen holen und den alten Ofen mit Zeitungspapier vorwärmen, und endlich hatte es geprasselt, mit roten Backen waren sie vor dem glühenden Ungeheuer gesessen und hatten sich Geschichten erzählt. Der Tante Kathi hatte man einfach alles sagen und sich jeden Kummer von der Seele reden können. Bei ihr war ein Geheimnis gut aufgehoben.

Ein Glas klirrte in der Küche, Anna schreckte aus ihren Träumereien hoch. Da saß sie wieder in der Gegenwart und fühlte den Zorn zurückkommen. Irgendwie war alles beschmutzt, seitdem … seit ihre Tante in diese ganze unglückselige Geschichte verwickelt war. Es kam Anna noch immer wie ein böser Traum vor. Ausgerechnet der alte Gleinegg. Der Vater vom Raffi. Und die Tante Kathi hatte ihn finden müssen. Das war einfach …

Ihre Tante kam zur Tür herein und trug einen dampfenden Topf, Anna sprang auf, um ihr zu helfen. Erdäpfelsuppe mit Schwammerln, ihr Lieblingsgericht. Die Tante schöpfte die Teller voll, dann tauchten sie den ersten Löffel ein, Anna schnurrte vor Wohlbehagen beim Schlucken.

»Ich weiß, es ist noch früh fürs Mittagessen«, sagte die Tante Kathi. »Aber ich kenn dich doch, du hast bestimmt nichts im Magen. Und eine Suppe kann man immer vertragen. Stimmt’s?«

Anna nickte und lächelte. Sie griff nach der Hand ihrer Tante. »Wie geht’s dir denn?«

»Du weißt ja, Unkraut verdirbt nicht«, sagte ihre Tante.

Aber Anna konnte sich nicht erinnern, dass die Hand, die sie gerade hielt, jemals so kalt gewesen war. Ob die Tante Kathi überhaupt geschlafen hatte in dieser Nacht? Was für ein entsetzliches Gefühl musste das gewesen sein, so ganz allein da oben vor der Kapelle, mit dem Toten auf der Bank. Den sie alle gekannt hatten. Den sie alle verabscheut hatten. Anna konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass irgendwer um ihn trauern würde.

»Um den Gleinegg ist’s jedenfalls nicht schad’«, sagte Anna.

»So ein Ende hat sich keiner verdient«, sagte ihre Tante heftig. »Auch der Gleinegg nicht.«

Sie aßen schweigend weiter. Sogar meine Lieblingssuppe verdirbt er mir, dachte Anna. Ich werde nie wieder Schwammerlsuppe essen können, ohne an den Gleinegg zu denken. Danke, Herr Baron. Endlich war ihr Teller leer. Die Tante Kathi sah sie fragend an, aber Anna schüttelte den Kopf.

»Ich kann nicht mehr.«

Dann wagte sie einen neuen Versuch.

»War es … ist es sehr schlimm gewesen für dich?«

Ihre Tante stapelte die Teller aufeinander. Schließlich nickte sie, langsam.

»Schon. Ich hab geglaubt, mir bleibt das Herz stehen. Zuerst war da der Geruch, du weißt ja, ich riech einfach alles, auch aus der Entfernung. Und dann die Fliegen, die sind schon überall auf ihm draufgesessen. Unter der Bank war der Klee ganz blutig, du weißt schon, die lila Blüten, die die Hummeln so gerne haben. Komisch, was man sich merkt von so einem Schrecken. Ich weiß gar nicht mehr, wie lange ich dagestanden bin. Meine Knie haben so gezittert. Dann bin ich runter zur Loibner Hanni, zum Glück war die zu Hause. Zuerst hat sie gar nicht glauben wollen, was ich ihr gesagt hab, die hat mich nur angeschaut, als ob ich nicht richtig wär im Kopf. Aber dann hat sie den Krinzinger angerufen. Und dann waren alle sehr nett zu mir.«

Anna streckte die Hand aus und streichelte den Rücken der alten Frau.

»Bist du auch … verhört worden?«

Ihre Tante nickte.

»Aber der war sehr freundlich, der Herr Chefinspektor. Der wollte mich anschließend sogar nach Hause bringen. Aber ich bin noch bei der Hanni geblieben, und wir haben einen Schnaps getrunken, obwohl es so heiß war. Aber den haben wir brauchen können.«

Sie saßen da und hielten sich wieder an den Händen, langsam schien die Wärme in die Finger der alten Frau zurückzukehren. Was glaubst du, wer das getan hat? Diese Frage brannte Anna auf der Zunge, aber sie wagte es nicht, sie auszusprechen. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als ob dann die Geborgenheit dieser Stube, ihrer Kinderstube, für immer beschmutzt wäre.

 

*

 

Sie hatten Würstel mit Kren und Senf gegessen und ein kleines Bier dazu getrunken. Man hatte sie mit größter Höflichkeit bedient, natürlich wusste jeder im Lokal, wer sie waren und weshalb sie hier waren. Immer wieder hatte ein neugieriges Gesicht zu ihnen herübergespäht, der Oberkellner und schließlich sogar der Hotelchef waren an ihrem Tisch erschienen und hatten nachgefragt, ob auch alles zu ihrer Zufriedenheit sei. Pestallozzi hatte sich freundlich bedankt und die Rechnung für sie beide beglichen. Nun standen sie auf, und Leo wollte schon über die Stufen der Terrasse hinab, aber der Chef hielt ihn mit einer Kopfbewegung zurück.

»Hier in der Küche hat doch die Kathi Luggauer ausgeholfen. Schauen wir einmal kurz hinein.«

Leo nickte ergeben, der Chef hatte eben manchmal so komische Eingebungen. Sie gingen durch den langen Gang, vorbei an der Rezeption und den Toiletten bis zu einer breiten Schwingtür im hinteren Teil vom ›Kaiserpark‹. Kellner blickten ihnen neugierig nach, aber keiner wagte sie anzusprechen oder aufzuhalten. Pestallozzi trat durch die Tür, und Leo folgte ihm. Die Hitze schlug ihnen entgegen wie eine Wand, obwohl alle Fenster gekippt waren und ein riesiger Ventilator an der Decke kreiste. Zwei Frauen mit weißen Schürzen beluden gerade einen Geschirrspüler, ein Lehrling schleppte Stapel von schmutzigen Tellern heran. Auf einem Tisch in der Mitte wurde gerade ein blutiger Klumpen Fleisch zerteilt, der wie eine riesige Leber aussah, Leo musste heftig schlucken. Geröstete Leber mit Zwiebeln und Majoran hatte er schon als Kind gehasst, aber seine Mutter hatte ihn immer wieder damit gepestet. Damit du groß und stark wirst, so ein Schwachsinn! Leo suchte Zuflucht bei einem der gekippten Fenster und holte tief Luft. Was für eine Blamage, wenn er hier mitten in der Küche wegen ein bisschen Blut auf dem Hackbrett umkippen würde, zum Glück schien der Chef nichts bemerkt zu haben. Der sah sich nur gelassen im Raum um, ein bulliger Mann mit Kochmütze stand mit dem Rücken zu ihnen und schien gerade den Lehrling ordentlich zusammenzustauchen.

»Ist das der Chef?«, fragte Pestallozzi eine der beiden Frauen.

Die nickte mit großen Augen. Endlich bemerkte sie der Mann mit der Kochmütze, er kam mit energischen Schritten auf sie zu. »Tut mir leid, aber Gästen ist der Zutritt zur Küche nicht gestattet!«

»Chefinspektor Pestallozzi und das ist mein Kollege Leo Attwenger«, sagte der Chef so freundlich wie immer.

Im Raum wurde es still, nur der Geschirrspüler rumpelte. Das Gesicht des Mannes mit der Kochmütze war heiß und rot in der Hitze, er hielt einen Moment lang inne, dann wurde er höflich und professionell.

»Tut mir leid, das konnte ich nicht wissen. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen? Ich bin Edi Schmutz, der Chefkoch.«

Blöder Name, dachte Leo, damit hast du es bestimmt nicht leicht, Edi Schmutz.

»Wir wollten uns nur kurz umsehen«, antwortete Pestallozzi und nickte der Belegschaft zu. »Hier arbeitet doch normalerweise die Frau Luggauer, nicht wahr?«

Edi Schmutz nickte. »Ja, aber heute ist sie natürlich nicht gekommen.«

»Natürlich.« Pestallozzi lächelte wieder. »Das war es auch schon. Entschuldigen Sie die Störung.«

Er machte eine kleine Verbeugung in Richtung der beiden Frauen, die ihn verblüfft anstarrten, dann ging er durch die Schwingtür nach draußen, Leo folgte ihm erleichtert. Sie verließen das ›Kaiserpark‹, Leo hatte ein Gefühl, als ob sein Rücken ganz durchlöchert wäre von Blicken. Endlich standen sie wieder draußen in der Sonne.

»Komischer Ort, so eine Küche«, sagte Leo vorsichtig.

»Mit vielen Messern«, sagte Pestallozzi.

Leo starrte ihn so verblüfft an wie die beiden Frauen vorhin. Hatte er irgend etwas übersehen? Was meinte der Chef, hatte der vielleicht diese alte Kathi im Verdacht, dass die ein Messer aus der Küche genommen und …

»War nur ein Scherz«, sagte Pestallozzi. »Und ein schlechter dazu. Aber jetzt möchte ich wirklich nachschauen, wie es der Frau Luggauer geht. Die übrigens ganz bestimmt kein Messer entwendet und dem Gleinegg reingerammt hat.«

Leo dackelte hinter dem Chef her. Der konnte also wirklich Gedanken lesen. Verdammt.

20 Minuten später hatten sie das kleine Haus endlich gefunden, Aich 23. Dahlien blühten in Töpfen vor den Fenstern, karierte Vorhänge bauschten sich hinter den Scheiben. Wie ein Knusperhäuschen, dachte Leo, gleich wird die alte Hexe öffnen. Er sah Pestallozzi fragend an und der nickte, Leo pochte gegen die hölzerne Tür. Eine Minute verging, ein Schatten bewegte sich an einem der Fenster, dann waren schnelle Schritte zu hören und die Tür wurde geöffnet. Leo starrte sprachlos die Hexe an. Als Erstes fielen ihm ihre Augenbrauen auf, sie waren so dicht und geschwungen wie die von Julia Roberts, allerdings über der Nase zusammengezogen wie von einer zornigen Julia Roberts. Die Augen darunter waren von einem blitzenden Grau, die kastanienbraunen Haare auf dem Hinterkopf zu einem Knoten zusammengesteckt, aus dem sich allerdings schon wieder Kringel lösten. Dazu trug die Hexe Jeans und ein T-Shirt, das ziemlich prall wirkte. Leo schwieg, bis ihn ein Hüsteln von Pestallozzi wieder wachrüttelte.

»Ähm, ja, wir sind …«

»Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei«, fauchte die Hexe. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier zu suchen …«

Pestallozzi trat einen Schritt vor, Leo machte einen Schritt zur Seite.

»Gestatten Sie, dass wir uns vorstellen«, sagte Pestallozzi mit seiner Stimme für ganz besondere Gelegenheiten. »Ich bin Chefinspektor Artur Pestallozzi und das ist mein Kollege Leo Attwenger. Entschuldigen Sie die Störung, aber wir hätten sehr gerne mit Frau Katharina Luggauer gesprochen. Die wohnt doch hier?«

Die junge Frau im Türrahmen schwankte zwischen Zorn und Verlegenheit.

»Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewusst. Ich habe geglaubt, dass Sie schon wieder so ver… Journalisten sind. Die belästigen uns bereits den ganzen Tag. Meine Tante hat sich ein bisschen niedergelegt.« Sie trat zögernd von der Tür zurück. »Aber ich kann ja nachschauen, wie es ihr geht.«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen, Frau …«

»Anna Luggauer. Ich bin die Nichte.«

»Wir stören Sie sicher nicht lange.«

Pestallozzi lächelte die junge Frau an und trat ein, Leo zwängte sich hinterher. Der Vorraum war nur so groß wie der bunte Flickenteppich auf dem Boden, eine steile Holztreppe führte in den ersten Stock, links ging es in eine Stube, die den beiden Männern so niedrig erschien, dass sie unwillkürlich die Köpfe einzogen. Die junge Frau machte eine höfliche Bewegung zum Zimmer hin und verschwand über die Treppe. Sie betraten den Wohnraum, es roch nach Suppe und Kräutern und nach frisch gebügelter Wäsche, Leo fühlte, wie er sich entspannte. So hatte es immer bei seiner Oma gerochen, und die war ganz bestimmt keine Hexe gewesen, Leo vermisste sie noch immer. Sie standen da und sahen sich in dem kleinen Raum um. Weißes Porzellangeschirr mit Goldrand glänzte durch die Scheiben einer Vitrine, deren Borde mit gehäkelten Borten geschmückt waren. Ein Ungetüm von Ofen stand an der Wand neben dem Türrahmen, auf dem Tisch in der Fensterecke lag eine aufgeschlagene Zeitung. Über ihrem Kopf waren Schritte und leise Stimmen durch die Holzdecke zu hören, dann kamen zwei Personen die Treppe herunter, Nichte und Tante.

»Grüß Gott, Frau Luggauer«, sagte Pestallozzi. »Wir wollten nur nachschauen, wie es Ihnen heute geht. Hoffentlich haben wir Sie nicht aufgeweckt!«

Die alte Frau sah müde aus, aber auch geschmeichelt. »Gar nicht, Herr Chefinspektor!« Sie nickte Leo zu. »Das ist aber nett, dass Sie sich extra meinetwegen herbemüht haben. Anna, du machst uns doch einen Kaffee, ja? Und schneid’ ein paar Stück von dem Nusskuchen für die Herren ab, sei so lieb!«

Leo erwartete, dass der Chef abwehren würde, aber der lächelte nur erfreut. »Sehr gerne, das ist wirklich nett von Ihnen!«

Sie setzten sich an den Tisch, Julia Roberts war ganz eindeutig erleichtert, in der Küche verschwinden zu können. Leo hörte, wie sie Wasser in eine Kanne rinnen ließ. Der Chef saß ganz entspannt da und hatte die Hände vor sich auf den Tisch mit der blumenbestickten Decke gelegt, die alte Luggauer saß rechtwinkelig vom Chef ebenfalls auf der Holzbank an der Wand, Leo hatte sich einen Sessel mit geschnitztem Herz in der Rückenlehne geangelt.

»Wie geht’s Ihnen denn heute so, Frau Luggauer?«, fragte der Chef nochmals, offenbar wurde er nie müde, ganz einfache Fragen zu stellen. Einmal, zweimal, dreimal, immer wieder erhielt er nichtssagende ausweichende Antworten, und dann, plötzlich, fingen die Leute zu sprudeln an. Oder auch nicht. Diese alte Kathi schien jedenfalls ein zäher Brocken zu sein.

»Es könnt schlimmer gehen, Herr Chefinspektor.«

»Da haben Sie recht, Frau Luggauer.«

Der Chef und die alte Frau sahen sich an und nickten einander zu wie zwei würdige Vortragende bei einem philosophischen Seminar vom Dalai Lama. Passt schon, wird schon, so ist halt der Lauf der Welt. Eine Fliege brummte um den Lampenschirm, aus der Küche begann es betörend nach frisch aufgebrühtem Kaffee zu riechen. Leo schluckte, diesmal aus Vorfreude.

»Ich bin zehn Jahre nach dem ersten Weltkrieg geboren«, sagte die Kathi Luggauer endlich. »Was glauben Sie, Herr Inspektor, was ich alles gesehen und erlebt hab. Als junges Dirndl bin ich mit unserer Dorfhebamme mitgegangen, wenn sie im Winter zu den Höfen rauf hat müssen, wo die Frauen in den Wehen gelegen sind. In Stuben, da würd’ man heute keinen Hund drin halten. Stroh haben sie in die Ritzen von den Holzwänden gestopft, damit der Wind nicht durchblast. Und oft hat man uns erst geholt, wenn es schon zu spät war. Wenn das Kind festgesteckt ist und tot war. Dann hat die Ursula einen Haken genommen und geschaut, dass sie wenigstens noch die Mutter retten kann. Das mit dem Herrn Baron, das ist keine schöne Sache, bestimmt nicht. Ein Mord in unserem Dorf, vor der Kapelle vom Heiligen Rochus. Aber ich hab schon Menschen schlimmer sterben sehen, Herr Chefinspektor, als den Herrn Baron.«

Hoffentlich kommt bald der Kaffee, dachte Leo. Sonst wird mir wirklich noch schlecht. Zuerst diese grausliche Leber in der Küche vom ›Kaiserpark‹, und jetzt die Geschichten von der Luggauerin, das hält ja keiner aus. Außer dem Chef natürlich, der schaut aus, als ob er damals selber mitgegangen wäre mit der Luggauerin und dieser Hebamme, ganz traurig und betroffen.

»Das glaub ich Ihnen gerne, Frau Luggauer«, sagte Pestallozzi.

Er schwieg und schien nach dem Kaffee zu schnuppern, dann wandte er sich wieder der Frau zu und sah ihr ins Gesicht. »Was war er denn für einer, der Gleinegg?«

Die Kathi Luggauer zuckte mit den Achseln, es sah irgendwie komisch aus, so eine beiläufige Geste passte gar nicht zu ihr.

»Was soll ich Ihnen sagen, Herr Chefinspektor. Am Land geht’s rauer zu als in der Stadt. Die Bauern sind früher auch nicht freundlich mit den Hofleuten umgesprungen, und was glauben Sie, wie’s heut den Stubenmädeln in den Hotels da bei uns geht? Der Herr Baron war kein Freundlicher, das wird Ihnen keiner erzählen, weil sonst lügt er. Aber schlimmer als die anderen war er auch nicht. Er war halt ein Herr.«

»Hat er das die Leut’ spüren lassen? Dass er der Baron war?«

Die Kathi Luggauer lachte plötzlich, ein Gitterwerk aus freundlichen Fältchen überzog ihr Gesicht.

»Er ist ja nicht mehr so oft in die Kirche runtergekommen wie früher. Aber wenn dann einmal Touristen in der Bank von den Gleineggs gesessen sind, dann …«

Die Kathi Luggauer war nun so belustigt, dass sie gar nicht mehr weiterreden konnte, Pestallozzi lachte ebenfalls. Leo sah sich möglichst unauffällig um. Wo blieb bloß diese verdammte Anna – so hatte sie doch geheißen – mit dem Kaffee? Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie hinter der Küchentür stand und lauschte.

»Aber mit der Schrotflinte ist er doch hoffentlich nicht gekommen, der Herr Gleinegg?«, fragte Pestallozzi.

Die alte Kathi schüttelte den Kopf.

»Na, das nicht! Aber ein Zirkus war es trotzdem, da können Sie den Holzinger, den Obmann vom Fremdenverkehrsverein fragen, bei dem haben sich dann alle immer beschwert. Der hat’s bestimmt nicht leicht gehabt, der Holzinger.«

Sie nestelte ein sauberes Stofftaschentuch unter ihrer Schürze hervor und wischte sich über die Augen, dann rief sie in Richtung Küche: »Anna, sag, wo bleibst denn?«

Augenblicklich ging die Tür auf und ihre Nichte kam in die Stube. Sie trug ein Tablett, auf dem grün geringeltes Gmundner Kaffeegeschirr stand, dazu eine Glaskanne mit Kaffee und ein Teller mit Kuchenschnitten, die mit Puderzucker bestäubt waren. Alles sah höchst appetitlich und adrett aus, Leo konnte den Blick nicht von der jungen Frau und den Kuchenschnitten wenden. Anna Luggauer kam an den Tisch und teilte die Tassen und Teller, die Löffel und Kuchengabeln aus, stellte einen kleinen Krug mit Milch und eine Schale mit Würfelzucker in die Mitte. Dann schenkte sie allen Kaffee ein und sah dabei hoch konzentriert auf die Tassen, Leo fragte sich, ob sie ihn überhaupt schon bemerkt hatte.

»Bitte, greifen Sie doch zu, Herr Chefinspektor, und Sie auch, Herr Inspektor!«, sagte Kathi Luggauer.

Pestallozzi und Leo bedankten sich und angelten jeder nach einem Stück. Sie bissen in den flaumigen Kuchen, der Haselnussteig zerging fast auf der Zunge.

»Fantastisch«, lobte Pestallozzi. »So was kriegt man nicht in der besten Konditorei von Salzburg!«

Leo nickte mit vollem Mund. Ihre Gastgeberin lächelte zufrieden und nahm sich selbst ein Randstück. Die Nichte saß vor einer Tasse schwarzem Kaffee und einem leeren Teller.

»Und, wie war er so mit der Familie?«, fragte Pestallozzi freundlich.

Kathi Luggauer warf ihrer Nichte einen wimpernschlagkurzen Blick zu, dann sah sie wieder Pestallozzi voll ins Gesicht.

»Davon haben wir unten im Ort nur wenig gewusst. Die Frau von ihm, die war ja aus dem Italienischen, eine Contessa, die hat man fast nie gesehen. Nur die Kinder, die sind sogar in die Volksschule im Ort gegangen, bevor sie aufs Internat gekommen sind. Ich weiß nicht, wie er als Mann oder Vater war, davon haben wir nichts gehört. Aber ich denk mir halt, dass vieles leichter ist, wenn man einen vollen Bauch hat und in einem warmen Bett schlafen kann. Und daran hat’s denen da oben bestimmt nicht gefehlt.«

»Aber vielleicht …«

Ein Handy klingelte von der Holzbank her, wo eine zerknautschte Tasche zwischen den bunten Kissen lag. Anna Luggauer sprang auf und hätte beinahe den Milchkrug umgestoßen. »Entschuldigen Sie bitte!«

Sie hastete zu der Tasche und kramte in ihren Tiefen, das Handy klingelte und klingelte, Anna Luggauer zerrte Spiegel und Täschchen und Tücher hervor, ihr Haarknoten löste sich gerade endgültig auf. Unglaublich, was Frauen für ein Chaos in ihren Handtaschen anrichten, dachte Leo. In diesem Punkt waren sie alle gleich, sämtliche seiner Verflossenen hatten ihn mit ihrem ewigen Herumkramen beinahe um den Verstand gebracht. Und jetzt … Anna Luggauer hielt endlich das Handy in der Hand, sie starrte auf das Display und drückte auf die Empfangstaste. »Hallo, wo bist du …«, hörte Leo sie flüstern, dann war sie auch schon zur Tür hinaus und polterte die Holzstiege in den ersten Stock hinauf.

Ihre Tante sah ihr nach und lächelte dann Pestallozzi um Verstehen heischend an, aber Leo hatte das Gefühl, dass die Vertrautheit der vergangenen halben Stunde vorüber war.

»Frau Luggauer, wir wollen Sie wirklich nicht länger aufhalten«, sagte Pestallozzi. »Vielen Dank für das Gespräch und natürlich ganz besonders für die Jause. So was Gutes haben wir noch nie vorgesetzt bekommen, stimmt’s Leo?«

»Stimmt«, pflichtete Leo dem Chef bei. Plötzlich fiel ihm auf, dass dies das erste Wort war, das er seit Betreten des Hauses gesprochen hatte. Die mussten ihn ja für völlig beschränkt halten! Er grübelte nach einer lässigen Bemerkung, aber sein Gehirn war so weich wie Kuchenteig.

»Also dann!«

Pestallozzi erhob sich und griff freundlich nach dem Arm der alten Kathi, Leo schob seinen Sessel zurück. Langsam durchquerten sie die kleine Stube, wie eine feierliche Prozession, Pestallozzi und Kathi Luggauer vorneweg, Leo hinterdrein. Als sie an der Haustür standen, kam auch die Nichte wieder die Treppe hinab. Sie versuchte ganz eindeutig, freundlich und gelassen dreinzuschauen, aber Leo fand, dass ihr die Anstrengung anzusehen war. Allerdings minderte dies keineswegs ihre sexy Ausstrahlung, im Gegenteil. Genau wie Julia Roberts in ›Pretty Woman‹ war auch diese Anna gerade dann besonders …

»Ein wichtiger Anruf?«, fragte Pestallozzi und strahlte Anna Luggauer an.

»Ein … ein Freund!«

»Ah ja! Es ist übrigens sehr nett, dass Sie sich so um Ihre Tante kümmern! Sie wohnen ja, glaube ich, nicht ständig hier, oder?«

»Ich wohne in Salzburg. Aber natürlich bin ich gleich gekommen, wie ich gehört habe, was passiert ist. Morgen muss ich leider zurück. Aber ich komme schon in den nächsten Tagen wieder, spätestens am Wochenende.«

»Sehr schön. Wir bedanken uns für die Jause, mein Kollege Leo Attwenger und ich. Auf Wiedersehen. Und wann immer Sie uns sprechen wollen, ich habe unsere Karten für Sie auf den Tisch gelegt.«

Ein letztes Händeschütteln, dann waren sie draußen und gingen an der Hecke vorbei zur Straße zurück.

»Nettes Mädel«, sagte Pestallozzi.

»Wer?«, fragte Leo. Pestallozzi befand das für keiner Antwort würdig.

»Ich frage mich nur, weshalb …«, sagte der Chef, er sprach ganz eindeutig mit sich selbst. Leo hätte sich zu gerne noch einmal umgedreht, aber dann ließ er es bleiben. Er folgte Pestallozzi zum Auto, das vom Staub der Touristenbusse ganz überkrustet war.

 

*

 

Die Ducati legte sich so schräg in die Kurve, dass sein rechtes Knie beinahe den Asphalt streifte. Er hätte immer weiter so fahren können, am Seeufer entlang, zwischen den Bergen hindurch und in die Dämmerung hinein. Fahren, fahren, fahren. So wie die Abenteurer früher, als Bub hatte er hoch droben in seinem Versteck am Dachboden sämtliche Geschichten über die portugiesischen und spanischen Entdecker verschlungen und dabei beinahe aufs Atmen vergessen. Die waren von fernen Klippen mit so wunderbar schrecklichen Namen wie ›Ende der Welt‹ losgesegelt, obwohl sie doch felsenfest glaubten, dass die Erde eine Scheibe sei und sie abstürzen würden weit draußen auf dem Meer, wo sich Wasser und Himmel zu einer dunstigen Kante vereinen. Und trotzdem hatten sie die Segel gehisst, und trotzdem waren sie hinausgefahren, als ob das alles überhaupt nichts …

Er musste heftig husten.

Diese verdammten Mücken, schon wieder war ihm eine in die Kehle geraten, dabei hielt er die Lippen so fest zusammengepresst, dass seine Kiefermuskeln schmerzten. Und der Nacken fühlte sich wie Beton an, von seinem Hintern ganz zu schweigen. Kein Wunder nach über zwölf Stunden im Sattel. Aber die hatte er einfach gebraucht, auch wenn die Kumpels ihn beinahe mit Gewalt davon hatten abbringen wollen. Der Milo hatte sich sogar mit ausgebreiteten Armen vor die Ducati gestellt und ein Riesentheater veranstaltet. Raffitschko, du darfst jetzt nicht fahren, hörst du? Gerade haben sie dir gesagt, dass dein Vater tot ist, und jetzt willst du ganz alleine losrasen, das ist doch Wahnsinn, total verrückt ist das! Komm, steig ein und fahr mit mir, wir machen auch keine einzige Pause, Raffitschko, für dich pinkel ich sogar in eine Slibowitzflasche!

Aber er hatte den Milo zur Seite geschoben und seinen alten Seesack auf dem Gepäckträger festgezurrt und war gestartet, der Milo hatte ihm noch etwas zugerufen. Dann war er rausgebrettert aus Dubrovnik und rauf nach Split über die Küstenstraße, immer nur fahren, fahren und sich auf die Kurven konzentrieren und auf die Idioten, die ausscheren, ohne in den Rückspiegel zu blicken. Zadar und Rijeka hatte er hinter sich gelassen, ohne es wirklich zu registrieren. Durchs Landesinnere über Zagreb wäre die Route kürzer und in jedem Fall einfacher und sicherer gewesen, aber er brauchte Zeit und wollte einfach nur fahren, fahren. Irgendwo hinter Triest hatte er kurz angehalten und getankt und einen Espresso doppio getrunken und ein Panino mit ranzig schmeckendem Prosciutto runtergeschlungen. Und allmählich war die Betäubung gewichen, und die Erinnerungen waren gekommen wie ein Mückenschwarm, dem man einfach nicht ausweichen konnte. Der Vater war tot. Ermordet. Erstochen. Unfassbar, unglaublich, unbegreiflich. Wer das getan hatte? Er selbst hatte es nicht gewagt, das stand fest. In den schlimmsten Momenten des Aufbegehrens nicht, als sein Gesicht von Schlägen brannte. Nicht, als er mit ansehen musste, wie die Mutter gelitten hatte unter der Kälte. Nicht einmal, als die Charlotte runtergegangen war zum See und … Ein anderer hatte es gewagt und die Hand erhoben. Ob die Polizei schon einen Verdacht hegte? Wenn ja, dann würde er alles tun, um dem, der das getan hatte, zu helfen. So war es. Er fuhr zurück, um den Mörder seines Vaters zu beschützen.

Fahren, fahren. An Udine vorbei und durchs Kanaltal hinauf zur Grenze, wo früher die Zöllner in den Abgasschwaden der Autokolonnen die Pässe kontrolliert hatten. Eine diffuse Kindheitserinnerung stieg in ihm hoch, an einen Markt voller Früchte und nach Leder riechender Schuhe, die Mutter hatte auf Italienisch lachend um ein Paar Handschuhe gefeilscht. Dann lagen die gähnend leeren Zollgebäude auch schon hinter ihm, Villach und das Drautal flogen vorbei, hinauf ging’s durch den Tauerntunnel und an den Gasteiner Bergen entlang. Tunnel um Tunnel und dann plötzlich das weite Land, der Untersberg zur Linken und Salzburg geradeaus, der See kam immer näher, es gab keinen Umweg mehr, den er noch hätte nehmen, keine Zeit, die er noch hätte schinden können. Seine Oberschenkel fühlten sich völlig taub an, seine Hände schienen ihm längst zu Klauen erstarrt, die den Lenker umklammert hielten. Zurück, nach Hause. Beinahe hätte er aufgelacht unter dem Helm. Zu Hause sein, wie sich das wohl anfühlte?

In seinen Volksschuljahren hatte er immer wieder davon geträumt, ein Findelkind zu sein. Aber kein Schweinehirt, der in Wirklichkeit ein Prinz war, so wie in den Märchenbüchern. Sein Traum hatte immer mit einem leisen, aber beharrlichen Klopfen am großen Portal begonnen. Der Jakob öffnete und draußen stand eine Frau, sie war einfach gekleidet, aber ihr Gesicht war so lieb und sanft.

»Sie wünschen?«, fragte der Jakob streng.

»Ich bin gekommen, um den Raffi zu holen«, sagte die Frau.

»Unerhört«, begann der Jakob zu schimpfen, »so ein Unsinn, hier gibt es niemanden zu holen!« Und er wollte der Frau den schweren Türflügel vor der Nase zuschlagen. Doch die ließ sich nicht abschrecken.

»Raffi, komm!«, rief sie zu ihm hinauf. Er hatte sich hinter dem Treppengeländer im ersten Stock versteckt, aber jetzt lief er hinunter, am Jakob vorbei, mitten in die Arme der Frau, die sich so weich und warm anfühlten wie die alte Kuscheldecke in der Küche, auf der die Hunde schliefen. Dann gingen sie eng umschlungen die Stufen zum Vorplatz hinab.

»Und meine Schwestern?«, fragte er ängstlich.

»Die holen wir auch noch«, beruhigte ihn die Frau, die natürlich eine gute Fee war.

»Und die Mama?«

»Es ist für alles gesorgt. Alles wird gut, glaub mir.«

An dieser Stelle hatte er als Kind nie weitergewusst. Aber die beschworenen Bilder hatten ihm stets aufs Neue so viel Trost geschenkt, dass er einzuschlafen vermochte.

Einmal, ein einziges Mal, hatte er es gewagt, dem Edi davon zu erzählen. Der hatte ihn zuerst nur so komisch angeschaut und dann, dann hatte der Edi, sein bester Freund, so hässlich gelacht, dass er nie wieder jemandem von seinen Träumen erzählt hatte. Aber der Edi war trotzdem sein bester Freund geblieben, lange Jahre noch. Auch als er selbst ins Internat gekommen war, nach Bayern, und der Edi zu Hause geblieben war, logo, und jeden Nachmittag nach der Schule auf dem Hof vom Stiefvater schuften musste. Aber in den Ferien waren sie unzertrennlich gewesen, zwei Halbwüchsige, von frischen blauen und grünlich gelb verblassenden Flecken gezeichnet. Mit dem Holzscheit hatte der eine Vater zugeschlagen, der wenigstens nicht der richtige war, mit dem bloßen Handrücken der andere. Aber sie hatten nie darüber gesprochen, die Scham war stärker gewesen als die Wut. Und jetzt waren beide Väter tot, der Stiefvater vom Edi schon lange, und sein eigener lag gerade …

Der Sog eines entgegenkommenden Lasters brachte ihn beinahe ins Schleudern, plötzlich kam er wieder zur Besinnung. Er fuhr ja wie in Trance, wann war er eigentlich von der Autobahn auf die Bundesstraße abgebogen? Hof und Fuschl lagen bereits hinter ihm, in weniger als 20 Minuten würde er den Kies vor dem Haus unter seinen Reifen prasseln hören. Aber vorher musste er einfach noch einmal eine kurze Rast einlegen, einen Kaffee trinken oder besser noch einen Schnaps, und sich den Kopf unters kalte Wasser halten.

Auf dem Parkplatz neben der Tankstelle kletterte gerade eine Ladung Japaner steifbeinig aus dem Bus und begann sofort mit dem unvermeidlichen Geknipse. Er stapfte zur Toilette und schaufelte sich ausgiebig eiskaltes Wasser ins Gesicht, die Hähne waren so idiotisch tief angebracht, dass sein Kopf einfach nicht darunter passte. Ein kleiner Junge starrte ihn mit großen Augen an, dann kam der Vater aus einer der Kabinen und musterte ihn so misstrauisch, als ob er ein Kinderschänder auf Beutefang wäre, aber er war zu müde, um sich zu rechtfertigen und dem Alten seine Meinung zu sagen. Müde und waidwund, so fühlte er sich. Am liebsten hätte er sich auf die kleine Steinmauer draußen vor der Cafeteria hingesetzt und geheult. Nicht wegen dem Vater, dem auf der Toilette oder gar seinem eigenen, der tot und kalt irgendwo in einem Kühlregal lag. Einfach so. Aber natürlich heulte er nicht, sondern ging in die Cafeteria und bestellte sich einen Tee mit Schnaps und ein Käsebrot dazu. Den Tee trank er, das Käsebrot ließ er stehen, plötzlich war ihm der kalte Schweiß ausgebrochen. Er legte einen Schein auf die Theke, die Serviererin, die schon so kokett seine Bestellung aufgenommen hatte, kam eiligst herangetrippelt, aber er winkte ab.

»Danke vielmals!«, rief sie ihm nach. »Und einen schönen Tag noch!«

Zur Cafeteria gehörte ein kleiner Supermarkt, in dem man Müsliriegel und Mineralwasser und Ansichtskarten kaufen konnte. Und Zeitungen, er war schon fast an dem Ständer vorbei, als er das Bild wahrnahm. Der Vater in voller Jagdmontur, den Wetterfleck aus Loden um die Schultern gehängt, vor einer ganzen Strecke toter Rebhühner oder sonst irgendwelcher Vögel. Sein Vater blickte ihm direkt ins Gesicht. Er wandte sich so abrupt ab, dass er beinahe eine kleine Japanerin umgerannt hätte, die einen hastigen Schritt zur Seite machte.

»Verzeihung«, presste er zwischen den Zähnen hindurch, dann war er endlich wieder im Freien, die Luft kühlte den Schweiß auf seiner Stirn.