Sabine Friedrich

Wer wir sind (5)

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2012

© 2012 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen

Textredaktion: Frank Griesheimer, Starnberg

Quellen im Anhang

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Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41745-7 (epub)

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ZWEITES BUCH

VIERTER TEIL

1

2

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FÜNFTER TEIL

1

2

3

4

Dank

Quellen

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ZWEITES BUCH

VIERTER TEIL

1

Es gibt Momente, in denen ein Mann wirklich zählen kann. Alles vorher, alles was danach kommt, wird von Massen getragen, von anonymen Kräften. Und dann plötzlich hat man das Gefühl, dass all diese Kräfte den Atem anhalten, dass das Riesenorchester, das bisher gespielt hat, plötzlich schweigt, um einem Solisten Gelegenheit zu geben, den Ton für den nächsten Satz anzuschlagen. Und auf diesen Ton wartet man. Nach ihm wird sich das ganze Orchester richten. Und so wird dieser eine Herzschlag unbeschreiblich lang.

Das schreibt Helmuth Moltke im November 1942 an Freya, als er die Landung angloamerikanischer Streitkräfte unter Führung General Eisenhowers in Französisch-Nordafrika erwartet. Zu dem Zeitpunkt ist die 10. Panzerdivision noch an der Besetzung der bis dahin unbesetzten Zone Frankreichs beteiligt. Unmittelbar danach wird sie nach Tunis verlegt, und nachdem die Alliierten dann tatsächlich in Nordafrika gelandet sind, kommt ihr die Aufgabe zu, den Rückzug von Generalfeldmarschall Erwin Rommels Armee zu decken.

Claus Stauffenberg ist zu dieser Zeit gerade damit beschäftigt, seine eigene Situation völlig unmöglich zu machen.

Er hat länger als viele andere geglaubt, der Krieg sei vielleicht zu gewinnen oder die Lage an der Ostfront könne irgendwie stabilisiert werden. Er hat trotz wachsenden Ekels und Zorns noch vor einigen Monaten die Ansicht geäußert, erst nach dem Sieg über die Bolschewisten dürfe man an eine Änderung des Systems denken. Aber nun glaubt er nicht mehr, dass dieser Sieg jemals kommt.

Der Krieg ist verloren. Stauffenberg hat an einer Tagung zur Lage in den besetzten Ostgebieten teilgenommen. Das Ergebnis hätte klarer nicht sein können: Niemals wird Deutschland noch auf die Unterstützung der dortigen Bevölkerung hoffen können. Damit ist die letzte Chance verspielt. Stauffenberg hat lange gehofft, die Grundlagen der Besatzungspolitik ändern und den betreffenden Stellen begreiflich machen zu können, dass große Teile der von Stalin unterworfenen Völker dazu bereit wären, in einer eigenen Armee und unter eigener Führung auf Seiten der Deutschen für ihre Befreiung zu kämpfen. Als Gruppenleiter in der Organisationsabteilung II hat er sich dafür eingesetzt, Turktataren, Kaukasier und Kosaken als gleichberechtigte Mitkämpfer innerhalb der Wehrmacht zu verwenden, er hat es durchgesetzt, dass deutsche Divisionen seit Sommer 1942 Russen nicht nur als Hilfsarbeiter beschäftigen, sondern bis zu zehn Prozent ihrer Planstellen mit russischem Wach- und Sicherungspersonal besetzen dürfen. Er hat sich für den russischen General Wlassow und seine Pläne einer großrussischen Bewegung gegen den Bolschewismus verwendet und immerhin erreicht, dass im März dieses Jahres 1200 Russen als Ostpropaganda-Abteilung zur besonderen Verwendung in Dabendorf südlich von Berlin mit ihrer Schulung beginnen werden, in deutschen Uniformen und mit Abzeichen der zukünftigen russischen Befreiungsarmee. Aber es ist alles sinnlos.

Gegen die sture Beharrung auf rassistischen Ideologien ist nicht anzukommen. Hitler wünscht keine Zusammenarbeit mit den Besiegten, sondern ihre Auslöschung. Er führt nicht Krieg, um den Gegner zu besiegen und so zu einem neuen Frieden zu gelangen, sondern um die Besiegten zu vernichten.

Claus Stauffenberg ist alles andere als ein Pazifist. Er ist in die Reichswehr eingetreten, weil er glaubte, Deutschland als Soldat besser dienen zu können denn als Architekt. Was ist ein Soldat? Einer, der Menschen vor der Bedrohung durch Feinde schützt. Aber in diesem Krieg ist man selbst der Feind. Man selbst ist es, der das Leben der anderen bedroht. Der Soldat ist vom Krieger zum Mörder geworden. Die ganze Idee des Soldatentums ist somit pervertiert. Dieser Krieg ist ein Verbrechen. Und da man ihn nicht einmal gewinnen kann, ist er auch noch ein sinnloses Verbrechen. Stauffenberg kann die Arbeit im Generalstab nicht mehr ertragen.

Er möchte an die Front. An der Front bleibt der Mensch sauber. An der Front geben die Soldaten ihr Leben hin, sie wagen bedenkenlos und ohne Murren den höchsten Einsatz. Hinter der Front ducken sich derweilen ihre Führer, die sogar noch zu feige sind, verantwortungslosen Befehlen zu widersprechen, sich der Inkompetenz, dem Wahnsinn, den Verbrechen in den Weg zu stellen. Dabei wird überall gemault und gemurrt. Überall herrscht Unmut: ein vollkommen steriler Unmut, weil die niederen Ränge nichts unternehmen können und die hohen zum Handeln nicht bereit sind.

Stauffenberg versteht es nicht. Wie kann man die Lage erkennen und nicht sofort damit beginnen, seiner Erkenntnis gemäß zu handeln? Verlangt ist die Tat, als Mittel der Selbstbestimmung. Mutlosigkeit ist unedel. Es gehört sich nicht, das Schicksal zu bejammern: Ein autonomer Mensch nimmt es in seine Hände. Claus Stauffenberg hat inzwischen viele jüngere Offiziere begeistert. Er argumentiert sachlich, er argumentiert leidenschaftlich. Er verwendet Gedichtzitate wie Argumente. Hitler ist doch ganz offensichtlich der Widerchrist,

Der Fürst des Geziefers verbreitet sein reich ·

Kein schatz der ihm mangelt · kein glück das ihm weicht ..

Zu grund mit dem rest der empörer!

Ihr jauchzet · entzückt von dem teuflischen schein ·

Verprasset was blieb von dem früheren seim

Und fühlt erst die not vor dem ende.

Dann hängt ihr die zunge am trocknenden trog ·

Irrt ratlos wie vieh durch den brennenden hof ..

Der Nationalsozialismus ist im Grunde genau die Lebensform, vor der der Meister immer gewarnt hat. Er ist eine Weltanschauungsdiktatur, ein künstliches, unnatürliches Konstrukt ohne Geist und Leben, das auf Gewalt und Unterwerfung beruht, nichts als eine Imitation wahren Herrschertums. Major von Hößlin, Oberstleutnant Sauerbruch, Major Kuhn, Hauptmann Friedrich Karl Klausing, Oberleutnant Werner von Haeften, Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim und andere stehen inzwischen auf Stauffenbergs Seite. Es sind ihnen aber die Hände gebunden. Sie verfügen über keinerlei praktische Handlungsmöglichkeiten. Gefordert sind die höheren Ränge.

Deshalb beginnt die Lage nun brenzlig zu werden: Claus hat zu viele seiner Vorgesetzten zum Handeln gedrängt, er hat vor zu vielen höheren Armeeführern gefordert, dass das Offizierskorps sich seiner Verantwortung stellt. Er hat sich in eine Situation hineinmanövriert, in der es das Beste für ihn wäre, eine Weile von der Bildfläche zu verschwinden.

Am 3. Februar 1943 gibt das Führerhauptquartier das Ende des Kampfes um Stalingrad bekannt. Am selben Tag erfährt Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der gerade in Berlin zu einem kurzen Urlaub eingetroffen ist, dass er nach Tunis geschickt werden soll, um den schwer verwundeten Ia der 10. Panzerdivision zu ersetzen.

Ebenfalls an diesem Tag besucht Henning von Tresckow noch einmal General Olbricht. Sie sind sich einig, dass der Augenblick der Niederlage von Stalingrad nicht versäumt werden darf. In der Wehrmacht wie in der Bevölkerung wird ein Staatsstreich jetzt Rückhalt finden. Der Befehlshaber des Ersatzheeres Fromm ist noch nicht für die Sache gewonnen, aber das wird sich sicher ändern, wenn das Attentat geklappt hat, das Henning von Tresckow zusammen mit Oster und Dohnanyi aus dem Amt Ausland/Abwehr plant. Man muss Hitler bewegen, die Heeresgruppe Mitte zu besuchen, dann werden sie eine Bombe in sein Flugzeug schmuggeln.

Claus Stauffenberg weiß davon nichts. Er sitzt im Reservelazarett Tempelhof am Bett des verletzten Hauptmanns Joachim Kuhn, der mit Stauffenbergs Cousine Marie Gabriele verlobt ist. Er verabschiedet sich: Er wird am 10. Februar über München und Neapel nach Afrika reisen.

Am 14. trifft er auf dem Gefechtsstand seiner Division ein, der Neuling mit seiner hellen Haut und der brandneuen Tropenausrüstung. Aber er lebt sich schnell ein. Er ist bemüht, möglichst viele Kontakte zu knüpfen, zu Offizieren ebenso wie zu unteren Dienstgraden. Er arbeitet täglich zwölf, vierzehn Stunden. Ruhepausen scheint er nicht zu brauchen. Sein Befehlswagen ist ein erbeuteter englischer Autobus, in dem er seinen Besuchern Kaffee anbietet, womöglich tunesischen Wein. Er verbirgt nicht, dass er gläubiger Katholik ist. Er freut sich, wenn er Gesprächspartner findet, mit denen er sich über Geschichte, Literatur, Musik unterhalten kann. Und es fällt ihm immer schwerer, seine Ansicht zu verbergen, dass Hitler gewaltsam beseitigt werden müsste. Am 6. April greift Montgomery im Süden mit der britischen 8. Armee auf breiter Front an. Am 7. April ist die 10. Panzerdivison in ernster Gefahr, abgeschnitten zu werden. Aber das Oberkommando hat die Erlaubnis zum Rückzug bis zuletzt verweigert, und nun ist es zu spät.

Nun können sie nicht mehr geordnet zurückgehen. In der Enge zwischen dem Salzsee Sebhket en Noual und dem Chabita-Khetati-Pass greifen Jagdbomber an. Überall Explosionen, überall brennende Fahrzeuge, Tote, Verstümmelte, die nicht geborgen werden können. Überlebende versuchen, dem Chaos zu entfliehen. Die Jagdbomber schießen weiter in die Brände hinein. Stauffenberg in seinem Jeep rast zwischen den Einheiten hin und her, im Versuch, sie aus dem Inferno hinauszuführen. Sein Fahrzeug wird von einem Bomber angegriffen. Stauffenberg wirft sich aus dem Wagen, stürzt zu Boden und wird getroffen.

Im Feldlazarett in Sfax werden sein linkes Auge, die rechte Hand und zwei Finger der linken Hand amputiert. Anschließend wird er ins Kriegslazarett 950 bei Tunis-Carthago, dann ins Reservelazarett München 1 überführt. Am 26. April folgen eine Mittelohroperation, kurz darauf eine Kniegelenksoperation, bei der Tetanusviren festgestellt werden. Die Splitter unter der Kopfhaut und am Arm beginnen herauszueitern. Die Mutter kommt, die Brüder kommen, Claus’ Frau Nina besucht ihren Mann, auch die Cousine Marie Gabriele findet sich ein, mit ihrem Verlobten Hauptmann Joachim Kuhn, der fast täglich nach Claus sieht.

Claus’ Zustand bessert sich erstaunlich rasch. Ende Juni kann er sich schon fast ohne fremde Hilfe anziehen. Staats-Mitglied Rudolf Fahrner hat ihm eine Übertragung des Dialogs von Dionysios Solomos zur Durchsicht zugesendet, des Weiteren eine Nacherzählung des ›Rolandslieds‹. Claus liest, mit einem Auge. Er notiert, mit drei Fingern:

bitte keine gesuchten und prätentiösen satzkonstruktionen. Keine verbrauchtheit der sprache.

Alles Alte, Verbrauchte ist ihm zuwider geworden. Er sehnt sich nach Aufbruch, Befreiung, frischem Wind, Tat. In den Wochen körperlicher Leiden ist etwas in ihm gereift und gewachsen. Er ist schwer verletzt, ein Invalide, ein Kriegskrüppel. Er vibriert vor innerer Energie.

»Wie geht es im Übrigen Ihrem Bruder?«, sagt Helmuth Moltke zu Berthold Stauffenberg, mit dem er beim Mittagessen einige dienstliche Fragen geklärt hat.

»Erstaunlich gut«, sagt Berthold Stauffenberg. »Er ist bereits entlassen worden und weilt jetzt zur Genesung in Lautlingen, auf unserem Familiensitz. Er ist entschlossen, seine körperliche Selbstständigkeit so weit wie möglich wiederzugewinnen. Wir sind alle sehr erleichtert und beeindruckt von ihm. Was ihn allerdings schwer bedrückt, ist die generelle Lage.«

»Ja«, sagt Helmuth Moltke. Er ist soeben von Istanbul zurückgekommen, wo er gehofft hat, Alexander Kirk zu erreichen. »Nun ja. Wen bedrückt die Lage nicht.«

Sie treten hinaus auf die sommerliche Straße. Es ist der 19. Juli 1943. Helmuth Moltke und Berthold Stauffenberg verabschieden sich. Helmuth geht zu einer Besprechung ins Auswärtige Amt, wo er auch Adam Trott treffen wird. Claus in Lautlingen redigiert eine Übertragung des 7. Gesangs der Odyssee. Frank Mehnert, der im Falle von Berthold Stauffenbergs Tod als dessen Nacherbe dazu bestimmt war, Stefan Georges Hinterlassenschaft zu verwalten, ist im Februar gefallen. An Franks Stelle setzt Berthold nun seinen Bruder Claus ein. Zum Erbe des Meisters gehört auch einer von Claus’ jugendlichen Ergüssen, den der Meister lange bei sich getragen haben muss, wie die abgestoßenen Falze des Blattes deutlich belegen.

und je klarer das Lebendige vor mir steht · je höher das Menschliche sich offenbart und je eindringlicher die tat sich zeigt · umso dunkler wird das eigene blut · umso ferner wird der klang eigner worte und umso seltener der sinn des eigenen lebens · wol bis eine stunde in der härte ihres Schlages und in der größe ihrer erscheinung das zeichen gebe

Es ist August. Eigentlich wollte Eta von Tresckow ihren Mann zu einer dringend nötigen Kur ins Heereserholungsheim Schloss Elmau begleiten. Aber daraus wird nichts. Das Unternehmen Zitadelle, die große Sommeroffensive der Wehrmacht im Osten, ist gescheitert. Hamburg schwelt noch immer. An den Fronten sterben die Soldaten. In den Städten sterben Frauen und Kinder. In den Lagern sterben die Gefangenen. Dohnanyi ist verhaftet, Oster in Gefahr. Die Abwehr ist damit als Zentrum des Kampfes gegen die Staatsmacht ausgefallen. Berlin wird evakuiert. Die Stadt erwartet ihren Untergang. Henning hat Eta in Rittgarten in der Uckermark abgeholt, vom Gut seines Schwagers Dietloff von Arnim, der Hennings Schwester Marie Agnes geheiratet hat. Er drängt in die Stadt, aus der die Bevölkerung flieht.

Die Tresckows haben die Kinder nach Wartenberg gebracht. Dann haben sie die Arnimsche Villa in Neubabelsberg bezogen, wo sie Berlin näher sind und zugleich abgeschiedener wohnen als in ihrer eigenen Potsdamer Wohnung. Henning trifft Fritzi Schulenburg, Goerdeler, auch Beck, den er noch aus Vorkriegszeiten kennt, als Beck Chef des Generalstabs und Tresckow Generalstabsoffizier in der Operationsabteilung war. Und er geht mit Olbricht noch einmal die Walküre-Pläne durch.

Wie verläuft die Alarmierung der Wehrmachtseinheiten, welche wesentlichen öffentlichen Gebäude müssen sofort besetzt werden? Welche Truppen stehen in und um Berlin zur Verfügung? Wie stark sind im Vergleich dazu die SS-Verbände? Größe und Zusammensetzung des Ersatzheeres ändern sich ständig, es dient ja der Auffüllung der Frontregimenter.

Das ist ein Problem. So viele Unwägbarkeiten bleiben. Kann man nicht wenigstens Einfluss darauf gewinnen, wann das Personalamt welche Stellen mit wem besetzt?

»Übrigens kommt Claus Stauffenberg demnächst nach Berlin«, sagt Peter Yorck zu Helmuth Moltke. »Er besteht auf seiner Wiederverwendung. Ab 1. Oktober ist er Stabschef im Allgemeinen Heeresamt in der Bendlerstraße bei General Olbricht, er wird aber schon im September da sein. Olbricht hat ihn drei Wochen vor Amtsantritt nach Berlin bestellt.«

»Stauffenberg ist hier, wie mit Olbricht abgesprochen«, sagt Henning von Tresckow zu seiner Frau. »Dies wenigstens hat geklappt.«

Und auch Margarethe von Oven kommt. Henning hat ihr geschrieben. Er hat ihr eine neue Stelle besorgt. Margarethe ist nun Sekretärin im Nachkommando der Heeresgruppe Mitte, im Gebäude des Gruppenkommandos 1 in der Kaiserallee. Henning will die Seinen um sich versammeln.

Auch du wirst wiederkommen, Margarethe!

Sie hat Hennings Brief erst eine Weile in der Hand gehalten, bevor sie ihn geöffnet hat. Der Brief war von Potsdam abgegangen. Margarethe war erstaunt: Normalerweise schreibt Henning ihr nicht aus Potsdam.

Er schreibt ihr von der Front. Er schreibt, wenn er von Erika getrennt ist. Wenn er bei Eta ist, überlässt er Eta das Schreiben und kritzelt nur einen Gruß unter Etas Briefe. Jedenfalls hatte der Brief keinen schwarzen Rand. Sie hat sich bei diesem Gedanken ertappt. Sie riss den Brief auf, erwartete das Übliche: ein paar amüsante kleine Anekdoten, ein paar Lesefrüchte, ein paar Beobachtungen. Es standen aber nur drei Zeilen da. Die Hoffnung, dass es ihr gutgehe. Die Mitteilung, dass auch bei Tresckows so weit alles in Ordnung sei. Dann die Bitte.

Övchen. Kannst Du zurückkommen?

Ihr Herz schlug in der Kehle,

Geh nicht geh nicht geh nicht!

Aber nun, sie kommt. Sie kommt zurück. Henning hat sie gerufen. Warum? Sie weiß es nicht. Margarethe, in dem kleinen Flugzeug, das sie von Lissabon zurück nach Berlin bringt, denkt an den morgendlichen Gang durch den Wald von Wartenberg vor fünf Jahren.

Que no sabemos lo que nos pasa: eso es lo que nos pasa.

Margarethe von Oven hat Angst. Sie muss sich das eingestehen. Aber sie muss es für sich behalten.

Sie kann nichts zu Henning sagen. Er würde sofort zurückweichen. Er würde sagen: Dann auf gar keinen Fall. Er würde sagen: Dann verzichte ich auf deine Dienste. Aber nein. Er würde gar nichts sagen. Er würde ihr nur keine Aufträge erteilen, und sie hätte versagt.

»Margarethe. Mein Övchen. Du bist so ein richtiges warm brennendes Öfchen. Ich brauche deine Hilfe. Wir wollen Hitler absetzen und die Regierung stürzen. Wir brauchen jemanden, der Kontakte hält, Leute aufsucht, Termine macht, Verabredungen trifft oder mitteilt. Jemanden, der tippt.«

Eta hat auf dem Sofa gesessen, während Hennings Eröffnungen, aufrecht, die Hände locker im Schoß gefaltet, ganz und gar Herrin ihrer selbst. Sie hat gelächelt. Sie hat Henning angesehen. Margarethe war voll Bewunderung. Sie kann sich Eta nicht verweigern. Sie kann sich Henning nicht verweigern, sie kann ihn nicht im Stich lassen. Er will nicht ganz allein stehen. Er will die um sich scharen, die ihn lieben. Aber Margarethe will leben.

Sie hat noch einiges vor. Sie denkt an Lissabon, an die vergangenen Jahre. Aber die Bilder weichen zurück. Sie bleiben blass, flach, zweidimensional wie gepresste Blumen. Margarethe kommt hier nicht mehr heraus. Sie muss dies tun. Sie muss Henning versichern, dass sie an seiner Seite steht. Sie hat es schon getan. Nun kann sie nur noch Gott bitten, dass sie sich die Hand bricht. Das wäre die Rettung. Wenn sie sich die Hand bräche, könnte sie nicht tippen. Oder den Fuß? Wenn sie sich den Fuß bräche, könnte sie nicht laufen. Sie könnte keine Nachrichten überbringen. Das eine oder das andere reicht nicht aus. Sie müsste sich den Fuß brechen und die Hand. Eine böse Stimme sagt: am besten den Hals.

»Du bist das Warenhaus für kleines Glück.«

Das sagt Henning zu Margarethe.

»Wenn jemand etwas braucht, was er nicht besorgen kann, eine Salbe oder eine Wolldecke, oder wenn er einfach nur wissen will, ob seine Frau die Bombennacht überstanden hat, dann kommt er zu dir. Du telefonierst für ihn, du kümmerst dich. Du bist Betreiberin des Warenhauses für kleines Glück. Ich hoffe, du bist damit einverstanden. Es gibt weit üblere Stellungen in dieser Zeit.«

Henning lehnt an ihrem Schreibtisch, im Wachkommando in der Kaiserallee. Er ist er selbst. Alles andere ist Margarethe fremd. Das Straßenbild ist ganz verwandelt. Lastwagen mit Soldaten beherrschen die Straßen, überfüllte Busse und Straßenbahnen. Dazwischen sieht man Pferdefuhrwerke: Wegen der Benzinknappheit ist es verboten, Auto zu fahren. Auf Reifen muss man wochenlang warten. Für eine Reparatur benötigt man eine amtliche Genehmigung, die nur für den einen Tag gültig ist, und kommt in dieser Zeit ein Angriff, muss man neu beantragen. Ein Taxi zu nehmen ist nur erlaubt, wenn Gepäck zu befördern ist, das zu sperrig ist, um es anders von der Stelle zu bekommen. Die Menschen sind graugesichtig, erschöpft. Fürchten sie die Sieger, die Rache der unterdrückten Völker? Genießt den Krieg, der Friede wird fürchterlich: Das hat Margarethe mehr als einmal gehört.

»Also. Heute Nachmittag kommst du zu uns raus, in die Arnimsche Villa. Es geht los.«

Die großen Angriffe auf Berlin haben am 23. August begonnen. Seitdem liegt Nacht für Nacht heller roter Feuerschein über der Stadt. Am Mittag ist es dunkel von Rauch. Am Fenster im Wehrmachtsgefängnis Tegel steht Dietrich Bonhoeffer und sieht die Bomben auf Berlin regnen wie Mohnsamen. Im Gefängnis Lehrter Straße liegt Hans von Dohnanyi mit seinem geschwollenen Bein. Im Hof der Strafanstalt Plötzensee steht Harald Poelchau inmitten der zum Erhängen Angetretenen und notiert Namen, letzte Grüße.

»Willi Schürmann-Horster. Die Sache Schulze-Boysen.«

»Wolfgang Thies.«

»Eugen Neutert. Wir gehören zu denen, die sie die Rote Kapelle genannt haben.«

»Wir sind die Letzten.« Claus Stauffenberg, Henning Tresckow und Margarethe Oven treffen sich in der Arnimschen Villa oder im Grunewald.

»Övchen, geh zu General Olbricht. Sag ihm, wir müssen den Termin morgen verlegen.«

»Övchen. Geh zu Beck und richte ihm Folgendes aus.«

»Geh zu Helldorf.«

»Dem Polizeipräsidenten von Berlin?«

»Genau dem.«

»Geh zu Rost.«

»Geh zu Oertzen, sag ihm, um neun.«

»Geh zu Generalleutnant Paul von Hase.«

»Zum Berliner Stadtkommandanten?«

»Ebendem.«

Und natürlich fährt der Zug wieder nur zwei Stationen, dann kommt Alarm. Dann geht es nicht weiter, weil der Bahnhof brennt. Leute kommen ihr entgegen, in Tücher gewickelt gegen Hitze und Rauch. Beim nächsten Mal nimmt sie das Rad. Aber bis in die Bendlerstraße ist es doch ein sehr ordentliches Stück. Ruinen und Schotter versperren den Weg. Sie weicht aus, sie macht einen Umweg, aber da brennt es. Asche regnet herab, die Hitze wird unerträglich, die Haut des Gesichts spannt sich. Und dann ist Abendalarm, keiner kommt mehr durch, und so war alles umsonst: Das Treffen, das Margarethe organisiert hat, kommt nicht zustande, und Margarethe geht wieder los. Angst hat sie nicht mehr.

Jetzt, wo sie sich mitten in der Gefahr befindet, zweifelt sie nicht mehr an einem guten Ausgang. Sie glaubt fest daran, dass alles klappen wird: Und wenn Rad und Bahn sie nicht transportieren können, wird sie eben zu Fuß gehen. Sie wird hoffen, dass sie die Leute antrifft, wo sie sie vermutet: Man weiß ja nicht, in welchem Keller einer sitzt.

Auch Eta hilft, wo sie kann. Sie tippt lange Seiten, die er ihr diktiert, sie schreibt handschriftliche Notizen ab. Henning bittet sie, Handschuhe anzuziehen, bevor sie die Schreibmaschine berührt. Er kommt, er geht, er ist Soldat. Er ist immer in Gefahr. Er war in Russland in Gefahr, warum hatte sie damals weniger Angst um ihn als jetzt? Er kommt, er geht, es ist Nacht, und Eta ist allein. Sie wartet. Sie denkt an die Bomben, an die Gestapo.

Sie sind beinahe fertig. Die Konzepte stehen. Es geht nur noch um Feinheiten. Henning Tresckow, Claus Stauffenberg und Margarethe Oven sind auf dem Weg zum S-Bahnhof Grunewald. Sie haben die Schreibmaschine und einen großen Teil der Unterlagen dabei. In der Trabener Straße rast eines der seltenen Berliner Autos heran. Der Wagen bremst direkt vor ihnen. SS springt heraus. Zwei Männer stürmen an ihnen vorbei in das nächste Haus, die anderen jagen zum Hintereingang. Henning Tresckow, Claus Stauffenberg und Margarethe Oven gehen weiter. Und weiter. Und noch ein Stück.

»Bist du sehr erschrocken, liebes Övchen?«

»Ja. Nein. Es ging alles so schnell. Ich glaube, ich erschrecke erst jetzt.«

»Komm, nimm meinen Arm. Komm, gib mir die Tasche.«

»Und du, Henning? Hast du keinen Schreck bekommen?«

Henning sieht Margarethe an. Fast lächelt er.

»Ach, Övchen. Aber wie ich mich freuen werde, wenn ich einmal wieder mit freiem Blick auf der Straße gehen kann. Mit freiem Blick!«

Margarethe Oven ist nach Neuhardenberg gesandt. Sie soll dem Grafen von Hardenberg etwas ausrichten, der sie sofort mit zu Tisch bittet.

»Und kennen Sie Ursula von Kardorff? Eine Mitarbeiterin der ›DAZ‹. Sie erholt sich zurzeit bei uns, nach einem kleinen operativen Eingriff.«

Das Schloss ist schön wie ein Traum, unwahrscheinlich wie ein Märchen, mitten im Krieg und so nah bei Berlin. Sie speisen an einer langen Tafel, leinengedeckt und rosengeschmückt. Die Fenster sind geöffnet. Die alten Bäume im Park rauschen. Die Herbstsonne scheint. Der frisch gemähte Rasen duftet, links und rechts der gekiesten Wege, über die sie nach dem Essen wandeln: Graf Hardenbergs Tochter Reinhild mit Claus von Stauffenbergs Ordonnanzoffizier Werner von Haeften und Ursula Kardorff mit Fritzi Schulenburg.

Das also ist er. Das ist der Mann, von dem die jüngeren Offiziere Ursula Kardorff vorgeschwärmt haben. Das ist Wolfis jüngster Bruder, der nichts von Ursulas vergangenem Verhältnis mit Wolfi weiß.

»Ich kenne Ihren Bruder«, sagt Ursula.

Sie hat das keinesfalls sagen wollen. Nun ist es gesagt. Die Schulenburgschen Raubvogelaugen werden hell.

»Ich kannte Ihren Bruder auch«, sagt er. »Jürgen. Darf ich Ihnen sagen, wie leid es mir tut.«

Jürgen ist gefallen. Ursulas Augen füllen sich mit Tränen, sofort, jedes Mal, immer noch, wenn jemand Jürgens Namen erwähnt.

»Und wir beide haben bei Generaloberst Hammersteins Beerdigung nebeneinander gesessen«, sagt Fritzi. »Sie und ich. Im April. Ich wusste nicht, wer Sie sind, aber ich erinnere mich an Sie.«

Sie erinnert sich nicht. Sie würde diesen Fremden am liebsten umarmen. Sie würde ihn gern streicheln, von ihm gehalten werden, an seiner Schulter die Augen schließen. Fritzi in seinen alten blauen Hosen, mit seinem von Schmissen zerhackten Gesicht sieht überhaupt nicht aus wie sein Bruder. Wolfi ist schön, er ist elegant. Aber Fritzi hat die wegwerfende Schulenburg-Art. Er hat etwas Leises, Zwingendes, das Wolfi fehlt. Ein Stück vor ihnen gehen Reinhild Hardenberg und Werner Haeften. Reinhild hat Werners Arm genommen. Sie lachen, sie schäkern miteinander.

»Ich habe Ihren Bruder gerngehabt«, sagt Fritzi. »Wie kurz doch die Spanne Leben ist, nicht wahr? Nur ein Augenblick, gegenüber der Ewigkeit. Wobei der Tod ja eigentlich keine Schreckensgestalt ist. Er ist nur etwas so Fremdes. Aber wenn wir wesentlich leben, können wir vielleicht langsam in diese Fremdheit und Unfassbarkeit der ewigen Welten hineinwachsen.«

Er hat das auch seiner Frau geschrieben.

Ich möchte so fest und tief in Gott verwurzelt sein, dass ich dem Tod, wo und wie er mich auch trifft, wie einem Freund begegne.

Ursula Kardorff sitzt an der abendlichen Tafel. Die Kerzen brennen, die Suppe ist aufgetragen. Fritzi Schulenburg ist fort. Wo ist er hin?

»Wir haben unser Haus in Breslau aufgegeben«, hat er gesagt. »Die Städte sind zum Untergang verdammt. Meine Familie lebt jetzt bei meiner Schwester in Mecklenburg auf dem Land. Sie sind dort in Sicherheit, meine Kinder und meine Frau.«

Meine Frau. Ein anderer hätte sagen können: mein Liebstes auf Erden, und es hätte leerer geklungen. Eine große Traurigkeit ist über Ursula Kardorff gekommen. Wird jemals jemand dieses Wort auf sie münzen? Wird jemals jemand, noch wenn er mit anderen spricht, plötzlich in diesem Gespräch sie ansprechen, mit dieser Anrufung Ursula Kardorff meinen,

Meine Frau

Mein Mann

»Die großen Städte waren immer ein Irrweg. Sie saugen das Leben der Länder aus, die um sie her verdorren. Die Bomben sind somit auch eine Chance. Ich arbeite gerade an einer Denkschrift über Bombenzerstörungen und Wiederaufbau, die auf alle diese Dinge eingehen wird. Die Menschen erkennen ja jetzt, wie verletzlich und unnatürlich diese Zusammenballungen sind. Wehrlos bieten sie sich der Zerstörung dar, und nichts wird von ihnen bleiben als der Wind in den Ruinen. Aber auch das Abreißen kann ja ein gestalterischer Akt sein. Wir werden zur Natur zurückkehren, zu einem Leben in überschaubaren Gemeinschaften. Statt als städtische Nomaden bindungs- und traditionslos durch ein unfruchtbares Leben zu treiben, zynisch, gefangen in banaler Tatsachengläubigkeit, werden wir in die Geborgenheit dörflicher Siedlungen zurückfinden.«

Das hat er gesagt. Und dann ist er frohgemut nach Berlin zurückgefahren, in die große Stadt, in der er nur noch ein kleines Zimmer bewohnt.

Und wozu mehr besitzen? Fritzi war in den vergangenen Monaten auf der Krim, er hat für das Reichsernährungsministerium in Berlin gearbeitet, er war in Paris, dann ist er nach Belgien gefahren. Er ist immer unterwegs. Und sein Zimmerchen bei Rechtsanwalt Rüdiger von der Goltz gefällt ihm. Es ist einfach, spartanisch, blitzsauber, eine Mönchszelle. Durch das Fenster kann man über den Terrassengarten hinweg auf den Wannsee blicken. Fritzi sehnt sich nach Reinheit, nach einem schlichten Leben, wie er es bisher nur an Charlottes Seite und als Soldat gefunden hat.

Er hofft, dass er dieses Leben nach dem Umsturz führen kann.

Er ist für die Zeit danach guten Mutes: Es gibt viel unterdrückten Ärger in der Verwaltung. Fritzi hat im Frühling in Kopenhagen mit Best gesprochen, der mit deutlichen Worten seine Enttäuschung darüber ausgedrückt hat, dass die Deutschen nicht das Führungsvolk sind, das er einst vor Augen hatte. Wozu hat man die rassische Auslese eigentlich so unbarmherzig vorangetrieben, wenn alles, was dabei herausgekommen ist, ein im Herrenwahn befangenes Volk von Dummköpfen ist? Führung gelingt auf Dauer nie gegen den Willen der Geführten, das ist doch sonnenklar. Und nun wird Deutschland auch noch den Krieg verlieren und damit für lange Zeit jede Autarkie einbüßen. War denn die ganze Mühe für nichts?

Und auch im Inland wächst die Kritik. Die Denkschrift über Bombenzerstörungen und Wiederaufbau, die Fritzi für das Regime verfasst, das er stürzen will, ermöglicht es ihm, sich frei auf den Ämtern zu bewegen, hier Öl ins Feuer zu gießen, dort ein wenig nachzulegen. Er hat dabei erfahren, dass das Justizministerium nach Kriegsende eine Aufwertung des Richterstands erwartet, unter Zurückdrängung der Gestapo. Im Auswärtigen Amt ist der Plan eines Europäischen Bundes souveräner Staaten aufgetaucht, die auf freiwilliger Basis miteinander kooperieren. Eine Kommission von Verwaltungsfachleuten hat mit scharfen Worten die schädliche und lästige Überlappung von Zuständigkeitsbereichen gerügt, die immerwährenden Kompetenzkonflikte und die ständige Einmischung der Sonderbehörden sowie die Tatsache, dass die Gestapo praktisch den letzten Grad von Unabhängigkeit erreicht habe, wie man sich auszudrücken beliebte. Und hat Fritzi all das nicht schon immer angeprangert? Er ist wirklich sehr zufrieden.

Es ist immer zu begrüßen, wenn der Mensch einsichtig wird, auch wenn es erst so spät am Tage geschieht. Nach dem Sturz des Regimes werden all diese braven Volksgenossen jedenfalls willig für eine neue Regierung arbeiten: Und dann wird Fritz-Dietlof von der Schulenburg zu seiner Familie zurückkehren.

Er wird wieder zu Charlotte und den Kindern ziehen, die bei seiner Schwester auf Trebbow leben: Schloss und Gut Trebbow, im Besitz CU von Barners, den Tisa am Tag des Kriegsausbruchs geheiratet hat.

Charlotte glaubt manchmal nicht mehr daran, dass sie jemals wieder ein normales Familienleben mit ihrem Mann führen wird. Wobei, wer tut das schon? Alle Familien sind auseinandergerissen. Und jedenfalls schreibt Fritzi lange Briefe. Charlotte erhält Stimmungsbeschreibungen aus Paris, einen Bericht über die Kathedrale von Chartres, die Schilderung eines Bades im Atlantik. Sie folgt ihm auf langen brieflichen Meditationen über Geschichte, Bestand und Zukunft des deutschen Beamtentums. Sie lässt sich das Porzellan beschreiben, von dem er bei General Stülpnagel gespeist hat,

Dunkelblaue Teller, dünner Goldrand.

Sie erfährt, dass mitten im Krieg das Standbild der Jungfrau von Orleans neu vergoldet worden ist,

So demonstriert der Franzose!

Der Feuersturm, der Hamburg vernichtet hat, hat noch den Himmel über Trebbow verdüstert, achtzig Kilometer weit fort. Charlottes Schwägerin Tisa ist nach Schwerin gefahren. Die Stadt war voller Flüchtlinge. Tisa hat zwei Dutzend von ihnen mit nach Trebbow gebracht. Sie hat Platz in den Nebengebäuden geschaffen, in den Häusern der Gutsarbeiter, im Schloss selbst. Sie haben ein paar alte Herde für die Leute aufgetrieben, Kellerecken für Kartoffeln geräumt. Natürlich streiten die Flüchtlinge sich ständig. Sie streiten um Platz im Fliegenschrank, sie streiten, weil sie einander auf die Nerven gehen, sie streiten, weil sie wünschten, die anderen wären nicht hier, wo sie selbst untergekommen sind. Sie mäkeln, sie hadern, sie maulen, sie meckern. Dies ist das Volk, das Fritzi so liebt.

Dies ist das Volk, für das Fritzi sich einsetzt. Dies sind die Leute, für die er seine Familie vernachlässigt. Charlotte trägt das waldelfengrüne Kleid, das Fritzi ihr bei Braun Unter den Linden ausgesucht hat. Noch passt es. Charlotte ist wieder schwanger. Fritzi wird es sicher schaffen, auch zu dieser Geburt nicht in Trebbow zu sein. Als Schuschu zur Welt kam, war er kaum aus der Tür, als das Wasser brach. Sie hat ihm noch das Dienstmädchen nachgesandt, aber das hat ihn nicht mehr erwischt. Als Beba kam, in Ostpreußen, war er in Berlin. Als Fritz in Berlin geboren wurde, weilte er in Breslau. Als die kleine Charlotte in Breslau geboren wurde, hielt er sich gerade in Krakau auf.

Charlotte hasst diesen Krieg.

Sie hasst Fritzis ewige Abwesenheit. Die Kinder sind kein Ersatz für Fritzis Witz, seine Schlagfertigkeit, seine Präsenz. Sie ist den Kindern kein Ersatz für ihn: Er tobt mit ihnen, er feuert sie an. Er rangelt und boxt mit seinem Sohn, er kitzelt die Kleinen und lässt sich von den Großen Gedichte vorlesen, er sitzt einen ganzen Regennachmittag leise summend vor dem Bücherregal, zieht dieses Buch heraus, jenes, liest, stellt wieder weg, ordnet um.

Es sieht dann so aus, als ordnete er sein Leben. Was wäre die richtige Ordnung? Was wäre das Kriterium? Das Alphabet? Größe, Höhe, Farbe des Einbands? Erwerbungszeitraum, Entstehungsjahr, Brisanz, Qualität? Thema? Gattung? Ethnische Zugehörigkeit des Autors: volksdeutsch, europäisch, jüdisch versippt?

Fritzi sitzt und ordnet, sitzt und liest. Er liest ein paar Zeilen, er schiebt das Buch wieder ins Regal. Sehr schön ist das. Er sitzt da, sie geht aus dem Zimmer und tut beruhigt etwas anderes, und wenn sie zurückkommt, ist er immer noch da. Er sieht zu ihr auf. Das Schulenburgsche Lächeln wetterleuchtet. Er schlägt das Buch zu und sagt: »Ich werde jetzt von ein Uhr zweiundvierzig bis zwei Uhr zehn schlafen. Und dann gehen wir beide Tennis spielen.«

Und so geschieht es. Seine Anwesenheit ist im ganzen Haus fühlbar, noch wenn er schläft. Und dann erwacht er um zwei Uhr zehn, und auf dem Weg zum Tennisplatz fasst er ihren Oberarm und streichelt sanft und verborgen seine Innenseite.

»Wenn die Kinder einmal aus meiner Verantwortung entlassen sind, dann werde ich Theologie studieren. Wir werden ein Jahr nach Paris gehen und ein Jahr nach Rom, du und ich. Und dann werde ich Landpfarrer, irgendwo im Osten des Reichs.«

Charlotte ist schwanger. Es ist das Jahr 1943. Zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Jahre wird man auch diesem Kind Zeit lassen müssen, bis es seinen Vater nicht mehr braucht. Im Jahr 1965 wird Fritzi dreiundsechzig Jahre alt werden. Und dann also will er in Rom studieren.

Aber warum nicht? Wenn er es sagt? Was traut sie ihm nicht zu? Und jedenfalls lässt es sich nicht ändern. Er lässt sich nicht ändern.

»Mein Liebesgenius. Wenn man dem Sturm nicht trotzen will, hätte man sich nicht aufs Meer hinauswagen sollen. Natürlich werden wir jetzt sehr herumgeschleudert. Entscheidend ist aber nur, dass Kurs gehalten wird. Das deutsche Volk muss ja vom Schicksal erbarmungslos hart geschlagen werden, damit die Scheinwerte zerbrechen und der echte Kern wieder wachsen kann. Und weißt du, es scheint mir, als ob im Innersten des Sturms eine große Ruhe herrscht, in der sich die Dinge heiter fügen. Trotz allem, was wir noch verlieren werden, fügen sich mitten im tobenden Wirbel die guten Kräfte zu einer großen Ordnung zusammen.«

Und dann ist er fort. Er hat das Haus verlassen, und es liegt leer und sinnlos um sie.

In der Dunkelheit spielen die Scheinwerfer wie die Beine eines Insekts, das nach der Ausrottung der Menschheit durch die Ruinen wandert. Margarethe tippt. Eta tippt.

Aufruf an das Volk

Aufruf an das Heer

Die Ermordung Hitlers ist unumgänglich. Sie werden diese Tat einer Clique von Parteifunktionären anlasten. So wird es ihnen möglich sein, Partei- und SS-Größen gefangen zu setzen und die Macht an der Heimatfront zu übernehmen. Das Frontheer muss die Ostfront halten, bis die neue Regierung sich auf die Seite des Westens stellen kann. Die Armee im Westen muss den Putsch unterstützen. Und Generalfeldmarschall Witzleben soll den Oberbefehl über die Wehrmacht übernehmen.

Er ist auch gern bereit dazu.

»Was habe ich Ihnen damals gesagt, Tresckow? Bleiben Sie in der Wehrmacht, wenn Sie etwas verändern wollen.«

»Bringen wir es zu Ende. Also schreib, Fräulein Övchen.«

Der Führer Adolf Hitler ist tot

Henning von Tresckow und die Seinen werden niemals Moskau einnehmen, aber mit Mut, Glück und Gottes Hilfe Berlin.

Henning ist fort. Er ist zurück an die Front geschickt, an den Südabschnitt der Ostfront, als Chef des Stabes der 2. Armee. Eta ist von der Arnimschen Villa wieder in ihre eigene Wohnung in der Potsdamer Burggrafenstraße gezogen. Die Kinder sind für ein paar Tage aus Wartenberg gekommen, um ihre Oma zu besuchen. Jeden Tag fahren sie mit der Straßenbahn bis zur Orangerie oder sie laufen durch den Schlosspark, dann nehmen sie den Weg hintenherum durch das Gut Bornstedt: Und da liegt das Schloss.

Das Dornröschenschloss von Lindstedt, heiter und südlich, das Eta nicht mehr einlässt: Sie kommt nicht mehr in Lindstedt an. Sie steht im Säulengang. Ihr Fuß steht dort, auf dem Boden zwischen den Säulen. Sie sieht ihren Fuß dort stehen. Aber sie ist nicht dort. Es gelingt ihr nicht, einzutreten in das Schloss, in seine heitere Geborgenheit, die Säulen stützen nichts. Sie enden im Nichts. Die Kuppel ist unnötig, überflüssig, es ist alles überflüssig und falsch, der Mammutbaum im Garten ist falsch, dies ist nicht Italien und schon gar nicht Amerika, das Schloss ist eine Lüge, ein schlechter Witz. Eine Absurdität. Und früher war es ihr Zuhause. Der große Saal, die Bibliothek, die Fenster nach Westen hinaus mit dem schönen Abendlicht. Der Laubengang, die im März blühenden Zierpflaumen. Die Platanen, Eichen, der Wein, die Steinbänke, die gerechten Wege: Sie bieten Erika von Tresckow keine Zuflucht mehr.

Romai ist mit den Kindern und Vera nach Kreisau gezogen. Die Berliner Wohnung der Reichweins ist ausgebrannt. Sie haben nun nichts mehr. Edolf trägt Carl Bernds Anzug: Freya hat für den alten Freund ihres Mannes die Sachen des jüngsten Moltke-Bruders zusammengepackt, der in Afrika umgekommen ist. Romai besitzt immerhin noch die Kleider, die sie in Hiddensee für sich und die Kinder mit dabeihatte.

Sie haben drei Zimmerchen im Dach des Schlosses bezogen. Freya hat Betten, Tisch und einen Herd aufgetrieben. Und hat Romai einst geklagt, in Tiefensee wäre das Leben beschwerlich? Nun kann sie für Tiefensee dankbar sein. Das Leben im Dorfschullehrerhaus war eine gute Übung: Romai muss von jetzt an jedes Holzscheit, jeden Sack Kartoffeln die vielen Schlosstreppen hinaufschleppen.

Das Schloss ist voll belegt. Die Tanten sind da, außerdem Flüchtlinge aus der Hauptstadt, unter ihnen eine alte Dame mit ihren fünf verwaisten Enkeln, die in Kreisau Zuflucht gefunden haben. Die Reichwein-Kinder haben sich schon mit ihnen angefreundet. Sie gehen auch zum Berghaus hinauf und spielen mit Casparchen und Konrädchen. Sie sind froh, hier auf dem Gut. Und Veras Augen leuchten: Das offene Feld, der große Hof, die Gerüche von Tieren und Gras. Vera geht mit Sabine auf dem Arm. Sie zeigt dem Kind alles, sie erklärt alles. Sie flüstert mit ihr. Sie singt leise, auf Russisch. Vera ist ein großes Mädchen geworden. Fast könnte Sabine ihr eigenes Kind sein.

Romai wäscht Wäsche, kocht, putzt. Abends liegt sie in einem Bett, das ihr nicht gehört. Nebenan singt Vera für Sabine. Sie teilt das Bett mit der kleinen Sabine, bis Freya ein weiteres Bett aufgetrieben hat. Romai liegt wach. Sie ist jetzt ein Gast. Sie denkt an ihren Mann in Berlin. Edolf ist bei Romais Schwester untergekommmen. Romai und ihr Mann haben kein gemeinsames Heim mehr.

Helmuth Moltke ist in Dänemark gewesen, um Kim Bonnesen, einen dänischen Bekannten aus dem Schwarzwaldkreis um Fraudoktor, vor der bevorstehenden Deportation der dänischen Juden zu warnen. Bonnesen hat die Warnung weitergegeben, allerdings im Grunde überflüssigerweise: Der deutsche Schifffahrtsattaché in Kopenhagen Georg Ferdinand Duckwitz hatte die Rettungsaktion bereits ausgelöst.

Werner Best ist schwer gerüffelt worden, weil er all die Juden hat entkommen lassen. Es hat Best nicht tiefer berührt. Was will man von ihm? Die Juden sind weg. Genügt das nicht? Die Krittler sollten sich besser um ihren eigenen Kram kümmern. Die Großmäuler haben alles verspielt: den Sieg, den Krieg, das Reich, den Osten.

Helmuth schreibt an Freya.

Best ist kein schlechter Mann, er ist jedenfalls klug. Sie haben mir alle versichert, dass das Erschießen Einzelner nichts nutzen und politisch ungeheuer viel schaden würde. Am meisten hat mich beruhigt, dass Best auf diesem Punkt ganz kategorisch war. Nur weiß ich nicht, wie er sich auf Dauer seine Stellung denkt.

Weiß es Best? Der SS-Obergruppenführer, ein Nationalsozialist der ersten Stunde, der Carlo Mierendorff aus dem KZ geholt hat: Als Leiter des Amtes 1 des Reichssicherheitshauptamts ist er verantwortlich für die Aufstellung der Einsatzgruppen, die in Polen Tausende Juden und Angehörige der polnischen Führungsschicht ermordet haben. In Frankreich hat er sich als Antreiber der Erfassung, Enteignung und Massendeportation von Juden hervorgetan. Nun ist er Gesandter des Regimes in Kopenhagen. Was erwartet er für sich nach Kriegsende?

Freya ist sehr niedergeschlagen. Ihr Haushalt wächst und wächst: Die schwangere Asta ist da, die Tanten mit Anhang, Romai Reichwein mit ihrer Familie, es wimmelt von Kindern, und nun hat Freya in den letzten Wochen fast alle ihre Hühner, Enten, Gänse und Puten verloren.

Die toten Tiere lagen in den Ställen und Gehegen, auf den Wiesen, an den Ufern der Peile. Tagelang zog der Brandgeruch der schwelenden Kadaver über das Gut. Freya hätte weinen mögen, wenn sie an die Entenküken dachte, an die Hühnerküken in Frau Roses Bett, an die jungen Truthähne, aufgezogen mit aller Liebe und Mühe, um so viele Menschen zu ernähren und zu erfreuen. Helmuth hat den Kopf geschüttelt. Er hat ihr vor Augen gehalten, dass sie sich von diesen Dingen nicht beunruhigen lassen darf. Geflügel zu haben ist sicher sehr nett,

aber es ist ganz gleichgültig im Verhältnis zu der Frage, ob du wohl, ausgeruht bist und ein geöltes Seelchen hast. Auf Wiedersehen, mein Lieber, pflegen Sie sich, pflegen Sie sich, vergessen Sie nie, dass von Ihrer guten Laune und Geduld Ihre ganze Familie zehrt.

Freya kann sich aber nicht helfen. Sie ist wie erdrückt. Sie hadert mit den unerreichbaren Mächten, deren Ratschluss es war, alles Federvieh dahinzuraffen. Warum, wozu, was war der Sinn? Als Antwort ist ihr gestern eines ihrer Bienenvölker eingegangen, an einer rätselhaften Seuche, die nicht einmal der alte Stäsche kennt.

»Puppi ist verhaftet worden.«

Es ist September 1943. Dr. Friedrich Carl Sarre steht in Helmuths Büro. Seit 1940 betreibt Helmuth Moltke mit ihm und Dr. Eduard Waetjen, der auch an Helmuths Plänen für die Zeit nach dem Krieg beteiligt ist, eine gemeinsame Anwaltskanzlei.

Waetjen ist mit Sarres Schwester Irene verheiratet. Die Familie lebt in Bern, wo Waetjen für die Abwehr tätig ist. Sarres andere Schwester Marie Louise, Puppi genannt, ist eng mit Himmlers Anwalt Carl Langbehn befreundet. Sie hat Langbehn als seine Sekretärin in die Schweiz begleitet, um bei der Gelegenheit die Waetjens zu besuchen. Und nun sind Langbehn und Puppi verhaftet worden. »Langbehn hatte Fühler nach Amerika ausgestreckt«, sagt Eddy Waetjen zu Helmuth Moltke. Er ist zu einem kurzen Besuch nach Berlin gekommen. »Er hatte Kontakt zum OSS aufgenommen. Er wollte Allen Dulles treffen, und dabei ist er bei Gero von Schulze-Gaevernitz gelandet.«

Der Sohn von Gerhard von Schulze-Gaevernitz, mit dem Helmuth Moltke einst im Umfeld der Waldenburger Arbeitslager zu tun hatte, ist zu Beginn der dreißiger Jahre nach Amerika emigiriert und inzwischen ein enger Mitarbeiter von Allen Dulles, dem Gesandten des US-Geheimdienstes Office of Strategic Services in Bern.

»Es scheint, dass Langbehn in Himmlers Auftrag unterwegs war«, sagt Waetjen. »Er hat jedenfalls mehr oder minder direkt angefragt, ob Amerika bereit wäre, mit Deutschland einen Separatfrieden abzuschließen, uns aber den Krieg gegen die Sowjetunion weiterführen zu lassen, wenn der Reichsführer-SS den Führer stürzen würde.«

Irgendetwas muss durchgesickert sein. Langbehn ist also verhaftet worden. Und Himmler hat ihn daraufhin natürlich sofort fallen lassen.

»Ganz im Einklang mit demWahlspruch der SS«, sagt Helmuth Moltke.

Meine Ehre heißt Treue

»Gibt es inzwischen denn etwas Neues von der armen Puppi?«

Die Witwe des ehemaligen Kaiserlichen Gouverneurs von Samoa und deutschen Botschafters in Tokio Hanna Solf und ihre Tochter Lagi Gräfin von Ballestrem stehen im Mittelpunkt eines Freundeskreises, der sich regelmäßig in der Alsenstraße trifft und zu dem unter anderem Helmuth Moltkes Bekannter Otto Kiep, der mit Adam von Trott zu Solz befreundete Diplomat Albrecht Graf von Bernstorff, Theodor Heuss’ Sohn Lutz, Ernst von Harnack und Puppi Sarre gehören.

Heute hat man sich zu einem Teenachmittag bei Elisabeth von Thadden versammelt, der Gründerin des reformpädagogischen Grundsätzen verpflichteten Evangelischen Landerziehungsheims für Mädchen im Wieblinger Schloss bei Heidelberg, das auch Maria von Wedemeyer und Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg besucht haben. 1941 ist die Schule wie alle konfessionellen Privatschulen verstaatlicht worden. Elisabeth Thadden ist nach Berlin gezogen und betätigt sich jetzt beim Roten Kreuz, in einer Stellung weit unterhalb ihrer Möglichkeiten. Es ist der 10. September 1943.

»Ich freue mich so, dass wir heute alle einmal bei mir sein können«, sagt Elisabeth Tadden zu Otto Kiep. »Darf ich Sie mit Dr. Reckzeh bekanntmachen? Herr Dr. Reckzeh kommt gerade aus der Schweiz. Er hat uns so liebe Post mitgebracht. Ich werde den Brief nachher noch verlesen.«

Der Solf-Kreis hat Verfolgten bei der Flucht in die Schweiz geholfen. Er hat auch Lebensmittelmarken für in Berlin Untergetauchte beschafft. Vor allem aber trifft man sich hier, um offen miteinander zu sprechen und beieinander ein gewisses Maß an Freiheit und Erleichterung zu finden.

»Wenn nur auch die arme Puppi hier sein könnte«, sagt Elisabeth von Thadden. »Wenn man ihr nur irgendwie helfen könnte.«

»Ja, es ist wirklich schrecklich«, sagt Paul Reckzeh. »Man gewinnt wirklich den Eindruck, das Regime wird immer unerbittlicher. Es ist unvorstellbar, was gänzlich Unschuldige erleiden müssen.«

So wird die Luft dünner, auch um Helmuth Moltke. Er spürt es. Er spürt den ungeheuren Sog des sich abzeichnenden Untergangs, der alles mit sich in die Tiefe reißen wird. Es erschöpft ihn. Seit Neuestem werden auch ständig Sachbearbeiter vom Sicherheitsdienst bei ihm vorstellig, die sich dringliche völkerrechtliche Fragen erläutern lassen wollen. Diese neue innige Beziehung erscheint ihm rasend komisch und etwas bedenklich. Helmuth ist sehr müde. Er denkt ständig an Kreisau. Wenn der Krieg zu Ende ist, wird er sich nach Kreisau zurückziehen, zu Freya und den Söhnchen, und nie wieder von dort weggehen.

Er kann es sich aber nicht vorstellen. Er kann sich die Welt nach dem Krieg nicht vorstellen. Früher konnte er es.

Er hat es getan: All die Jahre seit jenem ersten Brief an Peter hat er daran gearbeitet, dieses Reich zu überspringen und ein anderes zu entwerfen. Der Entwurf ist fertig. Helmuth hat die Vision verloren.