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Jan Vanstina

Ich bin Lukan

Roman

Kuebler Verlag

Das Buch

Ein Jugendlicher wächst in einer Gesellschaft auf, der die Fähigkeit zur Fortpflanzung abhanden gekommen ist. Ihre Menschen wissen nichts von Sinnlichkeit und Individualität, denken anders und erleben die Dinge anders. Als er dann in „unsere“ Welt kommt, macht er – wohlüberlegt und doch liebenswert ungeschickt – die Erfahrung von Sinnlichkeit, vom Kindsein, von Familie und von der Liebe. Sein unschuldiges Erleben kann uns lehren, dass Gefühle mehr sein können als die unerreichbar gewordenen Modelle der mechanischen Liebe und Sinnlichkeit, die uns aus sozialen und unsozialen Medien mundgerecht entgegen kommen – und uns auf gewisse Weise zu Klonen unserer selbst zu machen drohen.

Der Autor

Jan Vanstina, Jahrgang 1960, ist ein Kind der Nach-68er-Generation – die Generation der Zuschauer. In den 70er Jahren wird er als letzter von fünf Kindern mit drei Programmen in Schwarzweiß sozialisiert. In den 80ern studiert er Geisteswissenschaften. In den 90ern lernt er zu zappen und seine Welt mit der Fernbedienung zu modellieren. Zu jung für Woodstock, linke Zellen und Kommunen, zu alt, um als "digital native" andere Sorgen zu haben, verlegt sich der gut ausgebildete Babyboomer auf Kreation, Kommunikation und aufs lustvolle Philosophieren über das Leben der Menschen – und über ihre seltsame Unfähigkeit, sich selbst zu vergessen.

Jan Vanstina

Ich bin Lukan

Reise in die Zeugenwelt

Roman

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Impressum

Copyright © 2012 Kuebler Verlag GmbH, Lampertheim. Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Einscannen oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Alex Fischer

ISBN 978-3-86346-125-6

*

Ich meine wirklich, der Gegensatz von bewusst und unbewusst hat auf den Trieb keine Anwendung. Ein Trieb kann nie Objekt des Bewusstseins werden, nur die Vorstellung, die ihn repräsentiert. Er kann aber auch im Unbewussten nicht anders als durch die Vorstellung repräsentiert sein. Würde der Trieb sich nicht an eine Vorstellung heften oder nicht als ein Affektzustand zum Vorschein kommen, so könnten wir nichts von ihm wissen.

Sigmund Freud , Unbewusste Gefühle (1915)

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Was anders wäre, hat noch nicht begonnen.

Theodor W. Adorno

TEIL I

Prolog

Die Fünfer und Zehner wirbelten um mich herum. Es war schön und machte Freude, sie zu betrachten. So viel Neues und sicherlich Gutes lag noch vor ihnen.

Ich wusste ja schon, was kommen würde. Also erhob ich meine Stimme kurz und rief: „Ihr wollt also wirklich, dass ich euch die Geschichte erzähle?“ Mit einem Schlag waren sie um mich herum still. Dann ging ein wildes Geschnatter los: „Ja, erzähl sie uns. Du musst uns genau erzählen, wie es war!“ Mit der Hand gebot ich ihnen, sich im Halbkreis hinzusetzen.

Und bald saßen sie brav vor mir. Mit großen Augen und manche von ihnen mit wild in alle Richtungen wachsenden Haaren.

„Also gut, dann will ich beginnen. Es war so…“

Kapitel 1

Immer geradeaus…

Der Tag, an dem alles anders wurde, war eigentlich ein Tag, der genau so war wie jeder andere vorher.

Ich ging damals unseren Weg. Der Weg von dem ich wusste, dass alle ihn gegangen waren im Lauf der Zeit. Links die Schienen der Stadtbahn, die – wie sie sagten – immer leiser und schneller geworden war. Rechts die Häuser und Villen des alten Viertels. Wenn man sie so sah, dachte ich wie alle vor mir, dann sollte man nicht meinen, dass etwas geschehen war. Sie lagen da wie früher. Klotzig schöne Villen, machtvoll teils, drunter auch kleinere Ein-Team-Häuser wie das, in dem ich selbst aufwuchs. Eckig und robust mit rundem Eingangsbogen, um den Rosen wuchsen. Rote Rosen, an denen sich jeder von uns mindestens einmal beim Heimkommen den linken Ärmel zerriss. Es war nicht zu vermeiden, das wussten wir. Also blickten wir nun schon auf ganze drei Phylogenasen aus je zwölf ontogenetischen Stadien zurück. Wir nahmen es gelassen: Das waren zwar einerseits 36 zerrissene Ärmel. Aber andererseits waren das ja immerhin auch 36 Zeichen dafür, wie sehr wir in uns ruhten. Im Unterschied zu Typen, die sich stärker wandelten, war unsere Struktur schon in den ersten ontogenetischen Stadien deutlich zu erkennen.

Ich biss in den grünen Apfel, den mir die Amme wie jeden Morgen mitgegeben hatte. Die Ammen wussten, dass wir morgens auf dem Weg zur Schule gern grüne Äpfel essen. Und so kaute ich auch an diesem Tag genüsslich das säuerliche Fleisch des Apfels, während ich mich wie jeden Morgen die lange Gerade entlang quälte. Wie immer versuchte ich, mich selbst von der Quälerei durch Gedankenspiele abzulenken: Drei komplette Phylogenasen lang waren wir den Weg schon lang gelaufen. Drei mal zwölf ontogenetische Stadien – ein ontogenetisches Stadium hat fünf Jahre – das sind 180 Jahre. Da wussten wir wenigstens schon vorher ganz genau, dass es jeden Morgen eine Quälerei sein würde, die lange Gerade hinter sich zu bringen. Und dadurch wussten wir auch präzise, dass wir die Qual durch einfache Hilfen wie zum Beispiel schöne saure grüne Äpfel ein wenig lindern konnten. 180 Jahre mal 365 Tage. In Äpfeln ausgedrückt wären das 65.700 Äpfel, die uns trösten konnten. Und ebenso viele Rechenexempel wie dieses, die uns manche Qual besser ertragen ließen. Jeden Tag. In jedem ontogenetischen Stadium. Und in jeder Phylogenase. Gut zu wissen. Der Schmerz ist kleiner, wenn wir ihn kennen, sagte mein Fünfziger oft. Und er hatte Recht.

Der Weg also. Wie oft war ich ihn selbst schon gegangen. Bei Wind und Wetter. Lang war er. Viel zu lang für uns. Zwei, vielleicht drei Kilometer, die nicht enden wollten. Immer und immer wieder. Jeden Tag auf dem Weg zur Schule. Jeder von uns. Immer wieder. Und jeder im Team verfluchte ihn mindestens tausendmal. 3 Phylogenasen mal 12 ontogenetische Stadien mal 1.000. Das waren sage und schreibe 36.000 Flüche! Dem Weg war das egal. Wir wussten es und hassten ihn deshalb wohl noch mehr, den langen geraden Weg. Und so ging es auch mir an jenem Morgen. Und wieder dachte ich: Wären da Kurven gewesen oder wenigstens ein paar Hindernisse, die den Blick auf die Strecke bis zum Horizont der Brücke, vor der die Schule lag, verstellt hätten – es wäre für mich als Lukanianer im dritten ontogenetischen Stadium soviel leichter gewesen. Aber der Fluss war schon in alten Zeiten begradigt worden – lange vor dem großen Ereignis. Und so spürte auch ich, wie alle anderen vor mir, angesichts der Strecke diese tiefe Unlust an der Geraden. Heute weiß ich es natürlich zu dechiffrieren, dieses überproportional starke Gefühl der Unterwerfung unter die Willkür des Weges, der doch auch nur dem Flusslauf folgte, den Menschen begradigt hatten. Ein einfacher aber bedeutsamer Teil des Erbes, das mein Team trug, ein klassisches Kontra-Setting, das aber wohl nur derjenige empfinden kann, der es auch denken und akzeptieren kann. Aber welcher Typ verstand schon wirklich die Strukturen des anderen? Außer natürlich im eigenen Team, da verstanden wir uns. Und das, was wir taten. Ich wusste deshalb genau: So schwer es auch fiel, ich musste diese primitive originäre Erfahrung ertragen. Die Unlust an der Geraden – am immer gleichen Geradeaus des Weges.

Nur noch ein halber Kilometer. Heute war ja mein Fünfziger da. Mit dem, so dachte ich, würde ich versuchen, unsere Unlust an der Geraden für unseren Typ frei zu dechiffrieren. Das freie Dechiffrieren liebte ich schon damals. Mit dem Dreißiger konnte man so was nicht machen. Zu hart und zu schnell. Der Vierziger? Der war fast nie da. Der Fünfziger dagegen war schon im zehnten – also fast im letzen – ontogenetischen Stadium. Er hatte damit nahezu alle Lebens- und Entwicklungsphasen unseres Typs durchlebt. Zwölf ontogenetische Stadien waren es für uns im Ganzen, der Fünfziger hatte zehn davon durchquert. Und durch seine Einzelentwicklung seinen gerechten Teil zur langfristigen phylogenetischen Entwicklung unseres Typs, der sich ja aus allen ontogenetischen Stadien aller Individuen unseres Typs zusammensetzt, beigetragen.

Mit diesen Gedanken fuhr ich also in den Schulhof ein und war froh, endlich angekommen zu sein. Oft denke ich heute: Hätte ich zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, was auf mich zukam, hätte ich wohl gern noch eine Runde gedreht...

Ich wusste ja nicht, dass es dieser Tag sein würde an dem alles, aber auch wirklich alles anders werden würde. Für alle.

Noch ahnte ich also nichts, als ich in den Schulungsraum kam, der gerade erst kürzlich mit den neuesten Recall-Techniken ausgestattet worden war. Seit kurzem konnte man aus den kollektiven Team-Erinnerungen aus sagenhaften drei Parachronie-Zyklen nicht nur nahezu alle vom Team gelisteten Heuristika und Chiffern nach fast allen Strukturmotiven abrufen, sondern auch sein eigenes Set in einer eigenen Partition neu anlegen.

Dass diese Individual-Logbücher überhaupt möglich wurden, hielten übrigens manche Typen für gefährlich. Ein Haufen eigene Gedanken wären das, die nutzlos gedacht würden und Zeit raubten. Und sie warnten, man solle den Gedankenmüll nicht vergrößern, nachdem man ihn über drei Phylogenasen hinweg systematisch verkleinert und die Spreu vom Weizen getrennt hatte. Aber so ist das, wenn Leute den Teufel an die Wand malen ohne zu wissen, wie er aussieht. Ich nahm mir vor, das mal zu dechiffrieren.

Kaum hatte ich also den Schulungsraum betreten, kam auch schon der Fünfziger rein. Aber er kam nicht allein. Der Vierziger war bei ihm! Den sah man nun wirklich selten in der Schule. War ständig operativ unterwegs. Wie man wusste, waren die Vierziger allgemein ja auch diejenigen, die zu gewissen Zeiten zyklisch in die unangenehme Situation kamen, dass das Dechiffrieren und das Denken selbst sie manchmal regelrecht in nauseale, manchmal sogar mimicritische Zustände versetzte! Warum eigentlich? Wir wussten es: Vierziger, so witzelten manche, sind so heftig damit beschäftigt, sich zu suchen, dass keine Zeit mehr zum Finden bleibt.

War der Gedanke erlaubt, dass man einfach ausgedrückt vom Denken und Dechiffireren die Nase voll hatte und „mal etwas anderes“ wollte? Im Grunde eine wirklich alberne Überlegung. Auch wenn sie nun schon 36 mal angestellt worden war. Weil doch weithin bekannt ist, dass die Summe der Gedanken ohnehin gleich bleibt. Also wirklich: Da konnte ich ja froh sein, dass ich noch eine Weile hatte bis ich Vierziger wurde. Noch fünf ontogenetische Stadien. Und wer weiß, vielleicht würde ich es in dieser Zeit schaffen, dieses nach wie vor ungelöste nauseatische Problem zu dechiffrieren und womöglich sogar zu transformieren – das wäre natürlich was!

Der Vierziger war also auch da. Während der Fünfziger mir zunächst wie gewohnt seine Fragen zu Stimmung, Denkhaltung und mentaler Aktivität stellte, saß der Vierziger nur still da und beobachtete mich. Fast hatte ich den Eindruck, dass er heute noch nachdenklicher und mürrischer als sonst wirkte. Aber irgendwie war da noch etwas anderes, das ich nicht so recht zuordnen konnte. So ein Glanz in seinen Augen, als er mich ansah. Heute weiß ich, dass es tatsächlich der Ausdruck von Stolz und Hoffnung war, den ich da sah. Diese so unmittelbare Art des sinnlichen Ausdrucks von sentimentalen Zuständen war für unseren Typ nun wirklich ungewöhnlich. Kein Wunder, dass ich sie nicht gleich identifizieren konnte, Aber ehe ich das alles dechiffrieren und verstehen konnte, arbeitete der Fünfziger noch ganz normal sein Programm mit mir durch. Dann wäre eigentlich Pause gewesen.

Aber der Fünfziger macht keine Anstalten, den Raum wie gewohnt zu verlassen. Stattdessen blieb er, ebenso wie der Vierziger, der mich die ganze Stunde über beobachtet hatte, sitzen. Nach einer überaus langen Minute des Schweigens, in der er den Anfang des Satzes, den er nun aussprechen würde, wohl in der Struktur des Schulbodens suchte, begann er: „Junge wir müssen reden“. Ja also, wenn das alles war. Ja sicher müssen wir das. Weiß ich doch schon lange, dass wir reden müssen. Das gehörte doch schon für die Kleinen im ersten ontogenetischen Stadium zu den ersten klaren Gedanken! „Nein, Junge, das meine ich nicht. Es ist etwas geschehen. Etwas sehr Bedeutsames. Und es kann sein, dass du darin eine Rolle spielen wirst. Ob das der Fall sein wird, werden wir sehen.“

„Erzähl weiter!“ riefen die Fünfer, Zehner und Fünfzehner, die da im Kreis um mich herumsaßen.

***

Kapitel 2

Der Plan: Zu den Zeugen!

Der Vierziger hatte also die ganze Zeit nur still in sich selbst hinein hörend und gleichzeitig mit wachem Auge mich beobachtend dagesessen. Nur seine Hand strich immer wieder durch seine leicht angegraute Mähne, als würde sie dort vergeblich Halt suchen. Oder wollte er die leichte weiche Wellenbewegung des Haars ertasten und sich damit der weiblichen Anteile im Wesen unseres Typs versichern? Abwegig wäre es aus seiner Sicht nicht gewesen: So viele Einflussfaktoren hatte das Kalkül, das er selbst vertreten zu müssen sich eingeredet hatte, dass er selbst nun die Kraft dessen spüren musste, was wir für unseren Typ in langer Arbeit des Dechiffrierens längst entmachtet glaubten: Angst und Unsicherheit.

Die Angst um die eigene Existenz war ein Thema, das uns lange beschäftigt und dann viel weiter gebracht hatte. Schon in der zweiten Phylogenase hatten wir sie zwar als eigentliche Angst vor der Existenz erkannt. Und damit den Durchbruch erreicht. Denn dieser wichtige Kerngedanke bildete kurz darauf auch die Basis für das Axiom vom parachronischen Vorteil: Wenn die Einzelexistenz das Problem ist, dann sind die Anderen die Lösung. Mit dieser grundsätzlichen und unumstößlichen Erkenntnis wurde die Basis für die aufwendige Entwicklung des Epistematen und der Recall-Technik gelegt! Der Gedanke war gut und einfach – und er war von uns: Wenn alle Lebenszyklen oder ontogenetischen Stadien eines Typs jederzeit vorhanden sind, waren und sein werden, dann muss ihr Wissen zu jedem Zeitpunkt verfügbar gemacht werden können. Und so versetzen uns die neuen Wissens-Technologien tatsächlich in die Lage, nicht nur alles zu wissen, was uns bisher geschehen war. Sondern, und das war eben das Grandiose daran, auch unsere eigenen Reaktionen auf fast jedes Ereignis bis in das kontextsensitive Verhalten jedes ontogenetischen Stadiums hinein weithin berechenbar zu machen.

Einmal einfach gesagt: Wir wissen nicht nur, was wir taten. Wir wissen meist auch ziemlich genau, was wir in diesem oder jenem Fall tun werden – oder würden. So Vieles wiederholt sich. Wer das erkennt, kann die Strukturen seines Verhaltens dechiffrieren. Der große Vorteil dabei: Wir erkennen nicht nur, wie wir uns in einem Setting aus vergleichbaren Situationen verhalten haben und können deshalb sagen, wie wir uns verhalten werden. Wir können darüber hinaus situativ Vergleichbares im ex-post Differentialurteil gemeinsam mit anderen Teams, insbesondere natürlich mit unseren Freunden, den Levinianern, bewerten und daraus lernen: Welches waren die Fehlerquellen? Welche Fehler wollen oder müssen wir machen? Und welche Fehler wollen wir vermeiden? Lediglich neue Kombinationen oder Realitätsausschnitte waren jeweils zu dechiffrieren – bildeten dadurch auch unseren Reichtum – speziell für unseren Typ auch den eigentlichen Spaß an all dem, was wir erlebten! Ja, wir wussten wirklich Bescheid...

Umso weniger verstand ich diese irgendwie untypische Haltung des Vierzigers. Wovor hatte er so offensichtlich Angst? Und warum? Angst war für uns doch unbegründet. Was mochte dahinter stecken?

„Hörst du mir zu, Junge?“ Der Fünfziger hatte wohl gemerkt, dass mich das Verhalten des Vierzigers beschäftigte. Er kannte uns ja. Also wusste er auch, dass ich den Gedanken, der mich da für ihn ganz offensichtlich beschäftigte, zuerst zu Ende denken wollte. Und wartete ein wenig. Mit seinem fast vollständig grauen Haar, dessen Schwarzanteil übrigens fast genau so groß war, wie der Anteil des grauen beim Vierziger, wirkte er schon sehr vertrauenswürdig. Für mich war er es auch. Wenn auch, wie schon gesagt, manche im Team die Fünfziger für die späten Träumer unseres Typs hielten. Aber das war nicht richtig. Mein Fünfziger wusste genau, was er wollte. Er war nur eben, wie soll ich sagen, über das Wilde und Schnelle am Denken, das unseren Typ auszeichnet, hinaus gewachsen. Die Subversion mancher Fünfziger-Typen liegt ja wie man weiß im Grunde darin, dass sie die Langsamkeit dem Schnellen und das Einfache dem Komplexen vorzogen. Das tun sie wohlgemerkt nicht etwa, weil sie es besonders langsam oder einfach lieben. Oder gar weil sie dem Schnellen und Komplexen nicht mehr folgen wollten. Sondern weil sie in unserem typbedingten Hin und Her zwischen den Extremen den Punkt besetzen mussten, an dem kein ontogenetisches Stadium außer dem zehnten Interesse hatte: Die friedliche Mitte! Wir erklärten das so: Ein Pendel, das im Ruhezustand ist und nicht mehr die Extreme sucht, bleibt dennoch ein Pendel. Die Fünfziger stützen die Bewegung des Teams durch Stillstand. Sie sind unsere Ruhepunkte. Das konnte ich gerade für das dritte ontogenetische Stadium, in dem ich mich befand, nur bestätigen.

„Nun ist es gut, hör mir nun zu, Junge.“ Ich merkte, dass der Fünfziger es nun für angemessen hielt, zum Wesentlichen zu kommen. „Es ist etwas geschehen, Junge“

Was wird schon geschehen sein, fragte ich mit der Art von gespielten Desinteresse, die man im dritten ontogenetischen Stadium eben besonders gut darstellen kann, weil man ja im Wesentlichen die Verfahren der epistematischen Absicherung grade mal so verstanden hatte und deshalb wohl kaum daran glauben konnte, dass es trotz aller Berechenbarkeit ja gerade im Wesen des Lebens liegt, dass es Entwicklung bedeutet. Der Fünfziger zeigte allerdings keinerlei Interesse, mir mehr als diese eine alberne Frage zu erlauben. Daran merkte ich, dass tatsächlich irgendetwas anders war als sonst. Ich begann es zu spüren. Und als ich es spürte, wusste ich, dass ich nun zunächst nicht Reden und Dechiffrieren, sondern einfach nur zuhören und Informationen sammeln musste.

„Du kennst unsere Geschichte, Junge. Du weißt auch, dass unsere heutige Seinsform zunächst auf das große Ereignis zurückzuführen ist. Wir sind die Kinder der Geschichte.“ Ich nickte. Bis hierher war ja nun noch nichts Besonderes in dem was er sagte. Das hatte ich schon längst gelernt: Das große Ereignis führte zum Beginn unserer Kultur. Es war der Beginn unserer Art zu sein. Die Zeugen wurden ausgewählt und dann startete das Programm – deshalb war ich. Und deshalb war mein ganzes Team. Deshalb waren wir nun schon seit drei vollständig durchlebten Phylogenasen – drei mal zwölf ontogenetische Stadien, die jeweils fünf Jahre dauerten. Ich wusste es.

Plötzlich hatte ich selbst keinen Bedarf mehr an gespieltem Desinteresse. Ich war regelrecht gespannt, was nun kommen würde. Denn mir war klar: Wenn der Fünfziger sagte, dass etwas Bedeutendes geschehen sei, dann war das wirklich bedeutend. „Du weißt ja, dass wir seit drei Phylogenasen über die Frage nach dem Verhältnis von Entwicklung und Reversibilität reflektieren.“ Ich nickte wieder, obwohl das Wort „wissen“, wenigstens was mich anging, vielleicht doch ein zu großes Wort war. Es ist nämlich so, dass ich grade im zweiten ontogenetischen Stadium ja mental eher weniger konzentriert war. Typbedingt eben. Na ja, aber so ungefähr wusste ich auch damals schon, was er meinte:

Es geht bei der Diskussion um das Verhältnis von Reversibilität und Entwicklung darum, dass sich diese beiden Begriffe theoretisch gegenseitig aufheben. Was sich nicht grundsätzlich verändert, ist reversibel. Das Reversible meidet die wirkliche Entwicklung. Denn die wahre Entwicklung zerschlägt große Teile der stabilen Verbindungen zwischen den vorhandenen Dinge und Kräften um sie neu zu kombinieren. Man kann nicht Omelettes machen ohne Eier zu zerschlagen. Und die sind dann eben kaputt, nicht mehr da. Verschlungen und aufgegessen. Aber was war es denn nun, das der Fünfziger mir sagen wollte?

„Du weißt, dass wir viel über die Zukunft nachdenken. Weißt du eigentlich auch, dass wir auch über das Interesse am Vergangenen eine intensive und sehr kontroverse Diskussion führen?“ Ich sah den Fünfziger nur staunend an. Was sollte es über das Interesse am Vergangenen zu diskutieren geben? Die Sophematik der Geschichte, so lernen wir ja schon früh, ist die Geschichte der Sophematik. Und das Wissen um das Vergangene braucht man um das Zukünftige verstehen zu können. In abstrakter Temporalkontextualität war ich immer gut gewesen – darum hatte ich den Dreisatz der Zeitlichkeit immer parat:

  1. 1. Wenn ich nicht weiß, was es war, weiß ich nicht, was es ist.
  2. 2. Wenn ich nicht weiß, was es ist, kann ich, was es wird, nicht dechiffrieren.
  3. 3. Wen ich nicht weiß, was es wird, kann ich nicht differenzieren, was es werden kann.

Warum in aller Welt führten die darüber Diskussionen? Der Fünfziger erkannte meine Gedanken. Natürlich kannte er sie auch. Das war das Schöne an ihm: Er traf sofort den Punkt, an dem ich hing und konnte fast immer den mentalen Knoten lösen. „Die Diskussion, die übrigens auf oberster operativer Ebene geführt wird, dreht sich um die Frage, ob wir aus der Zeit vor dem großen Ereignis genug wissen, um den Existenzgrund stabil zu halten und vom Zweifel zu befreien. Du kennst den Existenzgrund, nicht wahr?“ Natürlich kannte ich ihn, er stand doch grade auf unserem Lernprogramm damals: „Existenzgrund: Wenn die Situation die Existenz des Ganzen bedroht – wie müssen dann die ethischen Regeln sein, um es gut zu machen?“

„Sehr gut, Junge, ich sehe du hast sie tatsächlich verinnerlicht. Nun weißt du also, dass die ethischen Regeln eine operative Größe sind, die uns nach vorne treibt, weil sie unsere gemeinsame Existenz regelt, nicht wahr? Und unsere Existenz wiederum ist parachronisch. Sie hat kein Ende und keinen Anfang, denn wir alle sind in unserem Wesen verankert.

Au weia dachte ich noch, wenn der Fünfziger anfängt, aus den Parastrophen zu zitieren, dann musste das was wirklich Bedeutendes sein. Aber er sprach schon weiter und ich musste mich wirklich anstrengen, um ihm folgen zu können.

„Du weißt also, dass unsere ethischen Grundlagen auf dem kollektiven Bewusstsein basieren, dass alles im Flusse ist und bleibt. Und dass wir deshalb, wollen wir unsere Existenz nicht gefährden, das Zukünftige mit dem Jetzigen und dem Vergangenen korrelieren müssen. Und du weißt auch, dass es uns dabei nicht genügen darf, das Unbekannte auf das Bekannte zurückzuführen oder aber das Nochnichtbekannte aus dem Bekannten herleiten zu wollen. Das wäre nicht Entwicklung, sondern nur Weiterentwicklung, die schnell auf einen toten Ast führen kann, nicht wahr? Wir wollen nicht die Asche bewahren, sondern die Flamme schüren.“ Der Fünfziger klang ganz schön feierlich. Wenn ich es mir heute überlege, habe ich keinen Fünfziger so oft und so intensiv – geradezu gläubig – aus den Parastrophen zitieren hören wie diesen. „Unsere Ethik basiert also auf dem parachronischen Vorteil, der es uns erlaubt, jederzeit das komplette Instrumentarium aller Phylogenasen für unser Handeln zu nutzen.“ Ja, das wusste ich nun wirklich genau. Wir waren nie allein mit dem was uns beschäftigte. Wir hatten die Erfahrung der anderen. Das Team bedeutete nicht nur Wissen. Es war auch Geborgenheit. Denn auch das Innere – die Art, wie die Dinge uns ansprangen – konnten wir miteinander teilen.

Was mir an dieser ethischen Grundregel so ausnehmend gut gefiel, war, dass es keinen Unterschied zwischen der Meinung eines Zehners, Zwanzigers oder Fünfzigers oder gar eines Sechzigers gab. Jeder durfte denken. Jeder durfte sich auch des Differentialurteils der anderen ontogenetischen Stadien oder befreundeter Teams bedienen. Das war gut, weil es auch Spaß machte. Weniger gut gefiel mir daran, dass die Regel von Lust und Last als Nullsumme natürlich auch hier galt. Und ich weiß noch genau, dass es mir grade damals im zweiten ontogenetischen Stadium manchmal wirklich lieber gewesen wäre, den Rest meines Teams sich mit den wichtigen Dingen beschäftigen und sie auch entscheiden zu lassen. Die Verantwortung drückte ganz schön – und ich konnte mich nicht drücken. Das war das Problem.

Wieder riss der Fünfziger mich aus meinen Gedanken. „Die Frage, die also diskutiert wird, ist im Groben folgende: Wenn nun unsere Existenz und unsere Ethik auf temporaler Offenheit basiert, wie können wir dann trotz des Bewusstseins von unserem fragmentarischen Wissen über das Vergangene existieren?“ Nun hatte der Fünfziger mein Sprach- und Denkfeuer entzündet. Ich schnitt ihm fast das Wort ab, so sehr trieb mich die Frage, die ich ihm stellen wollte: „Warum sollte unser Wissen vom Gewesenen fragmentarisch sein?!“ Alles was ich bisher gelernt hatte, sagte ja wirklich genau das Gegenteil. Das Wissen um das Vergangene der letzten drei Phylogenasen ist unser Reichtum, den wir konsequent tradieren um unsere Struktursituation immer weiter zu entwickeln. Wir brauchten diesen Reichtum, um die Risiken unserer Entwicklung, die wir aus ethischen Gründen anstrebten, gering zu halten. Und nun sollte da, wo bisher immer Reichtum geherrscht hatte, plötzlich ein Mangel sein? Was sollte es denn noch für Vergangenes geben, das nicht schon längst in den Recall-Zentren von allen und für alle dechiffriert und interpretiert abrufbar sein sollte? Wir wissen doch alles!

„Du hast recht, Junge, und dennoch muss ich dich fragen: Ist es dir nie in den Sinn gekommen, dass die Recall-Datenbanken zwar eine umfangreiche Sammlung aller Dinge und Umweltbedingungen, die wir als besonders unangenehm oder angenehm erlebten, inklusive aller Kommentare, Dechiffrierungen und Interpretationen enthalten“ – der Fünfziger sah mich an – „aber im Verhältnis dazu so gut wie nichts über die Zeit und die Welt der Zeugen?“

Ich muss wohl in diesem Moment ziemlich verblüfft ausgesehen haben. Der Fünfziger merkte, dass ich die Tragweite und das geradezu explosive Potential der Frage verstanden hatte. Denn ich reagierte durch ein Handlungsmuster, dessen sich unser Typ nur höchst selten bedienen muss. Ich war sprachlos. Mir fehlten die Worte.

Im meinem Kopf rannten die Gedanken hin und her. Nicht der übliche Staffellauf der Denkfragmente, die sich schnell, offensiv und sicher zum Ganzen formten. Statt dessen ein Durcheinander an Denkfragmenten die durch meinen Kopf wie durch einen grenzenlosen leeren Raum rasten und ineinander keinen Halt fanden. Ich ertappte mich dabei, wie ich nun meinerseits den Gestus des Vierzigers, der die Diskussion übrigens immer noch still und aber mit sichtbar steigendem Vergnügen verfolgte, wiederholte: Ich fuhr mir mit der Hand durch die Haare.

Die Gedanken und Gefühle der Zeugen! Natürlich!

Langsam aber sicher schafften es die Energien in meinem Kopf, sich zu formieren und wieder eine solide Phalanx zu bilden, um den Angriff vorzubereiten: „Unser Selbstverständnis fußt auf einer einfachen historischen Feststellung: Vor dem großen Ereignis lebten die Zeugen. Jedes Einzelwesen, jedes Team, jeder Typ und jede Phylogenase in unserer Kultur stammt von solch einem Zeugen ab.“ Ich musste an den Satz aus den Parastrophen denken, den der Fünfziger zitiert hatte: Wir sind die Kinder der Geschichte.

Sollte das am Ende keine Metapher sein? Da hört sich doch alles auf! Unsere Ethik folgt der gemeinsamen Entwicklung und der Schaffung von Wahrheit. Wir lebten nicht nur in der besten Welt – sondern eben in einer Welt, die darüber noch immer weiter verbessert wurde. Darauf konnten gerade wir stolz sein. „Und nun sollten wir aufgrund der bloßen Tatsache, dass vor uns auch schon jemand oder etwas war, nur noch quasi zweitklassige Derivate sein? Niemals!“

Fast ohne Punkt und Komma hatte ich diese flammende Rede vor dem Fünfziger und dem Vierziger gehalten. Vor lauter Aufregung merkte ich nicht einmal, wie sie immer wieder Blicke tauschten, als ob sie sich gegenseitig etwas bestätigen wollten. Ich war aber noch lange nicht fertig mit meinen Erwägungen. Der Fünfziger nutzte allerdings meine kurze Pause, die ich zum gedanklichen Nachladen brauchte, um auf meine flammende Rede einzugehen:

„Du bist heute wirklich sehr konsistent, Junge. Aber ich spüre, dass du die Unsicherheit der Konstruktion bemerkst. Solange wir nicht wissen, was vor uns war, sind wir unsicher. Aber sieh es doch einmal so: Ist es nicht gerade die Unsicherheit, die unseren Typ wohl mehr als die meisten anderen Typen fasziniert? Nicht umsonst sind unsere Vierziger an dieser Diskussion seit langer Zeit beteiligt.“

Zum ersten Mal ergriff jetzt der Vierziger das Wort: „Du kennst uns schon gut und ich muss sagen, du hast unsere Struktur auch schon sehr weit interpretiert. Das freut mich und bestätigt mich in meinem Gedanken, den ich dir später vorstellen werde. Lass' mich dir zunächst aber noch erklären: Es geht bei dem, worüber wir heute nachdenken und sprechen werden, nicht darum, uns selbst abzuwerten... Sondern zunächst lediglich um eine grundsätzlich interessante Feststellung: Wenn tatsächlich die theoretische Möglichkeit besteht, die Parachronie in Richtung Vergangenheit zu dechiffrieren und zu transformieren, dann ist das ja im Grunde eine prima Sache. Warum sollte man also nicht tun?“ Ich antwortete sofort: „Ja weil es nicht geht! Wie sollen wir denn wissen, was vor dem großen Ereignis war, wenn keiner von uns es erlebt hat?“

Der Vierziger sah mich an und nickte. Ich hatte offenbar verstanden: Dann ergriff er das Wort. „Weißt du Junge, wir sind lange davon ausgegangen, dass die Denk- und Erlebenswelten der Zeugen genau so waren wie unsere – denn schließlich stammten wir ja von ihnen ab. Und dann war es ja gewissermaßen wahrscheinlich, dass sich ihr Erleben von unserem nicht unterscheidet. Nicht wahr?“ Ich nickte und der Vierziger fuhr fort. „Was aber geschieht, wenn wir einmal davon ausgehen, dass die Erlebnis-Struktur der Zeugen durchaus auch anders oder beispielsweise auch vielfältiger war als unsere? Es könnte ja zum Beispiel sein, dass im Laufe der Zeit etwas vom Wesen der Zeugen nicht transformiert wurde und verloren gegangen ist. Dass wir also schlicht und einfach vieles von dem, was unsere Zeugen ausmachte, einfach vergessen haben. Dann haben wir ein echtes ethisches Problem. Denn wie sollte man leben können mit tiefen dunklen Löchern in sich selbst, wie wollte man offene Fragen beantworten können, wenn nichts in uns sie stellte, weil wir sie vergessen haben oder gar nicht kennen? Ein grausamer Gedanke.“ Ich nickte wieder. Langsam verstand ich, worauf er hinaus wollte... Wieder fuhr er fort. „Das Kernproblem bestand ja darin, dass man hier über vieles theoretisch sprechen, aber nie wirklich praktisch erfahren konnte, wie die Zeugen wirklich waren. Weil es ja im Wesen des Vergangenen liegt, dass es irreversibel und unwiederbringlich vergangen ist. Nicht wahr?“

Wieder nickte ich. Der Vierziger sah nun erst den Fünfziger und dann mich und dann wieder den Fünfziger an. So als wollte er sich darüber klar werden, ob nun der Zeitpunkt gekommen war, um den Satz auszusprechen, der für die gesamte Population, alle Typen, Teams und Einzelwesen von geradezu wahnwitziger Bedeutung sein sollte. Nach einer kleinen Pause sprach er ihn aus:

„Es ist aber auch praktisch möglich.“

Wieder war ich sprachlos. Wortlos, ja verständnislos. Sollte das etwas heißen... Der Vierziger spürte meine Not und beeilte sich, fortzufahren: „Wir haben einen Weg gefunden, die temporale Logik zu subvertieren. Wir werden also schon bald die Welt der Zeugen besuchen können. Was wir schon heute wissen ist eines: Es werden aus Gründen der Strukturstabilität nicht viele Typen diese Möglichkeit haben. Unser Typ aber schon.“

In meinem Kopf begannen die Gedanken zu rasen: Die Zeugen besuchen! Sich mit Ihnen über äußeres und inneres Erleben austauschen! Die Permutation noch vor dem Beginn! Meine Begeisterung war so wild, dass ich nicht merkte, dass der Vierziger fortfahren wollte. Der Fünfziger räusperte sich, so wie er es oft tat, um mich aus meinen gedanklichen Konstruktionen zu rufen. Ich sah ihn an. Er deutete mit dem Kopf zum Vierziger. „Hör was er zu sagen hat, Junge.“

Der Vierziger tat nun etwas, das er auch selten tat: Er nahm mich bei den Schultern, sah mir tief und direkt in die Augen und sagte: „Ich habe mich im Rat dafür eingesetzt, dass einer aus unserem Team für diese Aufgabe vorbereitet wird. Zur Vorbereitung müsste der Ausbildungsplan des dritten ontogenetischen Stadiums massiv erweitert und verändert werden. Darum bin ich hier Wir haben alle Einzelwesen unseres Typs analysiert.. Die Wahl ist auf dich gefallen. Ich will dich nun fragen. Was würdest du davon halten, die Zeugen zu besuchen und von ihnen zu lernen?“

„Hast du gleich ja gesagt?“ „Was genau hast du dann gesagt?“ „Hast du da Kontra-Settings identifiziert?“ Meine kleinen Zuhörer, die mir die ganze Zeit wie gebannt zugehört hatten, kamen in Bewegung. Sie brannten auf Antworten ... auf meine Antwort.

***

Kapitel 3

Die Tür schwingt hin und her…

Natürlich reizte mich das ungemein. Ich spürte ein Beben in mir, das mich bald umzuwerfen drohte. Schon kaum hörte ich noch die Worte des Vierzigers, so sehr trieb es mich in meinem Denkraum hin und her zwischen längst überwunden geglaubten Sentimenten: blanker Stolz, Angst Überforderung! Diese Dinge dechiffrierte man doch normalerweise im ersten ontogenetischen Stadium und damit hopp! Nun waren sie in mir – ungebrochen, stark – und auf befremdliche Weise physisch-stimulativ.

Der Vierziger, der meinen Zustand wohl schon hatte kommen sehen und deshalb nach wie vor seine Hände an meinem Schultern hatte, holte mich nun durch sanften sensitiven Druck wieder ins kollektive Jetzt zurück. Er schaute mir in die Augen und es tat gut, diese Augen zu sehen. Ihr alle werdet diesen angenehmen parasubjektiven Zustand kennen. Es sind die Augen und es ist der Blick, den man in solchen Momenten, da man droht, in sich selbst und ins Mimicritische abzusinken, braucht. Geführt von den Händen des Vierzigers begann ich also wieder zu hören und wahrzunehmen.

„Es ist genug. Du musst nun wieder denken!“ Ich versuchte also, die ins Ungleichgewicht geratenen Schwingungen meiner Gedanken wieder zu synchronisieren. Der Vierziger sah es in meinen Augen und redete weiter. „Was ich dir gesagt habe, ist kein Muss, Junge. Das Vorhaben ist mit einigen Risiken behaftet und vor allem wird es deine geistigen Fähigkeiten, wenn unsere Annahmen richtig sind, in einer Weise beanspruchen, die alles, was wir kennen, weit überschreitet. Und wir wissen noch wenig. Du musst es dir also wirklich sehr genau überlegen, Junge. Eines kann ich dir aber schon sagen: Natürlich wirst du sowohl bevor du gehst als auch nach deiner Rückkehr, wenn es denn gut geht, über die Differentialurteile des gesamten Teams verfügen können. Du wirst dich arm fühlen wenn du gehst. Doch wenn du zurückkehrst, wird Reichtum bleiben.“

Wenn ich heute darüber nachdenke, sehe ich natürlich, wie mich der Vierziger damit einwickelte. Ein geschickter Redner war er, von dem ich viel lernen konnte. Natürlich wusste er genau, dass ich – unserem Typ entsprechend – durch die Extreme gehen wollte, ohne die friedliche Mitte des Kollektivs dabei missen zu müssen. Der Vierziger gab mir also alle Gründe, um nicht gleich abzulehnen. Im Grunde trieb er mich auf die Entscheidung hin. Er kannte uns eben gut. Und er wusste, dass mich der Reichtum mehr reizen als die Armut schrecken würde.

Und weil wir eben sind, wie wir sind, dachte ich noch nicht einmal daran, echte Vorbehalte zu äußern. Das einzige, was mir in den Sinn kam, war zu fragen, wann das denn nun sein würde und was vor allem ich bis dahin zusätzlich zu den üblichen Inhalten meines Stadiums noch zu verinnerlichen haben würde. So sehr das Dechiffrieren mir gefiel, so stark war auch meine Unlust an bestimmten Dingen, über die ich aufgrund ihrer allzu oberflächlichen und aus meiner Sicht einfachen Struktur am liebsten gar nicht reflektieren wollte.

Der Vierziger konnte augenscheinlich ein Grinsen auf seinem Gesicht nicht unterdrücken. Fast glaubte ich, dass er sich noch nicht einmal darum bemühte. Es schien, als genösse er es: Zu sein, wie wir waren. Aufgehen im Anderen, das uns Dasselbe war. Sein Gesicht sagte mir, was er dachte während seine Stimme meine Frage beantwortete:

„Soweit wir es bis heute abschätzen können, würdest du die gesamten Historica der prä-phylogenatischen Epoche, soweit sie für unseren Typ präpariert sind, revidieren müssen. Außerdem müsstest du die gesamte atavistische Individualtheorie auf Intensivstufe lernen müssen, inklusive aller Monadik-Hypothesen. Zur Sicherheit müsstest du zusätzlich auch das gesamte Intensiv-Gefühls-Kontroll-Programm durchlaufen. Wir wissen, dass das nicht gerade unsere Sache ist, aber alles, was wir über die Welt der Zeugen wissen, deutet darauf hin, dass es wichtig sein könnte. Wir wollen ja nicht nach uns suchen, um uns dann zu vergessen, nicht wahr?

Wie um ihm Antwort zu geben, schaute ich für einen Moment aus dem Fenster, dann sah ich wieder ihn an. Historica, Intensiv-Gefühls-Kontrolle und Monadik. Was noch? Nicht, dass mich der Umfang dieser Lernstoffe besonders angegriffen hätte. Erstens war Lernen für unseren Typ weniger eine Frage des Könnens als des Wollens. Und zweitens wusste ich, um ehrlich zu sein, nicht besonders viel über diese Themen. Also dann. Würde schon gehen irgendwie. Ob das dann alles wäre, fragte ich also den Vierziger, der mit den Schultern zuckte und nur sagte: „Der Rest wird sich wohl iterativ mit den Ergebnissen der weiteren Transferforschung ergeben.“ Iterativ also. Das war eine Auskunft, mit der ich was anfangen konnte! Der Vierziger hätte ja auch gleich sagen können, dass er es im Grunde auch nicht wusste.

Also wechselte ich das Thema, indem ich fragte, wie ich denn schlussendlich Kontakt zu den Zeugen aufnehmen würde. Der Vierziger nahm die Frage dankbar an: „Hast du schon einmal etwas über den Weltgeist revidiert?“ Ebenso hätte er mich fragen können, ob ich mich mit prä-phylogenatischen Kochrezepten auseinandergesetzt hätte. Der Vierziger verzichtete großzügig auf einen Kommentar und fuhr fort: „Die Weltgeist-Hypothese geht im Kern davon aus, dass die Dinge wie sie scheinen und die Dinge wie sie sind, zwei zwar grundlegend verschiedene, aber miteinander verbundene Seinsformen sind. Während unsere Epistematik das Ziel verfolgt, den Abstand zwischen diesen Seinsformen zu verringern und deshalb auf die Akkumulation von Wissen geht, stellt die Weltgeist-Hypothese einen anderen Begriff ins Zentrum ihrer Betrachtung: Den Weltgeist, in dem Sein und Wahrnehmung gleichermaßen verankert sind.“

Was mochte das für eine Theorie sein? Lange konnte ich nicht überlegen, denn der Vierziger fuhr fort: „Weil nun aber alles, was in der Welt ist, immer auch Schein ist, so sagt die Weltgeist-Hypothese, werden die Phänomene, die wir wahrnehmen, der Schein der Dinge also, als Ergebnisse und Teile unseres Wahrnehmens immer ein Teil des Geistes sein. Nicht nur wir nehmen also dadurch, dass wir denken, am Geist teil. Sondern auch die Dinge, die wir denken und wahrnehmen. Indem wir versuchen, unser Sein mental zu erweitern, erweitern wir auch das, was der Geist ist. Wenn wir diese Prämissen akzeptieren, müssen wir feststellen, dass wir nicht nur in der Welt, sondern auch im Geist sind. Die Objekte unserer Wahrnehmung – also auch wir selbst als Objekte unserer differenzierten Reflexion – existieren also unabhängig, als zum guten Glück veränderliche Phänomene unserer Wahrnehmung und unseres Dechiffrierens. Richtig?“

Ja das verstand ich. Gerade die Nutzung des Differentialurteils aus dem eigenen Team war ja der Punkt, in dem nicht nur Wahrheit, sondern eben auch Paraidentität aufging. Wir waren nicht nur ins uns und durch uns. Sondern in und durch die Anderen. „Der richtige Satz, so lernen wir ja früh, lautet nicht: Ich denke. Sondern eben: Ich werde gedacht. Wir denken. Darum bin ich. Oder um es mit dem kryptischen Begriff der Parastrophen zu sagen. Heimathon!“

„Richtig, Junge. Wir betrachten also das, was uns umgibt, parachronisch und differentiell. Wir sind das Team und eins. Die einzelnen Stadien sind Teil des Teams. Das ist heute so und das war vor drei Phylogenasen so. Und wir nehmen an, dass es in der Welt der Zeugen auch schon so war.“ Ich nickte wieder. So einigermaßen konnte ich folgen. Der Vierziger fuhr also fort:

„Stell dir nun eine Tür vor, die nur in eine Richtung aufgeht. Sie wird, wenn sie geöffnet wird, immer die Luft in dem Raum in den hinein sie sich öffnet, verdrängen und in den Raum, in den sie sich nicht öffnet, verlagern. Richtig?“ Ich nickte. Und verstand nichts. Der Vierziger fuhr trotzdem fort: „Wir sind also einfach ausgedrückt ein Teil des Geistes, weil wir denken. Indem wir uns genau darüber aber klar werden, hören wir auf, nur reine Teile des Geistes zu sein und werden zu Phänomenen unserer eigenen Wahrnehmung. Aber dennoch können wir ja relativ sicher sein, dass wir, wenn wir denken, nicht gleich aufhören zu existieren. Oder?“ Wieder konnte ich nur nicken. Und wieder setzte der Vierziger seinen schwierigen Gedanken fort. „Wenn man es so betrachtet, lässt unser Denken uns sowohl in uns als auch zwischen uns und unter uns existieren. Du kennst den Satz aus den Parastrophen: Was gedacht wird ist – was ist, wird gedacht. Wir sind also im Grunde immer in beiden Räumen gleichzeitig. Im Geist und in der Welt. Denn die Tür schlägt, wie du siehst, nie nur in eine Richtung.“

Der Vierziger merkte erst jetzt, dass er sich ganz offenbar ein wenig zu weit vorgewagt hatte. Wenigstens für mich. Diese ganze Erklärung hatte er im Grunde nicht mir, sondern sich selbst gegeben. Sich selbst und dem Fluss, den er die meiste Zeit während seiner Erklärung durch das Fenster betrachtet hatte.

„Kannst du mir noch folgen, Junge?“ Ich sah ihn einen Moment lang nur staunend an. Sollte das also heißen, dass es eine Möglichkeit geben sollte, über den in allem enthaltenen Weltgeist eine Verbindung mit den Zeugen, die ja notwendigerweise auch Teil des Weltgeistes gewesen sein mussten, aufzunehmen? Aber wie sollte das gehen? Und vor allem: Wer sagte denn, dass selbst wenn es möglich wäre, gewissermaßen ein Treffen im Geist zu veranstalten, dass die Zeugen sich dort noch aufhalten würden? „Junge, denk doch mal nach“ schalt mich der Vierziger. „Wenn es möglich ist, den Inhalt des raum- und zeitlosen Gefäßes, das man Geist nennt, unendlich zu erweitern, und wenn außerdem alles, was scheint, auch immer schon gewesen sein wird. Wie hoch ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass das, was wir suchen, nicht mehr da sein sollte?“ Die Wahrscheinlichkeit war tatsächlich gering. Ich erinnerte mich an die kryptische Zeile über die Zeit in den Parastrophen: en-sof, en-sof, die Zeit ist endlos wie das Wort. Ich begann zu verstehen. Und die Argumentation erschlug mich.

Wir standen also in allem was war, mit allem – auch mit den Zeugen – in Verbindung und hatten es nicht gewusst. Die Verbindung war da. Wir mussten nur lernen, sie aufzunehmen.

„Allerdings weiß ich nun immer noch nicht, wie man denn, wenn man es – nur mal angenommen – schon schaffen würde, einmal im Geist aufgegangen zu sein, wie man dann denn wohl den einen Weltgeistraum durch eine Tür verlassen und in den nächsten kommen sollte. Denn darauf liefe es ja wohl, so weit ich es verstanden habe, hinaus.“ Ja, anders konnte es ja im Grunde nicht sein. Der Vierziger sah mich lächelnd an: „Du bist gut, Junge, du bist sogar sehr gut.“

Der Vierziger hatte offenbar seinen Spaß an meinen Folgerungen, während mir ehrlich gesagt der Kopf rauchte. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, für er fort. „Tatsächlich ist unseren Annahmen zufolge das Schwingen der Tür eine Frage von Referenz. Die Türangeln sind, um im Bilde zu bleiben, die Referenzpunkte, die eine Tür braucht, um schwingen zu können. Die regelmäßige Bewegung, das „auf und zu“ beziehungsweise um mit den Worten der Parastrophen zu sprechen, das Auf und Nieder bewegt uns und unsere Gedanken dorthin wo wir sein sollen. Wir hatten diesen Satz immer als Metapher verstanden. Was, wenn es gar keine ist? Was, wenn allein schon die Metapher selbst das hemmende Moment ist?“

Im mir schwang der überwältigende Gedanke, eine Tür aufzustoßen, die noch nie jemand aufgestoßen hatte. Ich wusste nun, warum ich dem Fünfziger sofort angemerkt hatte, dass es ein besonderer Tag sein würde. Vielleicht spürte ihn schon an diesem Tag ... den Geist!

„Wie ging es dann weiter?“ „Was hast du noch alles lernen müssen?“ Wie hast du es geschafft, die Tür zum Schwingen zu bringen?“ „Wie ging das mit der Referenz?“ Die begeisterten Fragen der Jungen erinnern mich heute noch an das Gefühl des Aufbruchs, das ich damals hatte. Ich frage mich heute oft, ob ich so begeistert gewesen wäre, wenn ich gewusst hätte, was da wirklich auf mich zukam...“ Die Jungen und Mädchen um mich herum schien dieser Zweifel nicht besonders zu interessieren. „Erzähl doch schon weiter, bitte!“ riefen sie.

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