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Walter Müller
Wenn es einen Himmel gibt…

Walter Müller

Wenn es einen Himmel gibt…

23 Trauerreden

OTTO MÜLLER VERLAG

www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1194-1
eISBN 978-3-7013-6194-6

© 2012 OTTO MÜLLER VERLAG, SALZBURG-WIEN
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Media Design: Rizner.at, Salzburg
Umschlagmotiv: Detail aus der Wandgestaltung in der
Trauerhalle der Bestattung Jung, Salzburg
Foto: Regina Rieder
Druck und Bindung: Druckerei Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Die letzte Fahrt war tief bewegt
die Weichen wurden sanft gestellt
kein Grund zum Trauern – überlegt:
Mein Zug verlässt ja bloß die Welt!

Und sollt’ es keinen Bahnhof dort
und keine Endstationen geben
dann fahr ich weiter, immerfort
durchs Sternenmeer – das wird ein Leben!

Walter Müller

Inhalt

Trauerreden – für wen?

Wie man Trauerredner wird

Hast Du was zu verzollen, Heinz Kerschbaumer?

Venedig sehen und nicht sterben

Der gute Geist der Linie „M“

Tod eines Clowns oder: Die Käuze sterben aus!

Liebesgrüße von Planet zu Planet

Denn mein Garten ist mein Herz

Vom Schmetterling an der Schlafzimmertür

Von unserer Putzfrau und der gottischen Liebe

Als Himmel und Hölle auf Erden zusammenkamen

Bei der Mama geht immer alles gut aus

Der Herr Hans vom Café Bazar

Die Kordi von der Eisenbahn

„Er war der Mister Austria“

„Ich kann, ich will, ich muss!“

„Die Kinder wurden groß und gingen fort…“

Der Höllbacher, sein Zahn und ich

Der kleine Stern am Nachthimmel

Philemon und Baucis und Peppi und Resi

Jetzt ist der Nikolo gestorben

„Mister Mathew, would you be so kind…“

„Stieglitz, Stieglitz, ’s Zeiserl is krank!“

Der Donauwalzer ist verklungen

Herr Direktor Hauer bitte in den Himmel!

Trauerreden – für wen?

Meistens tröstet der Priester. Der Pastor, die Pfarrerin. Zuerst die Orgel oder der CD-Player, dann die Worte. Tröstet, verabschiedet, betet, segnet und spricht ein paar persönliche Worte über den / die Verstorbene(n).

Manchmal, vor allem in den Städten und dort immer öfter, übernimmt diese Aufgabe ein Trauerredner. „Trauerredner“ ist kein besonders geglücktes Vokabel. Menschenverabschieder, Trostspender, Lebens-geschichtenerzähler. Abschiedsredner. Der „Trauerredner“ ist immer dann zur Stelle, wenn kein Priester, kein Pastor, keine Pfarrerin für den Abschied in der Trauerhalle oder (selten) am offenen Grab ausgewählt worden ist.

Ich habe fast zweihundert Reden gehalten, fast zweihundert Lebensgeschichten erzählt. Wenn ich die Familie frage: „Warum kein Priester, kein Pastor, keine Pfarrerin?“, höre ich so gut wie immer: „Wissen Sie, geglaubt hat er (oder sie) schon. Aber mit der Amtskirche hat er (oder sie) es nicht unbedingt gehabt.“ Mehr Fragen muss ich nicht stellen, stelle ich nicht.

Manchmal imaginiere ich den Trauernden trotzdem einen Himmel, einfach als Trostgeschichte. Manchmal (wenn es die Angehörigen wünschen – ich frage immer danach) beten wir auch das eine oder andere Gebet gemeinsam.

Aber das sind Nebensachen. Mich interessieren die Menschen, die Abschied nehmen; noch mehr interessieren mich die Verstorbenen. Denen möchte ich gerecht werden. Über sie, diese Menschen mit allen Stärken und Schwächen, möchte ich erzählen. Jede Lebensgeschichte hat mich gleichermaßen berührt, demütiger und im Herzen reicher gemacht.

Wie man Trauerredner wird

Das erste Mal hab ich es – ja: aus einer Wut heraus probiert. Wobei „probiert“ nur die halbe Wahrheit ist. Ich musste es einfach tun!

Das war vor zwanzig Jahren, in der Zeremonienhalle im Krematorium des Salzburger Kommunalfriedhofs. Meine von mir innig verehrte, längst pensionierte Chefin, die Kulturredakteurin Dr. Berta Hehn, war gestorben. Ich hatte – eigentlich für mich selber – eine kleine Geschichte über ihr Leben geschrieben und wollte diesen Text beim Nachhausegehen ihrer Tochter in die Hand drücken, einfach so. Dann kam also die offizielle Verabschiedung, und irgendwer, dessen Namen ich vergessen habe, hat, neben dem Sarg stehend, unwichtiges Zeug geredet, banal und beiläufig. Aus keinem einzigen Satz konnte man heraushören, was für ein Mensch, welch einzigartige Frau gestorben war.

Da hat mich die Wut gepackt! Ich habe während eines Musikstückes, nach der jämmerlichen Nicht-Rede, die Zettel mit der aufgeschriebenen Geschichte aus der Manteltasche gezogen, hab mich an die trauernde Tochter gewandt und sie um Erlaubnis gefragt. Dann bin ich ans Rednerpult getreten, mit schlotternden Knien, und habe erzählt: Geschichten, die ich mit der unvergleichlichen Frau Dr. erlebt habe, bei der Arbeit und bei privaten Treffen. Irgendwann, mitten in der Rede, sind mir die Tränen über die Wangen gekullert. Aber das war egal. Ich war traurig, und traurige Menschen weinen; die dürfen das. Wo, wenn nicht bei der letzten Verabschiedung! In jenem Moment war ich beides gleichzeitig: Trauernder und Trauerredner.

Meine Chefin ist gestorben, wie sie gelebt hat, mit einem Lächeln im Gesicht und einer Zigarette in der Hand. Ich vermisse sie – die Gespräche, herrlich ernsthaft und herzlich albern, die langen Abende bei Wein und Zigaretten und vieles mehr. Das war damals.

In den letzten Jahren sind einige mir sehr liebe Menschen gestorben: meine Mutter, mein Bruder, meine Tante, meine Schwiegermutter. Ich habe, weil Schreiben mein Beruf und meine Leidenschaft ist, dem jeweiligen Pfarrer Nachrufe auf meine Lieben aufgesetzt oder mundgerecht formuliert. Bei meinem Großonkel und einem sehr lieben Freund hab ich die Rede dann auch selber gehalten, bin neben dem Sarg gestanden und hab ihre Geschichten erzählt.

Als mich vor gut drei Jahren eine der wunderbaren Töchter (= Schwestern) der Bestatterfamilie Jung, bei einer Veranstaltung im Helga Treichl Hospiz, für das ich seit einigen Jahren ehrenamtlich arbeite, fragte, ob ich mir vorstellen könnte, eine Trauerrede zu halten, hab ich „ja!“ gesagt. Ganz spontan. Seither halte ich, von Zeit zu Zeit, auf dem Kommunalfriedhof, auf den Friedhöfen in Maxglan, Aigen, Gnigl oder in den Trauerhallen Reden, treffe mich ein paar Tage zuvor mit der Trauerfamilie, vertiefe mich in Menschen-Schicksale, schreibe mit demselben Anspruch, mit dem ich meine Literatur verfasse, Abschiedsreden. Und dann stehe ich neben einem Sarg, manchmal neben einer Urne, und erzähle, wenn die Ein gangs-musik verklungen ist, die Geschichten dieser Menschen. Eine Trauerrede, in der nicht wenigstens zweimal gelächelt wird, ist eine verschenkte Trauerrede. Mit den Tränen ist es auch so.

Mich vor einem Sarg zu verbeugen, neben einem Sarg stehend eine Rede zu halten, das macht mir nichts aus, mir schlottern auch nicht mehr die Knie. Und wenn mir, vor allem bei den Musikstücken, die eine oder andere Träne über die Wangen läuft, was selten vorkommt, dann läuft sie halt.

Probiert, zum ersten Mal probiert hab ich es, weil ich wütend war. Heute mache ich es, weil mir die Menschen wichtig sind, die Verstorbenen und die Trauernden. Ich muss über keinen Schatten mehr springen, ich muss keine Angst überwinden. Ich darf über Menschen reden und ich darf Menschen trösten. Ich bin froh, dass ich es damals, vor zwanzig Jahren, unbeabsichtigt, aus einer Wut, einer Enttäuschung heraus, probiert habe.

„Sie haben mit Ihrer Kunst meiner Mutter und mir einen letzten Muttertag geschenkt“, hat mir eine trauernde Tochter nach einer Abschiedsrede geschrieben. Ich weiß nicht, welcher Literaturpreis oder welches Kritikerlob mich derart glücklich und stolz machen könnte…

Hast Du was zu verzollen, Heinz Kerschbaumer?

Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Geschichtenerzählen hilft gegen die Traurigkeit.

Wenn es einen Himmel gibt, und es wird einen Himmel geben, wo auch immer sich der befinden mag, dann muss vor dem Eingang in diesen Himmel ein Fluss fließen, nicht breiter und nicht heftiger als die Saalach zum Beispiel. Und ein hölzerner Steg müsste von hier nach drüben, von der Erde in dieses Paradies führen.

Aus dem Zoll- und Grenzhäuschen an diesem Fluss könnte jetzt einer treten und mit sanfter Stimme fragen: Hast Du was zu verzollen, Heinz Kerschbaumer?

Und er?

Nichts als diesen Körper. Der hat mich tausende Kilometer begleitet, die Saalach rauf und runter, an brennheißen und an klirrend kalten Tagen, von Kleßheim bis Wolfschwang, Marzoll, Wartberg. Aber in den letzten Jahren hat er mich ziemlich im Stich gelassen.

Der Körper ist da drüben nicht wichtig, würde der freundliche Zollbeamte sagen. Den lässt Du zurück, der hat seine Schuldigkeit getan. Was also bringst Du sonst mit?

Nichts. Ich hab alles zurückgelassen. Trophäen, und ich hab etliche gehabt, immerhin bin ich ein Jäger gewesen und kein schlechter! Medaillen, Pokale vom Asphalt- und Eisstockschießen in Siezenheim, oder vom Kegeln, einen Sack voller Jazz-Kassetten, Louis Armstrong und so. Karten vom Kartenspielen. Readers-Digest-Hefte, alle persönlich gelesen, Dutzende. Soll ich sie holen, soll ich das alles holen? Dann brauch ich aber noch mindestens ein Jahr Leben!

Musst Du nicht, würde der Zollbeamte – und er könnte einen weißen Bart tragen wie der Petrus – jetzt sagen. Das ist nicht von Bedeutung da drüben, jenseits der Grenze.

Also, was bringst Du mit?

Mein Leben. Wunderschöne Jahre, ein paar sehr schwere Jahre. Glück und Enttäuschung, Lachen und Weinen. Seligkeit und Schmerzen. Zwei große Lieben in meinem Herzen. Das kann nicht jeder behaupten. Das kann einem auch keiner wegnehmen, nicht einmal der Zoll! Tausend Erinnerungen!

Also, sagt der Zöllner an der Grenze zu dieser Gegend, die ein bisschen anders aussieht als das bayrische Grenzgebiet, die Pidinger-Au oder die Haus-moninger-Gegend. Am besten, sagt er, Du fängst von vorne an. Geboren?

Geboren wird der Heinz in einem kleinen Paradies. Spital am Phyrn. Traunviertel, das Dorf im Gebirge. Unfassbar schön, vor allem für ein Kind. Die Berge rundum, viel Wald, eine Idylle. Und die Eltern, einfache Leute, der Vater Holzarbeiter, in der Forstwirtschaft tätig, die Mutter Schneiderin. Kein großer Luxus. Aber man kommt gut über die Runden. Ein „kleines Sachl“ gehört dazu, eine winzige Landwirtschaft für den Eigenbedarf, zum Anbauen und Ernten, und eine eigene Kuh. Das ist viel in den Zeiten der Not.

Das Licht der Welt erblickt der Heinz am 5. März 1935, sieben Jahre später, da ist schon Kriegszeit, wird der Nachzügler, der Sepp geboren. Der Vater wird in den Krieg hineingezogen, die Mutter ist eine starke Frau und hält alles beisammen. Es ist klar, dass man sich in Zeiten der Not und der Gefahr besonders um die ganz Kleinen sorgen muss, und der Heinz ist ja schon ein richtiger Schulbub. Das Leben, hat er manchmal das Gefühl, dreht sich mehr um den Seppi als um ihn, weil der Ältere ja immer der Klügere sein soll, und er muss auch kräftig zupacken. Die Kuh melken zum Beispiel, bevor er sich in der Früh auf den Schulweg machen kann.

Aber das geht alles irgendwann vorbei, und der Heinz kann sich um seine eigene Zukunft kümmern. Der Vater ist in der Forstwirtschaft tätig, also wird auch der Sohn in der Forstschule in Gmunden angemeldet. Jetzt ist es so, dass er damals, nach dem Krieg, ein schmächtiges Bürscherl ist und um ein Haar gar nicht aufgenommen wird.

Förster? War das wirklich Dein Lebenstraum, Kerschbaumer?, fragt der Zollbeamte vor dem Grenz häuschen beim Steg über diesen sanften Fluss hinüber ins grenzenlose Paradies.

Fast, antwortet der Heinz. Eigentlich wollte ich… …wolltest Du was?

Auswandern. Weit weg, übers Meer. Nach Kanada. Um dort was zu tun?

Ranger wollte ich werden. Ein richtiger kanadischer Ranger. Landschaftshüter, in einem Nationalpark vielleicht, riesige Wälder, faszinierende Tiere. Das wär es gewesen. Aber da hätte ich die Einwilligung der Mutter gebraucht, das war damals so. Und die hat sie mir nicht gegeben. Ranger ist ein Traum geblieben.

Träume sind zollfrei!

Also bin ich in die Forstschule gegangen.

Und dann bist du Förster geworden?

Nur ganz kurz.

Der Heinz hat einiges ausprobiert und bald hat er seinen richtigen Beruf gefunden, den, dem er bis zur Pensionierung treu geblieben ist. Zollbeamter. Kein leichter Job. Weiß Gott nicht!

Wem sagst Du das, sagt der Zöllner zum Paradies. Was da geschmuggelt wird, was da geschummelt wird! Illegale Grenzübertrittsversuche. Gut, dass es uns Zöllner gibt!

Zollbeamter – das heißt nicht zuletzt: eine Grenze bewachen, den Balken auf- und zusperren, aufpassen wie ein Haftlmacher, und immer wieder auch Lebensgefahr. Patrouillen gehen, Nachtdienste. Da muss man starke Nerven haben. Mit einem wachen, hellhörigen Hund als Partner geht das um Vieles leichter. Heinz Kerschbaumer bildet selber Hunde aus und richtet sie ab. Und wenn so einer, einer den man von klein auf kennt, an der Seite geht, in stockfinstrer Nacht, die Grenze auf und ab – das gibt Sicherheit. Da wird der harte Dienst nicht ganz so lang. Einer seiner Schäferhunde geht sogar mit ihm, mit dem Zollbeamten Heinz Kerschbaumer, Abteilungsleiter in Siezenheim, in Pension: der „King“.

Worüber, Kerschbaumer, fragt der weißbärtige Himmelsgrenzer, bist Du besonders froh in Deinem Berufs leben?

Dass ich nie, sagt der Heinz, meine Pistole verwenden musste. Dass ich nie auf einen Menschen schießen musste.

Und die Liebe, Kerschbaumer?

Zwei große Lieben in einem Leben. Und das Schöne, dass die zweite Liebe nicht die Erinnerung an die erste auslöschen muss. Das ist keine Selbstverständlichkeit.

In Siezenheim, im Haus in der Grenzstraße, hängen unter dem Kruzifix die Sterbebilder von der Liesl, der ersten Frau, und ihrer Mutter, und das Sterbebild vom Sepp, dem Bruder, neben Bildern aus der Familie der Herlinde, der zweiten großen Liebe.

Mit der Liesl war der Heinz drei Jahrzehnte verheiratet; haben schöne Zeiten miteinander erlebt! Als, ein paar Jahre nach ihrem Tod, der Heinz und die Herlinde zueinander finden, sagt die Herlinde, und auch das ist ebenso schön wie selten: „Die Liesl hat mich zu dir geschickt!“

Die Herlinde sagt auch das Wichtigste, was man über einen Menschen sagen kann: „Auf den Heinz hab ich mich immer hundertprozentig verlassen können!“ Und: „Er war der Ruhepol in meinem Leben!“

Sie kennen sich ja schon vom Sehen, vom einen oder anderen Tanz sogar, Siezenheim ist nicht grenzenlos groß wie Kanada, und wer nie beim „Kamml“ oder beim „Allerberger“ ist, der hat sowieso keine Ahnung vom Leben. Der Heinz ist Witwer und die Herlinde hat eine Enttäuschung hinter sich, einen Tiefschlag, ist eigentlich am Boden zerstört und verzweifelt. Vor 17 Jahren war das.

Da nimmt sich der Heinz ihrer an, und sie können gut miteinander reden. Das wird immer so sein. Bis zwei, drei in der Früh Ratschen, über Gott und die Welt. Das kann man mit dem Heinz. Und mit der Herlinde auch. Dabei ist der Heinz, Sternzeichen Fisch, nicht unbedingt der große Redner, und Schwätzer sowieso nicht. Aber mit der Herlinde klappt das wunderbar. Der Gesprächsstoff geht den beiden auch selten aus.

In diesem Moment der Niedergeschlagenheit ist er, der Heinz, ihr Retter, und sie, die Herlinde, weil es ihm gesundheitlich nicht gut geht, wird zu seinem Retter. Zwei Menschen, wie füreinander geschaffen. Und mit den Geschwistern der Liesl, der ersten großen Liebe, gibt es auch bis heute herzlichen Kontakt. Heiraten wollen sie ja beide nicht mehr, und als sie nach einem „Probejahr“ – er ist 57, sie zehn Jahre jünger – doch in Sachen Ehe noch einmal nachzudenken beginnen, will die Herlinde erst ihre Tochter, die Astrid, fragen. Die gibt die Entscheidung liebevoll an die Mutter zurück. Der Heinz und die Herlinde heiraten, aber nicht mehr am Standesamt im Schloss Mirabell, Erinnerungen an früher will die Herlinde löschen, sondern im Schloss in Seekirchen. Am 26. Juni 1993 geben sie einander das Ja-Wort.

Der Zollbeamte und – das sagt er selber einmal – das Modepüppchen. Die Herlinde ist viele Jahre lang „die Frau Herlinde vom Resmann“. Und der Heinz ist auch Jäger, und ein Jäger liebt seine Jägerhemden und am meisten irgendein Lieblingsjägerhemd, das er eigentlich jeden Tag anziehen möchte. Die Herlinde sorgt dafür, dass er auch, ab und zu wenigstens, ein anderes Hemd trägt. Sie bringt es ihm mit, er ist keiner, der gerne durch die Geschäfte schlendert.

Die Herlinde liebt die echte Volksmusik, ist selbst singend, tanzend aktiv gewesen, der Heinz hat sich, vor allem in den jüngeren Jahren, sehr für Jazz begeistern können, Oldtimermusik, Dixieland, Louis Armstrong und so. Sie mag seinen Jazz, er entdeckt durch sie die Schönheit zum Beispiel von Weisenbläsermelodien. Wie schön, wenn man sich gegenseitig seine Welten näherbringen kann! Die Natur lieben sie sowieso beide, und „Universum“ ist ihre gemeinsame Lieblingssendung im Fernsehen.

Tanzen? „Im Alter“ eher selten, keinen Boogie, wenn schon, dann einen gepflegten Foxtrott, bei dem man sich nicht mehr anstrengen muss. Dass sie, die Lady aus der Modewelt, so gut kochen kann, Hausmannskost, Kasnocken, was auch immer, verblüfft den Heinz am Anfang. Dann genießt er nur mehr. Warum sollte sie nicht gut kochen? Sie kommt aus Saalfelden, auch so ein Dorf im Gebirge, das ist ihre Heimat, und fährt mit ihm von Herzen gern in seine Heimat, zu seinen Lieben, nach Spital am Phyrn, ins Paradies. Ein Zöllner, einer, der durch die Nacht geht, nur den Hund an seiner Seite… dass so einer ein bisschen ein Eigenbrötler wird, ein bisschen in sich gekehrt, das ist gut zu verstehen. Aber der Heinz, Heinz Kerschbaumer, so hart sein Beruf ist, trägt unter der Schale einen wunderbar weichen Kern.

Er ist einer, der nicht nur nahe am Wasser lebt, das Wasser, die Saalach, jahrelang auf und abgeht, er ist einer, der auch nahe am Wasser gebaut hat. Der wegen eines Kinofilmes Tränen vergießen kann, was ich in so einer starken Grenzer-Jäger-Kegler-Kameradschafts-Männerwelt sehr schön finde, oder dem die Augen feucht werden, wenn ein Sportler eine Olympiamedaille umgehängt bekommt.

Der große Reisende ist Heinz Kerschbaumer nicht gewesen. Obwohl: Spanien, Mallorca zum Beispiel, hat ihm gut getan. Der Blick hinaus aufs Meer.

Und wieso, fragt dieser weißhaarige, sanfte Grenzbeamte vom himmlischen Zollhäuschen in meiner Geschichte, die gegen die Traurigkeit helfen soll, wieso stehst Du jetzt auf einmal da bei mir. Und bist nicht daheim bei Deinen Lieben?

Wenn man das wüsste! Man lebt, arbeitet, bis einem die Beine fast abfallen, bis einem der Rücken krumm wird, die Bandscheiben versagen, von den anstrengenden Schießübungen zum Beispiel, die zu so einem Beruf gehören.

Und über die Stränge schlagen? Kennst du das auch? Wer kennt das nicht! Man macht Fehler und büßt seine Sünden. Aber das Leben ist halt so schön! Wer kommt schon als Heiliger auf die Welt und geht als Heiliger wieder hinüber über diesen Grenzsteg.

Niemand, sagt der Zöllner. Da kann ich Dich beruhigen. So ein Mensch müsste erst geboren werden.

Was war Dir wichtig, Kerschbaumer?

Mir selber treu zu bleiben, nicht zu buckeln, nicht zu kriechen, meine Lebensaufgabe zu erfüllen. Und dass ich so wie ich bin, so wie ich war, Menschen berühren konnte. Vielleicht. In ihrem Herzen.

Nicht vielleicht, Kerschbaumer, ganz sicher.

Und das wird bleiben?

Die letzten Jahre waren Leidensjahre. Alles, was das Leben schwer macht, den Körper niederdrückt. Durchblutungsprobleme, Schlaganfälle, Nieren versagen, Lungenentzündung, Bypässe, unendlich viele Tabletten. „Barmherzige Brüder“, AKH Wien, Geriatrie, Krankenhaus Oberndorf, Seniorenheim Oberndorf. Liebe Freunde und Nachbarn, Gott sei Dank, die sich um ihn gekümmert, ihn besucht, ihn aufgemuntert haben. Und die Familie natürlich.

Aufgegeben hat er lange nicht. Aber dass man im Alter, nach so einem starken Leben, wieder reden und gehen lernen muss, in der Therapie Dinge zu tun hat, die einem nie eingefallen wären, hat ihn schwer getroffen. „Der Kerschbaumer tut jetzt Korb flech ten“, hat er mit bitterem Lächeln gesagt. Am Schluss das Helga Treichl Hospiz, keine drei Tage, aber ruhige, friedliche Stunden. Dass man von der Terrasse seines Zimmers aus den Gaisberg und den Untersberg sehen kann, hat er nicht mehr erlebt.

Der Tod kam auf ganz leisen Sohlen.

Willkommen, sagt der Zöllner und tippt beim Salutieren an den Rand seines Heiligenscheines. Willkommen hier, wo es keine Grenzen mehr gibt. Nur mehr grenzenlosen, grenzenlosen Frieden!

Venedig sehen und nicht sterben

Lieber Werner,
toi, toi, toi – wie Du es auf Deinem Partezettel geschrieben hast, für uns und für Dich selber – der alte Theatergruß. Toi, toi, toi vor jeder Premiere. Du weißt, dass Du jetzt nicht „Danke!“ sagen darfst. Das bringt Unglück. Theaterleute sind nicht von dieser Welt. Die sind anders. Abergläubisch und zärtlich, schräg und empfindsam, verrückt und verwundbar. Mit einem „Danke!“ auf dieses „toi, toi, toi“ versaut man sich jede Vorstellung. Vielleicht das ganze Leben. Du bist ein Theatermensch, immer gewesen. Du weißt das. Höchstens: „Wird schon schief gehen!“ Das darf man sagen. Aber es wird nichts schief gehen. Was sollte schief gehen? Du bist weggeflogen, leise, als die Nacht in den Tag übergehen wollte, weggeflogen mit dem Großen Schwarzen Vogel, von dem Ludwig Hirsch gerade gesungen hat. Mitten in den Himmel, wo auch immer der sich befinden mag, hinein. Und jetzt lachst Du und singst Du und hast schon ein Dutzend Mal „Des gibt’s net!“ geschrien. Vor lauter Glücklichsein.

Hast Du Zarah Leander schon getroffen? Hast Du ihr das Make-up aufgefrischt? Dein Make-up. Die Maske ihrer letzten Theaterpremiere, „Das Lächeln einer Sommernacht“, damals, Mitte der siebziger Jahre im Theater an der Wien. Stephen Sondheim hat das Musical geschrieben mit diesem traurigen, wunderschönen Lied über die Clowns. Ihr seid damit auf Gastspielreise nach Schweden gefahren. Du, Werner Schweiger, warst ihr Leibvisagist. Der persönliche Schminkmeister der großen Zarah Leander. Hast Du den Engeln schon Clowngesichter geschminkt?

Ach, Dein Lachen! Du hast so viel Lachen in die Welt gebracht! Misch den Himmel auf mit Deinem Lachen! Jeder, mit dem man sich über Dich unterhält, sagt spätestens im dritten Satz: „Wir haben soviel gelacht miteinander. Wir haben uns zerkugelt mit dem Werner. Wir sind gelegen vor Lachen.“ Am Schluss ist das Lachen manchmal in ein Husten übergegangen. Aber das ist so bei den Theaterleuten. Bei den Theaternarren, bei den Clowns kann man am Schluss das Husten nicht vom Lachen unterscheiden. Ich hab noch nie jemanden so herrlich vom eigenen Partezettel herunterlachen gesehen, gehört wie Dich, Werner. Das bleibt zurück, Dein Lachen bleibt in dieser Welt zurück. Und dass Du die Urne für Deine künftige Asche eigenhändig veredelt hast, mit Swarovski-Steinen. Typisch Du! Das macht Dir keiner nach!

Du bist ja eine Wiener Seele durch und durch, einer mit Ecken und Kanten und einem Riesenherz und einer Liebe zum gepflegt Pompösen, zum Theatralischen. Ein nobler Kauz, ein aberwitziger Menschen verwandler, ein Ver-Zauberer im Beruf, im Alltagsleben. Mit Deinen Spazierstöcken, als der Körper Dich nicht mehr von alleine trug, den Stöcken aus Ebenholz und Silber hast Du die Weltbühne durch quert, lächelnd, lachend auch in der Verzweiflung. Clowns lachen, wenn sie weinen. Das ist ihre Kunst. Dein Lachen ist längst im Himmel angekommen. Die Engelclowns werden einen Riesenspaß haben mit Dir, Werner.

Wiener Seele, obwohl Du in Bayern das Licht der Welt erblickt hast, am 4. Juni 1945, in Altötting. Das hat der verdammte Krieg so arrangiert. Die Mutter hochschwanger mit Dir, und die Russen im Anmarsch auf Wien. Da gab es nur eines: Frauen und Kinder evakuieren, wegschicken in die Sicherheit. Die Mutter hat ihre drei Kinder, die Jolli, den Horst, den Dieter und ein paar Habseligkeiten zusammengepackt, so schnell es ging. Fort aus Wien, zuerst nach Melk.

Und Du mit dabei, im schützenden Mutterbauch, in dieser gefährlichen Zeit der Flucht. Und irgendwann seid ihr in Bayern gelandet, in Altötting. Du musst mit einem Lachen zur Welt gekommen sein, beim ersten Atemholen. Mit diesem „Des gibt’s net!“- Staunen in Deinen Augen.

Der allergrößte bayrische Clown, der überragend kluge Karl Valentin, hat einmal gesagt: „Da hab ich mein ganzes Leben Angst vor dem Sterben g’habt – und jetz’ dees!“ Natürlich hast Du Angst vor dem Sterben gehabt. Vor dem Ersticken, vor dem letzten Atemholen. Die Frau Dr. Faber von der Palliativstation, die eine wunderbare Ärztin, ein wunderbarer Mensch sein muss, hat Dir diese Angst genommen. „Jetzt fürcht ich mich nimmer“, hast Du gesagt, keine zwei Wochen ist das her, bei unserem späten Besuch bei Dir am Krankenbett. Dass Du einschlafen wirst, ohne Kampf, ohne Tränen, ohne Schmerzen. Und so ist es auch gewesen. Der Große Schwarze Vogel ist lautlos gekommen, mit der Morgendämmerung seid ihr losgeflogen.

Aber jetzt hast Du ja gerade erst diese Weltbühne betreten, drüben in Bayern, in Altötting. Du, das Kind. Der Weg zurück nach Wien war anstrengend und mühsam für die Mutter, Deine Geschwister und Dich. Und der Robusteste bist Du ja auch nicht gewesen. Manchmal hatten die Krankheiten leichtes Spiel mit Dir. Dass es weiß Gott Spannenderes als die Schule gibt, hast Du schnell herausgefunden.

Dann hast Du einen Friseurladen betreten in Wien, Deiner Heimatstadt, Du, der schmale Bursche mit den neugierigen Augen, dem unwiderstehlichen Lächeln und diesen ganz besonderen Händen. Die waren immer noch so besonders, jetzt, am Schluss im Krankenbett. Faszinierend schöne Künstlerhände hast Du gehabt. Du hast also die Friseurlehre absolviert und mit großer Begeisterung entdeckt, wie beglückend das ist, Menschen zu einem anderen Aussehen, manchmal zu einer anderen Existenz zu verhelfen. Wenn man das schon mit den Haaren erreichen kann, wie muss das erst beim Gesicht sein!

Da bist Du zum Theater gegangen, Werner, Menschen verwandeln. Hast Du die Ulla Jakobsson schon getroffen? Kommen die beiden zurecht da oben, die Leander und die Jakobsson, zwei schwedische Diven, und beide hast Du geschminkt hier auf Erden. Sechs Jahre, ab Mitte der sechziger Jahre, hast Du in Schweden gelebt und gearbeitet, hast in zwei eigenen Salons Köpfe veredelt. Edle Köpfe noch mehr veredelt. Das halbe schwedische Königshaus hast Du haartechnisch betreut. Aber Dein Herz hast Du ganz dem Theater geschenkt.

Deine große Wiener Zeit. Die siebziger Jahre, Du als Maskenbildner im Theater an der Wien. Die berühmten Show- und Musicalproduktionen, „Helden, Helden“ mit Michael Heltau als Blüntschli, „Das Lächeln einer Sommernacht“ mit Deiner Leander. Ungezählte Weltstars unter Deinen magischen Schminkmeisterhänden: Curd Jürgens, Milva, Ivan Rebroff, die Kessler-Zwillinge oder die von Dir so verehrte Caterina Valente.

In einer Deiner Wohnungen, es wird wohl die in Wien gewesen sein, hast Du einmal eine Zeit lang ein Klappbett besessen. Und wenn Du das Bett am Morgen hochgeklappt hast, ist ein riesiges Bild der Valente zum Vorschein gekommen. Das kann auch nicht jeder erzählen, dass er die Caterina Valente nachts unter seinem Bett und tagsüber in voller Schönheit an der Zimmerwand gehabt hat.

Ja, und dann bist Du nach Salzburg gekommen. Wolltest nur zwei, drei Jahre bleiben. Am Landestheater waren es 13 Jahre, in Salzburg überhaupt fast dreißig. Zwei Intendanten: Mirdita und Hochstraate. Du hast aus Sängern und Schauspielern Helden und Scheusale gemacht, Könige und Mörder, Götter und Widerlinge. Werner Hollweg, Fritz Muliar, Peter Branoff, Josef Köstlinger. Und hunderte andere Namen. Große und kleinere Lichter. Du hast Ihnen die Bühnenexistenz ins Gesicht gemalt. Du warst der Chef der Herrenmaske.

Du hast ja nicht nur zu Theaterzwecken geschminkt. Einmal hast Du aus Deiner Schwester Jolli, ihrem Mann und der Tochter Vampire gemacht, so herrlich gruselig und so vollkommen, dass nicht einmal die Nachbarn sie erkannt haben. Mir hast Du einmal durch Deine Visagistenkunst zur erfolgreichsten Ballnacht meines Lebens verholfen. Es war ein ORFGschnas, und es ist – mottomäßig – irgendwie ums Wasser gegangen. Kurzum: Du hast mich als Wasserleiche geschminkt. Was dann passierte? Alle Frauen wollten mich, die Wasserleiche, ins Leben zurückholen, durch Tanzaufforderungen, Alkohol-einflößungen, sogar Mund-zu-Mund-Beatmungen. Die haben in Wahrheit nicht mich gemeint, sondern die schaurig-schöne Wasserleiche, die Du mir ins Gesicht und ins Haar gezaubert hast.

Neulich, keine zwei Wochen ist das her, haben wir darüber geredet, und Du hast Dich noch erinnert. Und wie Du meine Frau, die Brigitte, und Dich selber für eine Halloweenparty beim Randy vom Theaterchor, der in der Getreidegasse gewohnt hat, in eine Lesbe und in einen Transvestiten verwandelt hast. Verwandelt habt ihr euch in der Herrenmaske im Großen Festspielhaus; dann seid ihr durchs Kulturwochenpublikum stolziert, zum Entsetzen der Ordner und Billeteure.

Und dann wollte euch auch noch die Polizei abführen, vor allem weil Du, Werner, mit Deinem aberwitzigen Theaterhumor, gerufen hast: „I’ hab’s ja g’wusst, dass’ uns verhaften!“ und dabei kokett das Mäntelchen gelüpft und deine schrille Strappskorsage hergezeigt hast. Ihr seid nicht verhaftet worden und am Schluss haben die Polizisten herzlich mitgelacht. Na und im Jahr darauf, wieder zu Halloween, seid ihr zwei schaurig vergammelte Sandler gewesen, in der Getreidegasse gegenüber dem Lederwaren Fritsch auf Zeitungspapier hockend.

Die Brigitte mit grausam verfilzter Perücke, Du mit den schwarz weggeschminkten Zähnen, beide aus dem Tetrapak trinkend, nein: saufend, in herrlicher Theaterlaune einen lautstarken Ehestreit spielend, bis wieder die Polizei gekommen ist. Neulich, an Deinem Krankenbett, haben wir so laut und so lange darüber gelacht, bis Dein Lachen in einen kleinen Husten übergegangen ist.

Auch im Tageshospiz, als es Dir vor ein paar Jahren schon sehr schlecht gegangen ist, hast Du geschminkt. Die anderen Patienten. Aus Todkranken hast du Clowns gemacht. Schöne lachende Clowns am Ende ihres Lebens. Und aus der Frau Urdl hast Du eine feurige Spanierin gezaubert am Schluss. Du hast so viel Lachen in die Welt gebracht, Werner, auch ins Hospiz. Deinem Charme konnte keiner widerstehen. „Ich bin ganz schwach“, hast Du bei der Ankunft im Hospiz gesagt, und nicht nur einmal, „ich bin ganz schwach, ich brauch ein Kreislaufmittel!“ Und schon sind die Irmi oder die Heike oder die Trude aufgesprungen und haben Dir Sekt serviert.

Mit der Trude und anderen Freunden bist Du, das war Dein großer Wunsch, nach Venedig gereist, per Bahn. Da warst Du schon ein Rollstuhlfahrer. Rollstuhlfahrer haben es in Venedig besonders schwer. „Venedig ist keine Stadt für Krüppel“, das hast Du selber so gesagt. Aber die Freunde haben Dich über alle Brücken und Brückchen getragen. Leicht genug warst Du ja und umwerfend schön in Deinem edlen Gehrock. Gewohnt habt ihr im Palazzo eines Freundes. Wozu heißt der Gehrock Gehrock, wenn man ihn trägt… und der, der ihn trägt, getragen werden muss. Wird Dich Karl Valentin jetzt da droben grad fragen und ihr werdet lachen, dass sich die Engel, die mit den Clowngesichtern, zerkugeln.