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Für Aaron, den großartigsten Kritiker,
und Rufus, den allerbesten Hapkido-Lehrer

Sandro, die Prinzessin und ich

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Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet. So ein Quatsch, denkt ihr nun vielleicht. Ehrlich gesagt, hat es sich auch ganz anders angefühlt, als es klingt, wenn ich es jetzt aufschreibe. Außerdem habe ich die Welt nicht alleine gerettet. Wir waren zu dritt – Sandro, die Prinzessin und ich.

Mich kennt ihr vielleicht. Ich sitze im Klassenraum ganz hinten links an der Wand. Der Stuhl neben mir ist frei. Aber das finde ich nicht schlimm. Ich trage eine Brille mit dicken Gläsern auf der Nase. Manche sagen, eigentlich trägt die Brille mich, weil sie angeblich größer ist als ich. Das ist natürlich Unsinn. So klein bin ich nun auch wieder nicht. Obwohl ich der Kleinste in der Klasse bin.

Ich habe jeden Tag eine Mütze auf. Samstags rasiert Papa uns beiden nämlich mit so einem elektrischen Scherdingsbums den Kopf. Damit wir nicht frieren, hat Oma uns Mützen gestrickt. Frau Müller sagt, in der Klasse muss ich meine Mütze absetzen. Das sei sonst unhöflich. Dabei ist meine Mütze gar nicht größer als Frau Müllers Frisur, die wie ein mächtiger Helm aussieht. Ich finde es jedenfalls nicht unhöflich, dass Frau Müller ihre Frisur nicht abnimmt, wenn sie unseren Klassenraum betritt. Aber das sage ich natürlich nicht, denn Frau Müller ist meine Lehrerin und eigentlich sehr nett.

Diejenigen, die mich nicht kennen, rufen mir manchmal blöde Sachen hinterher. Dass ich doof bin zum Beispiel. Weil ich eine Brille trage und ein Hemd und Hosen mit gebügelten Falten. Ich verstehe zwar nicht, warum ich doof sein soll, wenn meine Hose gebügelte Falten hat. Ich habe Oma trotzdem irgendwann einmal gesagt, dass ich es einfacher hätte, wenn sie mir eine Jeans und ein Sweatshirt kaufen würde. Aber Oma hat geantwortet, dass sie es einfacher hätte, wenn sie Papa und mir beim Herrenausstatter dieselben Kleidungsstücke in verschiedenen Größen besorgen würde. Sie hätte keine Zeit für diesen neumodischen Kram. Dass der Herrenausstatter dieselben Hemden und Hosen in Papas und auch in meiner Größe verkauft, das finde ich schon erstaunlich. Noch erstaunlicher ist allerdings, dass Papa sich nicht bei Oma beschwert. Ihm können die Klamotten doch auch nicht wirklich gefallen.

Wie ihr sicher schon gemerkt habt, bin ich nicht unbedingt ein Schwarm so wie Johannes, den alle Mädchen mit Klimperaugen anschauen. Meistens gehe ich nach der Schule alleine nach Hause. Zumindest war das bis vor fünf Wochen noch so. Inzwischen ist alles anders. Aber ich will lieber der Reihe nach erzählen.

In der Schule habe ich keine Probleme. Es fällt mir nicht schwer, mir die Sachen zu merken, die ich höre oder lese. Aber meistens purzeln Millionen Gedanken durch meinen Kopf. Darum gibt es dadrinnen manchmal einfach keinen Platz für andere Dinge. Dann passiert es mir, dass ich nicht verstehe, was man mir sagt oder was man von mir möchte. Vielleicht finden manche mich deswegen doof. Aber ich wusste immer, dass ich irgendwann einmal einen richtig tollen Freund finden würde. Dass es zwei sein und wir zusammen die Welt retten würden, das habe ich natürlich nicht geahnt.

Jetzt hätte ich beinahe schon wieder zu viel verraten. Es ist wirklich schwer, eine Geschichte der Reihe nach zu erzählen, wenn man das Ende schon kennt.

Wenn ich nach der Schule nach Hause komme, esse ich mit Oma zu Mittag. Sie fragt mich immer, was wir im Unterricht gemacht haben. Wenn ich es dann erzählen möchte, winkt sie ab und sagt: »Ach, lass nur, das verstehe ich sowieso nicht.« Dabei ist Oma kein bisschen dumm.

Mama ist nicht oft zuhause, weil sie Archäologin ist und überall in der Welt nach den versunkenen Schätzen ausgestorbener Völker gräbt. Manchmal ist sie monatelang irgendwo in der Wüste oder im Dschungel auf Expedition. Ich vermisse sie dann ganz fürchterlich, aber ich finde ihren Beruf cool. Wenn sie von ihren langen Reisen wieder nach Hause kommt, zeigt sie uns Bilder von bröckligen Steinen, dreckigen Scherben und staubigen Knochenstückchen. Man könnte denken, das sei alles bloß Müll. Dabei sind das wertvolle Überreste längst untergegangener Kulturen und Mama weiß die spannendsten Geschichten über sie zu erzählen.

Jedenfalls führt Oma bei uns den Haushalt. Papa könnte das nie. Er sitzt den ganzen Tag vorm Computer und erfindet neue Programme. Aber in der Küche lässt er das Kaffeewasser anbrennen, wenn ihr versteht, was ich meine. Wenn Oma ihm nicht morgens eine Hose, ein Hemd, frische Socken und eine Unterhose hinlegen würde, liefe er bestimmt den ganzen Tag im Pyjama rum. Na, mir wäre das ja egal, aber Oma nicht.

Direkt vor Frau Müllers Tisch sitzt Sandro. Sandro ist ein bisschen hyperaktiv und hat schulterlange Haare. Darunter versteckt er sich oft wie hinter einem Vorhang. Manchmal fängt er an, den Kopf zu schütteln. Hin und her und hin und her. Mir würde davon ja ganz schwummrig werden, aber vielleicht ist es gerade das, was Sandro so gut daran gefällt.

Frau Müller mag Sandros Schüttelei nicht. Aber sie sagt nichts dazu. Ich glaube, das liegt an den tollen Sätzen. Manchmal kommen nämlich hinter dem Haarvorhang so kluge Sätze hervor, dass Frau Müller ganz komisch guckt – ein bisschen wie ein verliebtes Huhn. Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wie ein verliebtes Huhn aussieht. Vielleicht wie Frau Müller, wenn Sandro unter seinen Haaren tolle Sätze sagt. So wie: »Seitdem ich die Uhr lesen kann, vergeht die Zeit viel schneller.«

Wenn Sandro sein Haar ganz normal trägt, also hinter die Ohren geklemmt oder mit einem Gummi zusammengebunden, dann stottert er. Ich glaube, darum macht er das mit den Zetteln. Denn meistens sagt er gar nichts, sondern schreibt das, was er sagen will, auf einen Zettel. Er hat immer einen Block und einen Stift dabei. Außerdem trägt er eine Kette um den Hals und daran hängen Schilder mit Sätzen, die er jeden Tag öfter sagt. Die hält er dann einfach hoch, wenn einer der Sätze gerade passt.

Jedenfalls war das vor fünf Wochen noch so. Jetzt ist alles anders. Sandro stottert nicht mehr. Warum er das nicht mehr tut, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil wir die Welt gerettet haben oder weil wir jetzt Freunde sind.

Ich weiß, dass Sandros Mutter ganz oft zum Gespräch mit Frau Müller in die Schule kommen muss. Aber dass Frau Müller Sandro das Wackeln unter seinen Haaren nicht verbietet, liegt wohl eher an den tollen Sätzen als an den Muttergesprächen. Eigentlich heißt es ja Elterngespräche. Aber Sandro hat keinen Vater. Natürlich gibt es irgendwo einen Mann, der sein Vater ist, sonst gäbe es ja Sandro nicht. Aber Sandro hat keinen richtigen Papa. Auch keinen für jedes zweite Wochenende.

Bis vor fünf Wochen hatte ich noch nicht so viel mit Sandro zu tun. In der Klasse mögen ihn aber alle gerne. Sandro merkt nämlich immer, wenn jemand traurig oder wütend ist. Er setzt sich dann zu demjenigen und hört ihm zu. Aber einen allerbesten Freund hatte Sandro damals auch noch nicht.

Die Prinzessin heißt eigentlich Tilda und sitzt mir gegenüber. Sie hat ein etwas grünliches Gesicht, ist aber sehr schön. Sie hat lange rote Haare, die in der Sonne leuchten wie Flammen. Wenn sie lacht, tanzen die Sommersprossen auf ihrer Nasenspitze und ihre hellblauen Augen strahlen wie Sterne. Das habe ich von einem Lied, das ich mal auf Omas Radiokanal gehört habe und in dem einer sang, dass die Augen einer Frau wie zwei Sterne leuchten würden. Der Sänger hat bestimmt solche Augen wie die der Prinzessin gemeint. Die Prinzessin wird so genannt, weil sie sich wie eine Prinzessin anzieht. Sie trägt Röcke und Kleider in Rosa und Lila, die mit Rüschen und Bändern verziert sind. Ein bisschen so wie die Kissen und Deckchen, die Oma abends vor dem Fernseher häkelt.

Der Platz neben der Prinzessin ist auch frei, obwohl viele Mädchen gerne neben ihr sitzen würden. Und vielleicht auch mancher Junge. Aber die Prinzessin sitzt alleine, weil bei ihr immer alles eine ganz genaue Anordnung haben muss. Wenn sie morgens kommt, öffnet sie ihren rosa Ranzen und legt ihre Bücher und Hefte auf den Tisch, jeden Tag exakt an die gleichen Stellen. Sie ruckelt und schiebt ihre Sachen so lange hin und her, bis alles ganz genau stimmt. Ich habe mal heimlich nachgeschaut, ob sie sich Markierungen auf den Tisch gemalt hat. Hat sie aber nicht. Die Stifte in ihrem Mäppchen sind alle exakt gleich lang. Sobald sie einen Stift benutzt hat, spitzt sie ihn sofort nach und die anderen auch, damit alle wieder dieselbe Länge haben. Wenn die Prinzessin sich verschreibt, flucht sie fürchterlich.

Ach ja, mein Name ist übrigens Kurt. Ihr müsst gar nichts dazu sagen, ich weiß schon. Blöder Name. Noch blöder ist natürlich, wenn jemand Kurtchen zu mir sagt. So wie Oma es immer macht.

Wie alles begann

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Ich fange die Geschichte mit dem Samstag vor fünfeinhalb Wochen an. An diesem Morgen brachten Papa, Oma und ich Mama mal wieder zum Flughafen. Sie würde die nächsten zwei Monate in Zentralamerika nach Knochen und Scherben buddeln. Das ist immer so ein trauriger Moment, wenn Mama winkend hinter der Passkontrolle verschwindet. Ich versuchte tapfer zu sein, damit sie sich nicht schlecht fühlen musste. Also wedelte ich wie verrückt mit den Armen. Ich glaube, Oma und Papa ging es genauso wie mir. Nur dass Oma nicht nur winkte, sondern auch vor sich hingrummelte. Und Papa knetete seine Mütze in den Händen. Darum konnte er natürlich nicht winken.

Bevor wir zum Flughafen gefahren waren, hatte Mama mich immer wieder umarmt und geküsst. Wie auf Vorrat. Wahrscheinlich dachte sie, dass ich dann genug davon hatte, bis sie wiederkam. Aber das funktioniert natürlich nicht.

Nachdem Mama hinter der Kontrolle verschwunden war, haben Papa, Oma und ich am Flughafen ein Eis gegessen. Dabei redeten wir kein Wort und eigentlich schmeckte das Eis auch nicht besonders gut. Aber wir machen das immer so, wenn wir Mama zum Flughafen bringen.

Als wir dann wieder im Auto saßen, sagte Papa: »Na dann, hinein in den Alltag.« Alltag ist, wenn Mama nicht zuhause ist. Dann setzt Papa sich wieder vor den Computer und entwirft neue Programme und Oma führt den Haushalt. Das macht sie mit so viel Gebrumm, Geächze und Gemurmel, dass man denken könnte, sie hat gar keinen Spaß dabei. Aber ich glaube, sie ist in Wirklichkeit froh darüber, wenn sie wieder alleine in unserer Wohnung schalten und walten kann.

An diesem Tag gingen Oma und ich als erstes zum Bäcker. Ich trug die Tasche nach Hause. Oma nahm meine Mütze ab und fuhr mir durch die Stoppeln. »Was bist du stark, mein liebes Kurtchen«, sagte sie.

Die Tasche war gar nicht schwer, es war ja nur ein Brot darin. Aber stark bin ich trotzdem. Sehr stark sogar. Ich habe nämlich im Hapkido den blau-roten Gürtel. »Das hat in deinem Alter noch niemand geschafft«, hat mein Lehrer gesagt, als er ihn mir nach der letzten Gürtelprüfung überreicht hat. Dafür trainiere ich aber auch zwölf Stunden in der Woche. Oma hatte mich vor vier Jahren angemeldet. »So, Kurtchen«, hatte sie damals gesagt und von den Ärmeln und Beinen des schwarzen Kampfanzugs ein gutes Stück abgeschnitten, »du bist zwar klein, aber das heißt ja nicht, dass du auch schwach sein musst.«

Sie war dann doch überrascht, wie schnell ich all die Fuß-, Hand- und Falltechniken lernte. Ich glaube, Oma steht total auf asiatische Kampfsportarten. Ich habe sie mal heimlich dabei beobachtet, wie sie im Wohnzimmer seltsame Fußtritte übte, während im Fernseher ein Kung-Fu-Film lief. Das sah so lustig aus, dass ich zum Lachen schnell in mein Zimmer geflitzt bin. Als Papa noch ein Junge war, hatte er den orange-grünen Gürtel im Judo. Er musste Oma im Garten hinterm Haus immer zeigen, was er Neues im Training gelernt hatte. Oma wäre selber gerne ins Judotraining gegangen, als sie jung war. Doch das wäre damals nicht schicklich gewesen, hat mir Papa erklärt.

Nachdem wir vom Bäcker zurückgekommen waren, begann Oma in der Küche zu werkeln und ich ging in mein Zimmer. Ich hatte den Plan, meinen alten Nintendo DS so umzubauen, dass ich damit auch fernsehen konnte. Das war nämlich echt nervig an Oma: Obwohl sie selber viel fernsah, durfte ich das nicht. Also musste ich andere Mittel und Wege finden. So richtig weit kam ich jedoch nicht, denn ich musste ins Hapkido-Training. Das hätte ich an diesem Tag aber auch ausfallen lassen können. Ich konnte mich gar nicht richtig konzentrieren. Im Freikampf wurde ich viel öfter auf die Matte gelegt als sonst. Dagegen waren die 100 Liegestütze zum Abschluss eine echte Erholung.

Auf dem Heimweg dachte ich noch einmal angestrengt darüber nach, wie ich den DS neu programmieren könnte. Darum lief ich mitten in ein Pärchen hinein, das auf dem Gehweg stand und sich küsste. Als ich mich entschuldigte, hatte ich bestimmt einen tomatenroten Kopf. Doch die beiden lachten nur und ich ging schnell weiter.

»Ha… Ha… Hallo, Kurt«, hörte ich da eine Stimme aus dem Gebüsch zischeln. Dann packte mich jemand am Arm und plötzlich saß ich neben Sandro unter stachligen Ästen.

»Du solltest mich lieber nicht so erschrecken«, sagte ich und holte erst einmal tief Luft. »Ich habe nämlich den blauroten Gürtel im Hapkido. Ich hätte dir sehr wehtun können.«

»Pst«, machte Sandro und zeigte durch die Blätter auf den Mann, der die Frau nun wieder innig küsste. »W… w… wie fin… findest du den?«, fragte er mich flüsternd.

»Keine Ahnung. Er ist einfach ein ganz normaler Mann.« Ich verstand nicht, warum wir nebeneinander im Gebüsch hocken mussten.

»Ist er eben nicht«, flüsterte Sandro. Obwohl er sehr aufgeregt war, stotterte er seltsamerweise nicht. »Er ist der neue Freund meiner Mutter. Und, wie findest du ihn?«

Für mich sah der Mann genauso aus wie jeder andere auch. Aber ich wollte Sandro nicht enttäuschen. Obwohl ich mich sehr wunderte, warum er ausgerechnet mich fragte. Aber vielleicht tat er das nur, weil ich gerade vorbeigekommen war.

»Sieht nett aus«, sagte ich.

»Nett?«, schimpfte Sandro leise neben mir. »Die Bä… Bä… Bäckersfrau ist nett und der Po… Po… Postmann. Leute, die mir e… e… egal sind, die si… sind nett. Aber der neue Freund meiner Mu… Mu… Mutter kann doch nicht einfach nur nett sein.«

»Er ist bestimmt ganz toll, ehrlich. Er liebt deine Mutter sicher sehr, kann man ja sehen. Und er mag bestimmt auch Kinder. Ganz besonders zehnjährige Jungs«, beeilte ich mich zu sagen.

»Meinst du wirklich?«, fragte Sandro zweifelnd. Er machte ein Gesicht wie Oma, als Mama ihr einmal eine Portion Sushi zum Abendessen vor die Nase gesetzt hatte.

»Klar«, sagte ich und schaute dem Paar hinterher, das Arm in Arm davonschlenderte.

Oma hatte das Sushi nicht gegessen.

Ich krabbelte aus dem Gebüsch.

Sushi ist übrigens roher Fisch mit Reis.

»Tschüss«, sagte ich und Sandro sagte auch Tschüss.

In der Nacht erwischte mich Papa, als ich heimlich unter meiner Bettdecke fernsah. Eigentlich lief gar nichts Interessantes. Nur so eine langweilige Gesprächsrunde über irgendwelche weltbekannten Bücher. Ein geheimnisvoller Professor hatte darüber geschrieben, wie man seine Kinder richtig erzieht. Geheimnisvoll war er deswegen, weil ihn noch nie ein Mensch gesehen hatte und angeblich wusste auch niemand, wo er lebte. Das sagte jedenfalls der Moderator, als er sich dafür entschuldigte, dass der geheimnisvolle Professor nicht in die Sendung gekommen war. Der Professor und seine Bücher waren mir aber ziemlich egal. Schließlich wollte ich nur mal schauen, ob der Empfang auf dem alten DS funktionierte.

Als Papa das Gerät erkannte, schimpfte er gar nicht. Er fuhr durch meine Stoppeln, genau wie Oma. Dann sagte er: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stammm«, und ging einfach in sein Zimmer zurück. Dass er am Abend ganz vergessen hatte, meine Haare mit dem Scherdingsbums zu schneiden, war ihm gar nicht aufgefallen.

Aber die Prinzessin bemerkte es. Am Montag vor fünf Wochen stand sie nach der ersten Stunde vor meinem Tisch. Ich war gerade damit beschäftigt an meinem Plan für den besten Computer der Welt zu zeichnen.

»Was ist denn mit deinen Haaren los?«, fragte die Prinzessin in meine Gedanken hinein. Ich war ganz überrascht, denn die Prinzessin hatte noch nie ein Wort mit mir gesprochen. Sie hatte die Stirn gerunzelt.

»Wieso?«, fragte ich.

»Heute ist Montag. Am Montag hast du immer den Kopf frisch geschoren. Heute nicht.«

Ich hatte schon gar nicht mehr daran gedacht. Aber der Blick der Prinzessin traf mich wie ein Blitz. Es schien sogar ein bisschen in der Luft zu knistern. Da verstand ich plötzlich, dass es sie nervös machte, dass mein Kopf nicht geschoren war. So wie es sie nervös machte, wenn ihre Stifte nicht die gleiche Länge hatten.

»Mein Vater hat es vergessen«, erklärte ich ihr schnell, damit sie sich nicht länger aufregen musste.

»Aha. Sehr seltsam«, murmelte sie und wollte an ihren Platz zurückgehen. Doch sie stieß mit Sandro zusammen, der gerade durch den Klassenraum rannte. Es gab einen wilden Tumult und die beiden lagen in die Haare von Sandro und die Bänder und Röcke der Prinzessin verwickelt am Boden. Es sah aus wie eine lustige Theatervorführung. Darum mussten auch alle lachen.

»Angebranntes Bügelbrett!«, schimpfte die Prinzessin und Sandro hielt sein »Es tut mir leid«-Schild hoch.

Es dauerte eine ganze Weile, bis alle Haare wieder bei Sandro und alle Bänder bei der Prinzessin waren und jeder auf seinen Platz gehen konnte. Nur eines der rosa Bänder war abgerissen und blieb am Boden liegen. Die ganze nächste Stunde sah die Prinzessin immer wieder mit gerunzelter Stirn zwischen mir und dem rosa Band hin und her. Sie tat mir auf einmal leid. Darum meldete ich mich.

»Ja, bitte Kurt, was gibt es?«, fragte Frau Müller und war ganz erstaunt, dass ich mich meldete.

»Darf ich bitte meine Mütze aufsetzen?«

Die anderen kicherten.

»Aber Kurt, du weißt doch, dass es unhöflich ist, einen Hut in geschlossenen Räumen zu tragen«, sagte Frau Müller und ihre große Frisur wackelte ein bisschen.

Ich hätte sagen können, dass meine Mütze kein Hut war. Und dass es außerdem ganz schön stickig war und wir die Fenster öffnen sollten und dass wir dann auch nicht mehr in einem geschlossenen Raum sitzen würden. Aber das sagte ich natürlich nicht. Mir wären auch gar nicht so viele Worte eingefallen.

»Es ist wegen der Prinzessin«, sagte ich stattdessen. »Weil meine Haare heute doch länger sind als sonst immer montags.«

Ich war mir sicher, dass Frau Müller sich ärgern oder lachen oder erstaunt sein würde. Aber Frau Müller lächelte. »Das ist sehr nett von dir, Kurt. Setze deine Mütze ruhig auf.«

Ich setzte also die Mütze auf und die Prinzessin schaute kein einziges Mal mehr zu mir herüber. Da wünschte ich, ich hätte die Mütze doch nicht aufgesetzt.

Am Abend bat ich Papa per E-Mail, meine Haare zu schneiden. Er ging dann auch gleich mit mir ins Bad und kramte das Scherdingsbums aus dem Schrank. Als ich sah, dass er nicht vergessen hatte, seinen eigenen Kopf zu scheren, da wunderte ich mich doch etwas.

Dann passierte die Sache mit meinem Hemd. Oma bügelt furchtbar gerne. Jeden Dienstag stellt sie mit viel Tamtam ein riesiges Bügelbrett mitten ins Wohnzimmer. Dann schaltet sie das Radio ein und bügelt. Dabei pfeift sie laut die Volkslieder mit, die aus dem Radio dudeln. Oma kann super pfeifen. Das ist sehr gut, denn sonst würde mir ihr Gepfeife bestimmt auf die Nerven gehen. Oma bügelt nämlich stundenlang. Darum pfeift sie auch stundenlang. Ich besitze genau sieben Hemden, für jeden Tag der Woche ein ganz bestimmtes.

An jenem Mittwoch vor fünf Wochen saß ich gerade mit Max zusammen. Ich erklärte ihm eine Rechenaufgabe: Wie viel Saft kann man aus sechs Orangen pressen, wenn eine Orange so viel Saft hat, dass man ein Glas von 150 Milliliter Größe damit füllen kann? Max stand irgendwie auf dem Schlauch und ich überlegte gerade, wo ich auf die Schnelle sechs Orangen herbekam, als die Prinzessin an meinen Tisch trat.

»Du hast dein Dienstagshemd an. Dabei ist heute Mittwoch«, unterbrach sie uns und blitzte mich mit ihren Sternenaugen an.

Natürlich wusste ich das. Am Morgen hatte ich in meinem Kleiderschrank nämlich nur sieben leere Kleiderbügel gefunden. Sonst hängen da eigentlich jeden Mittwoch sieben frisch gebügelte Hemden. Darum war ich einfach noch einmal in das Hemd vom Dienstag geschlüpft. Ich erklärte das der Prinzessin. Doch sie drehte sich wortlos um. Sie schaute nach rechts und links und als der Weg frei war, ging sie zu ihrem Platz zurück. Max schaute zwischen uns hin und her und schüttelte verwundert den Kopf.

»Irgendwie seid ihr zwei seltsam«, sagte er.

Aber das war ja nichts Neues.

Ich war nicht der Einzige, bei dem der Prinzessin ungewöhnliche Dinge auffielen. In der Pause hörte ich sie Johannes fragen, warum er nicht wie sonst ein Siebenkörnerbrot mit Gurken und Möhrenraspeln zum Frühstück aß. Johannes’ Eltern sind nämlich Vegetarier und sehr gesundheitsbewusst. Darum muss Johannes auch Vegetarier sein. Manchmal tauscht er mit mir das Frühstück, weil er es nicht immer toll findet, Vegetarier zu sein. Mir schmeckt das Brot, das ihm seine Mutter macht. Aber an jenem Mittwoch brauchte Johannes nicht zu tauschen, denn er hatte Kuchen dabei. Er erklärte der Prinzessin, dass seine Mutter ihm keine Frühstücksdose hingelegt hatte. Und darum hatte er einen Euro aus seinem Sparschwein genommen und war vor der Schule noch schnell zum Bäcker gelaufen.

Dann fragte die Prinzessin Sandro, warum er seine langen Haare nicht wie sonst gekämmt hatte. Als sie Sandros Antwortzettel las, runzelte sie die Stirn. Ich wollte gerne wissen, was Sandro geschrieben hatte. Darum fischte ich nach der Schule den Zettel aus dem Papierkorb. Das dauerte ganz schön lange, denn es lagen bestimmt 20 Stück davon drin.

Ein Dreiviertelliter

stand auf einem und

Nur wenn die Sonne scheint

auf einem anderen. Auf einem Zettel las ich:

Das macht meine Mutter. Sie hat heute nicht daran gedacht.

Das war bestimmt die Antwort auf die Frage der Prinzessin.

Wahrscheinlich hätte ich die ganze Sache schnell wieder vergessen. Aber am nächsten Tag wartete die Prinzessin nach der Schule auf mich. Erst lief sie eine Weile neben mir her ohne ein Wort zu sagen. Das war mir sehr recht, denn ich war ganz durcheinander, dass sie auf mich gewartet hatte.

»Hey Mütze, wo will denn die Brille mit dir hin?«, ulkte jemand hinter uns.

Das kannte ich zwar schon, aber vor der Prinzessin war es mir total peinlich. Doch sie schien den Witzbold gar nicht gehört zu haben. Plötzlich blieb sie stehen und hielt meine Hand fest, so dass ich auch stehen bleiben musste.

»Kurt, irgendetwas stimmt nicht«, sagte sie und guckte mich mit großen Augen an. Ich musste erst einmal schlucken, weil die Prinzessin einfach so meine Hand genommen hatte. »Wieso?«, fragte ich und zog meine Hand schnell aus der ihren. Leider riss ich dabei ein rosa Band von ihrem Kleid ab.

»Verfluxter Knurpselknilch!«, schimpfte die Prinzessin und wir schauten dem rosa Band hinterher, bis es um die nächste Ecke geflattert war.

»Heute Morgen waren die süßen Stückchen beim Bäcker fast ausverkauft. Und weißt du auch warum?«, fragte die Prinzessin und schaute mich böse an.

»Nein«, antwortete ich und fühlte mich ganz elend, weil ich es nicht wusste.

»Weil ganz viele Eltern vergessen haben, ihren Kindern ein Schulbrot zu schmieren. Darum! Ich habe die anderen Kinder gefragt.«

»Aha«, machte ich und verstand überhaupt nichts.

Ich gehe fast jeden Morgen zum Bäcker, weil nur Mama mir Schulbrote schmiert und die ist ja meistens nicht da. Oma und Papa haben dafür keine Zeit, weil sie noch schlafen, wenn ich morgens losgehe. Da fiel mir ein, dass es an diesem Morgen beim Bäcker keine Nussschnecken mehr gegeben hatte. Ich hatte mir ein normales Brötchen kaufen müssen. In der Pause aßen alle Kinder Kuchen, Törtchen oder Brötchen vom Bäcker und ich hatte das Gefühl, dass sie das eigentlich ziemlich toll fanden. Auch Johannes hatte an dem Tag wieder genüsslich an einer Zuckerschnecke geknabbert.

»Findest du das nicht komisch?«, fragte die Prinzessin. »Dein Vater vergisst, dir die Haare zu schneiden. Deine Oma bügelt deine Hemden nicht. Johannes’ Eltern erlauben ihrem Sohn, eine Zuckerschnecke beim Bäcker zu kaufen. Sandro kommt mit ungekämmten Haaren in die Schule. Außerdem hatte heute keiner ein Schulbrot dabei. Und meine Eltern haben seit gestern kein Wort mehr mit mir gesprochen. Als wäre ich gar nicht da. Ich sage dir Kurt, da stimmt was nicht.«

Als sie von ihren Eltern erzählte, zitterte ihre Stimme. Sie biss sich ganz fest auf die Lippen und wurde noch ein bisschen grünlicher. Sie fing zwar nicht an zu weinen. Dafür griff sie sich den untersten ihrer Röcke und schniefte kräftig hinein. Ich fand das aber nicht eklig.

Es war also die Prinzessin, die als erste bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich gar nicht glauben, dass die Dinge, die dann passierten, niemandem außer uns seltsam vorkamen.

Beobachtungen seltsamer Dinge

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Am nächsten Tag standen die Prinzessin und ich in der Pause im Schulhof zusammen. Die Prinzessin ist einen Kopf größer als ich und es sah bestimmt lustig aus, wie wir zusammen im Hof standen. Wir taten aber so, als würden wir nicht bemerken, dass die anderen ihre Köpfe tuschelnd und kichernd zusammensteckten.

»Na, ihr beiden? Ihr habt euch doch nicht etwa ineinander verliebt?«, gluckste Max, der an uns vorbeischlenderte.

Wir versuchten, ihn nicht zu beachten. Es gab nämlich Wichtigeres zu tun. Die Prinzessin hielt einen Schreibblock in der Hand und notierte alles, was uns auffiel. Zum Beispiel, dass sich Max die ganze Zeit seine viel zu weite Hose hochziehen musste, weil er keinen Gürtel trug. Es war die Idee der Prinzessin gewesen, alles aufzuschreiben, was anders war als sonst. Sie hatte mich noch vor der ersten Stunde gefragt, ob ich ihr dabei helfen wollte. Klar wollte ich das.

Die Prinzessin riss wütend ein Blatt vom Block, weil sie sich schon wieder verschrieben hatte. »Vermurxter Riesenplatsch!«, fluchte sie laut und ich fuhr vor Schreck zusammen, obwohl sie das schon das sechste Mal sagte.

»Soll ich vielleicht lieber schreiben?«, fragte ich sie zum fünften Mal.

Aber die Prinzessin schüttelte wieder den Kopf. Also schaute ich mich weiter um und beobachtete die Kinder, die über den Schulhof tollten oder in Gruppen zusammenstanden und Geheimnisse austauschten. Man musste schon sehr genau hingucken, um Veränderungen zu sehen. Viele hatten ungewaschene Haare und schmutzige Klamotten oder rutschende Hosen wie Max oder trugen ihre T-Shirts verkehrt herum. Aber da war auch noch etwas anderes. Ich brauchte eine Weile, bis ich wusste, was es war. Doch bevor ich die richtigen Worte fand, kam die Prinzessin mir zuvor.

»Sie sind alle viel lauter und ausgelassener als sonst«, sagte sie und fing gleich an, das aufzuschreiben. Ich hoffte sehr, sie würde sich nicht verschreiben.

»Ja, irgendwie wilder«, bestätigte ich und versuchte mich unauffällig aus ihren Bändern zu befreien, in die ich mich immer wieder verhedderte.

In dem Moment lief ein kleiner Junge aus der ersten Klasse an uns vorbei. Er trug keine Schuhe. »Die Sache mit den Socken brauchst du nicht mehr aufzuschreiben«, sagte ich schnell zur Prinzessin, damit sie sich nicht wieder verschreiben musste. »Die meisten tragen jetzt zwei verschiedene Strümpfe.«

»Aber ohne Schuhe ist neu«, erwiderte die Prinzessin und verschrieb sich prompt. »Stinkender Affenknödel!«

Die Prinzessin konnte wirklich toll fluchen. Sie nahm sich ein neues Blatt und begann, alles noch mal ins Reine zu schreiben. Wir würden also zu spät in Frau Müllers Deutschstunde kommen. Wenigstens hatte die Prinzessin nicht ihr ganzes Mäppchen, sondern nur einen Stift mitgenommen. Wenn sie jetzt auch noch angefangen hätte zu spitzen, wären wir noch später dran gewesen.

Plötzlich stand Sandro vor uns, hüpfte auf der Stelle und wedelte wie verrückt mit einem Blatt Papier herum. Ich sah, dass es von oben bis unten vollgeschrieben war.

»Was ist das?«, fragte ich und ärgerte mich über Sandro und wie er da so vor uns herumhüpfte. Dabei wusste ich gar nicht, warum mich das ärgerte.

Sandro deutete auf die Überschrift auf seinem Blatt und da stand:

Beobachtungen seltsamer Dinge

»S… s… so e… e… etwas sch… sch… schr… schreibt ihr doch auf, oder?«, fragte er und hüpfte weiter auf der Stelle. Ich war sehr überrascht, dass er das, was er sagen wollte, nicht auf einen Zettel schrieb.

»Woher weißt du denn, was wir beobachten?«, fragte ich. Ich wünschte mir, dass Sandro mit seinem vollgekritzelten Zettel wieder weghüpfte.

»Das ist aber lieb von dir«, sagte die Prinzessin und strahlte Sandro an.

Sandro strahlte zurück. Er war so groß wie die Prinzessin. Die beiden konnten sich genau in die strahlenden Augen schauen.

Ich verstand gar nichts mehr.

Während die Prinzessin voller Begeisterung Sandros Notizen durchlas, ärgerte ich mich. Wie oft hatte ich ihr angeboten, an ihrer Stelle zu schreiben? Und wie oft hatte sie Nein gesagt?

»Schau mal, Kurt: Dass der kleine Jan aus der Zweiten seit gestern mit einer zerbrochenen Brille herumläuft, haben wir gar nicht gesehen.«

Sandro strahlte noch mehr und hörte auf zu hopsen. Am liebsten hätte ich ihm die Zunge rausgestreckt. Aber dazu bin ich ja eigentlich schon zu groß. Na ja, auf alle Fälle zu alt. Trotzdem hatte ich in dem Moment große Lust, es zu tun. Besonders als ich sah, wie die Prinzessin Sandro anlächelte. Ich hatte Jans kaputte Brille auch gesehen, hatte es der Prinzessin aber extra nicht gesagt. Vielleicht weil meine Brille auch zerbrochen war.