Christoph Werner

Um Ewig Einst
Zu Leben

Caspar David Friedrich und
Joseph Mallord William Turner

Roman

Vorbemerkung
Die Szene in London zu Beginn des Buches wurde vom Anfangskapitel des Romans von Charles Dickens, »Bleak House«, angeregt. Die Bemerkungen Goethes zum antifranzösischen Nationalismus der Deutschen sind zum Teil Thomas Manns Roman »Lotte in Weimar« entnommen.

© Bertuch-Verlag GmbH Weimar 2006
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Umschlaggestaltung
Eckehard Werner (unter Verwendung des Gemäldes von Caspar David Friedrich »Die Lebensstufen«, um 1835)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2012
ISBN: 9783863970147

Für Helga

Teil 1
London, November 1815

Kapitel 1

Seit Wochen herrschte düsteres Novemberwetter. Der Rauch aus den Kaminen senkte sich, statt in den Himmel zu steigen und zu verschwinden, auf die schmutzigen Straßen und vermischte sich mit dem Nebel und den Rußflocken zu einer schwarzen Nieselfeuchtigkeit von so niederdrückender Schwere, dass es den Menschen schien, als würde die Sonne nie wieder scheinen. Schmutz und Schlamm bedeckten die Straßen, so dass die Pferde vor den Kutschen und Lastwagen bis an die Scheuklappen bespritzt wurden. Die Leute beeilten sich, dem Morast und der nieselnden Feuchtigkeit zu entkommen und behinderten sich gegenseitig mit ihren Regenschirmen. Keiner entschuldigte sich, wenn er jemanden anrempelte, und alle waren mürrisch und hoffnungsloser Stimmung. An den Stra- ßenecken rutschten sie aus und konnten sich häufig gar nicht auf den Beinen halten, sie griffen nach dem nächstbesten Arm, der ihnen Halt versprach und brachten den Besitzer desselben auch noch zum Straucheln.

Die Sänftenträger vor allem hatten Mühe, ihre menschliche Fracht unbeschadet zu deren Häusern oder anderen Bestimmungen zu bringen und murmelten bösartige Worte vor sich hin, wenn der Gentleman oder die Lady, die sich da durch den Londoner Schmutz tragen ließ, von gar zu großer Leibesfülle war. Wenn sie keine Nummern trugen, die ihre amtliche Gewerbeerlaubnis kennzeichnete, so waren sie keine Chairmen vom Gewerbe, sondern die Diener der Getragenen, deshalb nicht so geübt und eher veranlasst, zu stolpern und auszurutschen und damit ihre Lohndienerschaft aufs Spiel zu setzen. Die Damen und Herren präferierten die Sänfte gegenüber der Kutsche, weil eine Sänfte selbst noch durch enge Gassen hindurch passte und sie damit bis ins Haus getragen werden konnten. Weder beschmutzte man sich die Schuhe, noch wurden die kostbaren Frisuren der Damen und die seidenen Mäntel der Herren beeinträchtigt.

Allerorts Nebel, kalt und feucht, der überall hineinkroch und das letzte bisschen Wärme aus den Kleidern und Mänteln und Schuhen und klammen Händen und kalten Nasenspitzen der Menschen hinauszudrängen schien.

Unter den Lohndienern, Schreibern, Hausfrauen, Dienstmädchen, Kohlenträgern, Studenten, Parlamentsschreibern, Handwerkern, Themsefischern, Handelsgehilfen und Taschendieben fielen die kleinen Gestalten der Kaminfeger auf, zumeist Jungen, ganz schwarz, die ihre Bürsten schleppten und Säcke voll Ruß, den ihr Meister als Dünger verkaufte.

Die Kinder waren klein und schlank, damit sie durch die Kamine passten. Sie kletterten unten hinein und hatten ihre Arbeit erst beendet, wenn ihr Kopf oben auf dem Dach zu sehen war. Und wenn die Arbeit nicht schnell genug vonstatten ging oder sie sich nicht weit genug in die engen und gewundenen Kamine wagten, zündete der Meister wohl auch einmal ein kleines Feuer unten im Kamin an, was das Kaminfegen der Kinder beschleunigte. Wenn sie größer wurden, waren sie zum Kaminfegen nicht mehr geeignet. Doch geschah das selten. Verbrennungen und Verletzungen und bei den Jungen bösartige, durch den Ruß verursachte Wucherungen an den Hoden, die man Rußwarzen nannte, beendeten frühzeitig ihr Leben, was ihnen ihre Meister als reine Boshaftigkeit auslegten, denn sie mussten sich nun um ebenso billigen und willigen Nachwuchs bemühen. Doch war der nicht schwer zu haben, denn es kam häufig vor, dass verarmte oder dem Alkohol verfallene Eltern ihre Kinder bereits im Alter von vier Jahren für zwanzig oder dreißig Schillinge an einen Meister verkauften.

Wenn sie den Ruß abgeliefert und etwas von dem, was sie von den Hausbesitzern, ihren Kunden, erbetteln mussten, gegessen hatten, suchten sie sich eine dunkle Ecke, häufig einen Kellereingang oder ein altes Gewölbe, krochen in ihren Rußsack und versuchten zu schlafen, um Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Ihre Schlafstelle suchten sie möglichst weitab von dem hellen Licht der Gaslampen, die seit kurzem einige Straßen, vor allem in der City of Westminster, beleuchteten. Sie mussten sich vor der Nachtwache in Acht nehmen, die zwischen neun Uhr abends und Sonnenaufgang auf den Straßen patrouillierte und alle verdächtigen Personen in Augenschein nahm. Nach Hause gingen sie nicht, denn ihre Eltern hatten sie verkauft. Der Nebel und die feuchte Novemberkälte setzten den mageren kleinen Gestalten, die sich mit erbettelten Kleidern meist nur notdürftig schützen konnten, besonders zu. Und wenn sie den Sänftenträgern und den anderen erwachsenen Passanten nicht schnell genug ausweichen konnten, wurden sie mit Flüchen bedacht, als Bettler, Tagediebe und Verbrecher beschimpft und derb zur Seite gestoßen.

Der Maler Joseph Mallord William Turner, Mitglied der Königlichen Akademie und Professor für Perspektive, ging unerkannt durch die Menge. Sein Kopf war von einem Zylinderhut bedeckt, und gegen die Kälte schützten ihn eine weiße Kragenbinde, ein langer dunkler Mantel und derbe braune Stiefel. Er schien unbeteiligt an dem Straßentreiben, doch entging seinem aufmerksamen Auge nichts. Er sah auch die kleinen Gestalten mit ihren Säcken, und ihm gingen Verse durch den Kopf:

Tom wurde wach, und dann standen wir auf
Und stiegen mit Sack und Besen zur Esse hinauf.
Der Morgen war kalt, doch Tom glücklich und warm;
Wer stets seine Pflicht tut, dem geschieht auch kein Harm

Seltsamer Geselle, dieser Blake, dachte Turner. Dichter und Maler, verrückt, und doch ein genialer und unabhängiger Geist und begabter Graveur. Wahrscheinlich hat diese Betonung des Stiches dazu geführt, dass er die Linie, das Gezeichnete, die Abgrenzung von Figur und Gegenstand, die für ihn beinahe eine Frage der Rechtschaffenheit war, höher schätzt als die Farbe und das Licht und den Schatten. Ist doch aber auch das Indefinite und die Impression eine wahre Wiederschau des vielfältigen und unklaren Lebens. Dennoch hat Blakes Bild »Mitleid« aus dem Jahre ’95, in Feder und Wasserfarben ausgeführt, in welchem alle seine Prinzipien klar zum Ausdruck kommen, etwas Weiterführendes, an das die Maler künftiger Generationen anknüpfen werden, so wie sie seine, Turners, anders gearteten Auffassungen eines Tages verstehen werden. Turner kam aus der Coleman Street bei den Docks, wo er recht regelmäßig ein Bordell besuchte. Gleichzeitig nutzte er die Gelegenheit, dort in Wapping die Miete für die Wohnungen und Häuser einzutreiben, die er von der Familie seiner Mutter geerbt hatte. Nicht, dass er damit reich werden konnte, wie zum Beispiel der große Magnat John Russell, der mit den Erlösen aus dem Besitz von Bloomsbury in der Mitte Londons seine landwirtschaftlichen Innovationen finanzierte.

Turner liebte es, seine Zeit zu nutzen und das Nützliche mit dem Wohltuenden zu verbinden. Im Bordell ging es ihm sowohl um die körperlichen Freuden, die ihm eine Schöne der Nacht, die glücklicherweise auch am Tag aktiv war, bereitete, wie auch um die skurrilen und interessanten Stellungen, die die weiblichen Körper während ihres Dienstes einnahmen. Er verließ dieses öffentliche Haus selten, ohne Zeichnungen der intimen Anatomie des weiblichen Körpers vor, während und nach der Kohabitation und der verschiedenen Möglichkeiten menschlicher Umarmungen, Positionen und körperlichen Verstrickungen in sein Skizzenbuch eingetragen zu haben. Diese Skizzen hielt er sorgfältig unter Verschluss; das Skizzenbuch war außerdem mit verschließbaren Metallspangen versehen, um es Unbefugten nicht so leicht zu machen, die Bilder anzusehen. Es würde kaum jemand verstehen, welche Erleichterung es ihm bedeutete, sich einmal von der bürgerlichen und so oft geheuchelten Respektabilität freizumachen. Das ließ er sich auch etwas kosten, obwohl er es sich sonst angewöhnt hatte, sparsam mit Geld umzugehen.

Jetzt hatte Turner ein Lächeln auf den Lippen. Erheitert hatte ihn die Antwort eines Themseanglers, der ihm auf seine, Turners, Feststellung, er habe doch noch gar keine Fische gefangen, im schönsten Cockney geantwortet hatte: »Das stimmt. Iss auch nich nötig. Komme so ein paar Stunden von der Frau weg.« Da erging es dem Maler besser. Er hatte vorsichtshalber gar keine Frau. Seine Verbindung mit Sarah, der Witwe von John Danby, dem bekannten Liederkomponisten, dauerte nun schon über fünfzehn Jahre, aber er konnte sich einfach nicht überwinden, sie zu heiraten, obwohl sie ihm zwei Töchter, Evelina und Georgianna, geboren hatte. Er fand es gut und richtig, die Beziehung so geheim wie möglich zu halten und sich nicht offen in eine Verbindung, ehelich oder nicht, mit einer Frau einzulassen. Frauen waren ihm zu mysteriös, sie hatten so seltsame Wünsche und verlangten, dass man sie ohne viele Worte verstehe, machten aber doch auch wieder viele Worte. Und sie waren, wie seine Mutter, zu Ausbrüchen fähig, die ihm derart die Nerven strapazierten, dass er die Mutter – wie lange ist das her – in ein Irrenhaus bringen musste. Und selbst zu seinen Töchtern hatte er kaum Verbindung, nachdem sie erwachsen waren.

Schon der Übergang der Mädchen zum Erwachsensein war mit so merkwürdigen körperlichen und geistigen Erscheinungen verbunden, mit denen er sich nicht auseinandersetzen wollte. Dabei liebte er den fraulichen Körper, der ihm Lust machte und zu wunderbaren Freuden verhalf. Wenn doch nur die Frauen durch ihre anziehende und andererseits auch wieder fremdartige, den Mann hilflos machende Körperlichkeit nicht sein Leben und vor allem seine Arbeit, seine Malerei, stören würden. Das aber durfte nicht sein, und so blieb er lieber allein. Die Frauen wollten über kurz oder lang ein Nest bauen und das dann zum Mittelpunkt ihres und seines Lebens machen. Der Mittelpunkt seines Lebens war jedoch sein Atelier, seine Arbeit, und die Wohnung die notwendige Begleiterscheinung.

Er hatte sich für die drei Meilen von Wapping bis zum Somerset House eine Kutsche geleistet, war vor dem Somerset House und der darin befindlichen Königlichen Akademie ausgestiegen und ins Haus gegangen, um sein Ölbild »Die Überquerung des Bachs«, das er mit zwei anderen Bildern auf der Akademieausstellung gezeigt hatte, anzusehen.

Jetzt, da er zu Fuß durch die Bow Street zur Oxford Street ging und fast unbewusst die Straßenszene aufnahm und die Bilder unauslöschlich in seinem Kopf aufbewahrte, schien es ihm, als hätte er auf dem Bild zuviel von sich und seinen Töchtern preisgegeben. Am Artistischen freilich ist nichts auszusetzen, und die diffuse Klarheit des Lichtes, die Brücke im Mittelgrund und die umrahmenden Bäume sind sehr angemessen. Doch man würde die Szene leicht entschlüsseln, würde erkennen, dass er zu den Mädchen, die den Bach überqueren, in einer bestimmten Beziehung steht, und Evelina, die die Strömung durchschritten hatte, zur Frau geworden und Georgianna, noch am anderen Ufer, ein Kind am Rande der Pubertät ist. Vielleicht aber war er zu empfindlich, und die Leute würden das Bild als die Allegorie verstehen, die er meinte, und sehen, dass die Kluft, vor der Evelina stand, in einem ganz allgemeinen Sinne den schmalen Weg aus der vertrauten Gegenwart in eine noch dunkle Zukunft andeutete, den Schleier und die Verlockung des Unbekannten.

Turner beschleunigte ungeduldig seine Schritte, und als er die Oxford Street erreicht hatte, entschloss er sich, wieder eine Kutsche zu nehmen, um schneller zu seinem Atelier und der Galerie in der Harley Street, die vom Regent’s Park südlich abging, zu gelangen. Es hatte sich vor einigen Wochen ein Gast aus Deutschland angesagt, der sich, wie er geschrieben hatte, für die englische Landschaftsmalerei interessierte. Turner hatte ihm für die Dauer seines Aufenthalts in London ein Gasthaus in der Nähe der Harley Street empfohlen und ihn für heute Abend zu einem einfachen, von seinem Vater sicher schon vorbereiteten Dinner eingeladen, sowie die Möglichkeit angeboten, die Bilder in seiner Galerie anzusehen. Eigentlich wohnte der Maler mit seinem Vater seit einigen Jahren nicht mehr in der Harley Street, sondern themseaufwärts in dem neuerworbenen Haus Sandycombe Lodge. Für heute hatte er sich ausgebeten, dass das Essen im Atelier eingenommen würde, damit der Gast es dann nicht zu weit zu seiner Unterkunft hätte.

Kapitel 2

Währenddessen machte sich Christian August Silberschlag in dem im ersten Stockwerk des Gasthauses »The Old Bell« gelegenen Zimmer für seinen Besuch bei dem berühmten englischen Landschaftsmaler William Turner fertig.

Der junge Mann war ein Enkel des vielseitigen Johann Esaias Silberschlag, Königl.-preußischer Konsistorialrat und Geheimer Oberbaurat, Prediger an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin, Direktor der Königlichen Realschule zu Berlin, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften wie auch der Holländischen Gesellschaft zu Haarlem, der Gelehrten Gesellschaft zu Frankfurt an der Oder und der Naturforschenden Gesellschaft zu Berlin.

Diesen Großvater, der im Jahre 1791 im Frieden mit Gott und den Menschen gestorben war, hielt der Enkel in hohen Ehren. Zum einen beeindruckte ihn die erstaunliche Laufbahn des begabten Mannes, und zum anderen verdankte er ihm einen Gutteil seiner Ausbildung, zuerst auf der Königlichen Realschule in Berlin und dann auf der Friedrichs-Universität in Halle, wo er Theologie, Philologie, Medizin und die mathematischen Wissenschaften studiert und zudem Gelegenheit hatte, sein Talent auf dem Gebiet der Zeichen- und Malkunst durch privaten Unterricht, finanziert durch die ihm hinterlassene Erbschaft seines Großvaters, weiter auszubilden.

Es gab noch einen weiteren Grund, warum er so an seinem Großvater gehangen hatte. Sein Vater nämlich, August Esaias Silberschlag, geistlicher Rat im Konsistorium in Magdeburg und erst vor einigen Jahren gestorben, war ein strenger Erzieher gewesen, der dem Wort folgte, wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie. Christian war in beständiger Angst vor ihm, was sein Vater wohl wusste, und weinte viel, was er ihm durch Härte auszutreiben suchte. Es war Christian deshalb wie eine Erlösung, als er nach Berlin zu seinem milden und gerechten Großvater gehen konnte und, während er das Realgymnasium besuchte, bei ihm und der lieben Großmutter Katharina Maria wohnte. Letztere lebte noch, und Christian besuchte sie, wann immer er konnte. Als sein Vater starb, hatte er dennoch viele Tränen vergossen, denn trotz der Angst und dauernden Indoktrination war er tief erschüttert, was er selbst nicht verstand.

In Halle hatte er das Glück, im Jahre 1805 bei einer besonderen Gelegenheit Goethe kennen zu lernen.

Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts nämlich hatte der Wiener Arzt Dr. Franz Joseph Gall Aufsehen erregt durch seine Behauptung, er könne aus dem Bau des Schädels die geistigen und sittlichen Anlagen eines Menschen erkennen und beschreiben. Er unternahm eine Vortragsreise durch Deutschland, die ihn auch nach Halle führte. Goethe war an dem Thema äußerst interessiert. Als Gall in Halle im Saal des Gasthauses »Zum Kronprinzen von Preußen« in der Kleinen Klausstraße seine Veranstaltungen begann, war der Dichter, vom Philologen Wolf, Silberschlags akademischem Lehrer, herbeigerufen, schon hier, um an den Vorführungen teilnehmen zu können. Unter den Zuschauern, von denen die Hälfte Studenten waren, befand sich auch Silberschlag, den Wolf mit dem Dichter bekannt machte.

Gall, umgeben von Menschen- und Tierschädeln sowie Wachsabgüssen von Gehirnen, scheute sich nicht, seine Lehre unter Zuhilfenahme von Köpfen der anwesenden Prominenz darzustellen. Am Haupt Goethes demonstrierte er das Exemplar eines Schädels, dessen schönes, bedeutendes Ebenmaß auf die umfassende Ausbildung aller Talente schließen lasse. Goethe fand das alles sehr unterhaltsam und erbaulich. Später vertrat er in Bezug auf die Phrenologie allerdings den Standpunkt, dass für die Erkenntnis der menschlichen Veranlagungen die Gehirnanatomie und die Erforschung der Entwicklung des Gehirns doch wohl wichtiger seien als die Untersuchung des Schädelbaus.

Goethe erkrankte in Halle an einem Nierenleiden, wofür er den berühmten Medizinprofessor Johann Christian Reil konsultierte, der sich als kluger Mann erwies, indem er nichts tat, sondern der Natur ihren Lauf ließ, was prompt zu Goethes Genesung führte. Sein Aufenthalt wie auch sein Krankenbett fanden im Hause Wolfs in der Großen Märkerstraße statt, wo Christian August Silberschlag an dem studentischen Mittagstische, mit welchem Wolf sein kärgliches Professorengehalt aufbesserte, teilnahm. Hier nun leistete er dem kranken Genius mancherlei Hilfsdienste, trug ehrfurchtsvoll, wenn auch mit abgewendeter Nase, sein Nachtgeschirr hinaus und half ihm bei den Mahlzeiten. Auch durfte er ihm vorlesen und seine Mal- und Zeichenversuche zeigen. Eines Abends forderte der Dichter den jungen Mann auf, am Krankenbett zu verweilen und sagte:

»Sie werden, lieber Silberschlag, überrascht sein zu hören, dass ich Sie in den Tagen unseres Beisammenseins ein wenig beobachtet habe. Meine Erfahrung mit den Menschen sagt mir, dass Sie zu Höherem und Weiterem begabt sind als zu dem, was Sie hier tun. Ohne Zweifel liegt Ihr Talent im Künstlerischen, in der Malerei. Dies gilt es auszubilden.«

Silberschlag wurde rot, als er, in seinen Kniehosen, Strümpfen und Halbschuhen, den Hemdkragen über die Jacke geschlagen, dieses Lob hörte, und antwortete:

»Exzellenz sind zu gütig. Auch in mir ist schon manchmal das Gefühl hochgekommen, hier in Halle nicht auf dem richtigen Weg zu sein. Zudem sagen mir die Sprachen der Alten weniger zu als moderne Sprachen, zuförderst das Englische, welches ich Gelegenheit hatte, hier in Halle beim vorzüglichen Magister Reinhard Koch, eigentlich Altphilologe, aber die englische Sprache und alles, was damit zusammenhängt, liebend und beherrschend wie kein zweiter, wenigstens in seinen Anfangsgründen zu lernen.«

Goethe dachte nach und fragte dann: »Über welche finanziellen Mittel, Silberschlag, verfügen Sie?«

»Ich habe von meinem Großvater genügend geerbt, um die nächsten Jahre unabhängig zu sein.«

»Dann mache ich Ihnen folgenden Vorschlag«, sagte der Dichter daraufhin. »Sie kommen mit mir nach Weimar, wo Sie bei Meyer an der Freien Zeichenschule Ihr Talent ausbilden können. Gleichzeitig werde ich dafür sorgen, dass Sie im Hause von Charles Gore und seinen Töchtern Eliza und Emily Ihr Englisch vervollkommnen können. Und für dies alles, mein Lieber, werden Sie mir helfen, meine Sammlung von Zeichnungen und Bildern in meinem Hause am Frauenplan zu ordnen und in einen sauberen Katalog zu bringen.«

Und so kam es, dass Silberschlag nach Weimar kam, sich hier für einige Jahre niederließ, weiter Englisch lernte, dem Genius unentgeltlich beim Ordnen seiner Sammlungen helfen durfte und sich beträchtlichen Kunstgeschmack durch den Umgang mit Goethe, dessen Freund Heinrich Meyer und der übrigen kunstinteressierten Weimarer Gesellschaft aneignete, wohingegen sich sein Zeichen- und Maltalent bald als durchaus überschaubar herausstellte, allerdings hatte er im Kopieren eine große Kunstfertigkeit erworben.

Im September des Jahres 1810 begleitete Silberschlag Goethe auf einer Reise nach Dresden, wo sie das Atelier des Malers Caspar David Friedrich, an der Elbe gelegen, besuchten. Dort empfand er es wie eine Offenbarung, als er die Bilder »Abtei im Eichwald« und »Der Mönch am Meer« zum ersten Mal sah. Als die anderen das Atelier verließen, blieb er zurück, kam mit dem Maler ins Gespräch und wurde ganz bezaubert von dessen dunkelmütiger, einsamer und sehnsuchtsvoll-jenseitiger Verfassung. Auch Friedrich schloss den jungen Mann in sein Herz, und sie erneuerten ihre Bekanntschaft, als sie sich ein Jahr später auf einem Ausflug zu der Ruine der Lobdaburg bei Jena wieder trafen, den Goethe mit Freunden und Bekannten unternahm.

Friedrich lud Silberschlag ein, nach Dresden zu kommen und dort die reizvolle Landschaft, die abwechslungsreiche Umgebung, den glanzvollen Barock, die Akademie, Galerien und Ateliers sowie eine aufgeklärte Gesellschaft und einen lebhaften Fremdenverkehr kennen zu lernen. Es war durchaus ein Unterschied zu Weimar, das trotz der dort anwesenden Geistesgrößen eine Kleinstadt blieb. Und so kam Silberschlag, den Goethe nach getaner Arbeit an seinen Sammlungen nicht ungern ziehen ließ, wohl aber in gutem Gedächtnis behielt, nach Dresden. Hier lebte er vom Geerbten und von Einnahmen aus privaten Englischstunden, die wieder in Flor kamen, nachdem sich das Ende Napoleons, dessen Gunst sich Sachsen und zuförderst Dresden in besonderem Maße erfreut hatten, abzeichnete.

Silberschlag verkehrte in der kargen Wohnung Friedrichs und gewann einen gründlichen Einblick in sein Werk und seine Gedankenwelt, wobei ihm die Gespräche über Friedrich mit dem Maler Kügelgen und dem Arzt Carus, der gleichfalls malte, halfen.

Bald nachdem er sich in Dresden eingerichtet hatte, lernte er die neunzehnjährige Johanna kennen, eine zarte und zugleich willenskräftige Jungfrau, Tochter des Spezereiwarenhändlers Bergling in der Bautzner Straße in der Dresdener Neustadt. Silberschlag wollte erst gar nicht glauben, dass die Neustadt eine solch anmutige und gleichzeitig geheimnisvolle Mädchenblüte hervorzubringen im Stande war. Johanna war mittelgroß, hatte kastanienbraunes Haar, große braune Augen und eine schö- ne dunkle Stimme. Ihre Gestalt, die Silberschlag bald Gelegenheit nahm, genauer zu erforschen, war schlank und doch kräftig, und ihr Sommerkleid verbarg nur unzureichend die schönsten Beine und den süßesten kleinen Busen, den ein Mann sich wünschen konnte. Johannas Vater war der in guten Kreisen verkehrende Silberschlag als Eidam ganz recht, und so dauerte es nicht lange, dass sich die beiden jungen Leute mit der Zustimmung von Johannas Eltern verlobten, nach angemessener Zeit heirateten und in der Bautzner Straße im großen Haus von Johannas Eltern im ersten Stock eine geräumige Wohnung bezogen und auf ihr erstes Kind hofften.

Goethe hatte Silberschlag nicht vergessen, und als im Jahre 1815 Karl Friedrich Schinkel in Berlin vom König den Auftrag erhielt, für ein neu einzurichtendes Museum gute Land- und Seestücke zu suchen und möglichst preiswert zu erwerben und sich um Rat an Goethe wandte, ob der nicht eine geeignete Person wisse, die er nach England schicken könne, erinnerte sich dieser an Christian August Silberschlag als einen Kenner und Sprachler. So erhielt Silberschlag den ehrenvollen Auftrag, sich in England unter den berühmten Landschaftsmalern nach geeigneten Bildern umzusehen.

Jetzt, in seinem Zimmer des »Old Bell«, kam es ihm ganz unwirklich vor, wie Zufälle und Zeitläufte ihn hierher gebracht hatten. Er war nach einem beiderseits tränenreichen Abschied von seiner Johanna, der er die längere Trennung mit dem Versprechen erleichterte, ihr regelmäßig Post aus England zukommen zu lassen, während sie wiederum zum Ausdruck brachte, dass sie die Zeit seiner Abwesenheit zur Vervollständigung ihres Haushaltes und der Erweiterung ihres Wissens auf den Gebieten der bildenden Kunst und Musik, das jetzt schon beträchtlich war, nutzen wollte, im Sommer nach Berlin zu Schinkel gefahren und hatte sich seine Instruktionen sowie eine aus dem Extraordinario des Königs ordentlich gefüllte Reisekasse geholt.

Schinkel wäre gern selbst gereist, doch war er durch seine Arbeit in der Oberbaudeputation und einen Auftrag des preußischen Staatskanzlers Carl August Fürst von Hardenberg, sich um den Ankauf einer bestimmten Bildersammlung im Rheinland zu bemühen, gebunden. Außerdem war er des Englischen nicht mächtig.

Silberschlag sollte noch keine Bilder kaufen, sondern sich einen Eindruck vom Stand der Landschaftsmalerei in England verschaffen und allenfalls Optionen auf von ihm ausgewählte Bilder erwerben. Zur Vorbereitung dessen und auch, um seinen Gastgebern in England über den Stand der Kunst in Deutschland Rede und Antwort stehen zu können, hatte er sich ganz sorgfältig mit den Bildern der neuen romantischen Landschafter beschäftigt und fühlte sich besonders durch die Vertrautheit mit der Person und dem Werk Friedrichs für seine Aufgabe gut gerüstet. So war er jetzt im Herbst nach London gekommen.

Das »Old Bell«, in dem er nun schon seit einigen Tagen wohnte, war in den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts gebaut worden und hatte den Arbeitern, die diesen Teil Londons nach dem großen Brand von 1666 wieder aufbauten, als Unterkunft und Verpflegungsstätte gedient.

Es war ihm eine richtige Heimstätte geworden, in die er sich aus der beängstigenden Riesenstadt London und ihrer jetzt im Herbst durchdringenden feuchten Kälte flüchten konnte.

Kapitel 3

London, den 17. November 1815

Meine theuerste und liebste Johanna.

Soeben verlässt mich der Gehilfe des Kaufmanns Moser, nachdem er mir Deinen lieben Brief vom 10. November übergeben hatte. Denke nur, dass Deine Nachricht mich nach bloß achtzehn Tagen erreicht hat, so bald und pünktlich ist Moser von Dresden nach London gelangt. Ihre Fahrt über den Kanal sei durch günstigen Wind sehr befördert worden. Ich habe dem Gehilfen ein tüchtiges Trinkgeld gegeben und ihn gebeten, Herrn Moser unser beider besten Dank auszurichten und vor ihrer Abreise voraussichtlich am 25. des Monats freundlichst noch einmal bei mir vorzusprechen, um meine Briefe an Dich, den Geheimrat Schinkel und Exzellenz Goethe in die Heimat mitzunehmen.

Liebste Johanna, mich plagt bereits eine gewaltige Sehnsucht nach Dir und Deinen Zärtlichkeiten, und die große Entfernung von Dir und die andauernde Zeit der Trennung machen mir erst so recht klar, wie Du Teil und Mittelpunkt meines Lebens geworden bist. Aber Geduld, sage ich meinem Herzen und auch, dass neue Erfahrungen und Erlebnisse der Liebe nur gut tun können. Nun aber will ich Dir berichten, was es mit diesem London auf sich hat. Hebe meine Briefe nur bitte schön auf, da sie mir zum Teil als Reisebericht und Tagebuchersatz dienen sollen.

Dein zärtlicher Brief hat mein Herz gewärmt und meine Vorfreude auf unser Wiedersehen im schönen Dresden sehr erhöht. Ich danke auch für die Grüße, die Deine lieben Eltern sowie mein lieber Friedrich und die Herren Carus und Kügelgen übermitteln lassen. Richte ihnen meinen Dank und meine tiefgefühlten Grüße aus. Es wird viel zu erzählen geben, wenn ich zurückkomme, denn Zeit und Papier würden nicht reichen, um alles dem Brief anzuvertrauen.

Meine Liebe, seit ich – aus Weimar kommend – in Dresden wohne, war ich in dem Glauben zu wissen, was eine Großstadt ist.

Wahrlich naiv komme ich mir jetzt vor. Was ich hier erfahre, übertrifft, nein überwältigt geradezu alle meine Erwartungen. Die Stadt ist in ihrer Größe, Unabhängigkeit und Macht unvergleichlich.

Sie ist der Nabel des Königreiches. Sie ist auch das Zentrum der Wirtschaft der Welt, eine Rolle, die sie von Amsterdam übernommen hat. Londons großer Reichtum stammt aus dem Handel mit Ost- und Westindien und den beiden Amerikas, genau genommen mit allen Teilen der Welt. Es ist führend im Theater, der Literatur und den Künsten. Hier gibt es die berühmtesten Maler, Architekten und Hersteller kostbarer Möbel, berühmte Gold- und Silberschmiede, Banken und Fabriken und den alles übertreffenden Hafen. Über zwei Millionen Menschen wohnen und arbeiten in London, da nimmt sich die Einwohnerzahl unseres lieben Dresdens, die, wie Du weißt, jüngst die 57 000 erreicht hat, geradezu unbedeutend aus, gar nicht daran zu denken, dass seit der unglücklichen Parteinahme unseres Königs für Napoleon unser ganzes Land nur noch 1 183 000 Einwohner hat.

London. Unzählbar ist allein die Menge der Wagen und Schiffe, die die Kohle, das Holz, die Baumaterialien für die Häuser, die Lebensmittel für die große Bevölkerung, die Rohstoffe für die Fabriken, das Holz für die Herstellung des Papiers für die Zeitungen und die Druckereien, die Kostbarkeiten und Köstlichkeiten der fernen Kontinente für die Haushalte der Wohlhabenden und vieles andere mehr herbeischaffen, Tag und Nacht, jahraus, jahrein. Wenn ich, liebe Johanna, jetzt an Dresden denke, kommt es mir wie ein heiteres Arkadien vor, sonnig, friedlich und ruhig.

Dennoch beginne ich London zu mögen. Ich habe mich in den zurückliegenden Tagen umgeschaut und mit vielen Leuten der verschiedensten Schichten gesprochen. Die einen treffe ich in den Galerien und Museen, die anderen in Gasthäusern, in Geschäften und auf der Straße.

Besonders zieht mich das bunte Leben im East End an. Hier habe ich mich bereits an die Londoner Sprechweise gewöhnt und kann die Leute gut verstehen und mich auch einigermaßen gut verständlich machen. Jetzt merke ich zum ersten Mal so recht, wie wichtig die gute Aussprache, die mir Meister Koch in Halle mit großer Geduld beigebracht hat, für mein Auskommen mit den Londonern ist. Selbst die Sprache der Cockneys, so bezeichnet man alle diejenigen, welche in Hörweite der Glocken von St. Mary-le-Bow geboren wurden, ist mir schon lieb und vertraut. Gerade diese Leute sind gastfreundlicher, toleranter und gesprächsfreudiger als ich angenommen hatte und erinnern mich in ihrer Treuherzigkeit ein wenig an die Dresdener.

In Whitechapel, einem Stadtteil im Osten Londons mit Zuckersiedereien, Eisengießereien, Wachstuchfabriken, Kleiderkonfektion und vielem anderen kommt es mir vor, als seien die Straßen wie die weite Welt in einem Brennglas. Juden mit schwarzen Ringellocken, Bärten und Käppchen, mandeläugige Frauen in phantastischen Saris, Chinesen mit kurzen Zöpfen und spitzen Hüten, schwarzhäutige Seeleute, Menschen aus aller Herren Länder gehen auf den Straßen, besuchen die Wirtshäuser und betrachten die Stadt als ihr Zuhause.

Nun, meine theuerste Johanna, muss ich Dir etwas gestehen. In meinem Drang, alles hier zu erforschen und kennen zu lernen, um es Dir berichten zu können, trieb mich vorgestern die Neugier soweit, dass ich einer jungen Frau, die mich angesprochen hatte, bis zum Eingang eines öffentlichen Hauses folgte. Aber natürlich hielt ich dann inne im Gedanken an meine Liebe zu Dir und das Geld des Königs, was für eine Inanspruchnahme der Dienste dieser Person – und selbst wenn es nur die von ihr auch angebotene kleine Handentspannung gewesen wäre – hätte aufgewendet werden müssen. Als die Person merkte, dass ich ihr nicht ins Haus folgte, verwandelte sie sich geradezu in eine Furie, schrie und machte einen Aufstand, so dass die Leute stehen blieben und mich anstarrten. In recht unwürdiger Hast suchte ich das Weite und lasse mir diese Erfahrung eine Lehre sein.

Zurück zu dieser Stadt. Hier ist mir auch ein ganz anderes London nicht entgangen. Das ist die Stadt der Armen, der Schutzbedürftigen, der Verbrecher, der Ausgestoßenen.

Die älteren Leute erzählen mir von Tyburn, einem recht gruseligen Ort. Noch bis in die letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts spielte der Name eine furchterregende, gleichzeitig abstoßende und die Sensationsgier und grausame Lust der Menschen anregende Rolle. Tyburn hieß ursprünglich ein kleiner Fluss, der London von den Höhen von Hampstead durch Regent’s Park bis in die Niederung von Westminster durchquerte, wo er in die sumpfigen Überflutungsgebiete der Themse südlich von Green Park floss. Seine beiden Arme bildeten die kleine, aus Flusskies bestehende Insel Westminster. Vom 13. Jahrhundert an versorgte der Tyburn London mit Wasser, das durch Leitungen aus Ulmenholz zu den Entnahmestellen in der Stadt oder direkt in die Häuser und Paläste der Reichen geleitet wurde.