CHRISTOPH WERNER

BUCKINGHAM
PALACE

ROMAN

FÜR HELGA

Vorbemerkung
Mein Dank gilt Antje Wetzstein vom Bertuch Verlag für ihr professionelles und einfühlsames Lektorieren des Textes.

Bertuch

© Bertuch-Verlag GmbH Weimar 2006
www.bertuch-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten.

© Bertuch-Verlag GmbH Weimar 2008
Eckehard Werner

Umschlagfoto
Digital Stock

1. Digitale Auflage 2012
Zeilenwert GmbH

ISBN: 9783863970161

Kapitel 2

Thüringen, Weimar

Feuchtkaltes, diesiges Novemberwetter. Silberschlag kam Nifl­heim in den Sinn, das Reich des Nebels und der Kälte nördlich der großen Leere, in dem die Welt erschaffen wurde. Es war, als würde die Sonne niemals wieder scheinen.

Die Abgase der Gasheizungen stiegen mühsam aus den Schornsteinen der Häuser. Die Katze, die im gegenüberliegenden Haus wohnte, saß bereits unter dem Küchenfenster und wartete, dass es geöffnet würde. Er schaute, bis sie mit einem Satz auf das in zwei Meter Höhe über ihr liegende Fensterbrett gesprungen und durch das jetzt halb geöffnete Fenster in der Küche verschwunden war. Jeden Morgen um dieselbe Zeit kam ein weißer, unbekleideter Frauenarm hinter der Gardine hervor und öffnete das Fenster für die Katze. Der dazu gehörige Frauenkörper hielt sich sorgfältig hinter der Gardine, was Silberschlag zu der Annahme veranlasste, der Frauenkörper sei ebenfalls unbekleidet. Er nannte sich einen lüsternen alten Mann, weil er sich in solchen Annahmen verlor und rätselte, welche von den in dem Nachbarhaus wohnenden Frauen zu dem Arm gehörte.

Weiter gingen seine Gedanken allerdings nicht. Vor zwei Jahren hatte er die Liebe seines Lebens verloren und war über diesen Verlust nicht hinweggekommen.

Er hatte sie spät wieder getroffen, nachdem sie in ihrer Jugend eine kurze Zeit zusammen gewesen waren und sich dann aus den Augen verloren hatten. Fast jede Nacht träumte er von ihr und sah die Bilder ihrer verhaltenen und erwartungsvollen gemeinsamen Zeit vor so vielen Jahren. Er hörte ihre dunkle Stimme durch die Jahrzehnte, als spräche sie jetzt zu ihm und riefe ihn zurück in ihre Jugend.

Als sie sich das erste Mal trafen, war sie neunzehn Jahre alt und er fünfundzwanzig. Und trotz seiner Unerfahrenheit und seines Dünkels war er für sie ein Teil der Welt der Erwachsenen, ein Teil von Otherland, wo es sie hinzog auf ihrer Suche nach Wärme, Zärtlichkeit und Klugheit. Sein Otherland war ein anderes, ein Leben ohne Angst und Schuld.

Silberschlag versuchte, sich von diesen Erinnerungen los­zureißen, doch mit jeder Nacht kamen sie zurück, und das schöne und traurige Gedicht von Edgar Allan Poe, das sie auf ihrer letzten gemeinsamen Reise nach Schottland bei einem Rezitatorenwettbewerb in einer Schule in Edinburgh gehört hatten, kam ihm fast täglich in den Sinn:

By a route obscure and lonely,
Haunted by ill angels only,
Where an Eidolon, named NIGHT,
On a black throne reigns upright,
I have reached these lands but newly,
From an ultimate dim Thule –
From a wild weird clime that lieth, sublime,
Out of SPACE – out of TIME.

Am Tag danach hatten sie auf einer Steinbank im Park von Holyrood House gesessen, und sie hatte das Gedicht übersetzt:

Auf einsam-dunklen Straßen,
Gejagt von bösen Engelscharen,
Wo ein Dämon, genannt die NACHT,
Auf schwarzem Thron übt seine Macht,
Erreichte ich zum ersten Mal
Dies wilde Land, das Thule war,
Zwielichtig in wirrem Schein,
Out of SPACE – Out of TIME.

Nachdem sie ihm die letzten Zeilen vorgelesen hatte, sah sie ihn an, und er las in ihren Augen, was ihr bevorstand.

Er dachte daran, wie anders, wie umfassender und zugleich stringenter als er sie die zauberhafte, die herrliche und zarte deutsche Sprache beherrschte und zu verwenden wusste. All die mitschwebenden Nebenbedeutungen der Wörter, die versteckten Anspielungen und Strahlungen, die kaum fassbaren Schwingungen in ihrem Bedeutungszusammenspiel, das erlösende Ge­fühl der richtigen Benennung, die anmutige und zuweilen kaum merkliche Auswirkung der bestimmten Stellung von Wörtern im Satz- und Textzusammenhang und die daraus folgende Veränderung der Bedeutung, der atemberaubende Spannungsbogen, der den deutschen Satz, wenn er entsprechend gehandhabt wird, so einmalig macht – das war ihr Instrumentarium, mit dem sie sowohl einen adressatengerechten Text wie auch ein kleines poetisches Lied schreiben konnte. Und es war eine der Grundlagen ihrer beider Verständigung.

Er hatte dieses Leben ohne sie satt und wartete darauf, dass es seinen Abschluss fand und er sie dereinst wiedersehen und bei ihrem Namen rufen würde. Mittlerweile galt es, nicht die Würde zu verlieren.

Als sie starb, hatte er versucht, sie zu begleiten und die Tablette schon genommen, doch man pumpte ihm eilig den Magen aus und erhielt ihn so am Leben.

Es war sieben Uhr dreißig und begann gerade zu dämmern. Er sah nach der Temperatur auf dem Thermometer draußen links im Kü­chenfenster, stellte mit Befriedigung die Übereinstimmung mit seiner Schätzung fest, vier Grad Celsius, und blickte noch einen Augenblick in den Nieselregen, der ihm, anders als den meisten Leuten, nicht als schlechtes Wetter vorkam. Es muss den alten Skandinaviern als Schoß des Lebens erschienen sein, wenn sie die Erschaffung der Welt in diesen Nebel und Nieselregen verlegten. Aus dem Brunnen Hwergelmir ergossen sich zwölf Ströme. Je mehr sie sich von ihrer Quelle entfernten, umso mehr erstarrte ihr Wasser, und es bildeten sich Reif und Eis, welche die Nordhälfte von Niflheim erfüllten.

Angeweht von der warmen Luft des Südens begann das Eis zu schmelzen, und es entstand durch Zusammenwirken von Hitze und Kälte ein Menschengebilde, der Riese Ymir, von dem das Geschlecht der Reifriesen ausging. Ebenso entstand aus dem Eis die Kuh Audhumla, von deren Milch sich Ymir nährte. Die Kuh beleckte die salzigen Eisblöcke, da kamen am Abend des ersten Tages Menschenhaare hervor, den anderen Tag eines Mannes Haupt, den dritten Tag wurde es ein ganzer Mann, der hieß Buri. Dessen Sohn gewann von der Tochter des Riesen Bolthorn drei Söhne, Odin, Wili und We. Diese erschlugen den Riesen Ymir und schufen aus ihm die Welt. Aus dem Blut entstand das Meer, aus den Knochen die Berge, aus den Zähnen die Steine, aus dem Haar die Bäume, aus dem Gehirn die Wolken.

Silberschlag sann darüber nach, warum ihm diese Schöpfungsgeschichte, mit Totschlag verbunden wie sie war, soviel näher stand als die biblische von der Erschaffung des Menschen im Paradies, die allerdings schließlich auch in Totschlag endete. Es machte ihn unruhig, dass er dieser Sache nicht auf den Grund kam. Da war etwas von der germanisch-christlichen Erziehung durch seinen Vater Gebliebenes, das sich rationalem Zugang verschloss, das in den nordischen Mythen ein Zuhause vermutete, eine Herrschaft des Gefühls über den Verstand, das ihn zutiefst verstörte. Das war etwas Unheiteres, Nibelungenhaftes, an jüngere deutsche Vergangenheit Erinnerndes, das sein Verstand gänzlich ablehnte.

Er dachte häufig darüber nach, wie ihn diese jüngere deutsche Vergangenheit festhielt, obwohl er doch gar keinen Teil daran hatte und am Ende des Krieges erst sechs Jahre alt war. Doch als er am Vortage in der Zeitung las, dass im Jahr 1941/42 elftausend jüdische Kinder aus Frankreich über Weimar in die Vergasungsanlagen in Auschwitz transportiert worden waren, überfiel ihn wieder einmal die schreckliche Gewissheit, zu ei­nem Volk zu gehören, das so etwas getan oder geduldet hatte. Es war, als ob sich die Erde unter ihm auftat und er ins Bodenlose fiel.

Ein jüdischer Kollege, der einen großen Teil seiner Familie in Auschwitz und Buchenwald verloren und dem er von diesem bleibenden Schmerz erzählt hatte, befahl ihm geradezu, damit aufzuhören. »Lebe und lache«, sagte er, »und zerfleische dich nicht. Womöglich ist dieser Schmerz – nennen wir ihn einen Phantomschmerz – auf nicht ganz erklärbare Weise egoistisch, weil man die Anmaßung eines Schmerzensmannes dahinter vermuten könnte, dergestalt, dass du die Sünden anderer auf dich nimmst und zu tragen dich unterfängst und dich dadurch über andere erhebst.«

Er ging in die Küche, trank ein Glas Möhrensaft, aß eine Banane, stellte die Butter auf den Tisch, nahm ein Brötchen aus dem Tiefkühlschrank, legte Messer, Gabel und Teelöffel neben das große Holzbrett auf den runden, eichenen Küchentisch und stellte die Tasse daneben. Dann zog er Hose und Hemd an, ging die zwei Treppen zum Briefkasten hinunter und holte sich seine Zeitung.

Der Thüringer Generalanzeiger gab vor, eine der ältesten Zeitungen Deutschlands zu sein, was man nur schwer glauben konnte, weil damit implizit ein Qualitätsanspruch verbunden war.

Er begab sich resigniert an die Lektüre, weil er wusste, dass er sich gleich wieder über die sprachliche Schluderei ärgern würde, die ihn erwartete und die er jetzt allenthalben zu erkennen glaubte. Er beschloss, seinen Ärger, um ihn überschaubar zu halten, jeden Tag nur auf einen oder höchstens zwei Punkte zu lenken und das andere zu übersehen. Und siehe, da hatte er es schon. Da schrieb so ein armseliger Mensch: »Durchstreift man aber das schlussendlich vierundzwanzig Millionen Euro teure bauliche Ensemble auf den Flügeln der Phantasie, dann wird sehr schnell offenbar, welcher große Wurf hier zu gelingen scheint – auch architektonisch.« Schlussendlich. Was ist das? Haben wir nicht vor kurzem noch »schließlich« oder »endlich« gesagt? Es bohrte und nagte in ihm, dieses idiotische schlussendlich. Endlich bezeichnet bereits Schluss und Ende. Er verabscheute diese Sucht, sich auf sprachliche Neuerungen, nicht dass es Erneuerungen wären, zu stürzen und sie nachzuäffen. Es war so etwas Glattes, Unnachdenkliches daran, ein Bedürfnis, auf dem vermeintlich letzten Stand zu sein, dynamisch mit der Zeit zu gehen und sich damit auf der Höhe der Aufgaben zu zeigen; ja, der Ärger reichte für heute. Nein, noch nicht ganz. Im Feuilleton wurde über den Auftritt einer Sängerin und Tänzerin und ihre Worte wie folgt berichtet: »Meine Freunde sind die Träume«, schwebte sie mit ausgebreiteten Armen über die irrlichternde Bühne und wurde verstanden.

Aber er durfte nicht ungerecht sein. Die Zeitung war auch von einer geistig unbedrohten Treuherzigkeit, die sich besonders im Fall des Kannibalen von Rotenburg zeigte. Wie sie schrieb, hatte sich der Kannibale nicht mit der Aufessung des Penis – übrigens mit Zustimmung und unter Teilnahme des ehemaligen Besitzers desselben – begnügt. Nein, er hatte sich noch mehrfach aus der Tiefkühltruhe bedient, und es war im Zeitungsbericht offensichtlich, dass sich das vielleicht noch tolerieren ließ, da das Fleisch ja nun einmal da war, die Tatsache aber, dass er den Braten mit Rosenkohl und Salzkartoffen, dazu noch mit Semmelbrösel für den Rosenkohl, genoss, überstieg ja denn doch wohl die Grenzen des guten Geschmacks. Und noch in diesem Zusammenhang zitierte die Zeitung verständnisvoll den Richter im Prozess, der darauf achtete, dass auch im Sinne des Kannibalen eine ausreichende Mittagspause einzuhalten wäre, indem er sagte: »Wir machen jetzt noch bis zum Verzehren des Penis, und dann machen wir Mittagspause.« Die Zeitung stellte zudem mit Wohlwollen fest, dass der Richter darauf geachtet hatte, dass sich der Angeklagte sein Mittagessen nicht von zu Hause bringen lassen konnte.

Wie stets interessierten Silberschlag die Nachrichten aus dem Ausland am meisten, aber heute gab es nichts Aufregendes, auch nicht aus England, mit dem er sich, als Anglist, wenn auch pensioniert, besonders verbunden fühlte. Er hatte, bevor er nach Weimar zog, zehn Jahre in Hildesheim an der dortigen Universität gearbeitet, und ihm gefiel der Gedanke, dass Hannover und nach dem Wiener Kongress 1814/15 auch Hildesheim durch Personalunion einmal zum englischen Königshaus, zu Großbritannien, gehört hatten, und dieses Band erst zerriss, als Königin Victoria, die auf Grund des salischen Gesetzes nicht auch Königin von Hannover sein konnte, 1837 auf den britischen Thron folgte.

Jetzt war es Zeit für das Frühstück. Er stellte die Tonschale mit der selbst gezogenen Gartenkresse auf den Tisch und setzte ein Ei in kaltem Salzwasser zum Kochen auf den Herd. Wie immer zögerte er dabei etwas, weil die politische Korrektheit dieser Tage den Tierschutz so hoch hielt, dass man ein womöglich befruchtetes Ei zum Frühstück fast als eine Art von Schwangerschaftsabbruch bei den Hühnern zu betrachten geneigt war. Dann erhitzte er Wasser für den Tee, drei Teelöffel auf einen halben Liter, und legte das angetaute Brötchen in die Backröhre. Er schnitt eine Honigmelone auf, entfernte die Kerne, zerteilte eine Hälfte in vier Teile, schnitt sie aus der Schale und legte sie auf einen Teller, den er auf den Tisch stellte.

Das Frühstück mit ihr an dem runden Eichentisch vor dem geöffneten Küchenfenster im Sommer war die schönste Zeit des Tages für beide gewesen. Die gewaltige Buche ragte hoch über das Haus und reichte mit ihren Ästen und Zweigen fast bis ans Fenster. Sie würde noch da sein, wenn es ihn längst nicht mehr gibt. An heißen Tagen war es hier kühl und angenehm, sodass man keinen Balkon brauchte.

Sie hatte noch immer ihre warmen braunen Augen und ihre dunkle Stimme, wenn ihre Haut jetzt auch faltig war und ihr Körper zerbrechlich. In solchen Momenten stieg eine heiße Sehnsucht nach ihrer beider Jugend in ihm auf und gleichzeitig das große Glücksgefühl, jetzt mit der Frau seines Lebens zusammen zu sein, jetzt endlich eine Frau vorbehaltlos und ohne Lügen lieben zu können; nun, zu fortgeschrittener Lebenszeit, gefunden oder wiedergefunden zu haben, wonach er zeitlebens gesucht hatte.

Doch dann trat ein, was er immer befürchtet hatte, sie war ihm vorausgegangen.

Nachdem er den Tee aufgegossen und das Ei nach fünfminütigem Kochen abgeschreckt hatte, holte er das Brötchen aus dem Backofen und setzte sich an den Tisch. Kresse, Honigmelone, Tomate mit ein paar frischen Basilikumblättern, ein ge­kochtes Ei mit einem Tropfen Sojasoße, eine Scheibe dunkles Brot mit einem Stück Pecorino Sardo, ein Mehrkornbrötchen mit Butter und Waldfruchtmarmelade, vier Tassen heißer Earl Grey – so ein Frühstück und das begleitende Gespräch waren früher ein erster kleiner kultureller Fixpunkt des Tages gewesen. Jetzt war es wie eine Formalität, die er, losgelöst vom einstigen Inhalt, weiterführte, weil er sich dabei vorstellen konnte, wie sie bei ihm gewesen war.

Es ging ihm heute ganz gut, da er gestern Abend beim Einkauf im Supermarkt erfolgreich am Regal mit dem Nordhäuser Korn und an den Zigaretten an der Kasse vorbeigekommen war. Es war jedes Mal ein beträchtlicher Sieg, wenn ihm das gelang. Es stärkte seine Moral dermaßen, dass er sich am folgenden Tag, zur Belohnung sozusagen, eine halbe Flasche Korn und zehn Zigaretten am Abend zuwies, woraufhin dann das Frühstück am darauf folgenden Morgen beeinträchtigt war.

Vor dem Einkauf hatte der Gang durch die Innenstadt seine Stimmung verbessert.

Er war in der Windischenstraße Zeuge der Rückkehr seines alten Freundes Paul aus der Bergschänke geworden. Zuerst bugsierten sie den Rollstuhl aus dem Krankenwagen, dann hoben sie Paul heraus und setzten ihn in den Rollstuhl. Im Krankenhaus, wo ihn Silberschlag einmal besucht hatte, war ihm auch noch das rechte Raucherbein amputiert worden, was ihn nicht anfocht. Er erkannte Silberschlag, wandte sich ihm zu um und sagte mit heiserer Stimme:

»Eh Christian, haste eine zum Durchatmen?« Silberschlag hatte keine, da kam mit seinem ewigen Plastikbeutel voll Bierflaschen Pauls Wohnkumpan Dieter und gab ihm eine. Er zündete sie an, inhalierte tief, hustete katarrhalisch und freute sich. Dann trank er zur Belebung des Kreislaufs eine Büchse Bier, bevor ihn Dieter taktvoll in die Wohnung schob.

Auf dem Theaterplatz, unter dem Eingang des Handelshauses, saß Silberschlags alter Bekannter aus Magdeburg. Er hatte zu DDR-Zeiten als Längerdienender bei der Volksarmee eine Sportverletzung erlitten, die eine zunehmende Lähmung zur Folge hatte, so dass er jetzt, an den Rollstuhl gebunden, Metallreinigungsmittel verkaufte. Er putzte auch Metallgegenstände, die in der Sonne glänzten und die Leute anlockten. Trotz vielfacher Bemühungen war es ihm nicht gelungen, eine Entschädigung zu bekommen. Neulich, als er zu seiner Wohnung in einem Block in der Weststadt rollte, hatten ihn vier junge Männer umgestoßen, getreten und sein Geld samt Metallreinigungsmittel abgenommen. Dadurch war er in die Zeitung gekommen. Jetzt ging es ihm wieder ganz gut.

Gleich neben ihm hockte auf der Erde ein kräftiger junger Mann und hielt mit demütigem Gesichtsausdruck einen Plastik­becher vor sich hin, in dem zur Ermunterung der Passanten ein Eurostück lag. Silberschlag sagte zu ihm, er habe doch sicherlich Hunger und ob er eine von seinen Bananen haben möchte. Er nahm sie, warf sie in den Papierkorb neben sich und sagte etwas Unverständliches. Klang so wie Jobtwajumatch. Dann klingelte sein Mobiltelefon, und er konnte Silberschlag nicht weiter beschimpfen.

Dieser ging an der großen Kastanie neben dem Wittumspalais vorbei durch den Zeughof und die Rittergasse zu Feinkost-Hauffe in der Kaufstraße und blieb in der Nähe des Reisebüros am Herderplatz in Hörweite von drei älteren Damen stehen, Rentnerinnen offensichtlich. Er hörte, wie die eine sagte, dass sie dieses Jahr zum zweiten Mal mit dem Bus nach Italien führe. Ja, sagte die neben ihr Stehende, sie auch, aber es sei ja alles so teuer geworden. Diese zweite Busfahrt könne sie sich gerade noch leisten, dafür haben sie ihr Auto aber schon das vierte Jahr. Wie soll man denn in diesen Zeiten durchkommen, wo Deutschland wirtschaftlich am Boden liege und der Staat einem die letzte Mark aus der Tasche zöge. Dann gingen alle drei, von Silberschlag mit dem Blick verfolgt, in die »Weimarer Kaffee Rösterei« am Herderplatz, fast ausgangs der Vorwerkgasse, um, wie die eine zuvor bemerkt hatte, sich mit der dort angebotenen hausgebackenen Florentiner Apfeltorte und Schlagsahne zu stärken und zu trösten und mehrere Tassen von dem sortenreinen Kaffee, der ein eigenes und schönes Aroma habe, zu genießen.

Der Rückweg führte ihn über den Markt und zum Grillteufel. Dieser war klein und dick und schwitzte trotz des kühlen Wetters mächtig hinter seinem Rost. Wenn er sich über den Grill beugte, um die weiter entfernten Würste umzudrehen, tropfte der Schweiß in die Glut. Das wurde offensichtlich von einigen amerikanischen Ladies, die nach Würsten anstanden, als zur Thüringer Bratwurst gehörig betrachtet oder höflich über­sehen. Als sie sich dann vom Ketchup bedienen wollten, trat Silberschlag entsetzt hinzu und erläuterte ihnen mit freundlicher Bestimmtheit, dass das nun nicht ginge. Auf Thüringer Bratwurst gehöre Senf. Die Ladies waren überrascht aber folgsam und dankten ihm mit vielen Worten für die landeskund­liche Aufklärung.

Es war schön, so durch die Stadt zu gehen, die Inhaber der Gemüsemarktstände zu grüßen, bei Bäcker und Fleischer einzu­kaufen und zu spüren, dass Weimar mehr war als eine Konzentration von Menschen und Häusern. Weimar war eine Lebensweise, eine ständige Aufforderung, mitzutun an der Gestaltung des Gemeinwesens, eine atmosphärische Beeinflussung, ein politischer Mensch und ein Kunstmensch zu sein. Die Stadt und ihre große und furchtbare Vergangenheit waren ein ge­treues Abbild Deutschlands und gleichzeitig mehr. Das Leben hier forderte wie kaum an einem anderen Ort zur Verantwortung heraus und zur Stellungnahme. Man konnte hier weniger als woanders den Dingen ihren Lauf lassen.

Silberschlag fand, dass man hier sowohl seinen Glauben an die Menschheit verlieren und zugleich wiedergewinnen konnte.

Es schien ihm, als käme hier deutlicher als woanders zum Ausdruck, dass für die menschliche Gesellschaft zwei Voraussetzungen wichtig seien, nämlich Skepsis und Glaube. Das klang widersprüchlich, war aber genau der Widerspruch, mit dem jeder auf seine Weise fertig werden musste. Man brauchte die Vernunft und gleichzeitig etwas, das unverfügbar war. So ge­hörten Skepsis und Glaube unabdingbar zum Menschsein und machten die Widersprüchlichkeit und den Reiz der menschlichen Existenz aus.

Silberschlag schaute in den grauen Morgen. Sie würde sicher nicht wollen, dass er aufgab, und so versuchte er mit aller Kraft, sein Trinken und Rauchen in Grenzen zu halten. Und an einem Morgen wie diesem saß sie ihm gegenüber am Tisch und schaute ihn freundlich an.

Da klingelte das Telefon, und er war wieder allein. Er nahm den Hörer, der neben ihm auf dem Küchentisch lag und meldete sich. Eine weibliche Stimme sagte:

»Time and the hour run through the roughest day.« Dann wurde aufgelegt.

Kapitel 1

London, Buckingham Palace

Elizabeth hat eingeladen, genauer, Elizabeth Alexandra Maria Windsor, Königin von Gottes Gnaden des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland und ihrer anderen Reiche und Gebiete, Haupt des Commonwealth und Verteidigerin des Glaubens.

Alle waren ihrer Einladung gefolgt, denn sie ist die Seniorin der Herrschaftshäuser und des europäischen Adels. Sie ist die einzige Monarchin, die gleichzeitig das Staatsoberhaupt von mehr als einer unabhängigen Nation ist. Dazu gehören ihre ­Reiche in Europa, Nord- und Mittelamerika, der Karibik und in Ozeanien. Damit ist sie das mächtigste Staatsoberhaupt in der Welt, theoretisch. Sie herrscht über das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, über Kanada, Australien, Neuseeland, Jamaika, Barbados, die Bahamas, Grenada, Papua Neu-Guinea, die Salomoninseln, Tuvalu, Sankt Lucia, Sankt Vincent und die Grenadinen, Antigua und Barbuda, Belize, Sankt Kitts und Nevis. Sie ist außerdem Lord High Admiral, Oberhaupt der Church of England, Herzogin von Lancaster und Herzogin der Normandie. Sie ist Oberkommandierende der Streitkräfte in vielen ihrer Reiche. Heute leben ungefähr einhundertachtundzwanzig Millionen Menschen in den sechzehn Ländern, deren Staatsoberhaupt sie ist.

Keine dieser Nationen ist über eine andere gesetzt, jedoch befinden sich die Hauptresidenzen der Königin im Vereinigten Königreich. Und der Buckingham Palace ist praktisch das Hauptquartier internationaler Monarchie und hat Einfluss und Prestige ohnegleichen, wenn auch diskret eingesetzt.

Das Haus Windsor ist der heimliche Führer der europäischen Königshäuser. Alle zwei Jahre treffen sich die Privatsekretäre der bedeutendsten Monarchen in Europa zu gleichsam privaten und geschlossenen Sitzungen. Sie besprechen Fragen der Monarchie von heute und vereinbaren nach Möglichkeit ein gemeinsames politisches Vorgehen. Die Runde funktioniert wie ein old boys’ club, der durch ein gemeinsames Grundinteresse an der Erhaltung der Monarchie verbunden ist. Er einigt sich auf Vorschläge, die dann ihren jeweiligen Monarchen und durch diese, wenn nötig, den jeweiligen Regierungen vorgelegt werden.

Die Meinung des Privatsekretärs von Königin Elizabeth von England hat ein besonderes Gewicht, wie es dem seiner Königin entspricht. Das wird von allen in diesem königlichen Schattenklub anerkannt. Und so geschieht es, dass eine Einladung wie diese, so weit hergeholt ihre Begründung auch zu sein scheint, nicht leicht abgelehnt wird. Hinzu kommt, dass die Queen nach König Bhumibol von Thailand das am längsten im Amt befindliche Staatsoberhaupt der Welt ist, und in der Ge­schichte Großbritanniens hat sie bisher die fünfte Stelle inne. Länger als sie, die nunmehr vierundvierzig Jahre Königin ist, herrschten oder regierten nur Königin Victoria, vierundsechzig Jahre, George III, sechzig Jahre, von denen er allerdings die letzten zehn Jahre in geisti­ger Verwirrung verbrachte, Henry III, sechsundfünfzig Jahre und Elizabeth I, fünfundvierzig Jahre.