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ELISABETH REICHART
FEBRUARSCHATTEN

Elisabeth Reichart

FEBRUARSCHATTEN

Nachwort
von Christa Wolf

OTTO MÜLLER VERLAG

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Historischer Hintergrund

Struktur von Erinnerung

1

Nachts hatte das Telefon geläutet.

Die Tochter, die in diesen Tagen bei ihr war, stand auf. Hilde ging in das Stiegenhaus. Schickte die Tochter in ihr Zimmer zurück.

Dieses Wort hören – das ist wohl meine Pflicht. Hilde sah sich zu. Wie sie die Stiegen hinunter ging. Die rechte Hand auf den Apparat legte. Weiße Haut. Tiefe Falten. Tiefer als sonst. Wie sich diese Hand um den Hörer krallte. Den Hörer von der Gabel nahm. Den Hörer näher brachte. Regungslos hatte sie dann die ruhige Stimme der Nachtschwester vernommen. Eine Stimme, die auch nicht ungeduldig klang, als sie wieder und wieder fragen mußte: Sind sie noch da. Diese selbstverständliche Ruhe. Sie hatte nichts mit dem Wort zu tun. Das hätte ein Schreien und Toben verlangt. Um es aufnehmen zu können. Sie hätten ihn vor dem Waschbecken gefunden. Tot.

Anton ist tot.

Erika hatte ein Kopfnicken genügt. Sie weinte. Berührte die Mutter. Hilde stieß die Tocher weg. „Laß mich allein.“

Die verweinten Augen deiner Tochter. Die schuldigen Augen deiner Frau. – Anton, ich weiß, ich bin schuld.

Ich habe dich allein gelassen. Allein gelassen. Wie Hannes. Meinen Bruder!

Den einzigen Bruder. Unter allen Brüdern. Wie viele Brüder ich auch hatte.

Ich habe meinen Bruder im Stich gelassen. Wie dich.

Allein lagst du in deinem Zimmer.

Allein hing Hannes an dem Birnbaum.

Allein standst du auf.

Hannes stand auch auf. Früher.

Gingst zum Waschbecken.

Durst!

Brachst vor dem Waschbecken zusammen.

Keine Klingel konntest du erreichen.

Keinen Menschen konnte Hannes erreichen.

Du wirst nie wieder aufstehen.

Wie Hannes nicht auferstanden ist.

Hannes, den sie zum Baum führten.

Die Geführten.

Zu denen sich Hannes nicht zählte.

Niemand hat Hannes geführt.

Ich bin schuld.

Ich habe dich allein gelassen.

Ich bin von Hannes weggegangen.

Früher, viel früher schon hat das angefangen.

Du hattest Angst vor dem allein sein.

Dein Zimmer war kalt. War weiß.

Weiß, weiß und kalt war auch der Februarmorgen als Hannes an dem Baum hing auf dem er starb. Allein starb.

Damals schuld. Heute schuld.

Und wie damals werden sie heute denken: besser wäre, ich wäre gestorben.

Keine Tränen.

Schreien wollen.

Nur ein Wort schreien wollen: nein!

Nicht schreien können. Die ruhige Stimme am Telefon hatte den Ton bestimmt, in dem sie von nun an darüber reden würde. Die Umschreibungen nichts Neues. Oft wiederholter Vorgang.

Alle Schuld ist schon lange in mir.

Ist in den Schatten. Die nun die Dunkelheit unterscheidbar machen.

Baumschatten, Menschenschatten, Geräuschschatten.

Sie lösen mich auf.

Sie holen das Leben zu sich. Holen dich zu sich. Nein! Nicht Anton! Holt mich. Hört ihr nicht! Holt mich.

Aber nicht Anton!

Nicht Anton.

Nein. Wartet.

Ihr müßt mir noch einige Tage Zeit lassen. Nur einige Tage. Ich muß doch für Antons Begräbnis sorgen.

Dann holt mich.

Dann.

Mich.

Anton hatte ein Recht auf ein ordentliches Begräbnis. Er sollte ein schönes Begräbnis bekommen. Nicht so eines wie Hannes. Das war kein Begräbnis. Das war ein Spießrutenlaufen. Das wollte sie nicht noch einmal erleben müssen.

Hilde stand auf. Suchte Antons Schlüssel zum Weinkeller. Fand keinen Schlüssel. Nahm die Holzhacke. Brach damit die Tür auf. Die lange verschlossene Tür.

Nur, daß auch der Wein die Schatten nicht vertreiben konnte, damit hatte sie nicht gerechnet. Und daß die Schuld nicht kleiner werden würde, nur verschwommener, das hatte sie nicht vorausgedacht. Sie konnte erst einschlafen, wenn die Schatten zu ihrer Wahrheit geworden waren. Sie von ihr abließen. Hilde die Angst verlor, daß sie sich vielleicht nur verkrochen hatten. Statt wieder in die Wand zurück zu gehen. In diese sehr alte, sehr starke Wand. Nur sie konnte die Schatten zeitweise behalten. Da hörte sie schon die ersten Schichtarbeiter wegfahren. Oder nach Hause kommen. Hustete der Nachbar seinen Morgenhusten. Kochten die Nachbarinnen Kaffee für die Männer.

Stunden später die Frage: wozu die Mühe, wach zu werden.

Vielleicht sollte ich meiner Müdigkeit nachgeben. Ich habe doch ständig nachgegeben. Aber dann wäre ich ja wie die Alte. Die seit Monaten schläft. Die zum Essen aufgeweckt werden muß. Die während des Essens einschläft. Schläft. Nein. Wie die Alte will ich nicht sein. Wozu die Alte lebt. Schlafend lebt. Ich ertrage sie nicht. Ich will sie nie wieder sehen.

Einmal hat Hilde es zu Erika gesagt. Daß sie die Alte haßt. Die Alte, die schlafend leben darf. Während ihr Sohn sterben mußte. Aber da hat die Tochter sie wieder einmal im Stich gelassen. Wollte sie die Mutter nicht verstehen. Hat Sätze gesagt, die nicht gesagt werden dürfen. Hat Erika ihr erzählt, daß die Großmutter in ihren Erinnerungen weiter und weiter zurückgeht. Die Erinnerungen lebt. Zum Anfang kommen wird. Und der Anfang das Ende sein wird. Hilde hat sich weggedreht. Weg von der Tochter. Weg von der Alten. Zu ihrem Haß.

Erika denkt nur an die Alte. An mich denkt sie nie.

Dabei würde ich sie viel mehr brauchen.

Aber Erika bemerkt das nicht.

Sie läßt mich im Stich. Verläßt mich.

Alle haben mich verlassen.

Wozu aufstehen. So verlassen.

Und das Verlassenwerden nicht vergessen können. Wie in der anderen Zeit. In der Zeit vor dir. Es war kalt. Es war Nacht. Eine Februarnacht. Da konnte ich noch vergessen. Ich habe die Februarnacht vergessen. Aber dich, dich darf ich nicht vergessen.

Die anderen vergaßen Anton bereits. Die Tochter mußte sie ermahnen, bei ihren Besuchen zu Antons Grab zu gehen.

Ich hingegen gehe jeden Tag den Weg zu deinem Grab.

Gleichbleibende Tätigkeit. Lebensmittelpunkt. Sich daran festhalten. Täglich neu.

Mit ihr gehen ungezählte Frauen. Viele im bleibenden Schwarz. Auch sie hat ein Jahr lang Schwarz getragen. Hat dann die äußere Trauer abgelegt. An manchen Tagen geht sie den Weg in den Friedhof auch öfter. Geht so oft, bis kein Grashalm auf Antons Grab bleibt. Bis das Grab einbricht. Antons Grab. Da kann sie erst nach

Wochen wieder zu seinem Grab gehen. Hatte es in der Zwischenzeit anderen überlassen müssen. Oder den ungeschickten Händen der Tochter.

Da war dieses Grab nicht mehr ihr Grab.

Da begann sie zu tanzen. Tanzte ihre Mühe fort. Ihre vergebliche Mühe. Tanzte den Pfarrer fort, der sie aus dem Friedhof vertreiben wollte. Sie, die von Anfang an in Friedhöfen zu Hause war. Tanzte die Grashalme fort. Diese großen Grashalme, über die sie sich schon immer geärgert hatte. Tanzte.

2

Die eine Angst erkennen. Die Angst, anders zu sein, ausgeschlossen zu werden.

Wie früher. Zu oft. Nein. Nur einmal. Als die Lehrerin mich in die Ecke schickte.

Es nur die Ecke für sie gab und das Lachen der anderen Kinder in ihrem Rücken. Und später, später gab es noch die Nässe für sie. Die Nässe zwischen den Beinen. Die zuerst wärmte. Aber nur kurz. Bis sie den Boden erreichte und Hilde in einer Lache stand. Die Lache von der Lehrerin gesehen wurde. Das Lachen lauter wurde.

Hilde lief weg. Irgendwohin. Lief.

Ich will nie wieder zu den Ausgestoßenen gehören. Was immer auch passiert.

Ich will zu allen gehören.

Zu allen anderen.

Jetzt bin ich wieder anders. Jetzt bin ich wieder eine, die ausgeschlossen werden konnte.

Ohne Anton bist du nichts. Das hatte sie bereits in der Zeit mit ihm oft hören müssen. Die Schwägerin hat es bei jeder Gelegenheit betont. Es laut betont. Daß es wie das Lachen der Schüler hinter ihr klang. Sie wieder in der Ecke stand. Wieder davonlief. Nur wußte sie, wohin sie zu laufen hatte. Lief nach Hause. Lief zu Anton.

Zu dir kann ich nicht mehr laufen. Aber in das Haus, das du und ich gebaut haben. In dieses Haus werde ich immer laufen können.

Dieses Zuhause kann mir niemand nehmen. Warum sollten sie mich ausschließen. Sie haben doch keinen Grund. Keinen Grund? Eigentlich ist es zum Lachen. Sie brauchen keine Gründe. Sie haben noch nie Gründe gebraucht. Und jeder Grund wäre so schlecht wie kein Grund.

Das sind doch nicht meine Ideen. Das sind Erikas Ideen. Erika hat es leichter. Sie hat nicht meine Angst. Ausgeschlossen zu sein. Erika schloß sich höchstens selbst aus. Mit diesen Demonstrationen gegen einen Atomkrieg.

Als ob unsereiner etwas gegen den Krieg tun könnte.

Hannes? – Ja. Hannes hat es versucht. Aber auch Hannes konnte nichts dagegen tun. Er blieb allein. Ganz allein. Und auch Erika wird bald allein sein. Wie Hannes. Im Februar. Wenn sie nicht aufhört, über ihre Angst zu reden. Über die Skelette zu reden. Die sie durch ihren Schlaf glimmen sieht. Dann wird sie das Lachen erleben. Alles Lachen, alle Angst werden sich um sie versammeln. Werden herrschen über sie.

Noch hat Erika nicht erlebt, wie Behauptungen bedeutend werden können. So bedeutend, daß sie bis in mich dringen. Die Behauptungen der Schwägerin: „Ohne Anton bist du nichts! Nichts! Ohne ihn wäre nie etwas aus dir geworden!“ Und wie die fremden Behauptungen zur eigenen Frage werden. – Was bin ich ohne dich? Wie sich alles zusammenklebt und es kein Lösungsmittel gibt. Keines. Schon hat die Schwägerin es leicht. Schon wirkt ihre nächste Behauptung glaubhaft. Daß ich die Ehe mit dir nur ihr zu verdanken habe. Und ich ihr danke dafür. Jedes Mal, wenn sie davon spricht. Sie spricht oft davon. Ich muß mich klein machen. Sehr klein. Um nicht ausgeschlossen zu sein aus dem Kreis der Dankbaren. Diese Netze nach einer Entscheidung. Gibt es zu frühe Entscheidungen?

Dabei weiß ich, ihre Behauptungen stimmen nicht. Es reichte nicht, konnte nicht reichen für die Ehe mit dir, dir vorgestellt zu werden. Bei einer dieser vielen Siegesfeiern. Du bist neben der Schwägerin gestanden. Ich bin auf euch zugegangen. Nein. Nur auf dich zugegangen. Du sagtest deinen Namen. Ich sagte meinen Namen. Dann gingen die Sieger auf dich zu. Dann haben die Sieger ihre Namen ausgetauscht. Gab es nur Sieger.

Das erste, das Hilde an Anton aufgefallen war, war seine Stimme. Seine leise Stimme. Unter all den Siegerstimmen. Es war schwer, die eigene Stimme auf diese Stimme einzustellen. Ein Mann, der so leise war, mochte keine lauten Worte. Hilde hatte nur laute Worte zu hören bekommen. Ich übte, leise zu sein.

Du hast genug Sorgen gehabt. Meine Stimme sollte nie eine Sorge für dich sein.

Nein. Diese Sorge hast du nicht verdient.

Wie ich es nicht verdient habe, ausgeschlossen zu sein. Frau Roth besucht mich. Wenn sie etwas braucht. Und jeden Montag abend besucht sie mich. Um die Fernsehserie bei mir zu sehen. Bei ihr zu Hause sitzt der Mann vor der Sportschau. Anna darf ich nur noch tagsüber besuchen. Wenn ihr Mann in der Arbeit ist. Mit dir durfte ich sie auch am Abend besuchen.

Mit dir war alles anders.

Erika? Erika besucht mich öfter als früher. Aber Erika zählt nicht.

Und sonst? Nichts.

Keine Einladungen. Keine Besuche.

Der Schnitt betrifft nicht nur dich. Der Schnitt geht durch viele Menschen.

Ich halte die Wohnung nicht aus. Diese leere Wohnung. Ich werde spazieren gehen. Wie früher mit dir. Langsam. Damit du dich nicht überan- strengst. Nur eine kleine Runde. Ja. Eine kleine, langsame Runde werde ich mit dir gehen.

3

Kurz, bevor Hilde in die Siedlung zurückkam, bemerkte sie neben sich eine Katze. Die Katze blieb bei ihr. Wartete, bis Hilde aufgesperrt hatte. Ging mit ihr in das Haus. Eine schwarze Katze.

Woher kommen die schwarzen Katzen.

Schon einmal hatte sie eine schwarze Katze. Wollte nie wieder eine schwarze Katze.

Auch die erste schwarze Katze war ihr vor die Füße gelaufen. Einige Tage lang lief sie beim Heimgehen von der Schule neben ihr her. Schließlich hatte Hilde sie in der Schultasche mit nach Hause genommen. Hatte sie heimlich in das obere Zimmer gebracht. Sie in ihr Bett gelegt. Von ihrem Essen hatte sie täglich etwas für die Katze aufgespart. Mühsamer Vorgang. Die vielen Augen. Sie warteten nur darauf, daß jemand nichts mehr essen wollte. Das Bett teilte Hilde mit ihrer Schwester Monika. Monika versprach, den Eltern nichts zu verraten. Wenn Hilde ihr abends das Haar bürstete. Bis zum Einschlafen.

Dieses lange Bürsten.

Dieses In-sich-hinein-Fluchen.

Diese Lust nach einer ganz anderen Handbewegung.

Aber da war die schwarze Katze.

Einmal kam Hilde wegen Fliegeralarms später als sonst von der Schule nach Hause.

Da war die schwarze Katze tot.

Aber als Erika die schwarze Katze gefunden hatte, war doch der Krieg längst vorbei.

Immer schwarze Katzen.

Nach dem Fliegeralarm wartete der Vater auf Hilde. Wartete vor der Haustür auf sie. Mit der Fliegenpeitsche in der Hand. Hilde sieht ihn von dem großen Nußbaum aus dort stehen. Glaubt, den Alkoholdunst zu riechen. Ahnt, daß er auf sie wartet. Nicht auf eines seiner anderen Kinder. Langsam geht sie auf ihn zu. Sieht die Nachbarn hinter den Fenstern auf das Schauspiel warten. Sieht die gierigen Augen des Pesendorfer. Geht. – Wohin hätte ich laufen sollen –

Spürt dann den Gummi kaum. Hört nur die versoffene Stimme des Vaters: „Den Kragen hab ich dem Biest umgedreht.

Knacks.

Aus wars.“

Aber ich habe der schwarzen Katze der Tochter nicht den Kragen umgedreht. Ich wollte Erika nur zwingen, die Katze wegzubringen. Weg. Weit weg. Das habe ich doch nur deshalb getan, weil diese Katze so verdreckt war. Es für das Kind viel zu gefährlich gewesen wäre, sie zu behalten. So, wie es mit der Katze herumgeschmust hatte.

Da gab es kein Knirschen.

Das Knirschen, das ich immer noch höre, hat mit meiner ersten und einzigen Katze zu tun.