Jork Steffen Negelen

Die Abenteuer der Koboldbande

Vierter Teil:

Vinus und das Auge der Zyklopen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

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Zweite überarbeitete Auflage

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

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1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

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Vinus und das Auge der Zyklopen

Orbins Auferstehung

Die Kälte des nahenden Winters hatte das Drachengebirge erobert. Der Nordwind fuhr mit seinem frostigen Atem durch die Täler und ließ alles Wasser zu Eis erstarren. Es schneite unaufhörlich und die Flocken fielen so dicht, dass ein einsamer Jäger mit seinem treuen Begleiter nur mühsam den Weg durch ein kleines Tal fand.

Dieser Jäger war Arglod, ein roter Kriegstroll. Er hatte sich und seine Familie aus all den Kämpfen der letzten Zeit herausgehalten und sich in das Drachengebirge zurückgezogen. Hier konnte er mit seinem Jagdwolf Selitos dem Wild nachstellen und die kalten Nächte in einer der vielen Höhlen des Gebirges verbringen.

Doch die Einsamkeit der Berge schützte ihn nicht vor einem alten Freund aus längst vergangenen Zeiten. Der Mönchsdämon Ihlo war für Arglod so ein alter Freund. Erst vor drei Tagen hatte er den Kriegstroll aufgesucht und ihn an eine alte Schuld erinnert. Vor vielen Jahren hatte Ihlo Arglod schwer verwundet gefunden und ihm das Leben gerettet. Der Kriegstroll war bei einem Jagdausflug in das Gebiet der Schneeland-Elfen eingedrungen und wollte einen Hirsch erlegen. Doch das Tier entkam und eine Horde Elfen griff ihn an. Aus vielen Wunden blutend entkam er ihnen und Ihlo rettete ihn vor dem sicheren Tod. Seit jenem Tag erfüllte Arglod immer wieder kleinere Aufgaben, die Ihlo ihm ab und zu aufgab.

Heute sollte er den Begräbnisplatz eines alten Hexenmeisters finden. Ihlo hatte dem Kriegstroll die Stelle genau beschrieben. Sobald Arglod diesen Platz gefunden hatte, sollte er Ihlo rufen. Doch der Schneefall ließ nicht nach und Arglod musste sich immer wieder umsehen. In dieser weißen Landschaft sah ein Baum wie der andere aus und der Kriegstroll befürchtete schon, die Orientierung verloren zu haben.

Nur sein treuer Freund Selitos half ihm, immer wieder den Weg zu finden. Arglod wollte schon rasten und auf besseres Wetter warten, da erreichte er den Stamm einer alten Nordeiche. Der Baum war so alt, dass die meisten Äste fehlten und der ausgehöhlte Stamm als Wegmarkierung diente. Nur noch wenige Schritte und er erreichte den Begräbnisplatz.

Arglod wusste nicht viel über den alten Hexenmeister. Aus irgendeinem Grund hatten ihn die Schneeland-Elfen vor vielen Hundert Jahren in der Nähe der hohlen Eiche in einem großen Tonkrug verscharrt und den Platz mit einem Bann belegt.

Als der Kriegstroll den Platz erreicht hatte, warnte ihn Selitos vor diesem Bann. Das Nackenfell des Wolfes sträubte sich und er zog sich knurrend zurück. Jetzt war es an der Zeit, den Mönchsdämon zu rufen. Arglod formte die Hände zu einem Trichter und hielt sie sich vor dem Mund. Dann rief er so laut er konnte. „Set erem Set agitor Ihlo!“

Vor dem Kriegstroll erschien der Mönchsdämon mit einem Zischen und einem kurzen Knall. Er schaute sich um und sprach zu Arglod. „Das hast du gut gemacht. Ich habe schon befürchtet, dass du den Platz heute nicht mehr findest. Doch du bist ein sehr guter Jäger und Fährtensucher. Dank dir und deinem Wolf habe ich mir viel Zeit und Mühe erspart. Jetzt werde ich versuchen, den alten Orbin aus seinem Gefängnis zu befreien. Geh ein Stück zur Seite. Dieser Orbin ist ein unberechenbarer Mann mit sehr viel schwarzer Magie. Er könnte dich und den Wolf sofort töten.“

Arglod schaute zu der flatternden Gestalt vor ihm und fragte erstaunt. „Was ist dieser Orbin für ein Wesen? Sind wir in großer Gefahr, wenn du ihn erweckst?“

Ihlo schwebte dicht vor Arglods Augen und zischte ihn an. „Mach genau das, was ich dir sage. Dann wird dir der untote Hexenmeister nichts tun. Und jetzt geh mit deinem Wolf ein Stück zurück.“

Mit einem unguten Gefühl im Magen zog der Kriegstroll seinen Wolf einige Schritte weg von Ihlo und diesem unheimlichen Begräbnisplatz. Dann sah er dem Mönchsdämon zu.

Ihlo flog über Orbins Ruhestätte und versuchte, mit einer Beschwörung den Bann der Schneeland-Elfen zu brechen. Drei schwarze Geister krochen aus der Erde und umkreisten wie Nebelschwaden den gebannten Platz. Mit einem schwachen Leuchten gab der Bann seine Kraft auf. Die Geister verschwanden und Ihlo rief Orbin aus der Tiefe seines Grabes herbei.

Arglod staunte und sein Wolf zog jaulend den Schwanz ein. Er verkroch sich hinter seinem Herrn. Ein tiefes Loch entstand und in ihm lag ein großer Tonkrug. Mit einer rostigen Kette und drei großen Schlössern war dieser Krug gut gesichert. Doch für Ihlo war das kein Problem. Er ließ den Krug aus dem Loch nach oben schweben und stellte ihn neben der alten Eiche ab.

Der Kriegstroll wagte es nicht, sich zu bewegen. Mit offenem Mund sah er Ihlo zu, wie dieser mit seiner schwarzen Magie die Schlösser öffnete, die Kette in den Schnee fiel und so den Deckel des Krugs freigab. Der Krug drehte sich dreimal im Kreis und der Deckel sprang auf. Eine Säule aus schwarzem Staub streckte sich in dem Himmel und schwebte langsam zu Boden.

Als die schwarze Staubsäule sich auflöste, ließ sie ein altes vertrocknetes Männlein in einer schwarzen Kutte zurück. In seiner rechten Hand hielt dieses Männlein einen Zauberstab. Er stand neben dem Krug und sah sich langsam um. Als er Ihlo sah, hielt er ihm den Zauberstab entgegen und fauchte ihn an. „Du bist es also, du hast mich aus meinem Grab befreit. Ich habe dich schon einmal gesehen, doch ich erinnere mich nicht, wo das war.“

Ihlo umkreiste den Krug und den Hexenmeister und sprach eine letzte Beschwörung aus. Das Männlein wurde größer und nahm seine alte Gestalt an. Ihlo sah sich sein Werk an und war zufrieden. „Wer hätte das gedacht. Nach so vielen Jahren sehe ich dich noch einmal wieder. Du bist Orbin, der schwarze Hexenmeister und damit ein Diener meines Herrn Dämonicon. Mehr sage ich dir nicht. Ich werde dich zu ihm bringen und ihm dein weiteres Schicksal anvertrauen.“

Arglod schaute verängstigt zu Ihlo und Orbin und wich langsam immer weiter zurück. Ihlo bemerkte das und ließ vor dem Kriegstroll einen Beutel Gold in den Schnee fallen. „Das soll der Lohn für deine Mühe sein. Du bist ein guter Freund. Doch gib in Zukunft mehr Acht und verwische deine Spuren. Schon bald werden die Schnee-Landelfen bemerken, dass Orbins Grab leer und ihr Bann gebrochen ist. Dann solltest du nicht in ihrer Nähe sein.“

Arglod verstand den Rat. Er hob den Beutel mit dem Gold auf und sah zu dem Mönchsdämon. „Ich werde hier verschwinden und diesen Ort nie wieder aufsuchen. Das verspreche ich dir.“ Der Kriegstroll steckte das Gold ein und lief mit seinem Wolf davon.

Jetzt war Ihlo mit Orbin allein. Er betrachtete den Hexenmeister und sprach zu ihm. „Bist du bereit für eine Reise? Oder hast du noch nicht genügend Kraft von mir bekommen?“

Orbin sah an sich herunter. Seine alte Kutte hing ihm in Fetzen am Körper und er konnte sich nicht einmal erinnern, wer er wirklich war. „Ich habe zu lange geschlafen und zu viel vergessen. Ich weiß nicht einmal ob ich vor dir und deinem Herrn Angst haben soll.“

Ihlo nickte ihm zu. „Das wirst du bald herausfinden. Dein Gedächtnis wird mit der Zeit besser werden. Doch jetzt müssen wir aufbrechen. Die Zeit drängt und dich erwartet noch eine große Aufgabe.“

Ihlo hielt Orbin seinen mächtigen Dämonenspiegel vor die Nase und ließ ihn hineinschauen. Sofort verschwanden sie und kamen an dem von Ihlo gewählten Ort an.

Dämonicon hörte ein Zischen und einen Knall. Im nächsten Augenblick stand Orbin vor ihm und der Mönchsdämon flatterte über ihnen. Mit finsterer Miene sah Dämonicon den untoten schwarzen Hexenmeister an. Er beugte sich ein Stück zudem kleineren Orbin herunter, und obwohl er leise sprach, erzitterte das Wasser im See der Grotte. „Nach so langer Zeit sehen wir uns wieder, mein alter Kampfgefährte Orbin. Die Elfen sind nicht gerade zimperlich mit dir umgegangen. Du siehst noch sehr schwach aus. Ich werde das ändern und du wirst erkennen, dass es auch seine Vorteile hat, mich zum Herrn zu haben.“

Dämonicon sah zu dem Mönchsdämon, der vor ihm flatterte. „Du kehrst jetzt zu meinem Vater Imperos zurück. Sage ihm, das Orbin für mich das Auge der Zyklopen suchen wird. Ich werde ihn für seine Aufgabe vorbereiten. Wenn ich dich brauche, werde ich dich rufen.“

Ihlo nickte nur und verschwand sofort. Jetzt war Dämonicon mit seinem alten Diener allein. Er betrachtete ihn genau und schüttelte den Kopf. Du bist der einzige Iht-Dag, der seine äußere Gestalt behalten durfte. Doch du hast zu viel von der schwarzen Magie genutzt und dich in einen untoten schwarzen Hexenmeister verwandelt. Jetzt kann dich die Sonne töten. Das ist nicht gut. Ich muss dich in den Stand der Lebenden zurück versetzen. Damit muss ich aber auch dein Dasein als Iht-Dag beenden.“

Verständnislos sah Orbin den viel größeren Dämonicon an. Er konnte sich noch immer nicht erinnern. „Ich weiß nicht, was du meist, Herr. Mein Gedächtnis spielt mir einen bösen Streich.“

In Dämonicons Gesicht war ein hinterhältiges Grinsen zu erkennen. Er zog seinen Zauberstab aus seinem Gürtel und sprach zu Orbin. „Das ist nicht weiter tragisch. Schon bald wirst du dich an dein früheres Dasein als mein Diener erinnern. Ich werde dir dabei helfen und dir dein Leben wiedergeben. Zuerst werde ich den Fluch aufheben, der dich als Iht-Dag an mich bindet. Dann hauche ich dir deine Seele ein, und wenn alles vollbracht ist, erkläre ich dir deine neue Aufgabe. Du wirst deine alten Fähigkeiten für mich nutzen und mir einen großen Dienst erweisen. Wenn du erfolgreich bist, werde ich dich reich belohnen.“

Orbin verneigte sich vor Dämonicon und sprach. „Es soll so sein, wie du es dir wünschst. Ich werde dir dienen.“

Dämonicon lachte so laut, dass das Wasser im See seine Wellen an das Ufer warf. Er streckte die Arme aus und beschwor mit seinem Zauberstab einen schwarzen Geist herauf. Der bedeckte Orbin wie einen Schleier. Dämonicon sprach eine weitere Beschwörung aus und der Geist zog sich sofort zurück.

Orbin sah erstaunt an sich herunter. In seinen Körper war das Leben zurückgekehrt und er spürte seit langer Zeit wieder seinen Herzschlag. Er reckte und streckte sich und einige seiner Erinnerungen kamen zurück. Wie ein kurzer Traum zog der Kampf mit den Schneeland-Elfen, den er vor Jahrhunderten verloren hatte, an ihm vorüber. Er sah vor sich, wie einer der Elfen ihn mit einem Blitzschlag niederstreckte und er in einen großen Tonkrug gesteckt wurde. Er hörte, wie der Elf den Bannspruch aufsagte. Der Deckel klapperte und eine Kette rasselte. Dann wurde es dunkel um ihn und seine Erinnerung erlosch, als hätte jemand eine Kerze in finsterer Nacht ausgeblasen.

Dämonicon nickte zufrieden. Er berührte mit seinem Zauberstab Orbins zerschlissene Kutte und im nächsten Augenblick trug der Hexenmeister ein neues Gewand. „Mit diesem einfachen grauen Gewand solltest du in Bochea weniger auffallen. Du wirst dich an viele deiner einstigen Fähigkeiten erinnern. Das sollte dir bei deiner neuen Aufgabe helfen. Du musst für mich in die Stadt Bochea gehen und mir einen Gegenstand bringen. Er ist sehr gefährlich, doch ich brauche ihn. Solltest du versagen, oder mich sogar hintergehen, so werde ich dich finden und aus dir wieder einen untoten Hexenmeister machen. Dann werde ich dich der Sonne opfern und deine Seele wird nie in einem Seelenreich Einlass finden.“

Dämonicon schlug Orbin mit seinem Zauberstab gegen die Brust. Von der Wucht dieses Schlages wurde Orbin einige Schritte weit weggeschleudert. Keuchend stand der Hexenmeister wieder auf und hielt Dämonicon seine Hände entgegen. „Ich habe dich verstanden, Herr. Du wirst mit mir zufrieden sein. Sag mir nur, wie der Gegenstand heißt und wie ich zu dieser Stadt gelangen kann.“

Mit finsterer Mine sah Dämonicon Orbin an. „Du bist jetzt ein einfacher Hexenmeister und stehst in meinen Diensten. Gehe immer nach Osten und suche nördlich der Steppe die alte Straße der Händler. Sie bringt dich zur Stadt Bochea. Dort gibst du dich als Reisender aus den westlichen Ländern aus. Sage jedem, dass du ein alter Kräutersammler bist. Dann wird man dich in Ruhe lassen. Sieh dich in der Stadt um und achte auf die Gespräche in den Wirtshäusern und auf dem Markt. Das kann dir helfen. Vermeide es aber, jemanden nach dem Auge der Zyklopen zu fragen. Damit machst du dich schnell verdächtig. Dieses Auge der Zyklopen ist eine fünfeckige Altartafel. In der Mitte dieser Tafel ist ein Auge aus Gold zu sehen. Bring mir die Tafel und dein Lohn ist dir sicher.“

Orbin war, als hätte er vor langer Zeit schon einmal etwas von der Stadt und der Tafel gehört. Doch eine genaue Erinnerung wollte sich in seinem Kopf nicht einstellen. Er verneigte sich vor Dämonicon und stellte noch eine letzte Frage. „Soll ich gleich aufbrechen, mein Herr?“

Dämonicon hob seinen Zauberstab und sprach. „Ja Orbin, nachdem du dich bei einem guten Mal gestärkt hast, wirst du dich auf dem Weg machen. Doch vorher werde ich mir noch deine unbedingte Ergebenheit sichern. Du bekommst von mir ein besonderes Halsband. Dieses Schmuckstück wird verhindern, dass du mir untreu wirst.“

Dämonicon streckte Orbin seinen Zauberstab entgegen. Mit einem hellen Blitz entfuhr dem Zauberstab ein lederndes Band. Es legte sich sofort um Orbins Hals und ein kleines schwarzes Wölkchen verschwand in seinem Mund.

Der Hexenmeister fiel auf die Knie und Dämonicon belehrte ihn. „Solltest du mich verraten, so wird dich dieses Halsband sofort zu mir bringen und ich werde dich bestrafen.“

Der Hexenmeister verbeugte sich dreimal vor seinem Herrn. Dann setzte er sich auf den Boden und aß, was ihn Dämonicon von seinem Erdtroll Tantara bringen ließ.

Dämonicon sah ihm zu und hielt dabei eine schwarze Flasche in seinen Händen. Immer wieder ging von ihr ein leises Klopfen aus und Dämonicon flüsterte ganz leise. „Jetzt nicht, mein Freund. Erst muss er gegangen sein. Dann lasse ich dich frei.“

Noch am selben Tag musste Orbin aufbrechen und von den Ruinen der alten Schlangenfestung nach Osten ziehen. Bewaffnet mit seinem Zauberstab und einem kleinen Beutel zum Sammeln von Kräutern, ging Orbin den alten Weg, den nur noch die Tiere des Waldes benutzten. Er sah sich noch einmal um und betrachtete von Weitem die Ruine.

Orbin wusste nicht warum. Aber ihm kam die Festung aus irgendeinem Grund bekannt vor. War er schon einmal hier gewesen? Und warum sah er in seinem Geiste eine Gruppe von Männern vor sich, die sich selbst als Achanten bezeichneten? Orbin konnte keine Erklärung in seinen verworrenen Gedanken finden. Irgendwann gab er es auf und er beschloss, sich auf den Weg zu konzentrieren. Der Hexenmeister wusste nicht, wie weit Bochea noch von ihm weg war. Doch er wanderte bis zum Beginn des Abends.

Nachdem er sich einen Platz für die Nacht gesucht hatte, entfachte er ein Feuer und trank einen Schluck Wasser von einem nahen Bächlein. Mit einem Messer schnitzte er sich einen Wanderstab. Der sollte ihm helfen, beim Wandern schneller voranzukommen.

Orbin versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch immer wieder verschwanden die Bilder in seinem Kopf und er konnte sich nur an Bruchstücke seiner Vergangenheit erinnern. Da waren diese Männer, sie kamen auf ihm zu. Er schloss die Augen und sah sie vor sich. Einer von ihnen sagte ihm, dass sie Achanten seien. Doch dann war diese Erinnerung zu Ende und ein alter Mann mit einem gelben Mantel stand vor ihm. Er hob seine Arme in die Höhe und im nächsten Augenblick war auch diese Erinnerung zu Ende.

Erschöpft legte sich Orbin in das feuchte Gras. Trotz des Feuers war ihm kalt. Kleine Steine und Holzstücken drückten ihm in den Rücken. So etwas hatte er schon lange nicht mehr gespürt. Der Zauberstab kam Orbin in den Sinn. Er betrachtete ihn und versuchte sich an seine Eigenschaften zu erinnern. Leise flüsterte er vor sich hin. „Zwei Decken und ein Wolfsfell für den Kopf könnte ich jetzt gut gebrauchen.“

Der Zauberstab war aus schwarzem Holz und hatte einen kleinen rauchschwarzen Kristall an seiner Spitze. Er war nicht groß, doch seine Kräfte mussten gewaltig sein. Das konnte Orbin spüren. Er schwang ihn hin und her. Sofort lagen neben ihm zwei Decken und ein Wolfsfell.

Mit einem breiten Grinsen nickte Orbin. Jetzt brauchte er in der Nacht nicht mehr zu frieren. Er legte noch einmal Holz ins Feuer und begab sich dann zur Ruhe. Doch seine Gedanken kreisten immer weiter in seinem Kopf. Im Schlaf träumte er von der Schlangenfestung. Er sah sie in voller Größe vor sich. Doch einige Hände packten ihn und warfen ihn zu Boden. Er sah in die Gesichter von fremdartigen Kriegern und hörte eine Stimme. Sie kam ihm bekannt vor. Aber er konnte nicht erkennen, wer zu ihm sprach. Nur das, was gesagt wurde, hallte jetzt in seinem Kopf wieder. „Lasst ihn am Leben. Ich will einen gehorsamen Diener aus ihm machen … einen gehorsamen Diener … Diener … Diener.“

Der Klang dieser Stimme ließ Orbin aufschrecken. Er sprang auf die Beine, zog seinen Zauberstab und sah sich um. Es war bereits früh am Morgen. Sein Feuer war schon längst erloschen und bald würde die Sonne aufgehen. Orbin zog die frische Luft in seine Lungen und reckte sich. Durst und Hunger kamen in ihm auf und verscheuchten die letzten Gedanken an den Traum der Nacht.

Mit der Hilfe seines Zauberstabs konnte sich Orbin ein ordentliches Frühstück herbeizaubern. Danach packte er seine Sachen und zog weiter. Er folgte einem Weg, den wohl das Wild in dieser Gegend nutze. Wenn Orbins Gedächtnis besser funktionieren würde, so hätte er gewusst, dass solche Wege auch ihre Tücken haben. Doch Orbin bemerkte keine Gefahr und ging so ganz leicht in eine Netzfalle der dunklen Waldläufer-Elfen. Ein Fangnetz umgab ihn plötzlich. Es zog sich mit einem Ruck zusammen und riss Orbin in die Höhe.

Mit wildem Geheule kamen die Jäger aus den Büschen ringsherum und ließen das Netz wieder zu Boden fallen. Orbin schlug unsanft auf. Er griff nach seinem Zauberstab und seine Sinne waren jetzt erwacht. Mit einem magischen Blitz zerfetzte der Hexenmeister das Netz und dann sah er sich um. Noch schneller, als sie aus den Büschen gesprungen waren, rannten die Elfen schreiend davon. Sie machten erst halt, als sie in ihrem Jagdlager bei ihrem Häuptling ankamen.

Auf einer Wolke aus Staub stehend, hetzte ihnen Orbin nach. Vor dem Häuptling sprang er von der Wolke und brüllte los. „Auf die Knie mit euch oder ihr werdet hier alle von mir vernichtet!“

Die Elfen fielen zu Boden und der Häuptling fragte flehend. „Was haben wir dir getan, du großer Zauberer, dass du uns so hart bestrafen willst?“

Orbin stampfte zornig mit dem rechten Fuß auf. Dann brüllte er wieder los. „Da fragst du noch, du Narr!? Ihr habt versucht, mich mit einer Netzfalle zu überwältigen!“

Er packte den Häuptling an der Kehle und zog ihn hoch. Dann schaute er ihn genau in die Augen. „Wer seid ihr verlausten Gesellen, dass ihr es wagt, mich anzugreifen? Hat euch jemand geschickt? Solltet ihr mich fangen oder seid ihr einfach zu dumm, um einen harmlosen Kräutersammler von einem Schwein oder Hirsch zu unterscheiden?“

Orbin ließ den Häuptling los und sah ihn an. Der Elf duckte sich und hustete. Dann hob er beide Hände und sprach. „Ich schwöre dir, meine Jäger waren nicht hinter dir her. Wir hatten es auf das Wild in dieser einsamen Gegend abgesehen. Sie waren sehr ungeschickt und hätten dich vor der Falle warnen sollen. Wenn wir dir helfen können, dann sag es uns.“

Orbin wiegte den Kopf hin und her und streckte seinen Zauberstab dem Häuptling entgegen. „Ich bin Orbin der Kräutersammler und würde gern wissen, wer ihr seid. Sag mir deinen Namen und erzähl mir von euch.“

Der Häuptling nickte eifrig und verbeugte sich mehrmals. „Ja, Herr, es soll geschehen, wie du es wünschst. Ich werde dich bewirten und dir von uns erzählen.“

Einen Augenblick später saß Orbin mit dem Häuptling und einem alten Schamanen in einem Zelt. Der Häuptling reichte dem Hexenmeister einen Becher Wein und begann zu erzählen. „Also Herr Orbin, wir sind vom Stamm der Waldläufer-Elfen. Ich bin Eschenhand, ihr einziger Häuptling und der Alte hier ist unser Schamane Eichblatt. Wir sind dunkle Elfen und wandern nach Süden. Dort ist es wärmer und das Wild ist zahlreicher.“

Nachdenklich sah Orbin in den Weinbecher. In seinem Kopf arbeiteten die Gedanken und er konnte sich ein wenig an die dunklen Elfen erinnern. Doch er brachte sie nur mit einer Insel in Verbindung. Darum fragte er Eschenhand. „Sag mir, Häuptling, lebt ihr dunklen Elfen nicht mehr auf eurer Insel? Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern.“

Beinah ungläubig schauten die Elfen den Hexenmeister an und der in einen Bärenpelz gehüllte Schamane schüttelte hastig den Kopf. „Ich glaube Herr, du bist lange nicht mehr in der Gesellschaft von uns dunklen Elfen gewesen. Ich werde dir etwas mehr von uns erzählen.“

Eschenhand goss jedem frischen Wein in die Becher und der Schamane begann zu berichten. „Die Insel, die du meinst, heißt noch heute Villbass. Wir Waldläufer-Elfen stammen nicht von den dunklen Elfen von Villbass ab. Wir haben diese Insel und ihre Bewohner immer gemieden. Doch wir kämpften, genau wie sie, für Dämonicon, dem Zauberer der alten Götter. Dafür wurden wir nach seiner Vernichtung aus unserer Heimat vertrieben. Wir lebten einst sehr weit im Westen. Auch dort gibt es ein großes Gebirge und dichte Wälder. Wenn wir vor siebenhundert Jahren Dämonicons Versprechungen nicht geglaubt hätten, so könnten wir heute noch in unserer alten Heimat leben.“

Orbin stellte seinen Becher neben sich auf dem Boden ab und sah zum Häuptling. „Lebt ihr seit dieser Zeit hier in diesen Wäldern?“

„Oh nein, wir sind erst seid wenigen Tagen hier.“ Eschenhand trank seinen Becher leer und sprach weiter. „Wir haben uns vorher in der Nähe der alten Ruinen von Illwerin aufgehalten. Dort wurden wir von dem Boten einer schwarzen Hexe zu Hilfe gerufen. Auf einem Friedhof bei den Ruinen gab es einen Kampf. Doch wir kamen zu spät und die Sache war schon erledigt.“

Orbin sah Eschenhand aufmerksam an. Die Verlegenheit des Häuptlings war kaum zu übersehen. Der Schamane beeilte sich deshalb, noch schnell etwas hinzuzufügen. „Diese schwarze Hexe hieß Irrsande und sie hatte einen Raben. Der hat uns zu diesem Friedhof geschickt. Doch als wir ankamen, hatten ihre untoten schwarzen Dienerinnen den Kampf schon verloren und wir mussten uns zurückziehen. Wir sind gewiss nicht feige, aber gegen einen Zirkelmagier, einen Haufen Kobolde und Minitrolle können wir nicht siegen. Wir benutzen unsere Magie meist nur, um unser Leben zu verlängern. Doch unsere Gegner bei den Ruinen von Illwerin kannten sich mit der Magie sehr viel besser aus. Wir hätten dort nur den Tod finden können. Darum sind wir aus dieser Gegend weggezogen. Das verstehst du doch, mein Herr Orbin?“

Orbin nickte vor sich hin. Er verstand diese Waldläufer-Elfen. Aber etwas von dem, was der Schamane soeben gesagt hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn. Es war nur dieses einzige Wort „Zirkelmagier“. Er versuchte, sich zu erinnern. Doch in seinem Kopf wollte keine Vision in Zusammenhang mit diesem Wort kommen. Orbin schüttelte den Kopf und fragte Eichblatt, was er über diesen Zirkelmagier wisse.

Der Schamane zuckte mit den Schultern und antwortete verwundert. „Ich weiß nur, was alle von uns wissen. Er hat im letzten Krieg an der Seite der Menschen und der Drachen gegen das Heer des dragolianischen Priesterkönigs Tholoam gekämpft. Tholoam hat mit seinem Heer verloren. Wir hatten Glück, weil wir nicht für ihn kämpfen wollten. Deshalb stellt man uns jetzt nicht wieder nach. Man sagt, die Dragolianer wollten dem Geist des gefallenen Dämonicon einen neuen Körper geben. Wir wissen nicht, ob das alles wahr ist, aber wenn es so ist, so können wir nur jedem davon abraten.“

Orbin horchte auf. Offenbar wusste er etwas, was diese dunklen Elfen noch nicht wissen konnten. Deshalb fragte er sogleich. „Warum könnt ihr nur jedem davon abraten?“

Eichblatt wurde jetzt leicht ungehalten. „Na was ist denn das für eine Frage? Dieser Dämonicon will doch nur wieder einen fürchterlichen Krieg erzwingen. Wenn er gewinnt, dann wird er die alten Götter auferstehen lassen und unsere Welt gerät erneut in die Hände der Finsternis. Wir Waldläufer-Elfen gehen schon einen gefährlichen Weg mit unserer dunklen Magie. Doch dieser Dämonicon ist einfach besessen von der Idee, an der Seite der alten Götter über unsere Welt herrschen zu können.“

Eschenhand stimmte seinem Schamanen zu. „So ist es, und ich hoffe doch, es hat ihm noch niemand geholfen. Aber ich glaube, ich habe da vor einigen Tagen einen Ruck in der Magie gespürt. Jemand hat ihr Gleichgewicht erschüttert. Das kann sehr gefährlich sein.“

Eschenhand und Eichblatt schauten zu Orbin. Sie erwarteten wohl jetzt von ihm eine Antwort. Doch der Hexenmeister wich einfach aus. „Ich habe mich schon lange nicht mehr mit solchen magischen Dingen beschäftigt. Ich sammle meist nur noch Kräuter. Da ist mir wohl dieser Ruck in der Magie entgangen.“

Der Häuptling und sein Schamane sahen sich jetzt vieldeutig an. Ein Verdacht keimte in den Beiden auf und der Häuptling sprach jetzt betont ruhig. „Na so etwas, aber das kann ja mal vorkommen. Ich habe selbst schon beim Sammeln von Pilzen und Beeren so einiges nicht bemerkt. Auch ein magisch begabtes Wesen ist nicht immer perfekt.“

Orbin bemerkte den spöttischen Unterton in Eschenhands Rede und das machte ihn zornig. „Es ist so, wie ich es sagte. Ich komme von weit her, und ich habe diesen Ruck nicht gespürt!“ Der Hexenmeister sprach seine letzten Worte lauter aus, als er es wollte. Er stand auf und verließ das Zelt.

Der Häuptling und der Schamane folgten ihm. Eschenhand versuchte, ihn zu beruhigen. „Herr Orbin, wir wollten dich nicht verärgern. Doch wir kennen dich nicht. Da solltest du unser Misstrauen verstehen.“

Orbin sah Eschenhand an und reichte ihm die Hand. „Es ist schon gut, ich wollte mich nicht mit euch Elfen streiten. Seid bedankt für den Wein und lebt wohl. Ich muss jetzt meines Weges ziehen.“

Der Häuptling nahm die Hand des Hexenmeisters und nickte ihm zu. „Wir wünschen dir eine gute Reise.“

Orbin drehte sich um und ging einfach davon. Die Waldläufer-Elfen sahen ihm nach und der Schamane flüsterte seinem Häuptling zu. „Er konnte sich sehr schnell aus unserem Netz befreien. Ein Kräutersammler ist dieser Orbin nicht. Wohl eher ein finsterer Zauberer.“

Eschenhand schüttelte den Kopf. „Nein, der Kerl ist ein Hexenmeister. Hast du denn nicht seinen Zauberstab mit diesem seltsamen Kristall in seinem Gürtel bemerkt? So ein gefährliches Ding besitzt nur ein dunkler Hexenmeister.“

Die Waldläufer-Elfen rüsteten zum Aufbruch und verließen schnell ihr Jagdlager. Sie wollten Orbin auf keinem Fall noch einmal begegnen.

Einsam zog der Hexenmeister nach Osten, der Stadt Bochea entgegen. In seinem Kopf versuchte er, seine wirren Gedanken zu ordnen. Er griff sich an sein Halsband und die Worte seines Herrn fielen ihm wieder ein. Orbin dachte an seine Aufgabe und eine Frage bohrte sich in seinem Kopf fest. „Was würde geschehen, wenn er die Stadt betreten hatte?“

Der Weg nach Bochea

Der Regen hatte in der Nacht nicht nachgelassen. Schlecht gelaunt sah sich Artur die dunklen Wolken am Himmel an. Dann ging er in das Baumhaus. Knurr spielte mit Barbaron ein Würfelspiel und einige Minitrolle sahen im Schein des Kaminfeuers gespannt zu.

Gerade gewann Knurr das dritte Mal hintereinander und Barbaron wurde ärgerlich. „Freund Knurr, das ist für heute das letzte Spiel, das du gewonnen hast. Jetzt werde ich drei Sechsen würfeln und schon hab ich das Glück auf meiner Seite.“

Barbaron nahm den Würfelbecher und schüttelte ihn. Dann ließ er ihn krachend auf dem Boden landen und hob ihn hoch. Die Würfel zeigten jedoch dreimal die Eins. Fluchend stand Barbaron auf. „Seitdem es heute Morgen diese neue Erschütterung der Magie gab, habe ich kein Glück mehr. Da ist wohl irgendein böses Wesen aufgewacht.“

Artur wollte gerade etwas sagen, doch Vinus kam mit seinem Becher herein und sah sich um. Dann setzte er sich neben dem Kamin auf eine Bank und sah zu Artur. Er schüttelte den Kopf und sprach, als wollte er zu sich selbst reden. „Ich konnte heute Morgen nicht aus meinem Becher trinken. Es geht nicht mehr. Der Wein hat sich in Blut verwandelt. Sieh ihn dir an.“ Vinus hielt Artur den Becher entgegen.

Erschrocken nahm Artur Vinus den Becher aus der Hand und sah hinein. Im Schein des Kaminfeuers konnte er erkennen, dass sein Bruder recht hatte. Der Becher war zur Hälfte mit Blut gefüllt. Er stellte ihn auf den einzigen Tisch im Raum, sodass Knurr und die anwesenden Minitrolle ebenfalls den Inhalt des Bechers betrachten konnten.

Leise flüsterte Knurr. „Die Erschütterung der Magie ist schuld. Wenn das so weitergeht, wird sie noch ihr Gleichgewicht verlieren und wir werden alle in ein schwarzes Chaos stürzen.“

Artur ermahnte Knurr sofort. „Sag nicht so etwas, du alter Schwarzseher! Solange wir das Böse bekämpfen können, wird es ein solches Chaos nicht geben!“

Barbaron erkannte schnell, dass Knurr sich mit Artur streiten wollte. Er sprang auf den Tisch und rief. „Wollt ihr nicht wissen, was die Ursache für die letzte Erschütterung gewesen ist?! Oder wollt ihr euch lieber erst ein wenig um die Wahrheit schlagen, obwohl sie keiner von euch kennt?“

Knurr und Vinus stimmten dem König aller Minitrolle zu und Artur forderte ihn auf, seinen Trollkompass zu befragen. Barbaron war jetzt in seinem Element. Er genoss die Aufmerksamkeit seiner Freunde und beschwor seinen Kompass. Der zeigte ihm zunächst den Ausgangspunkt der Erschütterung an. „Na da haben wir ja schon die erste Antwort.“ Mit stolzgeschwellter Brust sah der kleine König zu Artur. „Die Erschütterung wurde weit oben im Norden, im Gebiet der Schneeland-Elfen ausgelöst.“

Artur beugte sich gespannt zu Barbaron und sah auf den Kompass. „Und wer hat diese Dummheit begangen?“

Knurr und Vinus sahen ebenfalls auf den Kompass und Barbaron sprach ganz leise eine neue Beschwörung aus. Mit großen Augen starrten die drei Kobolde auf die Zeichen, die der Kompass ihnen zeigte.

Der kleine König schaute in die Gesichter der Kobolde und drückte Vinus den Mund zu. „Da habt ihr es. Ein Hexenmeister wurde erweckt. Jetzt sollten wir noch wissen, was er vorhat. Da der Becher von Vinus mit im Spiel ist, habe ich auch schon eine Idee. Diese Kerle führen meist Aufträge von besonders boshafter Natur aus.“

Der Kompass verriet noch den Namen des Ortes, den der Hexenmeister aufsuchen wollte. „Bochea“, flüsterten die drei Kobolde gleichzeitig und Vinus fügte noch hinzu. „Es gibt nur einen wirklich wertvollen Schatz in dieser Stadt und ich wollte im Frühjahr dort hin. Jetzt will mir wohl jemand zuvor kommen und etwas Schreckliches tun.“

Artur und Knurr nickten sich zu und schauten dann zu Vinus. Barbaron steckte seinen Kompass weg und fragte sogleich. „Mein lieber Freund Vinus, da du den Becher des Schöpfers gefunden hast, willst du ihn wohl nach Bochea bringen?“

Vinus nickte. „Ich dachte, ich hätte bis zum Frühjahr Zeit und könnte dann die Tafel hierher zu uns bringen. Doch jetzt haben sich die Dinge geändert. Ich muss so schnell wie möglich nach Bochea um die Feenkönigin Theodora zu warnen. Wenn sie den Becher und die Altartafel vereinen kann, werden sie der Königin die magische Kraft geben, jeden Feind abzuwehren. Das hoffe ich jedenfalls.“

Barbaron rieb sich die Hände und schwebte plötzlich mit der Hilfe seines blauen Kristalls neben Vinus. Er klopfte dem Kobold auf die Schulter und rief. „Das wird bestimmt eine spannende Sache und wir Minitrolle werden dich selbstverständlich begleiten.“

Vinus schüttelte den Kopf. „Nein Barbaron. Ich gehe lieber allein. Das ist bestimmt sicherer. Mit einer großen Schar Minitrolle falle ich überall sofort auf und es werden Feinde auf uns aufmerksam, denen ich allein entgehen kann.“

Barbaron war damit überhaupt nicht einverstanden. Er holte tief Luft und wollte etwas erwidern, doch Artur kam ihm zuvor. „Er hat recht, Barbaron. Wenn du mit deinem Volk Vinus begleitest, wird jeder Lump es wissen und wir werden nie erfahren, wo sich Dämonicon aufhält. Selbst dein Kompass kann uns das nicht sagen.“

Barbaron setzte sich auf den Tisch und verschränkte beleidigt seine Arme. „Sollen wir Minitrolle etwa den ganzen Winter nutzlos in diesem Tal verbringen, während sich Vinus in Bochea so vielen Gefahren aussetzt?“

Artur versuchte, den kleinen König zu beschwichtigen. „Ihr Minitrolle seid doch nicht nutzlos. Ich werde mir eine Aufgabe für euch einfallen lassen und ich bin mir sicher, sie wird euch gefallen.“

Barbaron sprang vom Tisch und rief. „Nein Artur, wir suchen uns unsere Aufgaben lieber allein!“ Er verließ mit seinen Minitrollen das Baumhaus und Artur zuckte mit den Schultern.

Vinus nahm seinen Becher und betrachtete ihn wieder. Dabei flüsterte er vor sich hin. „Morgen breche ich in aller Frühe auf. Dann werde ich ja sehen, welches Schicksal uns zugedacht ist.“

Der nächste Morgen war etwas freundlicher. Es regnete nicht mehr und der Nebel verzog sich langsam aus dem Tal. Vinus verabschiedete sich und versuchte seine Brüder und die Minitrolle zu beruhigen. „Nur keine Sorge. Ich werde mich beeilen und vor dem Winter zurück sein.“

Vinus drehte sich um und ging zum geheimen Gang, der durch einen Berg in das nächste Tal führte. Dort wollte der Kobold mit seiner Flugschale starten. Barbaron fragte Artur verärgert. „Bist du dir sicher, das Vinus dieser Aufgabe gewachsen ist? Das wird bestimmt kein Spaziergang.“

Artur tippte dem kleinen König mit seinem Zauberstab auf dessen Bauch und antwortete ihm. „Das ist nicht sein erster Flug nach Bochea. Er hat schon viele Abenteuer allein bestanden und er kennt das Steppenland sehr gut. Glaub mir, wenn er Hilfe brauchen würde, so hätte er uns darum gebeten. Geh du lieber mit deinen besten Jägern auf die Schweinejagd. Dann werden dir die düsteren Gedanken schon vergehen.“

Artur drehte sich um und ließ Barbaron mit seinem Volk allein. Sein Hauptmann stellte sich neben ihm und flüsterte ihm ins Ohr. „Mein König, du solltest Vinus nicht ganz aus den Augen lassen. Verfolge ihn doch mit deinem Kompass. So weißt du immer, ob es ihm gut geht.“

Barbaron grinste den Hauptmann an. „Ich habe nichts anderes vor, mein treuer Freund. Dieser Artur ist mir etwas zu unbesorgt.“

Unterdessen startete Vinus seinen Flug. Er nahm auf seiner Schale Platz und flog im nächsten Augenblick über die Bäume, die das dunkle Tal umgaben. Sein Weg führte ihn durch die Schluchten und Täler des Drachengebirges. Er folgte den Bächen und Flüssen und erreichte schon am frühen Mittag das Tiefland der Zwerge. Es war für den Kobold nicht schwer, mit der Hilfe der Straßen und Flüsse den Weg zum Steppenland zu finden. Doch in der Steppe war das schon schwieriger. Hier gab es keine Flüsse und nur staubige Wege, die in der Luft schlecht zu erkennen waren.

Vinus landete am frühen Nachmittag und rastete im Schatten einiger Büsche. Bäume gab es in dieser Gegend nur selten. Sein Rastplatz lag in einem flachen Tal und er blieb nicht lange unentdeckt. Ein Rudel hungriger Steppenwölfe umringte ihn. Die Tiere legten sich auf die Lauer und schlichen sich Stück für Stück an ihn heran. Der Duft von frischem Brot und Speck ließ sie schnell jede Vorsicht vergessen und sie rasten von allen Seiten gleichzeitig auf den Kobold zu. Doch ein Schutzbann, den Vinus ausgelegt hatte, ließ die Wölfe plötzlich stoppen. Sie erkannten die Gefahr und zogen sich knurrend und zähnefletschend zurück.

Ohne Hast stand Vinus auf und sah sich um. Er zählte neun Angreifer. In sicherer Entfernung warteten sie auf eine zweite Gelegenheit. Doch Vinus hatte keine Lust, mit ihnen zu kämpfen. Er setzte sich wieder auf seine Flugschale und ließ die Wölfe allein. Ihr Geheule hörte er bald nicht mehr. Dafür kam er der Stadt Bochea immer näher.

Eine Meile vor der Stadt landete Vinus. Er steckte seine Schale ein und machte sich zu Fuß auf den Weg. Trocken und staubig war die Straße. Es hatte hier schon lange nicht mehr geregnet. Doch über der Steppe zogen schwarze Wolken auf und der Wind wurde stärker. In der Nacht würde es in der Gegend ein Unwetter geben. Vinus beeilte sich, denn er wollte die Stadt mit trockenen Sachen erreichen.

Es war kurz vor der achten Stunde, als der Kobold das große Stadttor erreichte. Zwei gewaltige Riesen und eine Horde Steppenland-Elfen bewachten es. Sie kontrollierten jeden, der in die Stadt wollte. Die Riesen hatten mitten auf der Stirn ein drittes Auge. Sie sahen sich die Karren der Händler an und die Elfen fragten sie nach ihrer Herkunft und den Grund für die Reise nach Bochea aus.

Vinus musste sich in die Schlange der Händler einreihen. Einer der beiden Riesen beugte sich zu ihm herunter und betrachtete ihn kurz. Dann kam der Anführer der Elfen auf ihn zu. Mit heiserer Stimme sprach er Vinus schroff an. „Na, was haben wir denn hier für einen komischen kleinen Kerl? Du bist doch bestimmt ein Dieb, hä? Oder bist du sogar ein Mörder?“

Vinus war sofort erbost. Wütend entgegnete er dem Elfen. „Da hast du völlig recht! Ich erwürge gern Riesen im Schlaf und dir werde ich deine lose Zunge stehlen, wenn du mich noch ein wenig reizt!“ Der Kobold streckte dem Elfen seine Hände entgegen und eine Feuerkugel schwebte plötzlich vor ihm.

Erschrocken wichen die Elfen zurück und die Riesen grinsten. Sofort kam ein weiterer Elf in prächtiger Rüstung auf Vinus zu und sprach zum Anführer der Wachen. „Lass den Kobold in die Stadt herein. Er heißt Vinus und er ist ein Freund unserer Königin. Ich kenne ihn schon sehr lange und ich verbürge mich für ihn.“

Der Anführer war erschrocken und er verbeugte sich. „Entschuldigt bitte, Herr Vinus. Ich wusste nicht, wer Ihr seid. Aber in letzter Zeit versucht hier allerlei Gesindel, in unsere Stadt zu kommen. Da müssen wir uns jeden Besucher genau ansehen.“

Vinus ließ die Feuerkugel verschwinden und zeigte zu den beiden Riesen. „Frag das nächste Mal diese großen Kerle. Die kennen mich auch.“

Die Riesen nickten und einer sprach zum Anführer. „Er hat recht. Wir sehen diesen Kobold nicht zum ersten Mal. So einen guten Zauberer wie ihn findest du nicht alle Tage in der Stadt. Ihr weißen Steppenland-Elfen solltet euch lieber nicht mit ihm anlegen.“

Der Elf mit der prächtigen Rüstung geleitete Vinus in die Stadt hinein. Sie gingen zu einem guten Wirtshaus. „Mein lieber Vinus, ich hätte nicht gedacht, dich hier noch einmal zu sehen. Seit deinem letzten Besuch ist viel Zeit vergangen.“

Vinus nickte und öffnete die Eingangstür eines großen Wirtshauses. Willst du mit mir einen guten Becher Wein trinken, Fürst Silberhand? Ich habe einige Neuigkeiten für dich und noch viel mehr Fragen.“

Der Fürst schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss die Wachen in der ganzen Stadt kontrollieren. Für dich habe ich jetzt keine Zeit. Doch ich werde dich aufsuchen, wenn es mein Dienst erlaubt. Für heute wünsche ich dir einen guten Abend.“

Vinus ging allein in die Schankstube des Wirtshauses und sah sich um. Der Wirt kam sofort angelaufen und bat den Kobold, an einem Tisch Platz zu nehmen. Einen Krug mit süßem Wein, einen Becher und ein leckeres Abendmahl brachte eine junge Magd heran und Vinus langte schnell zu. Dabei betrachtete er die anderen Gäste.

In so einem Wirtshaus konnte man alle möglichen Gestalten finden. An einem Tisch saßen drei Zwerge und redeten mit einem blauen Gnom über einen Handel. Am nächsten Tisch saßen sechs weiße Elfen. Die Wappen auf ihren langen Mänteln verrieten, dass sie Jäger aus dem Flussland waren. Zwei dunkle Sumpfland-Elfen unterhielten sich am Schanktisch mit einem Obinarer und der Wirt selbst war ein Mensch.

Vinus lenkte seinen Blick zurück auf seinen Teller und seine Gedanken wanderten zu seinen Freunden. Dass er noch vor dem Winter hier nach Bochea reisen musste, das passte ihm gar nicht. Im nächsten Frühjahr wäre ihm die Reise lieber gewesen. Aber wenigstens hatte er diese aufdringlichen Minitrolle nicht mitnehmen müssen. Dieses quirlige Durcheinander und die vielen derben Späße waren nichts für ihn.

Bestimmt würde Barbaron versuchen, ihn mit seinem Kompass zu überwachen. Doch die Aura der Stadt würde das verhindern. Die Königin Theodora hatte sie wie eine große unsichtbare Glocke über die Stadt gelegt, um zu verhindern, dass jemand mit einem Orakelkristall oder einem ähnlichen magischen Gegenstand das Auge der Zyklopen finden konnte.

Vinus war so tief in seine Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie die Magd seinen leeren Becher nachfüllte. Erst als der Wirt an seinen Tisch kam, löste er sich von ihnen. Der Wirt sah ihn freundlich an und wischte den Tisch mit seiner Schürze ab. Vinus legte ein Goldstück auf den Tisch. „Reicht dir das als Lohn für deine Mühen?“

Der Wirt nickte und steckte das Goldstück schnell weg. „Wenn Du ein Zimmer haben willst, dann sag es mir. Bald ist Sperrstunde und dann darf niemand mehr bis zum nächsten Morgen die Straße betreten. Der Herr der Wachen, Fürst Silberhand, hat das so angeordnet. Vor einigen Tagen wurden im Süden Zentauren gesichtet und jetzt haben die Elfen Angst. Auch die Feen im Tempel und die Riesen sind beunruhigt.“

Vinus gab dem Wirt ein zweites Goldstück und ließ sich von der Magd ein Zimmer geben. Es war klein und hatte nur einen Tisch, einen Hocker und ein Bett. An dessen Fußende stand eine Truhe. Aus ihr holte die Magd eine Decke und ein Kissen für die Nacht.

Vinus wollte das Fenster öffnen, doch die Magd war sofort dagegen. „Bitte nicht Herr Kobold, wenn das die Stadtwachen sehen, dann werden sie kommen und wir müssen eine Strafe zahlen. Es ist streng verboten, in der Nacht ein Fenster zu öffnen.“

Vinus war jetzt sehr verwundert. „Ich war vor vielen Jahren schon ein Mal in dieser Stadt, aber damals gab es solche Verbote nicht. Hier hat sich seit dem vieles verändert.“ Die Magd nickte hastig und verließ das Zimmer.

Vinus sah zum Fenster. Er konnte durch einen Spalt zwischen den Fensterklappen auf die Straße schauen. Es war niemand zu sehen. Er setzte sich auf das Bett und sah in die Dunkelheit der kleinen Kammer. Seine Gedanken wanderten zu dem Tempel, in dem Theodora, die Königin von Bochea herrschte. Ihr wollte Vinus den Becher geben. Er hoffte, dass sie mit ihrer Weisheit die Veränderung seines Bechers erklären konnte.

Der Kobold zog seinen Mantel aus und legte sich hin. Seine Gedanken kreisten um den Tempel und der Königin. Der Schlaf überkam ihn und bald war nur noch ein gleichmäßiges Schnarchen zu hören.

Mitten in der Nacht wachte Vinus jedoch auf. Ein Geräusch ließ ihn in die Höhe fahren und er sah durch den Spalt zwischen den Fensterklappen auf die Straße. Im Schein des Mondlichtes konnte Vinus zwei Gestalten erkennen. Der eine war groß und schlank, der andere eher klein und von breiter Gestalt. Vinus rieb sich den Schlaf aus den Augen. Waren diese beiden Kerle nicht der Obinarer und der blaue Gnom. Er hatte sie im Schankraum gesehen.

Die Neugierde plagte sofort den Kobold und er wollte wissen, was sie mitten in der Nacht trotz Sperrstunde auf der Straße zu suchen hatten. Er sah, wie die Beiden in die Richtung des Tempels davon schlichen. Vorsichtig öffnete Vinus das Fenster und er sprang auf die Straße. Mit einem magischen Wink schloss er das Fenster wieder. Dann schlich er dem Obinarer und dem Gnom nach. Drei Mal mussten sie sich vor den Wachen der Elfen verstecken. Für Vinus wäre es leicht gewesen, Alarm zu schlagen, doch er tat es nicht. Er wollte wissen, was die anderen vorhatten.

Je näher sich der Obinarer und der Gnom an den Tempel schlichen, des so heller wurde die Umgebung durch die Fackeln der Wachen. Doch sie kamen unerkannt in den Hinterhof eines Hauses an, das dem Tempel direkt gegenüberstand. In der Mitte des Hofes stellten sie sich hin und der blaue Gnom zog eine magische Rute aus einer Tasche seines Mantels. Vinus war mit seiner Flugschale das letzte Stück des Weges geflogen und leise auf dem Dach des Hauses gelandet. Jetzt konnte er das erste Mal einem blauen Gnom bei seiner Arbeit zusehen. Der Kobold ahne, was jetzt geschehen würde.