Anke Kuhlmann

Kleider find’ ich doof

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

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sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Ich bin Biggi

Wenn ich groß bin

Ein ganz besonderes Schauspiel

Fahrradcrash

Ich war es nicht

Geisterstunde

Mein Debüt

Die Mutprobe

Die Weihnachtsüberraschung

Noel und der geheimnisvolle Spiegel

Ich bin Biggi

Es gibt Mädchen, die wären lieber ein Junge.

Ich gehöre jedenfalls zu denen, denn all das, was Mädchen gerne mögen, hasse ich. Egal ob es die Klamotten sind, das Spielzeug oder das Geschminke. Viel lieber spiele ich Fußball, schraube an technischen Modellen herum und hänge mit den Jungen der Nachbarschaft ab.

Ich bin Biggi. Eigentlich heiße ich Birgit, doch alle, die ich kenne, nennen mich einfach nur Biggi. Birgit finde ich auch nicht so toll, aber wer kann sich seinen Namen schon aussuchen. Die Flitzpiepe an meiner Seite ist mein Bruder Benni. Ich nenne ihn so, weil ich ihn mag.

Er ist ein Jahr älter als ich und ganz okay. Trotzdem haben wir uns öfter mal in der Wolle. Wir sind eben Geschwister und da gehört das dazu. Im Grunde mögen wir uns und wenn es darauf ankommt, können wir zusammenhalten und schweigen wie ein Grab.

Manchmal hilft es auch, einen großen Bruder zu haben, besonders um anzugeben. Na ja, aber ansonsten komme ich ganz gut alleine klar.

Meine Eltern haben sich inzwischen damit abgefunden, dass ich nicht mit Puppen spiele – blieb ihnen ja auch nichts anderes übrig. Ich habe ihnen immer wieder gezeigt, dass ich mit dem ganzen Mädchenkram nichts am Hut habe. Ich glaube, sie waren anfangs nicht begeistert und hätten gern ein richtiges Mädchen gehabt, so mit Kleidchen und Rüschen und so. Das mit den Puppen haben sie aufgegeben, nachdem ich meine erste so zugerichtet hatte, dass sie in die Klinik musste, Puppenklinik versteht sich. Die war in der hintersten Ecke im Zimmer unter meinem Bett, sozusagen weit weg als Dauerpflegefall im Ausland. Benni holte sie mal hervor und sah sie sich hingebungsvoll an. Er versuchte, sie zu reparieren bzw. operieren, was ihm auch halbwegs gelang. Fortan saß sie bei ihm und staubte vor sich hin.

Für mich war damit das Problem geklärt. Ich war sie los.

Irgendwie habe ich immer eine Lösung gefunden, auch für die Klamottenfrage.

Das war anfangs gar nicht so einfach, denn meine Eltern versuchten immer wieder, mich zu überzeugen, dieses oder jenes Kleidchen anzuziehen. Ich fand es einfach nur furchtbar und unpraktisch und wehrte mich so gut es eben ging auf meine Weise, denn wie viele Möglichkeiten hat man denn schon in dem Alter, seine Eltern umzustimmen? Aber mit Geduld, Trotz und einer Riesenportion Einfallsreichtum gelang es mir schließlich doch ab und zu.

So erlebte ich folgende Geschichte, als ich etwa vier Jahre alt war:

Wenn ich groß bin …

Ich stand in meinem Schlafanzug im Wohnzimmer, schlug mir die Hände vors Gesicht, zog die Stirn kraus und schob meine Unterlippe nach vorn. Ich war eingeschnappt. Manchmal stampfte ich noch mit dem Fuß auf, was meiner Wut einen dramatischeren Ausdruck verleihen sollte. Heute beließ ich es dabei und verzichtete darauf.

„Eingeschnappte Leberwurst“, neckte mich Papa.

Ich heulte unterstützend laut auf. „Ich bin keine Leberwurst!“

„Na klar, was ist das denn sonst, was ich sehe?“ Papa sah verschmitzt zu mir herüber. Es amüsierte ihn, mich ein wenig zu provozieren.

„Ich will noch nicht schlafen gehen!“, rief ich, nun doch mit dem Fuß aufstampfend.

„Oho, gleich kommen die Hörner heraus“, grinste er.

Ich drehte mich zu meinem Papa und nahm die Hände vom Gesicht. Meine Stirn lag noch immer in Falten.

„Hörner?“, fragte ich ungläubig.

„Ja, pass nur auf, ich kann schon kleine Beulen erkennen.“

Ich griff mir vorsichtig an die Stirn und fühlte suchend.

„Gar nicht, Papa, du willst mich veralbern.“ Ich schaute unsicher zu ihm herauf und strich mir noch immer über die Stirn.

„Gehen die wieder weg?“, fragte ich nun doch verunsichert.

„Wenn man nicht mehr bockig ist und ins Bett geht, wenn Mama und Papa es sagen …“

Ich ging langsam zu meinem Zimmer und überlegte kurz wie ich noch ein paar Minuten herausschlagen konnte.

„Benni darf auch noch aufbleiben“, wendete ich ein.

„Benni, Benni … der ist auch älter als du.“

„Pah, das eine Jahr!“

„Außerdem kommt er auch gleich nach.“

„Papa, dann erzähle mir bitte noch eine Geschichte“, bettelte ich und sah ihn mit großen Augen an. Ich hatte mir das Kopfkissen zurechtgerückt und mich in die Decke eingerollt.

„Aber dann wird geschlafen“, sagte Papa energisch. Er setzte sich zu mir auf die Bettkante, überlegte kurz und begann zu erzählen:

„Es war einmal …“

„Aber keins von Grimms Märchen. Die kenne ich alle schon“, unterbrach ich ihn. „Erzähle doch …“

„Abwarten Biggi, abwarten. Diese Geschichte geht etwas anders und ist nicht von den Gebrüdern Grimm.“ Er schaute mich augenzwinkernd an.

„Also, es war einmal ein Mädchen, das war ungefähr vier Jahre alt. Es hatte einen Bruder, der ein Jahr älter war als sie. Die beiden verstanden sich prima, vor allem dann, wenn es darum ging, gemeinsam etwas auszuhecken. Paula, so hieß das Mädchen, guckte der Schalk schon aus den Augen. Sie war eigentlich nicht das, was man sich unter einem Mädchen vorstellt. Kleider mochte sie nicht und bei ihren Spielsachen hatten Puppen gegen ihre Autos keine Chance. Sie spielte viel lieber mit den Jungen aus der Nachbarschaft Verstecken und Fußball, als sich unter die Mädchen zu mischen. Eigentlich war Paula wie ein Junge. Auch dem Aussehen nach war es schwer, in ihr ein Mädchen wiederzuerkennen.“

Papa beobachtete mich. In meinem Gesicht konnte er lesen, dass ich wusste, wer Paula sein würde. Dennoch sprach er unbeirrt weiter: „Paula und ihr Bruder Tobi sahen sich ähnlich und hätten auch gut Zwillinge sein können. Wahrscheinlich lag es daran, dass Paula immer darauf bestand, das gleiche anzuziehen, was Tobi trug. Dazu kam dann noch, dass beide kurz geschnittene Haare hatten …

Einmal, es war an einem kalten Wintertag, wollte sie ihre Mutter in den Kindergarten bringen. Es musste schnell gehen, denn sie waren schon spät dran.

Während sich Tobi artig die lange Unterhose anzog, saß Paula auf dem Boden und rührte sich nicht. Ihre Mama hatte ihr Strumpfhosen hingelegt, die sie sich anziehen sollte.

Als sie wenig später nach ihnen sah, war Tobi schon fertig angezogen, Paula hingegen saß mit vor der Brust verschränkten Armen da und sah vorwurfsvoll auf die Strumpfhose. ‚Die ziehe ich nicht an’, sagte sie und zeigte angewidert darauf. ‚Ich will auch eine lange Unterhose!’

Sie schlug die Hände vors Gesicht und zog die Stirn kraus. Ihre Unterlippe schob sich nach vorn. Paula war eingeschnappt. Dabei stampfte sie noch mit dem Fuß auf, was ihrer Wut einen stärkeren Ausdruck verlieh.“

Ich setzte mich kurz auf und stemmte entrüstet die Arme in die Seite und fühlte mich ertappt.

„Was ist denn los? Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“, fragte Papa. Ich hob schnippisch die Schultern und kuschelte mich wieder unter die Decke. „Och nee“, meinte ich schnell und bemühte mich unbeteiligt zu tun.

Er erzählte ernst weiter: „Alles Zureden der Mutter half nicht, sodass die Mama schließlich eine Unterhose aus Tobis Schrank holte und sie ihr zum Anziehen gab. Paula war selig, sie hatte erreicht, was sie wollte. ‚Strumpfhosen’, sagte sie ‚tragen doch nur Mädchen. Wenn ich groß bin, werde ich ein Junge und die ziehen Unterhosen an.’ Darauf wollte sie sich schon jetzt vorbereiten.

Dann vergingen viele Wochen und Monate. Dem Winter folgte der Frühling und dem der Sommer.

An einem Sonntag entschlossen sich ihre Eltern dazu, mit ihr und ihrem Bruder einen Spaziergang zu machen. Die Sonne lachte vom Himmel, der sich in einem strahlenden Blau präsentierte.

Paula besah sich im Spiegel, doch mit dem Bild, was sie erblickte, konnte sie sich nicht anfreunden. Ihre Mama hatte ihr ein Rüschenkleid angezogen. Ihre Füße steckten in roten Lackschuhen. Die Söckchen waren weiß und hatten ebenfalls Rüschen. Tobi trug eine kurze Hose und ein Nicki. Neidvoll schaute Paula auf seine Sandaletten. ‚Tauschen wir?’, fragte sie ihn und zeigte auf ihre Lackschuhe. Tobi zeigte ihr einen Vogel. ‚Spinnst du? Ich bin doch ein Junge’, antwortete er entrüstet.

Paula erwiderte darauf: ‚Ich will auch Sandaletten. Wenn ich groß bin, werde ich ein Junge und dann … ’

Tobi kicherte und stolzierte vor ihr her.

Mama und Papa schauten stolz auf ihre beiden Sprösslinge. So herausgeputzt konnten sie sich gemeinsam auf den Sonntagsspaziergang machen. Paulas Mama hatte sogar noch eine Überraschung. Sie schenkte ihrer Tochter passend zu den Schuhen eine rote Lackhandtasche und schaute Paula erwartungsvoll an.“

Ich versteckte mich wie ertappt schnell unter der Bettdecke und lugte langsam wieder hervor. Die Geschichte kam mir doch irgendwie bekannt vor.

Papa atmete seufzend, bevor er fortsetzte: „Eigentlich hatte ihre Mama erwartet, dass sie ihr dafür dankend um den Hals fallen wurde, doch sie erntete eher einen vorwurfsvollen Blick. Paula fügte sich notgedrungen dem Willen ihrer Eltern, obwohl sie sich ganz und gar nicht wohlfühlte. Der asphaltierte Weg führte sie schließlich vom Straßenlärm fort in die Natur. Vorbei ging es an Sträuchern und Hecken, an denen Paula besonders dicht entlang schlenderte und dabei ihre neue Lacktasche an den Zweigen schrammte.

Was konnte sie schließlich dafür, dass die Büsche ihrer Tasche im Weg waren. Sie wich ihnen nicht aus, sondern suchte wie zufällig immer wieder ihre Nähe. Sie mochte die Tasche nicht und zeigte es ihr auf diese Weise deutlich. Am liebsten hätte sie ihr einen Fußtritt gegeben, ja als Fußball wäre sie gerade gut genug.

Wütend stieß sie mit dem Fuß ein kleines Steinchen vor sich her. ‚Scheiß Schuhe!’, fluchte sie leise und trat den Stein erneut voran. Während des ganzen Weges litten so die neuen Lackschuhe unentwegt. Plötzlich klebte das Steinchen auf der Straße im Teer fest, den die Sonne verflüssigt hatte, sodass er stellenweise breiig und klebrig war. Paula stocherte mit der Schuhspitze gegen das Steinchen und versuchte, ihn herauszuschießen. Immer wieder blieb er stecken. Die Schuhspitze war inzwischen klebrig schwarz. Sie streifte sie eifrig an der Straßenkante ab, doch das Zeug wollte einfach nicht abgehen.

‚Wie siehst du denn aus?’, rief ihre Mama entsetzt als sie näher an Paula herantrat. ‚Dein Kleid hat ja hinten lauter Teerspritzer. Das schöne Kleid! Das kriege ich doch nie wieder raus!’ Sie zupfte an Paula herum. ‚Und die Schuhe! Ach Paula!’, rief sie resignierend. Paula schaute sich an und hob schnippisch die Schultern. ‚Dafür kann ich nichts’, sagte sie schnell und popelte an dem Teerfleck herum.

‚Das geht nicht ab’, erwiderte ihre Mama und in ihrer Stimme schwang nun doch ein bisschen Wut mit. Paula wandte sich ihr zu und versuchte zu beschwichtigen, indem sie sie an sich drückte. ‚Es tut mir leid’, sagte sie. Dennoch konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Das Kleid und die Schuhe bin ich los, Gott sei Dank, dachte sie bei sich.

Als sie zu Hause ankamen und ihre Mama beim Wegräumen der Sachen auch die Tasche an ihren Platz räumen wollte, bemerkte sie die kleinen und großen Kratzer im Lack. Paula hatte natürlich sofort eine Antwort parat und meinte: ‚Das ist eine doofe Tasche, die nichts aushält und außerdem – wenn ich groß bin, werde ich sowieso ein Junge. Dann brauche ich solche Taschen nicht mehr.’ Ihre Mama schüttelte wortlos den Kopf.“

Papa schaute mich an. Ich grinste zurück.

„Kann es sein, dass ich Paula kenne?“, fragte ich verschmitzt.

Papa sah mich schmunzelnd an, erwiderte jedoch nichts darauf.

„Ihr habt das mit der Tasche also doch mitbekommen?“ Ungläubig wartete ich auf eine Antwort.

„Natürlich, was denkst du denn? Ich hatte Mama ja sogar vorgewarnt, weil ich vorher schon geahnt habe, dass du die Tasche nicht mögen würdest. Ich kenne doch meine Tochter.“ Papa zupfte die Decke zurecht. „Rabauke!“

„Aber das ist doch schon so lange her“, erwiderte ich entrüstet.

„Na ja, so lange nun auch wieder nicht.“

„Was ist denn hier los? Du schläfst ja immer noch nicht.“ Mama schaute zur Tür hinein.

„Papa erzählt mir nur noch eine Geschichte“, erklärte ich schnell und wandte mich ihm wieder zu.

Mama schüttelte den Kopf und zog die Tür wieder zu.

„Wie geht es denn weiter?“, fragte ich ihn interessiert.

„Paula bekam danach keine Handtaschen mehr. Und auch in Sachen Kleidung verstand sie es, ihre Eltern zu überzeugen, dass sie lieber Hosen trug, als Kleider und Röcke. Allerdings musste sie sich auch gefallen lassen, wenn sie von anderen für einen Jungen gehalten wurde. Aber das war ihr im Grunde ja egal. Später musste sie jedoch leider feststellen, dass aus ihrem Ziel, ein Junge zu werden, wohl doch nichts werden würde.“

Papa grinste.

„Ja, ja, ich weiß.“ Ich schaute verlegen zu Papa. „Schade eigentlich, aber nächstes Mal suche ich mir aus, ob ich bei der Geburt ein Mädchen oder Junge sein will.“

„Beim nächsten Mal?“ Verwundert sah er seine Tochter an.

„Na klar, noch nichts von Wiedergeburt gehört?“ Ich lachte. „Kleiner Scherz!“, fügte ich schnell hinzu, als ich die verdutzten Augen meines Papas sah.

„Und wenn der kleine Scherzkeks jetzt nicht schläft, dann fallen mir bestimmt noch ganz andere Geschichten von dieser Paula ein, die nicht so lustig sind.“

Ich hatte verstanden. „Gute Nacht Papa.“ Ich drehte mich zu ihm und sagte: „Die kannst du mir erzählen, wenn ich groß bin.“

„Gute Nacht“, sagte er und ergänzte „oder später dann deinen Kindern. Die werden sich wundern, was für ein Rabauke ihre Mama früher so war.“

Darauf hatte ich keine Antwort mehr. Ich zog die Decke bis unter die Nase und schloss blinzelnd die Augen, bevor sich Papa von der Bettkante erhob und sich leise aus dem Zimmer schlich.

Das mit dem Teerkleid war dann auch schnell vergessen. Und wenn ich mich recht erinnere, habe ich seit dem Tag auch nie wieder ein Kleid angehabt. Mein Lieblingskleidungsstück war zu der Zeit eine Lederhose. Benni hatte auch eine. Ich fand meine natürlich viel schöner. Auf jeden Fall war sie praktischer und nicht so empfindlich wie das Kleid von damals.

Lackschuhe brauchte ich auch nicht mehr anziehen. Das hätte ja auch nicht zu den Hosen gepasst. So wie Benni trug ich chice Sandaletten. Mit denen konnte ich dann super gut Fußball spielen. Auch auf dem Fahrrad war es mit Hosen viel besser. Ich musste nicht ständig aufpassen, dass mir der Wind darunter fährt und die Jungen aus der Nachbarschaft mich deshalb veräppelten.

In diesem Zusammenhang erinnere ich mich nur ungern an die nächste Geschichte:

Ein ganz besonderes Schauspiel

„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Biggi, happy birthday to you!”, schallte es mir in meinem Zimmer entgegen. Ich rieb mir müde die Augen.

„Willst du denn heute gar nicht aufstehen?“, fragte Mama und steckte den Kopf in mein Zimmer.