T.H. WHITE

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Aus dem Englischen
von Rudolf Rocholl

Die Verse wurden übertragen
von H. C. Artmann



Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Once and Future King«
im Verlag William Collins Sons & Co Ltd., London

© Estate of T. H. White, 1958

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Birgit Gitschier, Augsburg;

Illustration: Max Meinzold, München

Datenkonvertierung von Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94970-4

E-Book: ISBN 978-3-608-10970-2

Dieses E-Book beruht auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

ERSTES BUCH:
Das Schwert im Stein

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

ZWEITES BUCH:
Die Königin von Luft und Dunkelheit

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

DRITTES BUCH:
Der missratene Ritter

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

KAPITEL 41

KAPITEL 42

KAPITEL 43

KAPITEL 44

KAPITEL 45

VIERTES BUCH:
Die Kerze im Wind

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

ERSTES BUCH:

Das Schwert im Stein

INCIPIT LIBER PRIMUS

KAPITEL 1

Montags, mittwochs und freitags gab es Gotische Kanzleischrift und Summulae Logicales, an den übrigen Wochentagen waren Organon, Repetition und Astrologie dran. Die Gouvernante geriet stets mit ihrem Astrolabium durcheinander, und wenn sie besonders durcheinander war, ließ sie es an Wart aus, indem sie ihm auf die Finger schlug. Kay schlug sie nie auf die Finger, denn Kay würde, wenn er einmal älter war, Sir Kay sein, der Herr der Burg und des Besitzes. Wart wurde Wart (»die Warze«) genannt, weil sich das recht und schlecht auf Art reimte, die Kurzform seines eigentlichen Namens. Kay hatte ihm den Spitznamen gegeben. Kay wurde nie anders als Kay genannt; er war zu würdevoll für einen Spitznamen, und er wäre in Wut geraten, wenn jemand versucht hätte, ihm einen anzuhängen. Die Gouvernante hatte rote Haare und irgendeine geheimnisvolle Wunde, aus der sie beträchtliches Prestige zog, indem sie sie, hinter verschlossenen Türen, allen Frauen des Schlosses zeigte. Man nahm an, diese Wunde befinde sich an dem Körperteil, den man zum Sitzen braucht, und sei dadurch entstanden, dass die Dame sich bei einem Picknick versehentlich auf einer Rüstung niedergelassen habe. Schließlich erbot sie sich, sie Sir Ector zu zeigen, der Kays Vater war, bekam einen hysterischen Anfall und wurde fortgeschickt. Später fand man heraus, dass sie drei Jahre lang im Irrenhaus gewesen war.

An den Nachmittagen sah das Programm folgendermaßen aus: montags und freitags Lanzenstechen und Reitkunst, dienstags Falkenbeiz, mittwochs Fechten, donnerstags Bogenschießen, samstags Theorie des Rittertums nebst Anweisungen für alle Lebenslagen, Waidmannssprache und Jagd-Etikette. Wer sich zum Beispiel beim mort, dem Totsignal, oder beim Ausweiden falsch benahm, wurde über den Körper des erbeuteten Tieres gelegt und bekam eins mit dem flachen Schwertblatt verpasst. Dies hieß man: Blattgold auftragen. Ein grober Scherz, rauh und herzlich wie die Äquatortaufe. Kay bekam nie Blattgold, obwohl er oft etwas falsch machte.

Als sie die Gouvernante los waren, sagte Sir Ector: »Schließlich und endlich, verdammt noch eins, können wir die Jungens doch nicht den ganzen Tag wie Landstreicher rumlaufen lassen – schließlich und endlich, verdammt noch eins? In ihrem Alter müssten sie doch eine erstklassige Auswildung haben. Als ich so alt war wie sie, da hab ich mich jeden Morgen um fünfe mit Latein und all dem Zeugs rumgeplagt. Schönste Zeit meines Lebens. Reicht mal den Port rüber.«

Sir Grummore Grummursum, der heute hier im Hause übernachten sollte, da er auf einer besonders ausgedehnten Aventiure von der Dunkelheit überrascht worden war, sagte, dass er in ihrem Alter jeden Morgen Prügel bezogen habe, weil er auf die Beiz gegangen sei, statt was zu lernen. Auf diese Schwäche führte er auch die Tatsache zurück, dass er nie übers Erste Futurum von utor hinausgekommen war. Ungefähr ein Drittel bergab auf der linken Seite, da stand es, sagte er. Soviel er sich erinnere: Seite siebenundneunzig. Er reichte den Port hinüber.

Sir Ector sagte: »Hattet Ihr eine ordentliche Aventiure heute?«

Sir Grummore sagte: »Na ja, nicht so übel. Eigentlich sogar sehr anständig. Traf auf einen Kerl namens Sir Bruce Saunce Pité, wo in Weedon Bushes einer Maid den Kopf abhackte; folgte ihm bis Mixbury Plantation in Bicester; da hat er einen Haken geschlagen, und in Wicken Wood ist er mir dann entkommen. Muss gut und gerne fünfundzwanzig Meilen gewesen sein.«

»Ein halsstarriger Bursche«, sagte Sir Ector. »Aber von wegen der Jungens und dem Latein und all dem Kram«, fuhr der alte Herr fort. »Amo, amas, versteht Ihr, und rumlaufen wie die Landstreicher – was würdet Ihr denn vorschlagen?«

»Tja«, sagte Sir Grummore, rieb sich die Nase und warf einen verstohlenen Blick auf die Flasche, »darüber müsste man ja erst mal gehörig nachdenken, wenn Ihr’s mir nicht verübelt.«

»Nicht im Geringsten«, sagte Sir Ector. »Im Gegenteil: sehr erfreut, dass Ihr Euch äußert. Zu Dank verpflichtet, wirklich. Nehmt noch einen Port.«

»Ausgesprochen guter Port.«

»Krieg ich von einem Freund.«

»Um auf die Jungens zurückzukommen«, sagte Sir Grummore. »Wie viele sind’s denn, wisst Ihr’s?«

»Zwei«, sagte Sir Ector. »Das heißt, wenn man beide zählt.«

»Nach Eton könnt man sie wohl nicht schicken?«, erkundigte Sir Grummore sich behutsam. »Weiter Weg und so, wissen wir ja.«

Er erwähnte natürlich nicht gerade Eton, denn das College of Blessed Mary wurde erst 1440 gegründet, aber er meinte eine Schule von genau derselben Art. Auch tranken sie Metheglyn, nicht Port, doch lässt sich durch die Nennung des neumodischen Weins die Atmosphäre leichter vermitteln.

»Es ist nicht so sehr die Entfernung«, sagte Sir Ector. »Aber dieser Riese, wie heißt er doch gleich, der ist im Wege. Man muss durch sein Land, versteht Ihr.«

»Wie heißt er?«

»Ich komm im Augenblick nicht drauf; nicht ums Verrecken. Beim Burbly Water haust er.«

»Galapas«, sagte Sir Grummore.

»Genau der.«

»Dann bleibt nur noch eins übrig«, sagte Sir Grummore, »nämlich: einen Tutor zu suchen.«

»Ihr meint: einen Hauslehrer.«

»Genau«, sagte Sir Grummore. »Einen Tutor, versteht Ihr, einen Hauslehrer.«

»Trinkt noch einen Port«, sagte Sir Ector. »Nach so einer Aventiure braucht Ihr’n.«

»Hervorragender Tag«, sagte Sir Grummore. »Nur töten tun sie heutzutage anscheinend nicht mehr. Da legt man fünfundzwanzig Meilen zurück, und dann bekommt er Wind, oder man verliert ihn aus den Augen. Das Schlimmste ist, wenn man sich auf eine neue Aventiure macht.«

»Wir töten unsere Riesen, wenn sie jungen«, sagte Sir Ector. »Hernach gibt’s eine schöne Hatz, aber sie entkommen einem.«

»Man verliert die Fährte«, sagte Sir Grummore, »würde ich sagen. Ist doch immer dasselbe mit diesen großen Riesen in einem großen Land. Die Witterung geht verloren.«

»Aber wenn man sich nun einen Hauslehrer zulegen will«, sagte Sir Ector, »so seh ich noch nicht, wie man das bewerkstelligen soll.«

»Anzeige aufgeben«, sagte Sir Grummore.

»Ich hab eine Anzeige aufgegeben«, sagte Sir Ector. »Sie ist vom Humberland Newsman and Cardoile Advertiser ausgerufen worden.«

»Dann«, sagte Sir Grummore, »bleibt nur noch die Möglichkeit, zu einer Aventiure aufzubrechen.«

»Ihr meint, ich soll mich auf die Tutor-Suche machen«, erklärte Sir Ector.

»Genau.«

»Hic, haec, hoc«, sagte Sir Ector. »Trinkt noch was – einerlei, wie das Zeugs heißt.«

»Hunc«, sagte Sir Grummore.

So war’s denn also beschlossen. Als Grummore Grummursum am nächsten Tage heimwärts ritt, knüpfte Sir Ector sich einen Knoten ins Sacktuch, um nicht zu vergessen, dass er sich zwecks Tutor-Fang auf große Fahrt begeben müsse, sobald er Zeit dazu haben würde. Und da er nicht sicher war, wie er das anstellen sollte, berichtete er den Jungens, was Sir Grummore vorgeschlagen hatte, und beschwor sie, sich bis dahin nicht mehr wie Landstreicher aufzuführen. Alsdann gingen sie zum Heuen.

Es war Juli, und in diesem Monat arbeitete alles, was Arme und Beine hatte, unter Sir Ectors Anleitung auf dem Felde. Den Jungen blieb also jedwede ›Auswildung‹ vorerst mal erspart.

Sir Ectors Schloss befand sich auf einer gewaltigen Lichtung in einem noch gewaltigeren Walde. Es hatte einen Hof und einen Burggraben mit Hechten darin. Über den Graben führte eine befestigte Steinbrücke, die in der Mitte endete. Über der zweiten Hälfte lag eine hölzerne Zugbrücke, die jede Nacht gehievt wurde. Sobald man die Zugbrücke überquert hatte, befand man sich am Anfang der Dorfstraße – es gab nur eine einzige Straße –, und die erstreckte sich etwa eine halbe Meile, zu beiden Seiten von strohbedeckten Häusern aus Flechtwerk und Lehm gesäumt. Die Straße teilte die Lichtung in zwei große Felder; das linke war, in Hunderten von schmalen langen Streifen, unter dem Pflug, während das rechte zu einem Fluss abfiel und als Weide genutzt wurde. Das halbe Feld zur Rechten diente, eingezäunt, zur Heugewinnung.

Es war Juli, dazu richtiges Juliwetter, so, wie man’s in Old England hatte. Jedermann wurde brutzelbraun, wie ein Indianer, mit blitzenden Zähnen und leuchtenden Augen. Die Hunde schlichen mit hängenden Zungen einher oder lagen japsend in Schattenflecken, während die Ackergäule ihr Fell durchschwitzten und mit den Schwänzen schlugen und versuchten, mit schweren Hinterhufen sich die Bremsen vom Bauch zu treten. Auf der Weide trieben die Kühe ein übermütiges Spiel und galoppierten mit hoch aufgerichteten Schwänzen umher, was Sir Ector in schlechte Laune versetzte.

Sir Ector stand auf einem Heuschober, von wo aus er alles überblicken konnte, und schrie Befehle über das ganze Zweihundert-Morgen-Feld, wobei sein Gesicht puterrot anlief. Die besten Schnitter mähten das Gras in einer Reihe; ihre Sensen blitzten und brausten im harten Sonnenschein. Die Frauen harkten das Heu mit hölzernen Rechen in langen Streifen zusammen, und die beiden Jungen folgten beiderseits mit Gabeln, um das Heu nach innen zu werfen, sodass es leicht aufgeladen werden konnte. Dann kamen die großen Karren; ihre hölzernen Speichenräder knarrten; sie wurden von Pferden gezogen oder von gemächlichen weißen Ochsen. Ein Mann stand oben auf dem Wagen, um das Heu entgegenzunehmen und das Aufladen zu dirigieren, was von zwei Männern besorgt wurde, die rechts und links neben dem Wagen mitgingen und ihm mit Gabeln hinaufreichten, was die Jungen angehäuft hatten. Der Karren wurde zwischen zwei Reihen Heu hinuntergeführt und schön gleichmäßig von vorn bis hinten beladen, wobei der Mann, der banste, genau angab, wie er jede Gabelvoll gereicht zu haben wünschte. Die Banser schimpften auf die Jungen, dass sie das Heu nicht ordentlich zurechtgelegt hätten, und drohten ihnen Prügel an für den Fall, dass sie zurückblieben.

Wenn der Wagen beladen war, wurde er zu Sir Ectors Schober gefahren. Dort gabelte man das Heu hinauf, was ganz einfach ging, da es systematisch geladen war – nicht wie modernes Heu –, und Sir Ector trampelte obendrauf herum und kam seinen Gehilfen in die Quere, die die eigentliche Arbeit taten, und stampfte und schwitzte und fuchtelte herum und achtete ängstlich darauf, dass genau lotrecht gebanst wurde, damit der Heuschober nicht umfiel, wenn die Westwinde kamen.

Wart liebte das Heumachen und war ein guter Arbeiter. Kay, der zwei Jahre älter war, stand gewöhnlich zu weit von dem Heuhaufen entfernt, den er hinaufreichen wollte, mit dem Ergebnis, dass er doppelt so schwer schuftete wie Wart und nur die Hälfte erreichte. Er hasste es jedoch, bei irgendeiner Sache übertrumpft zu werden, und so schlug er sich mit dem vermaledeiten Heu herum – das ihm entsetzlich zuwider war –, bis ihm regelrecht übel wurde.

Der Tag nach Sir Grummores Besuch war eine reine Hetzjagd für die Leute, die zwischen dem ersten und dem zweiten Melken schuften mussten und dann wieder bis zum Sonnenuntergang mit dem schwülen Element zu kämpfen hatten. Denn das Heu war für sie ein Element wie das Meer oder die Luft, in dem sie badeten und untertauchten und das sie sogar einatmeten. Die Pollen und Fasern verfingen sich in ihren Haaren, gerieten ihnen in den Mund, in die Nase, und taten sich kitzelnd und kratzend in ihrer Kleidung kund. Sie trugen nicht viele Kleider, und zwischen den schwellenden Muskeln spielten blaue Schatten auf der nussbraunen Haut. Wer vor Gewitter Angst hatte, dem war an diesem Tag nicht wohl.

Am Nachmittag brach das Wetter los. Sir Ector hielt sie bei der Stange, bis die Blitze genau über ihren Köpfen zuckten. Dann, als der Himmel nachtdunkel war, prasselte der Regen auf sie nieder, sodass sie im Nu völlig durchnässt waren und keine hundert Schritt weit sehen konnten. Die Jungen kauerten sich unter die Karren, hüllten sich in Heu, um ihre nassen Leiber vor dem jetzt kalten Wind zu schützen, und alberten miteinander, während der Wolkenbruch herniederstürzte. Kay zitterte, allerdings nicht vor Kälte; aber er alberte wie die anderen, weil er nicht zeigen wollte, dass er Angst hatte. Beim letzten und heftigsten Donnerschlag zuckte jeder unwillkürlich zusammen, und jeder sah, wie der andere zusammenfuhr, bis sie dann mitsammen über ihre Ängstlichkeit lachten.

Dies jedoch war das Ende des Heumachens und der Beginn des Spielens. Die Jungen wurden heimgeschickt, um sich trockene Sachen anzuziehen. Die alte Frau, die einst ihr Kindermädchen gewesen war, holte frische Hosen aus der Mangel und schalt, sie würden sich noch den Tod holen, rügte auch Sir Ector, weil er so lange weitergemacht hatte. Dann schlüpften sie in frischgewaschene Hemden und liefen auf den blitzblanken Hof hinaus.

»Ich bin dafür, dass wir Cully rausholen und auf Kaninchenjagd gehen«, rief Wart.

»Bei dieser Nässe sind keine Kaninchen draußen«, sagte Kay bissig und genoss es, ihm in Naturkunde über zu sein.

»Ach, komm schon. Ist ja bald trocken.«

»Dann muss ich aber Cully tragen.«

Kay bestand darauf, den Hühnerhabicht zu tragen und fliegen zu lassen, wenn sie gemeinsam auf die Beiz gingen. Dies war sein gutes Recht – nicht nur, weil er älter war als Wart, sondern auch, weil er Sir Ectors richtiger Sohn war. Wart war kein richtiger Sohn. Er verstand es zwar nicht, doch machte es ihn unglücklich, weil Kay eine gewisse Überlegenheit daraus ableitete. Auch war es anders, keinen Vater und keine Mutter zu haben, und Kay hatte ihn gelehrt, dass jeder, der anders war, im Unrecht sei. Niemand redete mit ihm darüber, doch wenn er allein war, dachte er darüber nach und fühlte sich zurückgesetzt und elend. Er mochte es nicht, dass dieses Thema zur Sprache gebracht wurde. Da der andere Junge jedoch stets darauf zu sprechen kam, sobald sich die Frage des Vorrangs ergab, hatte er es sich angewöhnt, sofort klein beizugeben, ehe es überhaupt so weit kommen konnte. Außerdem bewunderte er Kay; er selbst war der geborene ›Zweite Mann‹: ein Heldenverehrer.

»Also los«, rief Wart, und übermütig tollten sie zu den Käfigen, wobei sie unterwegs Purzelbäume schlugen.

Die Käfige gehörten, neben den Ställen und Zwingern, zu den wichtigsten Teilen des Schlosses. Sie lagen dem Söller gegenüber und waren nach Süden gerichtet. Die Außenfenster mussten, aus Gründen der Sicherheit, klein sein, doch die Fenster, die in den Burghof blickten, waren groß und sonnig. In die Fensteröffnungen waren dicht nebeneinander vertikale Stäbe genagelt, jedoch keine horizontalen. Glasscheiben gab es nicht; um aber die Beizvögel vor Zugluft zu schützen, war Horn in den kleinen Fenstern. Am Ende der Käfigreihe befand sich eine kleine Feuerstelle, ein gemütliches Eckchen, ähnlich dem Platz im Sattelraum, wo die Stallknechte in feuchten Nächten nach der Fuchsjagd sitzen und die Geschirre reinigen. Hier waren ein paar Hocker, ein Kessel, eine Bank mit allen möglichen kleinen Messern und chirurgischen Instrumenten, sowie einige Regale mit Töpfen darauf. Die Töpfe waren mit Etiketten versehen: Cardamum, Ginger, Barley Sugar, Wrangle, for a Snurt, for the Craye, Vertigo etc. Häute hingen an den Wänden, aus denen man Stücke für Jesses (Fußriemen), Hauben und Leinen herausgeschnitten hatte. An Nägeln baumelten, ordentlich nebeneinander aufgereiht, Schellen und Drehringe und silberne varvels, alle mit eingraviertem »Ector«. Auf einem besonderen Bord, und zwar dem allerschönsten, standen die Hauben: ganz alte rissige rufter hoods, lange vor Kays Geburt gemacht, winzige Häubchen für die Merline, kleine Hauben für Terzel (männliche Falken), wunderhübsche neue Hauben, die an langen Winterabenden zum Zeitvertreib angefertigt worden waren. Alle Hauben, ausgenommen die rufters, trugen Sir Ectors Farben: weißes Leder mit rotem Fries an den Seiten und einem blaugrauen Federbusch obendrauf, der aus den Nackenfedern von Reihern bestand. Auf der Bank lag ein buntes Sammelsurium, wie man es in jeder Werkstatt findet: Schnüre, Draht, Werkzeug, Metallgegenstände, Brot und Käse, an dem die Mäuse sich gütlich getan hatten, eine Lederflasche, einige abgenutzte linke Stulphandschuhe, Nägel, Fetzen von Sackleinwand, ein paar Köder und etliche ins Holz geritzte Schriftzeichen und Kerben. Diese lauteten: Conays 11111111, Harn 111, usw. Die Rechtschreibung ließ zu wünschen übrig.

Die gesamte Länge des Raumes nahmen, von der Nachmittagssonne voll beschienen, die durch Sichtblenden getrennten Sitzstangen ein, an welche die Vögel gebunden waren. Da saßen zwei kleine Merline, Zwergfalken, die sich gerade erst vom Husten erholt hatten; ein alter Peregrin – wie man den Wanderfalken zuweilen nennt –, der in diesen bewaldeten Landstrichen von keinem großen Nutzen war, der Vollständigkeit halber jedoch weiterhin gehalten wurde; ein Turmfalke, an dem die Jungen die Anfangsgründe der Falknerei erlernt hatten; ein Sperber, den Sir Ector entgegenkommenderweise für den Priester des Kirchspiels hielt – und am äußersten Ende war, in einem eigenen Käfig, der Hühnerhabicht Cully.

Im Vogelstall herrschte peinliche Sauberkeit; auf dem Boden lag Sägemehl, um den Kot aufzunehmen, und das Gewölle wurde jeden Tag entfernt. Sir Ector besuchte die Käfige jeden Morgen um sieben Uhr, und die beiden austringers vor der Tür standen stramm. Wenn sie vergessen hatten, sich die Haare zu bürsten, bekamen sie Hausarrest. Um die Jungen kümmerten sie sich nicht.

Kay zog einen der linken Stulphandschuhe an und lockte Cully von der Stange – Cully jedoch, dessen Gefieder glatt und feindselig anlag, betrachtete ihn unverwandt mit einem bösen, blumengelben Auge und weigerte sich zu kommen. Da nahm Kay ihn auf.

»Meinst du, wir sollten ihn fliegen lassen?«, fragte Wart unschlüssig. »Mitten in der Mauser?«

»Natürlich können wir ihn fliegen lassen, du Hasenherz«, sagte Kay. »Er möcht bloß ein bisschen getragen werden, sonst nichts.«

So gingen sie denn übers Heufeld, wo das sorgfältig zusammengeharkte Gras wieder nass geworden war und an Güte verlor, ins Jagdrevier hinaus, das anfangs spärlich mit Bäumen bewachsen war, parkähnlich, allmählich jedoch in dichten Wald überging. Unter diesen Bäumen waren Hunderte von Kaninchenhöhlen, und zwar eine neben der anderen, sodass es nicht darum ging, ein Karnickel zu finden, sondern eines, das weit genug von seinem Loch entfernt war.

»Hob sagt, wir dürften Cully nicht fliegen lassen, bis er nicht mindestens zweimal aufgejagt hat«, sagte Wart.

»Hob hat keine Ahnung. Niemand kann sagen, ob ein Habicht flugfähig ist – außer dem Mann, der ihn trägt.«

»Hob ist ja sowieso bloß ein Leibeigner«, fügte Wart hinzu und löste die Leine und den Haken vom Geschirr.

Als Cully merkte, dass ihm die Fesseln abgenommen wurden, sodass er jagdbereit war, machte er einige Bewegungen, als wollte er auffliegen. Er sträubte den Schopf, die Schwungfedern und das weiche Schenkelgefieder. Im letzten Augenblick indes besann er sich eines anderen und unterließ das Rütteln. Als Wart die Bewegungen des Habichts sah, hätte er ihn nur allzu gerne abgetragen. Am liebsten hätte er ihn Kay fortgenommen und selber vorbereitet. Er war sicher, Cully in die rechte Laune versetzen zu können, indem er ihm die Fänge kraulte und das Brustgefieder spielerisch und sanft nach oben strich. Wenn er’s doch nur alleine machen könnte, statt mit diesem dämlichen Köder hinterdrein stapfen zu müssen. Aber er wusste, wie lästig es dem älteren Jungen sein musste, ständig mit Ratschlägen geplagt zu werden, und deshalb schwieg er. Wie man heutzutage beim Schießen nie den Mann kritisieren darf, der das Kommando hat, so war’s bei der Beiz sehr wichtig, dass kein Rat von außen den Falkonier irritierte.

»So–ho!«, rief Kay und reckte seinen Arm empor, um dem Habicht einen besseren Start zu geben, und vor ihnen hoppelte ein Kaninchen über den abgenagten Rasen, und Cully war in der Luft. Die Bewegung kam für alle drei überraschend: für Wart und für das Kaninchen und für den Habicht, und alle drei waren einen Augenblick lang verblüfft. Dann begann der fliegende Mörder mit den mächtigen Schwingen zu rudern, doch zögernd und unentschlossen. Das Kaninchen verschwand in einem unsichtbaren Loch. Der Habicht stieg auf, schwebte wie ein Kind auf der Schaukel hoch in der Luft, legte dann die Flügel an und stieß nieder und hockte sich in einen Baum. Cully blickte auf seine Herren herab, öffnete ob seines Versagens mürrisch den Schnabel und verharrte reglos. Die beiden Herzen standen still.

KAPITEL 2

Eine geraume Weile später, als sie den verstörten und verdrossenen Habicht genug gelockt und herbeigepfiffen hatten und ihm von Baum zu Baum gefolgt waren, verlor Kay die Geduld.

»Lass ihn sausen«, sagte er. »Der taugt sowieso nichts.«

»Aber wir können ihn doch nicht so einfach dalassen!«, sagte Wart. »Was wird denn Hob dazu sagen?«

»Es ist mein Falke, nicht Hob seiner«, rief Kay wütend. »Wen interessiert’s, was Hob sagt? Hob ist ja nur ein Bediensteter.«

»Aber Hob hat ihn abgerichtet. Wir können ihn getrost verlieren, weil wir nicht drei Nächte lang mit ihm aufbleiben mussten, ihn nicht tagelang abgetragen haben und all das. Aber Hobs Habicht dürfen wir nicht verlieren. Das wäre gemein.«

»Geschieht ihm recht. Hob ist ein armer Irrer, und Cully ist ein versauter Beizvogel. Wer will so einen versauten dämlichen Habicht? Wenn dir so viel daran liegt, dann bleib mal lieber hier. Ich geh heim.«

»Ich bleibe hier«, sagte Wart traurig, »wenn du Hob herschickst, sobald du zu Hause bist.«

Kay marschierte in die falsche Richtung los, vor Wut bebend, weil er genau wusste, dass er den Vogel zur Unzeit hatte fliegen lassen, und Wart musste ihm nachrufen und ihn auf den rechten Weg weisen. Dann setzte dieser sich unter den Baum und blickte zu Cully hinauf wie eine Katze, die einen Spatzen beobachtet, und sein Herz klopfte heftig.

Für Kay spielte es ja vielleicht keine Rolle, denn der machte sich aus der Falknerei nur insofern etwas, als es die angemessene Beschäftigung für einen Jungen seines Alters und Herkommens war; doch Wart empfand wie ein richtiger Falkonier und wusste, dass ein verlorener Beizvogel die denkbar größte Kalamität war. Er wusste, dass Hob vierzehn Stunden täglich mit Cully gearbeitet hatte, um ihm sein Handwerk beizubringen, und dass seine Arbeit dem Kampf Jakobs mit dem Engel geglichen hatte. Wenn Cully verloren war, würde auch ein Teil von Hob verloren sein. Er wagte nicht, an den vorwurfsvollen Blick zu denken, mit dem ihn der Falkner ansehen würde – nach allem, was er sie gelehrt hatte.

Was sollte er tun? Am besten blieb er still sitzen und ließ den Köder auf der Erde liegen, damit Cully sich die Sache überlegen und herunterkommen konnte. Dazu aber verspürte Cully nicht die geringste Neigung. Am Abend zuvor hatte er eine reichliche Mahlzeit bekommen, sodass er nicht hungrig war. Der heiße Tag hatte ihn in üble Laune versetzt. Das Wedeln und Pfeifen der Jungen unten und die Verfolgung von Baum zu Baum – das alles hatte ihn, der ohnehin nicht allzu intelligent war, ziemlich durcheinandergebracht. Jetzt wusste er nicht recht, was er tun sollte. Auf keinen Fall das, was die anderen wollten. Vielleicht wäre es nett, irgendetwas zu töten. Aus Trotz.

Etliche Zeit später befand Wart sich am Rande des richtigen Waldes, und Cully war drin. Jagend und fliehend waren sie ihm immer näher gekommen – so weit vom Schloss entfernt, wie der Junge noch nie gewesen war –, und nun hatten sie ihn tatsächlich erreicht.

Heutzutage würde Wart vor einem englischen Wald keine Angst haben, doch der große Dschungel von Old England war etwas anderes. Hier gab es riesige Wildschweine, die um diese Jahreszeit mit ihren Hauern den Boden aufbrachen, und hinter jedem Baum konnte einer der letzten Wölfe mit blassen Augen und geifernden Lefzen lauern. Aber die wilden und bösen Tiere waren nicht die einzigen Bewohner dieser unheimlichen Düsternis. Auch böse Menschen suchten hier Zuflucht; Geächtete, die ebenso verschlagen und blutrünstig waren wie die Aaskrähen – und ebenso verfolgt. Besonders dachte Wart an einen Mann namens Wat, mit dessen Namen die Dörfler ihre Kinder zu ängstigen pflegten. Er hatte einst in Sir Ectors Dorf gelebt, und Wart erinnerte sich seiner. Er schielte, hatte keine Nase und war nicht recht bei Trost. Die Kinder warfen mit Steinen nach ihm. Eines Tages setzte er sich zur Wehr, packte ein Kind, machte ein schnarrendes Geräusch und biss ihm tatsächlich die Nase ab. Dann lief er in den Wald. Jetzt warfen sie mit Steinen nach dem Kind ohne Nase, aber Wat sollte sich noch immer im Wald aufhalten, auf allen vieren laufen und in Felle gekleidet sein.

Auch Zauberer befanden sich in jenen legendären Tagen im Wald, dazu seltsame Tiere, von denen die modernen naturgeschichtlichen Werke nichts wissen. Es gab reguläre Banden von geächteten Saxen, die – im Gegensatz zu Wat – zusammenlebten und Grün trugen und mit Pfeilen schossen, welche niemals fehlgingen. Sogar Drachen gab es noch; es waren kleine, die unter Steinen hausten und zischen konnten wie ein Kessel.

Hinzu kam der Umstand, dass es dunkel wurde. Im Wald war weder Weg noch Steg, und niemand im Dorf wusste, was auf der anderen Seite war. Das abendliche Schweigen senkte sich hernieder, und die hohen Bäume standen lautlos da und blickten auf Wart herab.

Er hatte das Gefühl, es sei das Beste, jetzt nach Hause zu gehen, solange er noch wusste, wo er war – aber er hatte ein tapferes Herz und wollte nicht klein beigeben. Eins war ihm klar: Wenn Cully erst einmal eine ganze Nacht in Freiheit geschlafen hatte, dann war er wieder wild und unverbesserlich. Cully war kein Standvogel. Wenn der arme Wart ihn nur dazu bringen könnte, auf einem bestimmten Baum zu bleiben, und wenn Hob nur mit einer kleinen Laterne kommen wollte, dann könnten sie vielleicht noch auf den Baum klettern und ihn einfangen, solange er schläfrig und vom Licht benebelt war. Der Junge konnte ungefähr sehen, wo der Habicht sich niedergelassen hatte, etwa hundert Schritt im dichten Wald, da dort die heimkehrenden Saatkrähen tobten.

Er kennzeichnete einen der Bäume am Waldrand, in der Hoffnung, hierdurch leichter den Rückweg zu finden, und arbeitete sich dann durchs Unterholz. An den Krähen hörte er, dass Cully sich sofort entfernte.

Die Nacht brach herein, während der Junge sich durchs Gestrüpp kämpfte. Verbissen ging er weiter und horchte angespannt, und Cullys Fluchtflüge wurden müder und kürzer, bis er endlich, ehe es gänzlich dunkel war, in einem Baum über sich die gekrümmten Schultern vor dem Himmel sehen konnte. Wart setzte sich unter den Baum, um den Vogel nicht beim Einschlafen zu stören, und Cully stand auf einem Bein und ignorierte seine Gegenwart.

Vielleicht, so sagte Wart bei sich, vielleicht kann ich – auch wenn Hob nicht kommt, und ich weiß wirklich nicht, wie er mir in dieser unwegsamen Waldgegend folgen soll –, vielleicht kann ich gegen Mitternacht auf den Baum klettern und Cully herunterholen. Gegen Mitternacht müsste er schlafen. Ich werde ihn sanft mit Namen nennen, sodass er denkt, es sei nur der gewohnte Mensch, der ihn aufnimmt, während er unter der Haube steckt. Ich werd ganz leise klettern müssen. Wenn ich ihn dann habe, muss ich den Heimweg finden. Die Zugbrücke ist hoch. Aber vielleicht wartet jemand auf mich, denn Kay wird ihnen erzählt haben, dass ich noch draußen bin. Welchen Weg bin ich bloß hergekommen? Ich wollte, Kay wär nicht weggegangen.

Er kauerte sich zwischen die Baumwurzeln und versuchte, eine bequeme Stelle zu finden, wo ihm das harte Holz nicht zwischen die Schulterblätter stach.

Ich glaube, dachte er, der Weg ist hinter der Fichte mit der stachligen Spitze. Ich hätte mir merken sollen, auf welcher Seite von mir die Sonne untergegangen ist; wenn sie aufgeht, wäre ich auf derselben Seite geblieben und hätte nach Hause gefunden. Bewegt sich dort etwas, da unter der Fichte? Ach, hoffentlich begegne ich nur nicht dem alten wilden Wat, damit der mir nicht die Nase abbeißt! Zum Verrücktwerden: wie Cully da auf einem Bein steht und so tut, als wäre überhaupt nichts.

In diesem Augenblick ertönte ein Surren und ein leichtes Klatschen, und Wart entdeckte, dass zwischen den Fingern seiner rechten Hand ein Pfeil im Baumstamm steckte. Er riss seine Hand zurück, in der Meinung, etwas habe ihn gestochen, ehe er merkte, dass es ein Pfeil war. Dann ging alles langsam. Er hatte Zeit, recht genau festzustellen, was für ein Pfeil es war und dass er drei Zoll tief in dem festen Holz steckte. Es war ein schwarzer Pfeil mit gelben Ringen, einer Wespe ähnlich, und seine Hauptfeder war gelb. Die beiden anderen waren schwarz. Es waren gefärbte Gänsefedern.

Wart entdeckte, dass ihn die Gefahren des Waldes geängstigt hatten, ehe dies geschehen war, dass er jetzt aber, da er drin war, keine Angst mehr fühlte. Geschwind stand er auf – es kam ihm langsam vor – und ging hinter den Baum. Ein zweiter Pfeil kam angeschwirrt, doch der grub sich bis zu den Federn ins Gras und stand still, als hätte er sich nie bewegt.

Auf der anderen Seite des Baumes fand er ein sechs Fuß hohes Farngestrüpp. Das war eine ausgezeichnete Deckung, doch durch das Rascheln verriet er sich. Er hörte einen neuen Pfeil durch die Farnwedel zischen und eine Männerstimme fluchen, aber nicht sehr nahe. Dann hörte er den Mann, oder was es war, durchs Farnkraut stöbern. Er mochte wohl keine Pfeile mehr abschießen, weil sie kostbar waren und im Dickicht sicherlich verlorengingen. Wart bewegte sich wie eine Schlange, wie ein Kaninchen, wie eine lautlose Eule. Er war klein, und der Angreifer hatte keine Chance mehr. Fünf Minuten später war er in Sicherheit.

Der Mörder suchte nach seinen Pfeilen und trollte sich brummelnd – aber Wart stellte fest, dass er zwar dem Bogenschützen entkommen war, jedoch die Orientierung verloren hatte und seinen Habicht. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Eine halbe Stunde blieb er unter dem umgestürzten Baum liegen, unter den er sich verkrochen hatte, damit der Mann endgültig verschwand und sein Herz zu hämmern aufhörte. Es hatte wie wild zu klopfen angefangen, sobald ihm bewusst wurde, dass er entkommen war.

Ach, dachte er, jetzt hab ich mich vollends verirrt, und nun bleibt mir wohl keine andere Wahl, als mir die Nase abbeißen zu lassen – oder ich werde von so einem Wespen-Pfeil durchbohrt, oder ich werde von einem zischenden Drachen gefressen oder von einem Wolf oder einem wilden Eber oder einem Zauberer – falls Zauberer kleine Jungen fressen, was sie ja wohl tun. Jetzt kann ich ruhig wünschen, ich wäre artig gewesen und hätte die Gouvernante nicht geärgert, wenn sie mit ihrem Astro-Kram durcheinanderkam, und hätte meinen guten Vormund Sir Ector mehr geliebt, wie er’s verdient.

Bei diesen trübsinnigen Gedanken, und besonders bei der Erinnerung an den freundlichen Sir Ector mit seiner Heugabel und seiner roten Nase, füllten sich die Augen des armen Wart mit Tränen, und in tiefer Trostlosigkeit lag er unter dem Baum.

Die letzten langen Abschiedsstrahlen der Sonne waren längst verschwunden, und der Mond erhob sich in ehrfurchtgebietender Majestät über die silbernen Baumwipfel. Dann erst wagte er sich aus seinem Versteck hervor, stand auf, strich sich die Ästchen vom Anzug und machte sich auf den Weg. Er ging ohne Richtung, immer dort, wo es am leichtesten war, und vertraute auf Gottes Beistand. Eine halbe Stunde vielleicht war er so durch den Wald geirrt – und bisweilen ganz fröhlich, denn es war angenehm kühl und sehr hübsch im Sommerwald bei Mondschein –, da stieß er auf das Schönste, was er in seinem kurzen Leben bisher gesehen hatte.

Eine Lichtung tauchte im Wald auf, eine ausgedehnte Blöße mit vom Mond beschienenem Gras, und die weißen Strahlen fielen voll auf die Bäume am gegenüberliegenden Waldrand. Es waren Birken, deren Stämme in perlfarbenem Licht stets am schönsten sind, und inmitten der Birken rührte sich etwas, kaum wahrnehmbar, und ein silbernes Klingen ertönte. Bis zu dem Klingen waren nur die Birken da, doch gleich darauf stand dort ein Ritter in voller Rüstung zwischen den stolzen Stämmen, still und stumm und überirdisch. Er saß auf einem gewaltigen weißen Ross, das so reglos verharrte wie sein Reiter, und in der rechten Hand hielt er eine lange glatte Turnierlanze; ihr Schaft ruhte im Steigbügel, und sie ragte steil zwischen den Baumstämmen auf, höher und höher, bis sie sich vom samtenen Himmel abhob. Alles war Mondschein, alles Silber, unbeschreiblich schön.

Wart wusste nicht, was tun. Er wusste nicht, ob es geraten war, zu diesem Ritter hinzugehen; denn es gab derart viele Schrecknisse im Wald, dass sich sogar der Ritter als Geist erweisen mochte. Geisterhaft sah er aus, in der Tat, wie er dort verharrte und über die Grenzen des Dunkels meditierte. Schließlich kam der Junge zu dem Schluss: Auch wenn es ein Geist war, war’s der Geist eines Ritters, und Ritter waren durch ihr Gelübde verpflichtet, Menschen in Bedrängnis zu helfen.

»Verzeihung«, sagte er, als er dicht unter der geheimnisvollen Gestalt stand, »könntet Ihr mir wohl sagen, wie ich wieder zu Sir Ectors Schloss komme?«

Der Geist schreckte auf, sodass er fast vom Pferd gefallen wäre, und ließ durch sein Visier ein gedämpftes Blaaah ertönen wie ein Schaf.

»Verzeihung«, fing Wart von neuem an – da verschlug’s ihm die Sprache.

Denn der Geist hob sein Visier und ließ zwei riesengroße, wie zu Eis gefrorene Augen sehen; mit ängstlicher Stimme rief er aus: »Was, was?« Dann nahm er seine Augen ab – eine Hornbrille, deren Gläser sich im Innern des Helms beschlagen hatten –, versuchte, sie an der Mähne des Pferdes abzuwischen, wodurch es nur noch schlimmer wurde, hob beide Hände über den Kopf, um sie an seinem Federbusch abzuwischen, ließ die Lanze fallen, ließ die Brille fallen, stieg vom Pferd, um sie zu suchen – im Verlaufe dieser Bemühungen klappte das Visier zu; er schob das Visier hinauf, bückte sich nach der Brille, wieder klappte das Visier zu, er richtete sich auf und äußerte mit kläglicher Stimme: »Ach, du meine Güte!«

Wart fand die Brille, wischte sie ab und überreichte sie dem Geist, der sie unverzüglich aufsetzte (das Visier klappte sogleich zu) und sich mühsam daranmachte, wieder sein Pferd zu besteigen. Als er endlich oben war, streckte er seine Hand aus, und Wart reichte ihm die Lanze hinauf. Dann, als alles seine Ordnung hatte, hob er mit der linken Hand das Visier, hielt es hoch, blickte auf den Jungen nieder – eine Hand war immer noch oben, wie bei einem verirrten Seemann, der nach Land Ausschau hält – und rief: »Ah–ha! Wen haben wir denn hier, was?«

»Bitte«, sagte Wart, »ich bin ein Junge, dessen Vormund Sir Ector ist.«

»Reizender Bursche«, sagte der Ritter. »Bin ihm nie im Leben begegnet.«

»Könnt Ihr mir sagen, wie ich zu seinem Schloss komme?«

»Blassen Schimmer. Selber fremd hier inner Gegend.«

»Ich hab mich verirrt«, sagte Wart.

»Sonderbare Geschichte. Bin seit siebzehn Jahren verirrt. – Bin König Pellinore«, fuhr der Ritter fort. »Hast vielleicht von mir gehört, was?« Mit einem Plumps ging das Visier zu, wie als Echo auf das »was?«, wurde jedoch sofort wieder geöffnet. »Siebzehn Jahre, kommenden Michaelis, und immer auf Aventiure, auf Queste, auf der Hohen Suche nach dem Biest. Äußerst langweilig. Äußerst.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Wart, der nie etwas von König Pellinore oder einem Aventiuren-Biest gehört hatte, es jedoch für angeraten hielt, etwas Unverfängliches zu erwidern.

»Ist die Auflage der Pellinores«, sagte der König stolz. »Nur ein Pellinore kann es fangen – oder einer seines Geschlechts. Erziehe alle Pellinores auf dieses Ziel hin. Ziemlich begrenzte Erziehung. Losung und all das.«

»Ich weiß, was das ist«, sagte der Junge interessiert. »Es ist der Kot des Tieres, das man verfolgt. Den hebt man im Horn auf, damit man ihn seinem Herrn zeigen kann, und außerdem kann man daran erkennen, ob’s ein jagdbares Tier ist oder nicht, und in welchem Zustand es sich befindet.«

»Intelligentes Kind«, bemerkte der König. »Äußerst. Ich schleppe praktisch die ganze Zeit Losung mit mir herum. – Ungesunde Angewohnheit«, fügte er hinzu und blickte niedergeschlagen drein. »Und völlig sinnlos. Nur ein Aventiuren-Tier, weißt du, da gibt’s keine Frage, ob jagdbar oder nicht.«

Jetzt hing das Visier so traurig nieder, dass Wart sich entschied, seine eigenen Sorgen zu vergessen und stattdessen den Ritter aufzuheitern, indem er ihm Fragen zu dem Thema stellte, dem er sich gewachsen fühlte. Sich mit einem verirrten König zu unterhalten, war immer noch besser, als allein im Wald zu sein.

»Wie sieht das Aventiuren-Tier aus?«

»Ah, wir nennen es das Biest Glatisant, weißt du«, erwiderte der Monarch; er setzte eine gelehrte Miene auf und begann, sich gewandt auszudrücken. »Also: Das Biest Glatisant oder, wie wir sagen, das Aventiuren-Tier – du kannst es so oder so nennen«, fügte er huldvoll hinzu –, »dieses Tier hat den Kopf einer Schlange, ah, und den Leib eines Pardels, die Keulen eines Löwen und die Läufe eines Hirschs. Wo dies Biest auch hinkommt – immer macht’s ein Geräusch im Bauch, wie das Geräusch von dreißig Koppeln Hunden auf der Hatz. – Außer an der Tränke, natürlich«, setzte der König hinzu.

»Muss ja ein schreckliches Ungeheuer sein«, sagte Wart und sah sich ängstlich um.

»Ein schreckliches Ungeheuer«, wiederholte der König. »Es ist das Biest Glatisant.«

»Und wie folgt Ihr ihm?«

Dies schien die falsche Frage zu sein, denn Pellinore blickte noch niedergeschlagener drein.

»Ich habe einen Schweißhund«, sagte er bekümmert. »Da ist er, dort drüben.«

Wart schaute in die Richtung, die ihm ein verzagter Daumen wies, und sah eine vielfach um einen Baum geschlungene Leine. Das eine Ende der Leine war an König Pellinores Sattel befestigt.

»Ich kann ihn nicht genau sehn.«

»Hat sich auf die andere Seite gewickelt, möchte ich annehmen. Strebt ständig in die entgegengesetzte Richtung.«

Wart ging zum Baum hinüber und fand einen großen weißen Hund, der Flöhe hatte und sich kratzte. Sobald er Warts ansichtig wurde, wedelte er mit dem ganzen Körper, grinste hohlmäulig und keuchte in dem Bemühen, ihm trotz der Leine das Gesicht zu lecken. Sie war so verheddert, dass er sich nicht bewegen konnte.

»Ist ein ganz brauchbarer Schweißhund«, sagte König Pellinore, »keucht nur so und wickelt sich dauernd um irgendwas rum und strebt ständig in die entgegengesetzte Richtung. Das und dann das Visier, was, da weiß ich manchmal nicht, wohin.«

»Warum lasst Ihr ihn denn nicht los?«, fragte Wart. »Der würd dem Biest schon auf der Fährte bleiben.«

»Dann geht er ab, verstehst du, und manchmal seh ich ihn eine ganze Woche nicht. – Wird ein bisschen einsam ohne ihn«, fügte der König hinzu, »immer auf der Hohen Suche nach dem Biest, und nie weiß man, wo man ist. Leistet einem ein bisschen Gesellschaft, weißt du.«

»Er scheint recht umgänglich zu sein.«

»Viel zu umgänglich. Manchmal zweifle ich, ob er dem Biest überhaupt auf der Fährte ist.«

»Was macht er denn, wenn er’s sieht?«

»Nichts.«

»Na ja«, sagte Wart. »Ich nehme an, im Lauf der Zeit wird er schon das richtige Gespür kriegen.«

»Es ist schon acht Monate her, seit wir das Biest überhaupt gesehen haben.«

Seit Beginn der Unterhaltung war die Stimme des armen Kerls immer trauriger und trauriger geworden, und jetzt fing er tatsächlich an zu schniefeln. »Es ist der Fluch der Pellinores«, rief er aus. »Immer und ewig hinter dem biestigen Biest her. Was soll’s, um alles in der Welt? Zuerst musst du halten, um den Hund abzuwickeln, dann fällt das Visier runter, dann kannst du nicht durch die Brillengläser sehn. Nie weiß man, wo man schlafen soll; nie weiß man, wo man ist. Rheumatismus im Winter, Sonnenstich im Sommer. Es dauert Stunden, in diese grässliche Rüstung zu steigen. Wenn sie an ist, kocht sie entweder oder friert fest, und rostig wird sie auch. Die ganze Nacht musst du dasitzen und das Zeug saubermachen und schmieren. Ach, ich wünsche mir so, ich hätt ein hübsches Häuschen, in dem ich wohnen könnte, ein Haus mit Betten drin und richtigen Kissen und Laken. Wenn ich reich wär, würd ich mir eins kaufen. Ein feines Bett mit einem feinen Kissen und einem feinen Laken, in dem man liegen kann. Und dann würd ich dies Biest von einem Gaul auf die Weide schicken, und dem Biest von einem Schweißhund würd ich sagen, er soll sich davonmachen und spielen, und diese biestige Rüstung würd ich aus dem Fenster werfen, und das biestige Biest würd ich sausenlassen: soll sich selber jagen – ja, das tät ich.«

»Wenn Ihr mir den Weg nach Hause zeigen könntet«, sagte Wart listig, »würde Sir Ector Euch bestimmt ein Bett für die Nacht geben.«

»Meinst du wirklich?«, rief der König. »Ein richtiges Bett?«

»Ein Federbett.«