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MALAIKA WA AZANIA
BORN FREE MEIN LEBEN
IM SÜDAFRIKA
NACH DER APARTHEID

MALAIKA WA AZANIA

BORN FREE MEIN LEBEN
IM SÜDAFRIKA
NACH DER APARTHEID

Aus dem Englischen von Antje Papenburg

Vorwort von Simphiwe Dana

Rotpunktverlag.

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel

Memoirs of a Born Free. Reflections on the Rainbow Nation

bei Jacana Media, Johannesburg.

Die vorliegende deutschsprachige Ausgabe erscheint
mit Genehmigung von Seven Stories Press, New York.

© 2014 Malaika Wa Azania

© 2016 Rotpunktverlag, Zürich (für die deutschsprachige Ausgabe)
www.rotpunktverlag.ch

Umschlagfoto: Keystone, Gallery Stock, Jens Goerlich

ISBN 978-3-85869-698-4

Inhalt

Vorwort

EINS BORN FREE? WIE ICH NACH DEM ENDE
DER APARTHEID IN DER
REGENBOGENNATION AUFWUCHS

Ein Brief an den ANC

Der Anfang

In Freiheit geboren

Bildung in der Township

Nur die Guten sterben früh

Die Letztgeborene der Revolution

Das hässliche Gesicht
der »Regenbogennation«

Flucht in die Welt der Bücher

Weiß werden will ich nicht

Meine erste Berührung mit der Zivilgesellschaft

Abkehr von der ANC-Bewegung

Die Kraft, die wir aus dem erniedrigenden Umstand der Armut schöpften

Eure Demokratie ist nur ein leeres Wort, wenn sogar medizinische Versorgung eine Ware ist

In tausend Teile zerbrochen

ZWEI EIN ENTFACHTES FEUER:
AUF DER SUCHE NACH
EINEM POLITISCHEN ZUHAUSE

Wie mich die Stellenbosch-Universität veränderte

Meine Erfahrungen mit der Black-Consciousness-Bewegung

Julius Malemas Einfluss

Einen Platz für den Panafrikanismus erstreiten

Malaika, Economic Freedom Fighter

EPILOG DER STIMMZETTEL,
DIE STIMME DES VOLKES

Glossar

Dank

Ich widme dieses Buch Mwalimu und Lalibela,
dem Sohn, den ich eines Tages zur Welt bringen
werde, und meiner Nichte, in deren Augen
ich die Möglichkeit eines freien Azania sehe …

Vorwort

Malaika hat mich auf eine Reise durch ihr Leben mitgenommen, und dabei habe ich meine eigenen Kämpfe und Auseinandersetzungen wiedererkannt – natürlich nicht in genau derselben Form, aber ähnlich. Ich hatte schon öfter das Vergnügen, mit Malaika über wichtige Aspekte der Rassenproblematik in Südafrika zu diskutieren. Ich habe noch nie eine so brillante junge Frau getroffen. Ich habe gesehen, wie sehr es sie frustriert hat, dass die Vision eines wahrhaftig freien Südafrika immer unerreichbarer zu werden schien. Ich habe miterlebt, wie sie gegen diejenigen ausgeteilt hat, die – hätten sie wirklich Südafrika und nicht nur ihr eigenes Interesse im Auge gehabt – Malaikas revolutionären Geist hätten fördern und eine wahre Hoffnungsträgerin in ihr hätten sehen sollen, statt sie für ihre eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Ich habe für sie geweint, als sie, von genau jenen manipuliert, auch gegen mich ausgeteilt hat. Manchmal wünschte ich mir, wir wären beide in den Siebzigern geboren worden, als dem Aufruf zur Veränderung mit Taten gefolgt wurde.

Lange Zeit haben wir Schwarze versucht, uns auf den Podien gegenseitig zu übertrumpfen, denn es gab nicht genug Platz dort oben, als dass wir alle hätten sprechen können. Ich fühlte mich immer fehl am Platz inmitten dieses grausamen Spiels, aber so ist das Ego nun mal; und noch schlimmer ist es, wenn das Ego so lange Zeit unterdrückt wurde. Ich habe beobachtet, wie diese Kult- und Ego-Politik, die Malaika beschreibt, sich immer mehr ausgebreitet hat. Ich habe mich immer mehr davon distanziert, bis ich mich schließlich so weit zurückgezogen hatte, dass ich allein war und mich nach politischer Kameradschaft sehnte. Lange Zeit war das Wort Politik für mich etwas Schmutziges. Ich hatte Angst, es würde mich korrumpieren, weil ich miterlebt hatte, was denjenigen passiert war, die sich auf die Politik eingelassen hatten.

Obwohl Malaika ihr Buch mit einem hoffnungsvollen Blick auf die Zukunft beendet, kann ich in ihren Worten keine Hoffnung finden – nur eine einsame junge Frau, die weiß, was es zu tun gilt, die für ihre Ideale in dieser Welt aber keinen Platz findet. »Afrika frisst seine Kinder« – diese Worte gehen mir immer wieder durch den Kopf, während ich ein paar vorsichtige Schritte in Richtung ihrer Gedankenwelt wage, bedacht darauf, nichts zu durcheinanderzubringen, kein Chaos anzurichten. Doch genau das passiert. Ich erinnere mich auf einmal daran, dass ich das Afrika bin, von dem ich rede. Dass ich allein bin, liegt nur an meiner Betrachtungsweise, und wenn ich die Sache aus einem anderen Blickwinkel anschaue, dann sehe ich, wie Afrika ungeduldig auf uns wartet. Ob wir wollen oder nicht, unser Kontinent verlangt von uns, dass wir die Dinge selber in die Hand nehmen. Denn wir sind die Veränderung.

Wenn ich es so betrachte, dann bin ich nicht allein, sondern dann sind wir viele. Und ich verstehe, dass unser Kampf einem Nebel gleicht, in dem wir blind umhertappen. Nichts ist mehr so klar, wie es für die Jugend in den Siebzigern war. Dennoch müssen wir einen Weg hindurch finden und dabei aufpassen, dass wir nicht über unseren eigenen Enthusiasmus stolpern. Von Zeit zu Zeit ist der Nebel so dicht, dass wir nicht mehr vorwärtsstürmen können, sondern auf allen vieren kriechen müssen. Unsere Ungeduld quält uns. Es ist ein langer Weg. Vor einiger Zeit habe ich gelernt, dass man dieses Neuland nur mit Geduld erforschen kann. Und auf diesem unmarkierten Pfad sind mir tatsächlich Gleichgesinnte begegnet. Viele, für die ich früher nur Verachtung übrig hatte, weil sie mir zu langsam, nicht radikal genug waren. In diesem Nebel muss man mit offenen Augen träumen. Man muss offen sein für eine andere, unbekannte Landschaft, und man muss darauf gefasst sein, dass man sich streckenweise blind vorantasten muss.

Wir können aus der Vergangenheit lernen, aber die Lösungen von damals passen nicht mehr zu den heutigen Herausforderungen. Die Spielregeln haben sich geändert, und das bedeutet, dass auch wir uns ändern müssen, wenn wir uns nicht nur für unser Land, sondern für den ganzen Kontinent einsetzen und unseren Platz unter der Sonne finden wollen. Die heutigen Zeiten haben uns Demut gelehrt. Der Feind trägt unser Gesicht, um uns alle zu verwirren. Es ist ein langer Weg. Also komm, meine kleine Schwester, lass uns diesen Weg gehen. Es gibt keinen Grund, sich zu beeilen; denn nur umso schneller wird dir die Luft ausgehen. Teile die Last, die du auf deinen Schultern trägst, mit anderen. Teile deine Ängste – du bist nicht allein. Erst am Ende unseres Lebens werden wir sehen können, dass unsere Mühen und unsere Arbeit jeden Tag Früchte getragen haben. Es ist der Nebel, der uns durcheinanderbringt, der uns dazu verführt, im Kreis zu gehen. Doch Afrika wird jeden Tag ein bisschen freier – dank dir und dank mir. Halte einen Moment inne und denk darüber nach. Und wo du schon dabei bist, sieh dich um und bewundere die Schönheit, die uns umgibt: Die weitläufigen Berge und die grünen Täler, sie gehören uns, und jeden Tag erobern wir ein kleines bisschen mehr davon zurück, und sei es auch nur in der Überzeugung unserer Worte. Wir sind nicht mehr länger Fremde in unserer eigenen Heimat. Und wir werden auch nie wieder Fremde sein. Eines Tages wirst du das sehen, und dann wird sich ein echtes Lächeln auf deinem Gesicht ausbreiten. Begleite mich auf dieser Reise.

Simphiwe Dana

EINS BORN FREE? WIE ICH NACH DEM ENDE DER APARTHEID IN DER REGENBOGENNATION AUFWUCHS

 

Ein Brief an den ANC

Seit ich ein kleines Mädchen war, aufgewachsen in den staubigen Straßen von Meadowlands, wollte ich einen Brief an den Afrikanischen Nationalkongress, den ANC, schreiben, um ihm für seine Rolle im Befreiungskampf Dank auszusprechen. Aber ich wollte auch gern einige Probleme ansprechen, die mit Dank nichts zu tun haben. Ich wollte dem ANC erzählen, wie das Leben in der Township wirklich ist. Besonders lag mir am Herzen, dem ANC zu beschreiben, wie es sich angefühlt hat, von einer Schule in der Township auf eine der früher so genannten Model-C-Schulen zu wechseln, die während der Apartheid den Weißen vorbehalten waren – und die immer noch Hochburgen der Klassen- und Rassendiskriminierung sind.

Der einzige Grund, warum ich den Brief bisher noch nicht geschrieben habe, war die Wut, die mich jedes Mal überkam, wenn ich versuchte, meine Gedanken auf Papier zu bannen. Diese Wut war destruktiv, und sie raubte mir jegliche Energie. Ich wusste, wenn ich den Brief in einer solchen Gemütsverfassung schreiben würde, dann könnte unmöglich etwas Konstruktives dabei herauskommen. Also wartete ich darauf, dass die Wut abebbte und ich meine Gedanken aufschreiben konnte, ohne unnötig viele gehässige und böse Worte zu verwenden. Und jetzt bin ich endlich bereit, darüber zu reden, wie das wahre Gesicht der Regenbogennation aussieht und was es wirklich mit der sogenannten verlorenen Generation auf sich hat.

Ich habe viele Leute von der »verlorenen Generation« und den »in Freiheit Geborenen« reden hören. Kinder, die in den frühen Neunzigern geboren wurden, gehören zur Generation »Born Free«, der Generation, die nach dem Ende der Apartheid zur Welt gekommen ist. Ein Kind mit Jahrgang 1994 soll demnach in Zeiten der Gleichberechtigung zur Welt gekommen sein, in denen es keine Rassendiskriminierung mehr gibt. Ich wurde 1991 geboren, genau zwei Jahre und sechs Monate bevor in Südafrika die ersten demokratischen Wahlen abgehalten wurden. Als ich auf die Welt kam, waren der ANC und andere politische Organisationen nicht mehr verboten. Politische Gefangene, darunter Nelson Mandela, später der erste demokratisch gewählte Präsident unseres Landes, waren freigelassen worden. Es wurde nicht mehr mit Waffen gekämpft, stattdessen liefen die Verhandlungen über eine neue demokratische Regierungsform. Es war eine Zeit des relativen Friedens nach vielen Jahrzehnten endlosen Krieges und Leides. Und so gehöre ich auch zur Generation »Born Free«, ein problematischer Begriff, erfunden von denen, die verhindern möchten, dass unser Volk sich der wahren Folgen von Kolonialismus und Apartheid bewusst wird.

Viele möchten uns glauben machen, dass das, was 1994 passiert ist, eine Revolution war, doch das ist weit von der Wahrheit entfernt. Das bestehende System hätte vollständig vernichtet werden müssen, damit von einer Revolution überhaupt die Rede hätte sein können. Wirtschaft und Politik einer Gesellschaft, die eine Revolution durchlebt hat, müssten das komplette Gegenteil dessen sein, was die vorherige Herrschaft ausgemacht hat. Aber so etwas ist in Südafrika nicht passiert, wo das gesamte System, das die Apartheidregierung am Leben hielt, immer noch existiert und immer noch unser Land prägt. Dieses System ist der Kapitalismus, ein brutales System, das sich nur halten kann, indem die Mehrheit von einer Elite unterdrückt wird, die im Besitz der Produktionsmittel ist: in erster Linie Land. Es ist ein System, das ein Reservoir an Lohnarbeitern erfordert, die ausgebeutet werden, um einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Es ist ein System, das einen Wohlfahrtsstaat schafft, damit die Armen immerfort in der Schuld des Staates stehen, der sie ernährt. Es ist ein System, das sich gegen die Armut und gegen die Mehrheit richtet. Und in Südafrika richtet es sich obendrein gegen Schwarze. Was Privilegien und Armut angeht, besteht die Rassentrennung trotz des politischen Umbruchs von 1994 nach wie vor: Erstere sind weiß, und Letztere sind schwarz.

Das Südafrika, das wir heute sehen, ist einfach nur eine andere Version des Südafrika von gestern. Es ist ein Südafrika, in dem Rassismus und Rassendiskriminierung weder mit Gewalt im engsten Wortsinne durchgesetzt werden, noch sind sie Bestandteil unserer Verfassung, wie es während des Apartheidregimes der Fall war. Rassismus und Rassendiskriminierung sind mittlerweile institutionalisiert; sie sind die Fäden in dem Netz, aus dem die südafrikanische Gesellschaft geknüpft ist.

Diejenigen von uns, die das unglückliche »Privileg« genießen durften, eine ehemalige Model-C-Schule nach der Rassenintegration zu besuchen, haben selber erlebt, was institutionalisierter Rassismus wirklich bedeutet. Tag für Tag waren wir mit der Überlegenheit der Weißen konfrontiert. Rassismus ist institutionalisiert, wenn ein schwarzes Kind in aller Herrgottsfrühe aufstehen muss, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer »guten« Model-C-Schule zu kommen, während ein weißes Kind nur ein paar Meter gehen muss oder von einem Chauffeur in einem Auto deutschen Fabrikats dorthin gebracht wird. Institutionalisierter Rassismus zeigt sich auch darin, dass in den Grundschulen keine einheimischen afrikanischen Sprachen gelehrt werden, sondern Schülerinnen und Schüler nur Englisch und Afrikaans lernen dürfen, was nur ihre Dritt- bzw. Viertsprache ist. Wenn diese Jugendlichen in die zehnte Klasse kommen und endlich eine der afrikanischen Sprachen als Fach wählen dürfen, sind sie schon so sehr von Englisch und Afrikaans geprägt, dass sie sich nicht mehr für afrikanische Sprachen interessieren oder dass sie gar befürchten, sie könnten durchfallen, wenn sie diese Fächer wählen. Institutionalisierter Rassismus ist es auch, wenn die Intelligenz eines schwarzen Kindes daran gemessen wird, wie gut es sich in Englisch ausdrücken kann, wohingegen die Intelligenz eines weißen Kindes nicht daran gemessen wird, wie gut es Sesotho oder isiXhosa beherrscht. Institutionalisierter Rassismus zeigt sich darin, dass die Zukunft eines schwarzen Kindes davon abhängt, wie gut es Macbeth versteht, eine Geschichte, die mit seinen eigenen Erfahrungen und seiner Welt rein gar nichts zu tun hat. In unseren Schulen wird kaum afrikanische Literatur gelehrt. Auf unseren Literaturlisten sucht man Ngũgĩ wa Thiong’o vergebens. Auch Dambudzo Marechera, Mariama Bâ, Onkgopotse Tiro oder Tsitsi Dangarembga wird man dort nicht finden. Es gibt keine Bücher auf dem Lehrplan, die die Realität der Schwarzen in Südafrika widerspiegeln. Institutionalisierter Rassismus ist es, wenn Schulen in Townships keine Labore und keinen Computerunterricht haben, während Schüler in Model-C-Schulen über unbegrenzten Zugang zu Computern, Mediatheken und hervorragend ausgestatteten Bibliotheken verfügen. Institutionalisierter Rassismus drückt sich darin aus, dass diese Schüler, die Zugang zu all diesen tollen Möglichkeiten hatten, dann von Universitäten aufgenommen werden, wohingegen schwarzen Schülern die Chancen auf eine höhere Ausbildung verwehrt werden. Institutionalisierter Rassismus ist auch, wenn traditionell »schwarze« Hochschulen, wie die Walter-Sisulu-Universität, keine weiteren Fördergelder erhalten und kurz vor dem finanziellen Kollaps stehen, während die Elfenbeintürme der weißen Elite, wie die Rhodes-Universität, weiterhin einen verschwenderischen Reichtum zur Schau stellen und wie Privatschulen funktionieren. Institutionalisierter Rassismus ist die legalisierte Form einer modernen Apartheid. Und es ist eine Form von Apartheid, welcher die angeblich in Freiheit geborene Generation sich unterordnen muss.

Der Kampf der Generationen vor uns war zu seiner Zeit ein Kampf für politische Freiheit. Er war ein Kampf um grundlegende Menschenrechte, unter anderem das Recht des Volkes, sich selbst zu regieren. Es war absolut notwendig, dass dieser Kampf geführt wurde, denn ohne Demokratie sind weder Revolution noch Reform möglich. Demokratie ohne politische Freiheit kann es nicht geben, aber politische Freiheit ist nicht das ultimative Ziel einer Revolution. Das ultimative Ziel ist ökonomische Befreiung, die Befreiung des Volkes aus den Zwängen einer ungerechten Wirtschaftsordnung. Aber unser Volk liegt immer noch in Ketten. Was also an dieser Generation ist »frei«? Wie können wir »in Freiheit geboren« sein, wenn unsere Generation in Wirklichkeit während eines Kampfes um wirtschaftliche Befreiung zur Welt kam, zu einer Zeit, in der die Ziele der Afrikanischen Renaissance verfolgt werden müssen? Ich bin zwar nicht in jenen Jahrzehnten geboren, in denen die Apartheid in der Verfassung verankert war, aber ich bin immer noch das Produkt einer Ära einer systematischen, individualisierten und institutionalisierten Apartheid. Also bin ich oder sind die, die nach mir geboren wurden, in keiner Weise frei. Meine Geschichte spiegelt nicht die Freiheit wider, von der Politiker in ihren romantischen Reden sprechen. Vielmehr handelt meine Geschichte vom Kampf um Freiheit und von der Befreiung aus der geistigen Sklaverei. Und sie beginnt in Soweto …

Der Anfang

Mein Name ist Malaika Lesego Samora Mahlatsi. Ich bin vor zweiundzwanzig Jahren, am 19. Oktober, an einem warmen, regnerischen Vormittag, in der Meadowlands Community Clinic zur Welt gekommen – am selben Tag, an dem meine Mutter zwanzig Jahre alt wurde. Ihr Name ist Dipuo Mahlatsi, und bis vor ungefähr zehn Jahren hat sie ihr ganzes Leben euch, dem ANC, gewidmet. Wie ich ist sie in der Township Soweto geboren, während einer Zeit, in der Kindern keine Kindheit vergönnt war.

Dipuos Mutter, Matshediso Mahlatsi, hatte ihren Heimatort Parys in der Provinz Freistaat als junges Mädchen verlassen. Da ihre Familie sehr arm war, konnte meine Großmutter nicht zur Schule gehen und hat deshalb keine Bildung genossen. Wie die meisten jungen Frauen in den Paryser Arbeiterfamilien musste sie sich um die Kinder der vielen Tanten und Onkel kümmern, die alle mit im Haus lebten, während die Erwachsenen in den Häusern und Gärten der weißen Familien arbeiteten. Sie kochte, machte sauber, wusch die Wäsche. Die junge Frau, die damit sozusagen in ihrem eigenen Haus eingesperrt war, ohne Aussicht darauf, dass sie einmal etwas anderes als eine Bedienstete sein würde, traf die mutige Entscheidung, das monotone Leben in Parys hinter sich zu lassen und stattdessen ihr Glück in Johannesburg zu versuchen. Gegen Ende der Sechziger verabschiedete sich meine Großmutter von ihrer nicht gerade erfreuten Familie und stieg allein und verängstigt in den Zug nach Johannesburg. In dieser Stadt sollte sie den Rest ihres Lebens verbringen.

Meine Großmutter hat mir oft erzählt, wie sie ihre ersten Tage in der Stadt erlebt hat. Sie erinnert sich immer noch daran, als ob es erst gestern gewesen wäre. Das erste Anzeichen dafür, dass der Zug in Johannesburg angekommen war, sei der Geruch von arbeitenden Männern gewesen. Männern, die unter Tage nach Gold gruben – Gold, das ihnen niemals selber gehören würde. Männern, die Gärten pflanzten und bewässerten – Gärten von Häusern, die sie niemals betreten durften. Und Männern, die durch die Straßen hetzten, um den unbarmherzigen weißen Polizisten zu entkommen.

Johannesburg, so erinnert sie sich, war ein regelrechter Betondschungel. Als sie in der Stadt ankam, war meine Großmutter völlig allein. Irgendwo in Soweto hatte sie Verwandte, aber wo genau diese wohnten, wusste sie nicht. Außerdem wollte sie nicht einfach unangemeldet bei ihnen auftauchen. Sie war eine hübsche junge Frau und trug ihre wenigen Besitztümer in einer kleinen Tasche bei sich: zwei ausgeblichene Blusen, einen schwarzen Rock, den sie von ihrer Tante geschenkt bekommen hatte (diese hatte ihn sich einfach von einem Haufen ausrangierter Kleider ihrer Arbeitgeberin genommen), ein einziges Kleid, das sie normalerweise zur Kirche anzog, und zwei Paar Unterhosen, die man heutzutage keinem Menschen mehr als Kleidung zumuten würde. Sie hatte kein Geld und keine Pläne, nur den starken Wunsch, den erdrückenden Lebensumständen in Parys zu entkommen. Eine Frau, die neben ihr im Zug saß und merkte, dass meine Großmutter fremd in der Stadt war, bot ihr an, dass sie ein paar Tage bei ihr bleiben konnte. Dankbar nahm meine Großmutter das Angebot an. In ihrer ersten Nacht schlief sie friedlich auf einer dünnen Matratze auf dem Boden, in einem kleinen Haus in Moletsane, einer Township im Osten von Soweto.

Zu der Zeit war es nicht besonders schwierig, Arbeit zu finden. Meine Großmutter, jung, ungebildet, verzweifelt und schwarz, war genau die Art von Arbeiterin, die das System haben wollte. Sehr bald hatte sie eine Anstellung als »Mädchen« bei einer weißen Familie gefunden; was man heutzutage Hausangestellte nennt. Ihre Aufgaben als »Mädchen« unterschieden sich nicht sonderlich von denen, die sie auch zu Hause verrichtet hatte: sauber machen, Wäsche waschen und sich um die Kinder von »Baas« und »Madam« kümmern. Natürlich wurde sie jetzt für ihre Arbeit bezahlt, allerdings mit einem so kleinen Lohn, dass sie damit kaum ihren Lebensunterhalt bezahlen konnte. Da sie arbeitete, erwartete die Dame, die sie bei sich aufgenommen hatte, dass sie ihren Anteil zu den Haushaltsausgaben beisteuerte. Ein eigenes Heim konnte sich meine Großmutter nicht leisten, also lebte sie weiterhin bei der Familie, die ihr in der ansonsten so kaltherzigen Stadt Güte und Freundlichkeit gezeigt hatte.

In den nächsten paar Jahren arbeitete meine Großmutter weiterhin für die weiße Familie und versuchte, mit dem geringen Lohn auszukommen. Es mag zwar zu der Zeit nicht schwierig gewesen sein, Arbeit zu finden, aber welche Art von Arbeit Schwarze auch immer fanden, sie mussten sich darauf einstellen, extrem ausgebeutet zu werden. Aber die Alternative war noch viel furchteinflößender, also arbeiteten sie bereitwillig für einen Apfel und ein Ei und schafften es kaum, ihre Familien damit durchzubringen.

Bald lernte meine Großmutter einen jungen Mann kennen. So wie sie es mir erzählt, war es Liebe auf den ersten Blick. Sie hatte nie wirklich die Gelegenheit gehabt, junge Männer aus der Township kennenzulernen oder sich gar mit ihnen zu verabreden, weil sie immer so viel arbeitete. Aber als sie diesen jungen Mann mit seinem strahlenden Teint und unwiderstehlichen Charme traf, war meine Großmutter ganz hin und weg, und bevor sie sich versah, machte ihr der Mann auch schon den Hof. Mit der Zeit wurde ihre Beziehung immer intimer, und ein Jahr später war sie von ihm schwanger. Sie freute sich sehr darüber, hatte aber natürlich auch schreckliche Angst. Sie war unverheiratet und verdiente nicht mal genug Geld, um sich eine eigene Unterkunft leisten zu können. Sie fiel der Familie, bei der sie lebte, schon genug zur Last, indem sie ihnen Platz wegnahm, der ohnehin knapp war, und jetzt würde sie eine weitere Person mitbringen. Der Vater des Kindes lebte bei seiner Familie und hatte auch kein eigenes Haus. Nicht verheiratet zu sein, war ein großer Skandal, den ihr ihre Familie im Freistaat niemals verzeihen würde. Damals war es gesellschaftlich verpönt, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen. Sie hätte damit eine große Schande über ihre Familie gebracht. Aber meine Großmutter wollte das Kind, und sie liebte den Vater des Kindes sehr.

Als sie ein paar Monate schwanger war, fragte ihr Freund sie, ob sie bei ihm und seiner Familie einziehen wolle. Meine Großmutter war sehr erleichtert, dass sie der Frau, bei der sie wohnte, ihre Situation nicht erklären musste, und zog in das Heim der Mokhethis in einem anderen Teil von Moletsane ein. Mit offenen Armen wurde sie dort empfangen. Sie fuhr jeden Tag zur Arbeit und wieder nach Hause, bis sie dazu nicht länger in der Lage war. Mein Onkel, Lesley Mokhethi, wurde 1969 geboren. Nicht lange nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, schrubbte meine Großmutter schon wieder die Böden der Weißen und kümmerte sich um die »klein Baases« und »klein Madams«. Die Familie Mokhethi war ganz vernarrt in den jüngsten Familienzuwachs. Er war der erste Enkel von ma-Mokhethi, der Mutter von Großmutters Freund. Alle Frauen im Haus kümmerten sich um ihn, während Großmutter auf der Arbeit war. Abends, wenn sie völlig erschöpft nach Hause kam, gab sie ihm auf der Couch die Brust, bis sie gemeinsam einschliefen. In den frühen Morgenstunden erwachte sie gewöhnlich von der eisigen Kälte. Eine der Tanten hatte sie zugedeckt und Lesley ins Bettchen gebracht. So lief das an Tagen, an denen ihr Freund nicht zu Hause war. Sonst weckte er sie auf, und sie schliefen gemeinsam auf einer Matratze, die im Esszimmer auf dem Boden lag. Sie beschwerte sich nie. Es war nichts Ungewöhnliches, dass ein Mann öfter mal nicht zu Hause schlief, und eine gute Frau wusste, dass sie ihn darüber nicht ausfragen sollte, wenn er heimkam.

Als Lesley gerade mal ein Jahr alt war, war meine Großmutter zum zweiten Mal schwanger. Die Familie Mokhethi hatte meine Großmutter schon längst als zukünftige Frau des Sohnes aufgenommen und freute sich darauf, ein weiteres Kind mit ihr zusammen großzuziehen. Aber Großmutters Freund teilte diese Freude nicht und stritt ab, Vater des Kindes zu sein. Trotzdem blieb meine Großmutter bei den Mokhethis wohnen, bis sie im Oktober 1971 ein gesundes Mädchen zur Welt brachte.

Das Aussehen des Kindes gab dem angeblichen Vater noch mehr Grund zur Annahme, dass es nicht seins war. Die Mokhethis hatten alle eine recht helle Hautfarbe, weil sie teilweise von Weißen abstammten. Der Freund meiner Großmutter, also mein Großvater, hatte einen weißen Vater und eine schwarze Mutter. Aber dieses Kind hatte eine noch dunklere Hautfarbe als meine Großmutter und stach in der Familie Mokhethi heraus wie ein Gnu auf einer geschäftigen Straße. Das Kind wurde Dipuo getauft, was so viel bedeutet wie: ein Kind, das in viel Gerede hineingeboren wurde. Sie bekam nicht, wie das erste Kind, den Familiennamen Mokhethi, sondern trug Großmutters Namen: Mahlatsi.

Als das Gerede und die Verdächtigungen um den Vater des Kindes auch nach ein paar Jahren noch nicht verstummt waren, wurde es meiner Großmutter zu bunt. An einem kalten Junimorgen im Jahr 1975 packte sie ihre Sachen und die Sachen ihrer Kinder zusammen. Sie war fest entschlossen, den Haushalt der Mokhethis zu verlassen und ihre Kinder selber großzuziehen. Doch noch bevor sie es aus der Tür geschafft hatte, wurde sie von maMokhethi gestoppt, die darauf bestand, dass meine Großmutter ohne ihre Kinder ging. Sie wusste, dass meine Großmutter ihrer Familie nichts von den Kindern erzählt hatte und es unwahrscheinlich war, dass sie in den Freistaat zurückgehen würde. Sie wusste auch, dass meine Großmutter nicht genug Geld verdiente, um sich ein eigenes Haus oder eine Wohnung zu leisten. Aber meine Großmutter weigerte sich, die Kinder zurückzulassen. Sie wollte sie bei sich haben, obwohl sie nicht wusste, wohin sie gehen würde. Es war ein heftiger Streit, an dessen Ende sie sich auf einen schmerzhaften Kompromiss einigten: Meine Großmutter würde ihren Sohn bei den Mokhethis lassen und nur die Tochter mitnehmen, deren Vaterschaft die Ursache des Konflikts war. Ma-Mokhethi hatte es anders gewollt, aber meine Großmutter war sich sicher, dass ihre Tochter besser bei ihr aufgehoben war als bei der Familie eines Mannes, der sie nicht mehr wollte. Nachdem also diese Abmachung getroffen war, schnallte sich meine Großmutter ihre Tochter auf den Rücken und verließ das Haus der Mokhehtis, um es nie wieder zu betreten.

Sie kannte sich in Soweto noch immer nicht besonders gut aus, da sie keinen großen Bekanntenkreis hatte. Meine Großmutter war sich nicht bewusst, dass ihre Verwandtschaft in Soweto gar nicht so weit weg wohnte. Nachdem sie also Moletsane verlassen hatte, zog sie in den Straßen der Township umher, auf der Suche nach einer Bleibe. Stundenlang war sie unterwegs und klopfte an Türen, bat um einen Schlafplatz für sich und ihr Kind. Schließlich hatte eine Familie in der Umgebung Erbarmen mit ihr. Die nächsten paar Monate lebte sie glücklich mit ihrer neuen Familie, während sie weiterhin »in der Küche« arbeitete, wie man in der Township zu Arbeit in den weißen Vororten sagte. Ihre Tochter wuchs zu einem cleveren Mädchen heran. Sie war sehr wissbegierig und Gleichaltrigen weit voraus. Etwa um diese Zeit fing meine Großmutter an, nach ihren Verwandten zu suchen. Sie fand sie schließlich in Meadowlands Zone 3, nur ein paar Minuten außerhalb von Moletsane. Als sie bei ihnen einzog, hatte sie zwei Kinder dabei: meine Mutter und einen Sohn namens Godfrey Motsamai Mahlatsi, von dem noch zu reden sein wird.