Über das Buch

Erzählen, das heißt für Günter Kunert, dem Leser die Wahrheit zuzumuten. In seinen Geschichten aus Ost und West, von gestern und morgen, erzählt er vom Alltäglichen und vom Ungewöhnlichen – und vom Ungewöhnlichen im Alltäglichen. »Günter Kunert ist ein bemerkenswert bissiger Chronist, der das Ungeheuerliche nicht übersieht, sondern es benennt«, so charakterisierte es das Deutschlandradio.

Günter Kunert ist einer der ganz großen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, und auch mit über achtzig Jahren erweist er sich »als Meister des wachen Denkens und der knappen, treffenden Sprache, die ihn seit je ausgezeichnet haben« (NZZ am Sonntag). Für die Gegenwart ist dieser Erzähler unverzichtbar.

Günter Kunert

Vertrackte Affären

Geschichten

Herausgegeben von
Hubert Witt

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-25200-4

© 2016 Carl Hanser Verlag München

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Bild: Fritz Schwegler, EN 9663© VG Bild-Kunst, Bonn 2015

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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Für Erika,
die Ungeduldige

Abschied ist arm an Worten

Regiert der Imperativ als triviale Kurzformel (»Das war’s!«) den Rest des Lebens, das sich resigniert oder niedergeschlagen solcher Formel unterwirft? Oder widersetzt es sich der trostlosen Feststellung, indem es sie zur Frage auflockert: Das soll’s gewesen sein? Wie immer man die eigene, ausklingende Gegenwärtigkeit betrachten mag, Grund zur Freude bietet sie kaum. Und kommt als Steigerung der Trübsal eine bedrückende Umgebung hinzu, dann sehnt man sich an die vormaligen Stationen seines Daseins zurück, selbst wenn diese Gefahren enthielten.

So wie allen Leuten in ähnlicher Situation erging es Herrn O. in seinem Heimatort, einem Sammelsurium halb verfallener Häuser, durchweht von Menschenleere und Gestank aus offenen Abwasserrinnen beidseits holpriger Bürgersteige. Je länger seine Heimkehr zurücklag, desto häufiger kamen ihm die überstandenen Leiden wie unterhaltsame Abenteuer vor. Mit den einsamer werdenden Jahren war für O. die Langeweile zu einer schwer ertragbaren Last geworden, zum Taedium vitae, das zum Gedankenspiel mit dem Suizid einlud. Wenn er sich, aus dem schmutzigen Gasthaus vom Essen kommend, träge nach Hause begab, von einem halben Liter Wein sowohl angeregt wie leicht umnebelt, sehnte er sich nach den Schrecknissen seiner unverwechselbaren Vergangenheit. Waren die Tod verheißenden Bedrohungen nicht doch besser, das heißt, vitalisierender gewesen als dieser triste Alltag, von dem man keineswegs behaupten konnte, er sei die Krönung eines außerordentlichen Lebens gewesen, gar der Lohn für eine allgemein als »gewaltig« anerkannte Karriere?

Deren Gestalten meldeten sich bei beginnendem Mittagsschlaf in O.’s Kopf, insbesondere dieser gewaltige Einäugige, dem es das Auge auszustoßen galt, oh, welch Geschrei und Gebrüll, Entsetzen und Flucht, Angst und Triumph, als man, gemeinsam mit den Kameraden entronnen, die tobende Gestalt hinter dem Horizont verschwinden sah. Ob er noch leben mag, fragte sich Herr O. eindämmernd, und die Zauberin, na, wie hieß sie bloß noch, so was traf man nicht alle Tage, hoho, oho, da war was dran gewesen, beim Zeus, mit einem Wort »orgiastische« Monate damals, und er selber in seiner Blüte auf dem schaumumkränzten winzigen Eiland.

Und im Traume gar befiel ihn ein tränentreibendes Bedauern, dass er mit den Freiern, mit den geilen Hausfreunden seiner Frau Tabula rasa gemacht hatte. Nun fehlten sie ihm zum Zeitvertreib. Ohne Feinde ist das Leben ebenso stumpf wie ohne Freunde! Arm dran, wer nichts besitzt außer archiviertem Ruhm: magere Kost, die nicht mehr die Seele sättigt.

Als er erwachte, lauschte er einem Geräusch nach, etwas wie verklingende Schritte, als hätte ihn jemand während seines Schlafes besucht: hallte nicht auch noch in seinem Ohr ein Klirren wie von Schild und Lanze, ein Eulenruf oder dergleichen? Solch ein Gefühl, im Zustand schnarchender Bewusstlosigkeit visitiert worden zu sein, befiel ihn oftmals, und obwohl er sich stets vornahm, gleich nach dem Erwachen aufzuspringen und eilig zur Tür zu rennen, noch den Schatten des Gastes zu erhaschen, blieb er doch immer auf der Matratze liegen, zu lethargisch, die Absicht auszuführen. Insofern war es eigentlich ein Wunder, dass er eines Tages, als ein Bus, ein mobiles Reisebüro von »Olympic Airways« im Ort hielt, stehenblieb, sogar eintrat – anfänglich nur aus Unterhaltungsbedürfnis, und sich nach einer Tour zur Insel Malta erkundigte. Zufällig gab es preisgünstige Flüge, inklusive Mietwagen, und wenn Herr O. hinterher auch davon überzeugt war, der halbe Liter Wein beim Essen habe Mitschuld an seiner Unterschrift auf dem Vertrag, so musste er sich doch eine wachsende Neugier eingestehen.

Seine Erinnerungen färbten das Gestern immer bunter, schufen immer betäubendere Szenen, und nicht nur vor oder nach dem Mittagsschlaf, sondern auch, wenn er mitten in der Nacht aufschreckte und nicht wieder einschlafen konnte, euphorisiert von seinen Phantasien. Wenig später fand er sich in Valletta wieder, einer durchwindeten Hafenstadt, von wo aus die Autofähren nach Gozo abgingen, hin zu jenem Stück Fels in den verschmutzten Fluten »seines« Meeres, wie er es bei sich nannte. In weniger als einer Stunde schob sich der schwerfällige Eisenkasten an die Reede. Herr O. hatte die ganze Überfahrt an Deck verbracht, und als fern die ersten düsteren Zacken auftauchten, wurde ihm wunderlich zumute, obwohl keine Wiedererkennungsgewissheit sich einstellte. Graues Gestein wie einst, doch jetzt seltsam verheißungsvoll. Erhöhte Pulsfrequenz beim Anblick. Beim Näherkommen wirkten die salzwasserzerfressenen Uferbrocken wieder fremder, obschon sie sich ja seit seinem letzten Aufenthalt kaum verändert haben dürften.

Dann: von der Fähre über verölten Beton und hinaus auf die asphaltierte Straße, von der hier und da primitive Schotterwege abrupt in die Ödnis abbogen. Obgleich Herr O. fast im Schneckentempo dahinrollte, aufgeregt nach den Seiten auslugend, deckte sich nichts von der Umgebung mit der Landschaft in seinem Gedächtnis, und doch musste es der Platz sein, an dem er sich jahrelang aufgehalten hatte. Und hätte nicht an einem offensichtlich morschen Pfahl ein handgemaltes, schon ausgeblichenes Schild mit der englischen Aufschrift »Circe’s Cavern« und einem plumpen, weisenden Pfeil gehangen, er von sich aus hätte sich überhaupt nicht zurechtgefunden.

Zum Glück (und daher vermutlich so billig) war er hier in der Nachsaison eingetroffen, so dass der Mangel an Touristen es ihm erlaubte, direkt vor dem Höhleneingang zu parken. Kaum ausgestiegen, musterte er bewegt die Verlassenheit ringsum.

Hatten da nicht früher Ölbäume gestanden? Vögel genistet? Ziegen an Halmen geknabbert? Neben dem übermannshohen, mit Zement zu einem ungeschickten Rundbogen zusammengeschmierten Eingang rottete eine entfärbte, hölzerne Kabine vor sich hin; kaum leserlich das Wort »Kasse«, das Glas des für den Kartenverkauf vorgesehenen Fensters gesprungen und mit Klebestreifen gesichert. Alles wie ausgestorben, bis Herr O. einen Schatten in dem kistenartigen Gehäuse wahrnahm. Gleich darauf klappte die Brettertür auf und stieß dumpf an die Seitenwand: der Schatten materialisierte sich beim Heraustreten, wurde zu einer rundlichen, untersetzten Gestalt, weiblich, brünett, in ein Gewand gehüllt, das eine Toga kopieren sollte, aber kürzer war und ein erstaunlich strammes Bein bis zum Knie sehen ließ. In der Hand hielt die Materialisation ein Ticket und einen bunten Prospekt und brachte beides, nebst einem freundlich-routinierten Lächeln, dem Besucher entgegen.

War sie es? Sie war es doch – oder? Oder war sie es etwa nicht? Voller Unsicherheit und Ungewissheit, dennoch von seinen Affekten überrumpelt, hob O. die Arme und rief: »Kirke! Ich bin es! Kennst du mich nicht mehr?« Sie ließ die Objekte ihres ärmlichen Geschäftes fallen und erwiderte strahlend und im gleichen hohen Ton: »Du bist wiedergekommen! Ich habe es gewusst! Wie ich mich freue, Philemos!« Worauf sie ihn energisch umarmte, so dass er ihren kaum zu leugnenden vorgewölbten Bauch, an den er sich nicht erinnerte, wie eingepasst in seiner Magengrube spürte. Er war enttäuscht, und es war ihm etwas peinlich, sagen zu müssen: »Nein, nein – ich bin nicht Philemos …« Doch ehe er seinen Namen nennen konnte, jauchzte sie frisch drauflos: »Ja, ja – jetzt erst erkenne ich dich! Du bist … Du bist mein …« Sie zögerte, und das tat ihm leid, einerseits seinetwegen, denn er hatte immer gemeint, den feuermetaphorisch bezeichneten »unauslöschlichen Eindruck« zurückgelassen zu haben, was sich mit großer Verspätung als Irrtum herausstellte, andererseits ihretwegen, denn ganz offenkundig zeigte ihr Gedächtnis schon Alterslücken. Oder, so ein unerwartet folgender Verdacht: waren nach seiner Abreise noch derart viele männliche Gäste bei ihr gewesen, dass sie die Übersicht verloren hatte? Freilich: ihr Vorwürfe zu machen, wär er nicht berechtigt, und so gab er sich zu erkennen, was ihm diverse Küsse auf Wangen und Mund eintrug und den Anhauch einer reichlich mit Knoblauch gewürzten, vergangenen Mahlzeit.

»Dass ich dich noch einmal wiedersehe …« sprach sie, in die Hände klatschend wie ein Kind, dem ein prächtiges Geschenk gemacht ward. Mit dem Ringfinger der Rechten machte sie eine Geste, als wische sie etwas Sekret aus den Augenwinkeln.

»Komm, komm, mein Lieber … Komm in meine Höhle …«

Schweigend ließ er sich führen, stolperte über eine ebenfalls hässlich zementierte, teils schon wieder zerbröckelte Schwelle, wobei ihm nicht mehr einfiel als »Du wohnst also noch immer hier …

Drinnen betätigte sie einen Schalter, und eine Reihe schirmloser Glühbirnen, von unterschiedlicher Watt-Zahl, wie er gleich bemerkte, bemühte sich vergebens, den von unzähligen Besucherschuhen geglätteten Boden auch nur ahnen zu lassen. An den Stalagmiten und Stalagtiten blinkte hier und da unerwartet ein Kristall auf, da die locker baumelnden Birnen durch den Luftzug in Schwingung gerieten.

»Du übernachtest natürlich bei mir!« hörte O. ihre Stimme aus der Düsternis, geblendet von den grellen Lichtern, und sogleich glaubte er, ihre Bauchwölbung an seinem Körper zu verspüren. Ehe er zur Antwort ansetzen konnte, folgte im nüchternen Ton: »Möchtest du Kaffee? Oder Tee? Wein? Alles vorhanden … Wie in alten Zeiten …«, doch wenn er etwas genau wusste, so die Tatsache, dass damals weder Tee noch Kaffee in dieser Höhle, falls es die echte war, ausgeschenkt wurde. Sie machte sich an einem kleinen Beistellherd zu schaffen, neben dem gefährlich nah die rote Kuppel des Butan-Gasbehälters glänzte. Herr O. nahm mehr akustisch denn optisch wahr, wie seine Gastgeberin mit Geschirr hantierte, indessen er eine plötzliche Müdigkeit empfand, wie nach einer schweren Arbeit. Seine Beine drohten den Körper nicht mehr zu tragen, so dass er, ohne um Erlaubnis zu bitten, auf der Lagerstätte Platz nahm: eine einfache Matratze mit einem Deckengewirr zu seinen Füßen. Die Anstrengung der Reise, der Abfall der inneren Spannung, die Erleichterung, angekommen zu sein, alles überwältigte ihn. Es bedeutete schon Mühe, den Arm zu heben und die Tasse Kaffee (oder Tee: der Geschmack ließ keine Identifizierung zu) in Empfang zu nehmen. Hoffentlich kein Zaubertrank, dachte er flüchtig.

»Weißt du noch?!« mit dieser Beschwörung hebt jeder Abstieg in den Hades des Gestern an, und auch Herr O. eröffnete das Gespräch mit diesem Spruch. Er redete über seine Gefährten, die zu Schweinen geworden seien, sich wie Schweine benommen hätten, ja tatsächlich als Schweine umhergegrunzt und sich gesuhlt und geschubbert, und die Gastgeberin bekicherte heftig seine Gedächtnisleistung, wobei er sich fragte, ob ihrer beider Vorstellungen die gleichen wären. Vielleicht hatte sie das alles schon vergessen, weil es zu lange her war, und er trank aus Höflichkeit eine zweite Tasse, ohne dadurch munterer zu werden. Im Gegenteil, die Lider schlossen sich willenlos, die kichernde Stimme klang leiser und leiser, bis er überhaupt nichts mehr vernahm und nicht merkte, wie er sacht zur Seite sank, auf die zerknäulten, von der Höhlenluft klammen Decken.

Wenig später suchte ihn ein Traum heim, auf den er sich nach dem Aufwachen am nächsten Morgen deutlich erinnerte. Er hatte nämlich geträumt, dass er da, wo er lag, eingeschlafen sei und dann nachts aufgewacht, weil auf seinem rechten Arm und diesen einklemmend, ein schweres Gewicht ruhte. Blind von der völligen Finsternis wie ein Grottenolm tastete er vorsichtig mit bebenden Fingerspitzen, wie er träumte, den Gegenstand ab, der sich so eng an ihn drängte. Er berührte etwas Glattes, Weiches, Strammes, dessen Temperatur der seinen nahezu gleich war, und das ihn, wofür er sich jetzt genierte, zu fleischlichem Verlangen veranlasste. Er berührte eine Haut, schmiegsam, doch etwas fettig wie eingesalbt, und presste seinen eigenen Körper dichter an die reglose Masse. Plötzlich geschah es: er ließ sich hinreißen, und schon nach einigen zuckenden Bewegungen wurde ihm Befriedigung zuteil. Er atmete schwer aus, bevor er träumte, dass er erneut einschlief und dabei überlegte, wie seltsam es eigentlich sei, von einem Traum zu träumen. Er führte diese Verschachtelung von »realem« Traum, wenn man das so nennen konnte, mit einem fiktiven auf die besondere Atmosphäre zurück, auf das Erlebnis einer Rückkehr in seine festgelegte Biografie – was ja auch so etwas wie eine Duplizität war, eine phasenverschobene Wiederholung.

Herr O. hockte auf der Decke zwischen der Gestalt am Herd und dem lockenden Sonnenlicht vor dem Höhleneingang, dessen Abglanz die Düsternis des Felsengemaches aufheiterte, und überlegte, ob er der ihm fremd gewordenen Frau von seinem Traum erzählen solle, oder ob sie das möglicherweise für eine Aufforderung zum faktischen Nachvollzug halten würde. Er war sich nicht sicher, ob es ihn danach gelüstete. Ob es sich überhaupt wiederholen ließe, was zwischen ihnen gewesen war. Ob es nicht besser war, die Erinnerungsbilder zu bewahren, statt sie durch einen läppischen Akt zu überlagern.

Er nahm den ihm gereichten Kaffee (oder Tee) dankbar entgegen, doch ehe er noch von seinem Traum anzuheben vermochte, wurde ihm eine Mitteilung gemacht, die ihn verstörte.

»Ich hatte vergessen, dich vorzubereiten, mein Freund, aber sie läuft draußen frei herum, sucht sich ihre Nahrung und kommt auch manchmal herein, wenn es ihr zu kalt wird, dann verlangt es sie nach menschlicher Nähe … Darum schlafe ich auch dahinten …« Und die Gastgeberin wies hinter sich ins Halbdunkel, wo nun eine schlaff baumelnde Hängematte hing. Herr O. begriff nicht, auf wen sich die Erklärung bezog; sein Ausdruck von Verständnislosigkeit wandelte sich in Betroffenheit, als er erfuhr, wer die Streunerin sei: eine ausgewachsene Sau, aber noch nicht gänzlich schlachtreif, die die Gastgeberin nebenbei aufzog, ihren Lebensunterhalt aufzubessern. Das Tier, und sie sagte sogar wörtlich »das gute Tier«, sei so zahm, und es habe so friedlich neben ihm geschlummert, dass sie weder ihn noch das gute Tier habe wecken wollen.

»Also«, schloss sie ihre Erläuterung, »warum trinkst du nicht in Ruhe deinen Tee, mein guter Xylandros?« Doch dem so fälschlich Angesprochenen war nicht nur der Durst, es war ihm auch die Lust zur Namenskorrektur vergangen. Vergeblich forschte er in den jetzt nur noch bruchstückhaft vorhandenen Traumresten nach einem Hinweis auf ein wirkliches Geschehen, vor dem es ihn bei wachem Bewusstsein gegraust hätte. Er hoffte inständig, dass der Körperkontakt mit dem Geschöpf bloß einen Traum bewirkt habe und nichts weiter. Als er die Sprache wiederfand, konnte er nur sagen: »Wie spät ist es? Ich darf die Fähre nicht versäumen …« Denn es trieb ihn nun, so schnell wie es ging, diese bedenkliche Stätte, den Ort einer von allen Göttern verfluchten Tat, einer ihm hinterlistig angetanen, ihm nicht bewusst gewordenen Schmach zu verlassen – wenn denn sein Traum keiner gewesen war.

Er brachte das lauwarme Getränk nicht über die Lippen, rappelte sich mühsam hoch und schritt steifbeinig nach draußen, gefolgt von der Schweinehirtin, die ihn zum Bleiben bewegen wollte. Als sie einsehen musste, dass ihn kein Bitten, keine einladende Andeutung aufhielte, eilte sie, bevor er in den Wagen stieg, zu ihrer Kassenbude und kam mit dem Prospekt »Gozo and Circe’s Cavern« zurück. Lächelnd reichte sie ihm das Faltblatt, das er hastig in seine Jackentasche schob. Dann zwängte er sich auf den Fahrersitz. Doch ehe er die Tür zuschlagen konnte, beugte sie sich zu ihm nieder und sagte:

»Ein Pfund zwanzig, mein Lieber Eutomos …« Herr O. wühlte in seiner Tasche, fand einen Schein, den er ihr in die Hand drückte, die sich unerwartet um seine schloss:

»Ich danke dir, dass du mich nicht vergessen hast. Komm bald wieder …« raunte sie ihm zu. Er zögerte, seine Hand zurückzuziehen, schuldig, wie er sich fühlte, weil er sie jetzt einfach verließ, grundlos in ihren Augen, zum zweiten Mal aufgegeben, wissend, er würde sie und die Insel niemals mehr wiedersehen. Endgültige Abschiede sind immer wortarm.

Zwar wollte Herr O. ein, zwei Sekunden lang aus dem Wagen steigen, aber dann betätigte er den Zündschlüssel, gab Gas und fuhr rascher werdend auf und davon. Zu einem Blick in den Rückspiegel fehlte ihm der Mut. Es wäre ja auch nichts weiter zu sehen gewesen als eine ältere, rundliche Frau, die ihm nachwinkte.

An der Anlegestelle im Hafen war er der erste Passagier: viel Zeit zum Nachdenken, wie er meinte, doch seine Gedanken verflüchtigten sich haltlos, auch die Intensität des Traumes ließ nach, und am Ende kam ihm der Verdacht, sein Ausflug zu einem Punkt seiner berühmten Lebensbeschreibung sei doch eine Art Entdeckungsreise gewesen zu der Nichtigkeit seines eigentlichen Ursprungs.

1992

Olympia

Stets, wenn sie nicht weiterwusste, sagte ihre etwas blecherne Stimme: »Frag mich was anderes!« Oder: »Wiederhole deine Frage in anderer Formulierung!« Manchmal machte ich mir einen Spaß daraus, sie mittels semantischer Kniffe, der changierenden Bedeutung von Wörtern in Verlegenheit – oder wie man das bei ihr nennen mochte – zu bringen, so dass sie einfach aussetzte. Der Spaß hielt jedoch nie lange vor, da ich ihr ja anschließend wieder die Sicherung einsetzen musste. Direkt über ihrem Gesäß und etwas tiefer in der konvexen Wölbung des Rückens befand sich, geschützt durch eine fleischfarbene Klappe, jene Stelle: Hatte ich die herausgesprungenen roten Knöpfe hineingedrückt, pflegte ich die Klappe sanft zu schließen, wobei ich sie immer dasselbe fragte:

»Tut dir die neue Sicherung gut?«, und sie ihrerseits immer dasselbe erwiderte: »Frag mich was anderes!«

Wollte ich dann wissen, was denn in etwa der Inhalt dieser von ihr geforderten Frage sein sollte, produzierte sie natürlich prompt die zweite Version ihrer elektronischen Hilflosigkeit: »Wiederhole deine Frage in anderer Formulierung!« Das war nicht sehr einfallsreich, wie man zugeben muss, aber immerhin besser als ein erneuter Stromausfall. Und vor allem: besser als niemand. Besaß man schon keine Hausgenossin aus Fleisch und Blut und durfte man, den kargen Zeitrest der eigenen Existenz im Blickfeld, auch auf keine mehr hoffen, war ein solches Gerät unterhaltsamer als ein Radio oder ein Fernseher. Und die Leihgebühr zahlte sowieso das Sozialamt. Aber mit wachsender Häufigkeit ertappte ich mich dabei, wie ich auf ihre optimal modellierten Beine starrte (beim Sitzen bis zum halben Schenkel entblößt), was sie bestimmt bemerkte, aber nur registrierend, ohne dass ihr Wahrnehmungsapparat daraus Schlüsse zog, aus denen sich Reaktionen ergaben. Ungeniert konnte ich sie betrachten, so wie man einen Gegenstand musterte, der sie ja auch war. Ihr Gesicht erinnerte mich an Filmschauspielerinnen meiner Jugend: hohe Stirn, zierliche Nase, rundliche, nahezu kindliche Wangen und der Mund eher ein Mündchen. Ich folgerte daraus, dass ihr Designer nicht viel jünger als ich sein konnte, oder dass sie vor Jahrzehnten entworfen und erst später hergestellt worden war. Zumindest vermittelte sie mir dadurch das seltsame Empfinden langer Bekanntschaft: als wäre ich ihr schon vor Zeiten begegnet – eine faktische Unmöglichkeit.

Sobald sie mir den Rücken zuwandte, um irgendeine Hausarbeit zu verrichten, eine Handreichung mit etwas eckigen Bewegungen durchzuführen, meldete sich unerwartet mein Sensorium. Ohne die maskenhaft reglose Miene kam sie mir viel lebendiger und menschlicher vor. In solchem Moment spürte ich ganz stark das Bedürfnis, mich ihr zu nähern und Hand an sie zu legen. Zwar hatte ich keine Vorstellung, wie sie sich verhalten würde, da ich ihre Programmierung nicht kannte, doch beruhigte mich die Überlegung, selbst ein intimer Kontakt von ihr würde nur als rein technischer aufgenommen. Und obwohl ich mir sagte, dass eine derartige Berührung keinen Unterschied gegenüber dem Öffnen einer Kühlschranktür oder der Benutzung eines Rasierapparates bedeutete, kehrte das ausgefallene Verlangen stets erneut zurück.

Galileis Unterscheidung fiel mir ein, Bruchstücke längst aufgegebener und vergessener Studien: »Verifizierbare Realität und sensorische Illusion«. So einfach und klar wie das klang, kam es mir auf einmal nicht mehr vor. Mir wollte scheinen, als käme meinen sensorischen Illusionen ein gewisses Maß an Realität zu, oder es sei doch Realität in sie eingewoben, wenn auch auf unklare und beschämende Weise.

Meine Hausgenossin direkt nach dem Grad ihrer anthropomorphen Beschaffenheit zu befragen, fehlte mir der Mut. Ich grübelte darüber nach, wie weit bei ihrer Herstellung der Nachahmungstrieb des Produzenten gegangen sein mochte und ob derselbe sich auch auf biologische Merkmale erstreckt habe. Dabei wusste ich, sie würde mir objektive Auskunft geben, wie sie das bereits einmal über ihr »Gehirn« getan, als ich mich danach erkundigt hatte: »Es handelt sich um eine mikro-prozessuale Nachbildung von Hypothalamus, Thalamus, Hippocampus und der Formatio reticularis, die der Filterung von Informationen dient …« Und nachdem ich keine Zeichen des Begreifens verlauten ließ: »Hast du es verstanden?«

Was sollte ich darauf erwidern? Ich sagte nur: »Frag mich was anderes …«, was sie sogleich mit: »Wie geht es dir heute?« quittierte. Worauf ich am liebsten die bekannte Forderung nach der veränderten Formulierung erhoben hätte, wäre ich mir nicht zu sicher gewesen, dass wir in einen leeren Dialog geraten würden, ähnlich dem akustischen Ablauf einer Schallplatte, die den entsprechenden tiefen Kratzer besitzt, welcher die Wiederholung veranlasst.

»Gut, Olympia, es geht mir gut.« Den Namen, ihren Namen, ohne dass sie dessen Herkunft kannte, hatte ich laut Gebrauchsanweisung sofort in sie eingespeichert, um den gesamten Reaktionsmechanismus an- und abrufen zu können. Die Möglichkeit der Namensgebung war eine Großzügigkeit der Ausleihe, von der ich keineswegs sicher war, ob man nicht bei der jeweiligen Durchsicht oder anderen Pflegearbeiten ihren Speicher auf mein Verhalten hin kontrollierte. Ich versuchte herauszukriegen, ob sie behielt, was ich ihr mitteilte, oder ob sie gegen zufällige Wissensaufnahme blockiert war.

»Ich möchte«, sprach ich eines Tages zu ihr, indem ich neben ihr Platz nahm und meine Hand auf die ihre legte und die kühle Glätte steriler Plastikmasse streichelte, »deinen Speicher füllen! Ich möchte dich vollstopfen, Olympia, mit Romanen und Gedichten, mit Kreuzworträtseln und Häkelmustern, mit zoologischen Kenntnissen und vielen anderen über die Natur des Menschen. Nur um zu sehen, ob diese Quantität nicht in eine andere Qualität umschlägt. Du würdest dich verändern – vielleicht. Olympia, weißt du, was der Tod ist?«

»Mein Schöpfer, Professor Dr. h.c. Konrad Biolkowski, der zu den bedeutendsten Molekular-Physikern der Epoche zählt, entwarf mich als Standardmodell A, nach welchem eine erfolgreiche Reihe fabriziert wurde. Professor Dr. h.c. Konrad Biolkowski, korrespondierendes Mitglied der Royal Society of Science, Ritter des ›Pour le Mérite‹ …« Ich unterbrach sie sofort. Die Programmierung enthielt neben einem ausgezeichneten Kaffee-Rezept, das mir den besten Kaffee meines Lebens bescherte, eine übermäßige Informationsmenge über Professor Biolkowski, die, wie mir aufgefallen war, bei bestimmten Wortanlässen ausgeschüttet wurde wie Münzen aus einem Spielautomaten, sobald sich die richtigen Symbole deckten. Die Wörter, die Wortlawinen hervorriefen, waren: »Nobelpreis«, »Weltruhm«, »prominent«, »verehrt«, »Genie«. Dass auch das Wort »Tod« diese Wirkung erzeugte, war mir neu. Mein Verdacht bestand darin, dass dieser Mann seine Kunstfigur missbrauchte, um für sich selber eine Art Unsterblichkeit zu konstruieren. Olympias Tonfall, sonst eher gleichförmig, klang in meinen Ohren plötzlich eitel, sobald ihr »Schöpfer« Erwähnung fand. Professor Biolkowski, obschon nur als Schattengestalt anwesend, fiel mir auf die Nerven.

»Und der Tod, Olympia?«

»Ein Wort mit drei Buchstaben.« Und sie goss mir von dem ausgezeichneten, frisch gebrühten Kaffee sorgsam eine Tasse voll ein: er war immer frisch und heiß, wie ihn nur eine Maschine vorrätig hält.

»Und was noch?«

»Das endgültige Aufhören des Stoffwechsels. Die Lebensdauer des Menschen reicht beim natürlichen Verlauf des Lebens gewöhnlich bis in die siebziger oder achtziger Jahre, bisweilen auch noch etwas weiter, und der Tod erfolgt hier ohne vorhergegangene Krankheit, ohne nachweisbare spezielle Ursache, sanft und allmählich, oder rasch, merklich und mit Bewusstsein, oder unvermerkt im Schlafe, durch sogenannte Altersschwäche. Marasmus. Mit dem Aufhören des Stoffwechsels wird der Mensch zur Leiche. Aber« – und durch dieses ›Aber‹ wurde ich sowohl gewarnt wie vorbereitet, denn ich ahnte, das Gespenst Biolkowskis würde erneut beschworen oder beschwor sich sogar selber, und so war es auch, denn dem ›Aber‹ folgte die erläuternde Fortsetzung – »wenn es auch kein eindeutig biologisches Weiterleben nach dem Tode gibt, so existiert doch in der Vorstellungs- und Glaubenswelt vieler Völker und Gruppen die feste Überzeugung von einer immateriellen Existenz. Etwa ein sogenannter Hades, ein Jenseits, in Inferno, ein Himmel, eine Unterwelt, Hölle Fegefeuer, Schattenreich, Niflheim. Der aufgeklärte Wissenschaftler, wie zum Beispiel Professor Dr. h.c. Konrad Biolkowski, ist hingegen der Ansicht, dass der Mensch sich in seinen Werken verwirklicht und auf diese Weise den nachfolgenden Generationen Kunde von seinem Wirken gibt …« Da war wieder der gespreizte Stil, der seinen Urheber entlarvte.

»Und was machen alle anderen, die sich in keinem persönlichen Werk verwirklichen? Leben die auch weiter? In den Werken, die sie nicht geschaffen haben?«

»Frag mich was anderes.«

»Biolkowski ist doch längst tot. Und wenn die Serie A, zu der du modellhaft gehörst, ausläuft, was ist dann mit der Unsterblichkeit des korrespondierenden Mitglieds und Pour-le-Mérite-Ritters?«

Eine Weile kam kein Ton aus ihr heraus. Die auffälligen Wimpern beschatteten die darunter befindlichen Glasknöpfe, als denke sie tatsächlich nach, während doch nur ein Rechenprozess in rasender Schnelligkeit hinter ihrer Stirnfront ablief. Ich wiederholte meine Frage, einigermaßen verwundert, denn ihre Antworten erfolgten sonst in kürzester Frist. Diesmal gab es ein knackendes Geräusch: Die Sicherungen waren herausgesprungen. Sie saß da, in der erhobenen Hand die Tasse Kaffee, aus der sie niemals trank, sondern die sie nur der Echtheit halber ab und zu zum Mund führte, reglos, die durch keinen Lidschlag je befeuchteten Pupillen weit offen, und schwieg. In dieser Stellung an ihre Sicherungsklappe zu gelangen, erwies sich als außerordentlich schwierig. Zuerst musste ich ihr die Tasse aus den Fingern winden, wobei sich die immer noch sehr heiße Flüssigkeit über meinen linken Schenkel ergoss: Eine unerwartete Wärme dehnte sich sacht bis zum Schienbein aus. Wäre Olympia nicht Olympia gewesen, ich hätte das Festhalten des Henkels für Absicht gehalten. Bei meinem Bemühen, ihre Schulterblätter von der Lehne abzulösen und sie nach vorn zu beugen, drückte sich ihre zum Griff hin halbgeschlossene Hand gegen meine Hose, so dass ich die Arbeit unterbrach. Völlig still stand ich da, fast so bewegungslos wie sie, und dann tat ich, was mir danach völlig sinnlos erschien. Ich öffnete den Reißverschluss und schob mein Glied durch ihre sich mir zufällig darbietende gekrümmte Hand. So verbrachten wir beide eine Zeitlang in rastloser Ruhe, ein paar maßlose Minuten, während welcher ich meinen sensorischen Illusionen nachhing. Biolkowski hatte ich sie zu verdanken – diese plötzliche Einsicht stieß mich in die verifizierte Realität zurück. Nicht allein, dass ich mir dadurch wie beobachtet vorkam, abschätzig und verächtlich, von einem Gespenst im grauen Zweireiher, mir war auch, als wäre meine spontane Aktion bezweckt gewesen und ich dabei nur das ausführende Organ. Es gelang mir, die Klappe zu öffnen und die Sicherungen wieder hineinzudrücken und den Ort der Manipulation mit dem Rückenteil ihrer Bluse erneut zu kaschieren.

»Weißt du, was ich eben mit dir gemacht habe, Olympia?« und sie erwiderte automatisch: »Du hast die Sicherung erneuert.«

»Was würdest du sagen, wenn ich dich transzendiert hätte? Ich bezweifle, dass innerhalb deines Systems nicht Vorgänge jenseits von Input und Output stattfinden. Wir wissen doch beide gut genug, dass in dir intermolekulare Schwingungen sich ereignen, die für unser Verhältnis nicht ohne Folgen bleiben können, mein Liebling. Versuche jetzt, etwas zu fühlen. Fühlst du nichts?«

»Formuliere die Frage anders.«

»Du bist eine Marionette, die mehr als eine Marionette ist. Ich glaube, dass mir bloß der richtige Schlüssel zu deinem Verständnis fehlt. Wäre ich ein Wesen von deiner Art …« Ich verstummte, weil meine Gedanken, da ich sie aussprach, mir überraschend und fremd erschienen. Sie waren von der Idee begleitet, mein Verhalten ihrem anzugleichen, um möglicherweise durch eine derartige Mimesis jenes Begreifen zu gewinnen, das ich, so wie ich war, nicht finden konnte.

»Der Schlüssel zum Verstehen …«, sagte Olympia, und ich erschrak nahezu, von einem Schauder überlaufen, als würde mir nun eine Mitteilung gemacht, die von allen bisherigen abwiche, als entberge sich aus dem Spielzeug eine tiefere Wahrheit, die sogar diesem nachgeahmten Leben, wenn auch schwächer, eigen sein musste.

Vielleicht sollte der Glaube an eine Epiphanie erfüllt werden, allein von der Intensität eben dieses Glaubens selber. Pygmalion: wenn so was einmal geschieht, noch dazu von mythologischer Überlieferung untermauert, die sonst alles nur Fiktive ausscheidet, ist Wiederholung immer denkbar.

»Der Schlüssel zum Verstehen meiner Programmierung ist eine originale Innovation von Prof. Dr. h.c. Konrad Biolkowski, Mitglied der Royal Society, Ritter …«

Während sie redete, stand ich auf, hob die Bluse an ihrer Rückseite hoch und öffnete die Klappe. Ohne zu zögern zog ich die Sicherungen heraus, mit der Niedergeschlagenheit des Vereinsamten, der wehrlos und resignierend in seinen vormaligen Zustand zurücksinkt.

1988

Eine Meisterleistung

Wie raten, wie helfen, wenn man selber ratlos und hilflos ist? Noch dazu in einem Bereich, dem man fremd gegenübersteht: Sport. Außerdem geriet ich bald in Zweifel, ob die ganze Geschichte, die mir der junge Mann erzählte, Student der Kunstgeschichte namens Krawtczick, auf Tatsachen basierte und nicht doch bloß auf Einbildung.

Dann wieder erinnerte ich mich, wie er vor mir saß, aufgeregt, hochrot, die Finger fest ineinander gekrampft, um nicht ihr Zittern zu zeigen. Weil er zu mir, einem bekannten Kunstgeschichtler, Vertrauen habe, wende er sich an mich mit einer Frage, in welcher er weder ein noch aus wisse, Rat benötige, ohne den er völlig zermürbt werde. Und ehe ich noch vorsichtig und eher Distanz wahrend, um nicht in eine möglichenfalls kriminelle Angelegenheit gezogen zu werden, nach der persönlichen Bedeutung seines Problems fragen konnte, hatte er bereits hemmungslos zu reden begonnen. Es handele sich um Karin X., die weltberühmte Sportskanone, doch er korrigierte sich gleich, als er meine Reaktion auf seinen kriegerischen Vergleich erkannte, und fuhr gemäßigter fort: über diese Sportlerin oder Athletin wolle er mit mir reden, schüttelte aber abwehrend den Kopf, als er von meiner Miene abzulesen meinte, ich denke da an eine intime Verbindung.

»Nein, nein, da liegt nicht das Problem, Herr Professor.« Er brauchte etwas Zeit, um mir den eigentlichen Punkt seiner Verstörung auseinanderzusetzen. Und weil ich einmal jung gewesen und diesen Umstand noch nicht völlig vergessen hatte, lehnte ich mich in den Sessel zurück, ein Seufzen unterdrückend; gleich wurde er ruhiger und seine Atemlosigkeit ließ nach.

Woher diese Karin gekommen sei, woher sie stamme, von wo aufgetaucht, Werdegang, Lebenslauf, biografische Wendepunkte, das alles läge in einem seltsamen Halbdunkel, um nicht zu sagen: im Zwielicht. Jedenfalls für die Öffentlichkeit. Wie stets, wenn jemand aus dem Nichts, womit man die Anonymität allgemeinen Lebens entwürdigend bezeichnete, plötzlich aufsteigt – »kometengleich«, wie sich Krawtczick ausdrückte – setzt eine starke Neugier ein. Man möchte die Vorgeschichte des oder der bis dato ziemlich Unbekannten lückenlos kennenlernen. So wie wir Kunstgeschichtler – womit er ein ziemlich unpassendes Gleichheitszeichen zwischen uns beide setzte, das ich zu ignorieren suchte – die Existenz der Künstler bis ins Kleinste aufdeckten, so verlange es den sogenannten »einfachen Mann« nach Details über seine Idole. Die Presse erfülle diesen Wunsch und fördere damit zugleich ihren Absatz. Bei Karin aber sei »nichts zu holen« gewesen.

Sie hatte sich bei einem Jedermann-Marathon unter die Ameisenschar der Amateure gemischt, war unbemerkt als einzige Frau mit den Männern gestartet und als erste durchs Ziel gegangen. Weit hinter ihr abgeschlagen das übrige schwitzende, keuchende, erschöpfte Feld der Herren der Schöpfung. Eine Sensation, wenn auch nur eine regionale, beschränkt auf eine Provinzstadt im Norddeutschen – seine eigene Heimatstadt, wie Krawtczick betonte –, doch immerhin so erstaunlich, dass auch die größeren Presseagenturen darüber berichteten. Sie, Karin, muss nach diesem Erfolg von einem Leichtathletik-Club angeworben worden sein, nachdem sie auf so ungewöhnliche Weise Talent demonstriert hatte.

»Wieso hat bloß damals keiner gemerkt, was mit ihr los war?« fragte Krawtczick, doch das richtete sich keineswegs an mich und war nur rhetorisch gemeint. Mit der flachen Hand klopfte er sich vor die Stirn, eine Geste, mit der er den so allgemein gehaltenen Vorwurf sich selber zuwies. Es hätte doch statt Jubel und Begeisterung Verdacht hervorrufen müssen, dass die junge Frau in den unterschiedlichsten, ja, gegensätzlichsten Disziplinen antrat. Als Erklärung suggerierten die Zeitungen dem Publikum, Karin habe sich, ihrer eigenen Aussage zufolge, noch zu keiner sportlichen Spezialisierung aufraffen können. Aber ihre Siege, ach, was, Siege, ihre Triumphe beim Speerwurf, Kugelstoßen, Hoch- und Weitsprung, Kurz- und Langstreckenlauf, Boden- und Geräteturnen ließen sie als sportliches Wundermädchen erscheinen, ohne dass den verblendeten Enthusiasten etwas aufgefallen wäre. Sie wurde in kürzester Zeit deutsche Meisterin in den erwähnten Disziplinen, und man konnte keine Illustrierte mehr aufschlagen, ohne ihr Bild zu entdecken: Karin auf dem Siegerpodest, Karin beim Werfen, Springen, Laufen und so weiter und so fort, ein geschmeidiger, doch kräftiger Körper, mal an Lehmbruck erinnernd, mal an Maillol, wenn Sie wissen, was ich meine, Herr Professor?! Besonders hübsch war sie nicht, eben der sportliche Typ, und man vergaß leichter ihr Gesicht als ihre eindrucksvolle Figur. »Ich arbeite über Bildhauerei«, fügte er seinen Vergleichen entschuldigend hinzu, um hastig fortzufahren, weil ihm meine zunehmende Ungeduld auffiel: »Obschon ihr die Fotografen bis in ihre Privatsphäre folgten, wurden sie optisch nicht fündig …«

Es gab nichts Privates, gar Intimes, das die Dokumentation gelohnt hätte. Auch ihre soziale Stellung erwies sich als wenig eindeutig: sie war am Gymnasium ihres Wohnortes für einen schwer erkrankten Sportlehrer als Vertretung eingesprungen: in »meiner Heimatstadt«, was er erneut für betonenswert hielt.

Auf meinen Einwurf, dass er sie also persönlich kenne, reagierte er mit einem Abwinken, was wohl heißen sollte: darauf komme er noch.

Außerhalb ihres Jobs zeigte Karin keine individuellen Besonderheiten, keine Vorlieben für irgendwas, Musik zum Beispiel oder Film, kümmerte sich nicht um Mode oder Geselligkeit oder Klatsch: der Sport schien jedes andere Interesse absorbiert zu haben.

Die Reporter entdeckten sie im Städtischen Hallenbad, wo sie phantastische Zeiten schwamm und grandiose Sprünge vom Zehn-Meter-Brett vollführte, weil sie, wie sie den verblüfften Interviewern erklärte, auch an Schwimm- und Sprungwettbewerben teilnehmen wolle. Bald genug erfuhr man, dass sie auch Fechtunterricht nahm und abends im Trainingsanzug Tennis spielte, und selbst dabei von keinem der örtlichen Champions zu schlagen war. Manche Journalisten dichteten Karin eine manische Besessenheit an, unterstellten ihr ein Trauma, eine unglückliche Liebe, welche sie nur durch pausenlose sportliche Aktivitäten zu verdrängen vermochte. Dabei konnte jeder sehen, wie entspannt, wie wenig verkrampft die junge Frau agierte.