Buchcover

Tor Åge Bringsværd

Mond der Kindheit

Roman

Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider

Saga

Mond der Kindheit

Als ich ein Kind war, schien der Mond mir rundes Gold,

Das wie ein Spiegel leicht am Rand der Wolken rollt.

Drin zogen Geister groß mit Seidenfahnen,

Zimtbäume ließen Süßigkeiten ahnen,

Der gelbe Hase braute treffliche Getränke,

Der Mann im Mond saß bei ihm in der Schenke –

Bis einst der Drache Mond und Mann verschlang

Und Nacht wie dunkle Trauer niedersank.

Neun schlimme Vögel sind dabei, die Sterne aufzupicken.

Die Götter lagern traurig auf den Wolken, nicken

Und wiegen sich in sturmgepeitschten Böten.

Wer wird die schlimmen Vögel töten? –

Doch wenn der Mond von Nacht zu Nacht entschwand

Und endlich nur als schmaler Strich am Himmel stand,

War er ein Dolch, den ich mir in die Seite stieß,

Weil mich die Angst um dieses Leben nicht verließ.

Li Taibo (701–726 n. Chr.)
(Nachdichtung: Klabund)

I

Ich weiß, daß ich mit den Händen rede, nicht mit dem Mund. Und daß du mit den Augen zuhörst, nicht mit den Ohren. Doch für mich ist das gesprochene Wort immer am wichtigsten gewesen. Ich weiß nicht, ob Tusche und Seide genügen. Ich weiß nicht, ob ich die Menschen dazu bringen kann, über Buchstaben zu lachen und zu weinen. Deshalb sage ich lieber: Hörst du, daß ich dir etwas zuflüstere? Denn du hast das Siegel erbrochen, hast den Deckel zur Seite geschoben ... Und ich habe meine Stimme auf dem Boden dieses Tonkruges versteckt.

Kann ich es so sagen?

Ja.

Zum erstenmal seit langem kann ich sagen, was ich will.


Dschingis Khan fragte einmal seine Offiziere: »Was auf der Welt vermag einem Mann größten Genuß und höchstes Glück zu geben?«

Sie antworteten ihm: »Die weite Steppe, ein klarer Tag, ein schnelles Pferd unter sich.« Und nach kurzer Besinnung: »Und ein Falke auf der Hand, um Hasen aufzuschrecken.«

Aber Dschingis Khan schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er zu ihnen. »Deine Feinde zermalmen, sehen, wie sie dir zu Füßen fallen, ihnen alles nehmen, was sie besitzen, auf ihren Pferden reiten. Die Gesichter, die ihnen teuer waren, in Tränen aufgelöst sehen. In den Armen ihrer Frauen und Töchter ruhen. Das ist das Beste!«


Solche Bilder sehe ich. Solche Gedanken gehen mir durch den Kopf.


Ich erinnere mich an ein Kloster. Es lag in einem engen Tal zwischen großen Granit- und Schieferfelsen. Den Namen habe ich vergessen. Und den Ort würde ich nie wiederfinden. Wir wurden mit Wimpeln, Fahnen, Trommeln und Gongschlägen willkommen geheißen. Die große Gebetsmühle war elf Fuß hoch und hatte einen Umfang von vier Faden. Zwei Mönche saßen da und drehten sie, von Sonnenaufgang bis Mitternacht – jahraus, jahrein. Bei jeder Umdrehung läutete ein Glöckchen. Die Mühle machte zehntausend Umdrehungen pro Tag und war mit Millionen von Gebeten gefüllt, geschrieben auf dünnes Papier. Hier sah ich auch zum erstenmal das, was die Tibeter dupkang nennen. Das ist eine Eremitenhöhle. Sie lag oberhalb des Klosters, und wir mußten einen steilen Hang hinaufklettern. Der Eingang war zugemauert, und die Höhle hatte keinen anderen Zugang. Es gab nur einen kleinen Spalt knapp über dem Boden, durch den man einen Eßnapf schieben konnte. In dieser Höhle lebte seit sechzehn Jahren ein Lama. Und während all dieser Zeit hatte er nicht ein einziges Wort mit irgend jemandem gewechselt. Er hatte sich für das unwiderruflichste, für das schrecklichste aller Mönchsgelübde entschieden: für den Rest seines Lebens lebendig begraben zu sein. Jeden Morgen wird eine Schale mit tsampa und vielleicht einem Klecks Butter zu ihm hineingeschoben. Wasser bekommt er von einer Quelle im Innern der Höhle. Jeden Morgen wird die leere Schale herausgezogen und wieder gefüllt. Jeden siebten Tag bekommt er ein Quäntchen Tee und zweimal im Monat einige Holzspäne, die er mit Hilfe seines Feuersteins zum Brennen bringt. Ansonsten sitzt er in völliger Dunkelheit. Kein Schatten bewegt sich. An der Änderung der Temperatur erkennt er den Wechsel der Jahreszeiten. Aber er weiß nicht, wann die Sonne aufgeht und wann sie untergeht. Seine einzige Gesellschaft sind Käfer und Spinnen. Das einzige, was er hört, ist der Klang seiner eigenen Stimme. Die Kleider faulen ihm vom Leib. Die Haut wird fahl, das Haar lang und strähnig. Die Nägel wachsen zu stumpfen Messern. Allmählich erlischt das Augenlicht, bis er eines Tages völlig blind ist. Aber unablässig erfleht er in Gebeten und Träumen das Nirwana. So ist seine Sehnsucht nach dem Tod. So groß ist seine Verzweiflung über das Leben ... Jeder andere Mönch, der versuchen würde, mit ihm zu sprechen, wäre auf ewig verdammt. Und spräche der Eremit selbst mit einem seiner dienenden Brüder, dann wären all die Jahre, in denen er eingemauert meditierte, umsonst gewesen. Das glauben sie jedenfalls.

Finden die Brüder die Schale eines Morgens unberührt vor, wissen sie, daß der Eremit entweder krank oder gestorben ist. Sie warten sechs Tage lang. Dann wird die Höhle aufgebrochen, denn nun kann man sicher sein, daß er tot in der Dunkelheit liegt.

Der Tote wird herausgeholt und verbrannt. Und vielleicht nimmt der nächste seinen Platz ein ...


Auch solche Bilder sehe ich.


Deshalb: Wie Kinder in den Sand fassen, die Hände zur Schale formen, den Sand dreimal in die Luft werfen und sehen, was zurückbleibt, so habe ich mir vorgenommen, dieses Buch zu schreiben. Ich will die Bilder betrachten, die in meinem Kopf sind. Ohne über die Reihenfolge nachzudenken. Und der Mund soll sie beschreiben. Wie sie ihm einfallen. Und die Wörter, für die die Hand Interesse zeigt, will ich versuchen festzuhalten.

Auf diese Weise will ich einen Zusammenhang aufspüren.

Damit nicht alles mit einem Schrei endet.


Sie meinen, ich hätte meine Reise in westliche Richtung fortgesetzt. Statt dessen bin ich den Karawanenwegen nach Süden und Osten gefolgt. Es wird einige Zeit dauern, bis sie mich finden.

Ich habe diese Oase nicht ausgesucht.

Aber ich kann hier ebensogut warten wie anderswo.

Im Herzen der Wüste Gobi.

An der alten Seidenstraße.

Beim Halbmondsee.

In der Nähe der Stadt Dunhuang.

Vielleicht machen sie sich gar nicht die Mühe, nach mir zu suchen.


Die großen, zimtfarbenen Sandberge erheben sich an allen Seiten. Hügel, die bis zu fünfhundert Fuß hoch werden können. Sie verändern ständig ihr Aussehen. Selbst beim kleinsten Windhauch rieselt die Oberfläche dieser Dünen wie der Sand in einem Stundenglas ...


Es hat Zeiten gegeben, da dachte ich, ich könnte nicht mehr weinen. Und Zeiten, da glaubte ich, nie mehr einen Grund zum Lachen zu finden. Doch die Tränen sind nie ausgeblieben, und das Lachen ist immer wiedergekommen. Meist dann, wenn ich es am wenigsten erwartet hatte.

Als Schauspieler war mir das von großem Nutzen.


Man schreibt das Jahr des Herrn 1240. Dem Kalender der zwölf Tiere zufolge war es ein Rattenjahr. Ich kam in die Hauptstadt der Mongolen – Karakorum. Eher als Gefangener denn als Gast. Als einer der vielen, die den Seiltanz zwischen Reichtum und Hinrichtung wagen wollten. Ein Parasit unter Parasiten. Krämer, Gaukler, Astrologen, Quacksalber, religiöse Schwärmer. Ügedai war noch Khagan. Aber so, wie er soff, wußte jeder, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis Magen und Kopf barsten. Auch Tschaghatai war nur ein Schatten seiner selbst. Yelü Chucai bemühte sich, das Reich zusammenzuhalten. Sein Stern war im Sinken begriffen. Nur die Erinnerung an seine Freundschaft mit Dschingis Khan hielt ihm die schlimmsten Wölfe vom Leibe, und er war nach wie vor Ügedais höchster Berater.

Ich gehörte Yelü Chucai.

Das verschaffte mir mehr Freiheit als den meisten andern.

Aber im Palast-in-dem-sich-alle-Wege-treffen hatte Töregene bereits begonnen, Ränke und Intrigen zu spinnen.

Sie wollte Güjük auf dem Thron sehen.

Und ihr war jedes Mittel recht.


Auch 1204 war ein Rattenjahr. Das Jahr, in dem ich geboren wurde ... Ich habe mir abgewöhnt, auf Vorzeichen zu achten. Ich verschließe die Ohren vor den Sternen. Ich lese nicht mehr in den Rissen warmer Tierknochen. Denn ich habe in drei Welten gelebt. Unter drei verschiedenen Zeitrechnungen. Und ich weiß, daß fast alles nur die Sehnsucht ist, die große Verwirrung in unserem Herzen zu lindern.

Meine Eltern brachten mir bei, die Jahre von Christi Geburt an zu zählen.

Später wurde ich gezwungen, von der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina auszugehen.

Die letzten Jahre habe ich nach einem Kalender gelebt, in dem zwölf Tiernamen aufeinander folgen wie Speichen in einem Rad.

Ich weiß, daß fast alles Wind ist.

Trotzdem habe ich seltsamerweise oft das Gefühl, im Schatten einer Ratte zu wandern ...


Der Halbmondsee.

Mein Rücken ist schuld daran, daß ich hier geblieben bin. Er trägt mich nicht mehr. Jedesmal, wenn ich erwache, habe ich Angst, daß der Tag gekommen ist, an dem ich nicht mehr aufstehen kann.

Die Menschen hier sind hilfsbereit. Niemand stellt unangenehme Fragen. Man ist an die verschiedenartigsten Pilger gewöhnt. Und ich kann für mich bezahlen.


Vier Jahre lebte ich in Karakorum. Als Yelü Chucai starb – Friede sei mit ihm –, folgte ich der Karawane, die seinen Leichnam zurück nach Cathay bringen sollte. Es war sein Wunsch, am Fuße des Berges Wan Shan begraben zu werden. Sogar seine Feinde achteten seinen Letzten Willen. Der Wunsch wurde erfüllt.

Ich hätte ihn gerne bis dorthin begleitet. Unter den Menschen gibt es keinen, den ich mehr bewundert habe als Yelü Chucai. Doch als sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, ergriff ich sie. Was heißt fliehen ... die ganze Welt ist bald ein mongolischer Käfig, und es ist zwecklos, an den Gitterstäben zu nagen. Mir bleibt nur, zwischen Wegmarken aus Totenschädeln herumzuirren ... in der Hoffnung, einen dunklen Winkel zu finden.


Ich erinnere mich an den letzten Abhang. Die Füße, die keinen Halt im losen Sand fanden. Ich krabbelte mehr, als ich ging. Bis ich endlich oben war ... und im Tal unter mir den kleinen, saphirblauen Halbmond erblickte. Ich habe Seen gesehen, die genauso schön waren. Aber an dem Tag ... nach mehreren Wochen in der Wüste ... auf der anderen Seite des Sees erkannte ich den kleinen Tempel, umgeben von silbrig schimmernden Bäumen ... und auf dem Wasser schwamm eine Schar Vögel mit schwarzen Hauben ... da fühlte ich, daß es richtig war, was mir die Leute in Dunhuang erzählt hatten: Hier ... genau hier ... sei die Hintertür zum Paradies. Und Furcht ergriff mich, alles könnte verschwinden ... alles wäre nur ein Spiel und ein Trugbild ... deshalb stürzte ich los, ließ mich hinunterrutschen, den ganzen Berg.

Im selben Moment begann der Sand zu singen.

Ein lauter, durchdringender Ton. Tief unter mir. Als hätte ich eine Harfe im Innern der Erde geweckt und die Saiten zum Schwingen gebracht. Und gleichzeitig fing die Sanddüne an zu beben.

Ich erschrak zu Tode.

Ich habe fast allem abgeschworen, fremden Lehren ebenso wie meinem Kinderglauben. Aber was ich sehen und hören kann, das, was ich mit eigenen Händen greifen kann ...

Denn auch ich glaube, daß es geheimnisvolle Kräfte gibt.

Der Priester und seine beiden Helfer kamen mir entgegen. Alle drei lächelten und zeigten die offenen Handflächen.

Sie betrachteten meine Ankunft als gutes Vorzeichen.

»Du hast genau die richtige Stelle ausgesucht«, erklärten sie mir. »Wärest du etwas weiter östlich gekommen, der Ton wäre viel schwächer gewesen. Und wärest du den Hügel dort drüben heruntergekommen, hätte man überhaupt nichts gehört. Nur einige wenige Sanddünen haben eine Stimme. Die meisten sind stumm.«

Sie nannten die Erscheinung lui-ing – rollender Donner.

Ich sagte, ich hätte nicht gewußt, daß der Sand donnern könne. Aber sie erwiderten, daß ich den Ton hier oft hören würde.


Und sie hatten recht.

Jedesmal, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung bläst, ertönt in den Dünen ein Geräusch. Manchmal klingt es wie Glocken. Manchmal ähnelt es dem Schrei eines männlichen Kamels.


Später erfuhr ich, daß der Priester noch eine andere Erklärung dafür hat. Eine, die mich mehr befriedigt. Er glaubt, es seien die Götter, die da polterten ... dieselben Götter, für die in seinem kleinen Tempel Altäre stehen und denen er gehorsam Tag für Tag dient.

Ich selbst denke mehr und mehr an Agartha. Das unterirdische Reich. Die Zufluchtsstätte. Wo die leben, die zweimal geboren werden.

Der Traum von Agartha ... die Hoffnung, den geheimen Eingang zu finden ... ein verständlicher Traum für uns, die wir in einem Käfig leben.


Aber es brauchte Zeit, bis ich mich an lui-ing gewöhnte. In einer der ersten Nächte wurde ich von einem Geräusch geweckt, das wie Trommelwirbel klang.

Ich sprang auf.

Der Priester hörte mich und rief: »Keine Angst, mein Bruder. Das sind nur die Trommeln unserer Sandhügel. Beruhige dein Herz.«


Was bedeutet ein solcher wie ich für die Mächtigen in Karakorum? Warum sollten die Mongolen mir Soldaten nachschicken? Wen kümmert schon ein fremder Gaukler, der nicht mehr auf dem Marktplatz tanzt?

Ich bitte um Zeit, damit ich diesen Tonkrug mit meiner Stimme füllen kann.

Ich bitte um Zeit, damit ich ausreden kann.

Und ich bitte darum, daß einmal ein Mensch dastehen und zuhören möge. Einer, der meine Sprache versteht.


Fremder, der du mein Grab geöffnet hast ... trage ich noch das braune Gewand? Habe ich noch ein Gesicht? Oder bin ich nur ein Häufchen vermoderter Gebeine, nur ein grinsender Totenschädel?

Ich weiß weder Tag noch Stunde. Ich weiß nicht das Jahr. Vielleicht bin ich nur ein entferntes Echo aus längst vergangener Zeit.

Aber du hörst, daß ich dir zuflüstere?


Ich bin Wolfgang.

Eines der Kinder von Hameln.

II

Was wirklich geschah, geriet in Vergessenheit.

Denn als die Trauer zu einer Scham wurde, die mitzuteilen keiner mehr für nötig fand, dachten sich die Menschen eine andere Geschichte aus.


Wie lange dauert es, um aus einem Mönch einen Rattenfänger zu machen? Wie viele Jahre sind erforderlich, damit aus einer hohen, kreischenden Stimme Flötentöne werden?

Ich habe gehört, wie man mein eigenes Schicksal erzählte. Als eine Lüge. Schon zur Sage verzerrt.

Aber ich tadle niemanden.

Auch ich lasse meine Zunge gerne Abkürzungen nehmen. Übertreiben. Bilder und Gleichnisse benutzen. Wie hätte ich sonst Schauspieler werden können? Und wenn sich die Gedanken nicht jedesmal, wenn ich mich näherte, im Dornengestrüpp verheddert hätten ... wer weiß ... vielleicht wäre auch ich in Versuchung geführt worden ... ein Maskenspiel aufzuführen ... aus der Geschichte der Stadt, die so furchtbar von Ratten heimgesucht war, eine Posse zu machen ... mit lauten Schreien und grotesken Gebärden? Ich sehe die Möglichkeiten. Hätte Mika noch gelebt, wir hätten sie zusammen machen können. Für uns zwei wäre das ein leichtes gewesen. Wir hätten Menschen spielen können, verdreckte und abgerissene, reiche und satte – und wir hätten zeigen können, wie die Angst sie langsam und flüsternd fesselt, unsichtbare Fäden, die zu Tauen und starken Trossen werden ... bis die ganze Stadt ein einziger heulender Knoten aus Angst ist. Denn die Ratten sind überall. Kratzen an Fußböden und Wänden, huschen unter den Matratzen hervor, nagen in jedem Vorratskeller, treiben halbtot im Brunnenwasser. Und wir wären ohne Puppen und ohne kleine, graue Lederreste zurechtgekommen ... wir hätten uns mit raschen Blicken, Pfeiflauten und erschreckten Zeigefingern begnügt ... trotzdem hätten alle sie gesehen, deutlicher, als wären sie wirklich da, größer, gefährlicher und ekliger. Denn so hat der Herr unser inneres Auge geschaffen, pflegte Mika zu sagen. Ohne dieses Auge kann man kein Theater machen, und erst wenn es aussetzt, sind wir wirklich blind ... Unsere Ratten sollten tanzen, pfeifen und die Zähne fletschen – und der Platz, wo wir standen, sollte sich langsam in den Marktplatz von Hameln verwandeln ... in jenes Reich der Deutschen, das mir heute ebenso fern und unerreichbar erscheint wie der Mond. Ich weiß, daß die Bilder, die ich mit mir herumtrage, nie etwas anderes als Scherben waren. Trotzdem werde ich mich niemals zurücksehnen. Und im Theaterspiel könnte ich dort sein, die rote Maske aufsetzen und Bürgermeister sein, schlau und hinterlistig. Und Mika könnte die Menge der Stadtbewohner sein, die schrien, weinten, fluchten und an die Rathaustür hämmerten. Denn war ich nicht der Verantwortliche? War ich nicht der Bürgermeister? War es nicht meine Pflicht, dafür zu sorgen, daß diese Bedrohung des Schwarzen Todes beseitigt wurde? Aber nichts half. Bis eines Tages ... und ich sehe Mika im schwarzen Umhang mit dem roten Futter, den hohen Stiefeln und der Feder am Hut ... bis eines Tages der Rattenfänger in die Stadt kommt. Er verspricht, uns von der Plage zu befreien. Wir handeln einen Preis aus. Einen zu hohen Preis. Aber wenn die Ratten nicht verschwinden, wer weiß, ob ich wiedergewählt werde, und außerdem: Wer sagt denn, daß ich bezahlen muß? Sind die Ratten weg, dann sind sie weg, und alles, was danach passiert, ist eine andere Geschichte. Ich reibe mir die Hände. Ich lüpfe die Maske und schneide vertrauliche Grimassen zum Publikum. Ich berufe den Stadtrat ein – eine Puppe in jeder Hand – und ziehe seine Mitglieder ins Vertrauen. Sie fallen mir um den Hals und jubeln. Dann lassen wir die Bühne dunkel werden, heben einen Mond und zwei Sterne hoch, zeigen mit Handbewegungen, daß die Stadt schläft – und daß manche auch andere Dinge treiben (ein grober Spaß, der nie oft genug wiederholt werden kann – und die, die gerade erst gekommen sind oder zu besoffen, um der Handlung zu folgen, sollen auch ihren Spaß haben). Psst! Still! Hören wir da nicht eine Flöte? Was für eine merkwürdige Melodie? Und der Rattenfänger ... sieht er jetzt nicht anders aus? Im Schein des flachen Papiermondes, den wir vor uns befestigt haben, im Licht der Sterne, die zu halten ich einen Zuschauer gebeten habe. Der Rattenfänger geht durch die Gassen von Hameln, wandert langsam von Haus zu Haus ... das Gesicht ist eine weiße Maske und die Flöte, auf der er spielt, eine Knochenpfeife, glatt und gelblich. Der Rattenfänger spielt ... und aus Löchern und Spalten quellen sie heraus, die fetten Biester, wimmeln über das Kopfsteinpflaster, folgen ihm zahm und willenlos wie Schlafwandler. Und der Rattenfänger spielt ... spielt sie hinaus aus der Stadt, über die Felder, durch einen Wald, weit weg und hin zu einem Fluß ... spielt, bis jede einzelne von ihnen tot und ertrunken ist. Wenn ich den Mond umdrehe und zeige, daß die Sonne lächelnd aufgegangen ist ... wenn die Stadt erwacht ... sind alle froh und glücklich. Wir tanzen, rufen, schlagen die Trommel, versuchen, das Publikum mitzureißen. Und der Bürgermeister wird als Retter der Stadt gefeiert. Mitten unter dem Fest kehrt der Rattenfänger zurück. Er will wie abgemacht seinen Lohn haben. Aber wir weigern uns ... lachen ihn aus ... alle Bürger von Hameln ... wir torkeln herum ... wir legen ihm nahe, zu verschwinden, was er eigentlich wolle ... die Ratten haben uns verlassen, wir brauchen ihn nicht mehr ... wir kehren ihm den Rücken zu, wir treten nach ihm, wir jagen ihn fort. Und das Fest geht weiter. Bis jeder genug hat und mehr, als er verträgt, bis die Stadt sinnlos betrunken ihren Rausch ausschläft. Und jetzt ... jetzt kehrt der Rattenfänger zurück ... er hat gewartet ... er hat uns fürchterliche Rache geschworen ... jetzt setzt er die Knochenpfeife an die Lippen ... noch einmal wandert er durch die Gassen von Hameln ... ohne Hut, aber mit Haaren wie ein Vogelnest ... mit umgedrehtem Mantel ... mit Augen, die wie Kohlen glühen ... und spielt, spielt auf seiner verzauberten Flöte. Und diesmal sind es nicht die Ratten, die ihm folgen ... Die Erwachsenen schlafen, schnarchen, rülpsen ... aber die Kinder erwachen ... verwundert, voller Freude ... jedes Kind von Hameln wird von der Flöte geweckt ... und alle, die groß genug sind, gehen zu können, verlassen ihre warmen Betten und tappen hinaus auf die Gasse ... schauen sich an, aber sagen kein Wort ... lachen, aber ohne einen Laut ... scharen sich um den Rattenfänger, huschen durch die Gassen, steigen über schlafende Eltern und Großeltern ... formieren sich in Reih und Glied wie gehorsame Soldaten ... marschieren aus der Stadt ... weiter und immer weiter ... folgen der Flöte und dem, der spielt.

All dies hätten wir vorführen können, Mika und ich. Wenn das Dornengestrüpp nicht gewesen wäre ...

Wer weiß. Vielleicht wird die Sage weiterleben. Wird neue Schößlinge und Blüten treiben. Ich glaube aber: Die Kinder werden weiterhin Kinder bleiben. Egal, wie die Geschichte erzählt wird. Gleichgültig, wie viele Schalen sich bilden.

Und sie werden für immer verloren sein.

Nicht nur in Hameln, auch in Hunderten anderer deutscher und französischer Städte.


Yelü Chucai sagte einmal zu mir: »Wenn deine Tuschfeder an einer Seite abgenutzter ist als an der andern, ist das ein Hinweis, daß sich dein Herz nicht im Gleichgewicht befindet.«

Aber wie kann ich ruhig denken, wie soll ich im Herzen gefühllos bleiben?

Ich war eines von ihnen.


Außerdem: Seit ich mich erinnere, habe ich Schwierigkeiten mit den vier Körpersäften gehabt. Die Arzte meinen, das hänge mit Leber und Milz zusammen. Oft produziere die Leber zuviel gelbe Galle, erklären sie mir. Der Körper wird heiß und trocken, im Gemüt entsteht ein Übergewicht von Feuer und Erde – und ich werde hitzig und hochfahrend. Ein paar Tage später kann das umgekehrt sein. Da macht die Milz plötzlich nicht mehr mit, und ich habe zu viel von der schwarzen Galle. Das Gemüt wird von Luft und Erde erfüllt, und ich verfalle beim geringsten Anlaß in Trauer und Melancholie. Ich kämpfe gegen diese Stimmungsschwankungen an, so gut ich kann. Solange es möglich ist. Aber jeder hat sein Leiden. Das ist meines.


Ich bin um den See herumgegangen. Langsam und allein. Ich habe den Sand in die Hände genommen, habe ihn durch die Finger rieseln lassen. Anscheinend grau und leblos, doch bei näherem Hinsehen ... durchsetzt mit winzigen, vielfarbigen Quarzteilchen. Blau, grün, rot, purpur, weiß. Und ich überlegte: Möglicherweise ist es gar nicht so, daß wir Menschen die Symbole schaffen ... möglicherweise finden die Symbole uns.


Ich war acht Jahre, als ich dem Ruf folgte. Als ich mich von Rattenfängern und Wirrköpfen locken ließ.

Wir nannten es Kinderkreuzzug.


Beim Weitergehen dachte ich an Mika. Er hat mir beigebracht, Masken anzufertigen, und er hat mir gezeigt, wie ich vier Bälle auf einmal in der Luft halten kann.

Vorführungen und Kostüme kannte ich fast nur von den großen kirchlichen Feiern. Aber Mika stammte aus Nikäa. In ihm lebte das Erbe der griechischen Komödien und die Erinnerung an die großen Pantomimen im Hippodrom Konstantinopels. In ihm sprudelte eine von Zauberern, Tierbändigern, Taschenspielern und fahrenden Gauklern geprägte Tradition.

Ich dachte an Mika – und ich fand Trost darin, einige Handvoll Sand gegen den Wind zu werfen.

Ich weiß, daß mich der Priester und seine zwei Helfer beobachten. Ich weiß, daß sie verwundert sind.

Ich bin jetzt beinahe drei Wochen hier. Noch habe ich mich ihnen nicht geöffnet.

Ich will nicht einmal wissen, wie sie heißen.

Mir liegt nichts daran, neue Namen zu lernen.

Ich will meinen Frieden.


Der Priester ist alt. Hat einen Kopf wie ein verhutzelter Apfel. Arme und Beine wirken unglaublich dünn. Trotzdem vermittelt seine Gestalt den Eindruck von Stärke und Zähigkeit. Er ist wie ein genügsamer, vom Wind zerzauster Wüstenbusch.

Der ältere der beiden Gehilfen ist ein Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren. Vorher war er Schafhirte. Das muß sehr schwierig für ihn gewesen sein. Er hat einen Klumpfuß und hinkt mit jedem Muskel seines Körpers. Er legt eine enorme Hingabe für den Priester an den Tag, genießt dabei offensichtlich das Prestige, das er in seiner Stellung als Tempeldiener zu haben meint.

Der jüngere ist ein taubstummes Kind. Er kümmert sich um alle kleineren Aufgaben. Jeden Tag sehe ich ihn unten am Strand, wie er mit einem Korb über dem Arm Brennholz für die Küche sucht.

Gemeinsam halten die drei alles in Ordnung, haben einige Reihen Kohl angepflanzt, verrichten den täglichen Tempeldienst, läuten zu festen Zeiten die Glocken, verbrennen Weihrauch und halten verschiedene Zeremonien ab. Sie begrüßen die Pilger und kümmern sich um jeden einzelnen.

Gastfreundschaft ist ein ungeschriebenes Gesetz. Ich begreife nicht, wie das auf Dauer gutgehen kann. Im Moment bin ich der einzige Gast. Aber vorige Woche waren noch vier weitere Pilger hier. Zwar bringen alle Gäste Nahrungsmittel für den gemeinsamen Vorrat mit, aber trotzdem ...


Ich bin zur Südseite zurückgekehrt. Hier stehen die drei kleinen Gebäude. Der Tempel, das Haus, in dem wir essen und uns versammeln, das Haus, in dem wir schlafen. Das Ganze ist eng zusammen auf Terrassen gebaut, mit einer Treppe, die hinunter zum Wasser führt. Ich habe die Sandalen ausgezogen. Ich sitze dort, wo der See an die unteren Stufen leckt.

Die Luft ist schwer von dem Geruch der kleinen Jujube-Bäume. Versteckt zwischen den Silberblättern hängen goldene Blütentrauben.

Es ist Frühsommer.


Nur das eine: Ich bin nicht aus Hameln. Ich komme aus Godesberg. Aber alle Schauspieler lügen. Wenn das der Rolle nützt.