15Kapitel 1:
Firmengründer werden

Genau wie Larry und Sergey die Grundlagen dafür geschaffen haben, wie Google seine Mitarbeiter behandelt, können Sie den Grundstein dafür legen, wie Ihre Gruppe arbeitet und lebt.

16Jede großartige Geschichte hat ihren Ursprung.

Die Kinder Romulus und Remus, ausgesetzt am Ufer des Tiber, werden von einer Wölfin gesäugt, von einem Specht gefüttert und schließlich von freundlichen Schafhirten aufgezogen. Als junger Mann gründet Romulus dann Rom.

Das Baby Kal-El wird durchs Weltall zur Erde geschickt, während sein Heimatplanet Krypton hinter ihm explodiert. Es landet in Smallville, Kansas, und wird von Martha und John Kent aufgezogen. Später zieht es nach Metropolis und trägt fortan den Umhang des „Superman“.

Thomas Alva Edison gründet 1896 ein Laboratorium in Menlo Park, New Jersey. Er bringt einen amerikanischen Mathematiker mit einem englischen Mechaniker, einem deutschen Glasbläser und einem Schweizer Uhrmacher zusammen und gemeinsam entwickeln sie eine hell leuchtende Glühbirne, die mehr als 13 Stunden brennt.17 Damit legen sie den Grundstein für die Edison General Electric Company.

Oprah Winfrey, Tochter einer bitterarmen Teenagerin, wird als Kind missbraucht und von einem Heim ins nächste geschickt. Aus ihr wird eine Spitzenstudentin, die jüngste und erste schwarze Nachrichtensprecherin bei WLAC-TV in Nashville und schließlich eine der erfolgreichsten Kommunikatorinnen der Welt – ein inspirierendes Vorbild auch als Geschäftsfrau.18

Das sind ganz verschiedene Geschichten und doch ähneln sie einander auf bezeichnende Weise. Der Mythologe Joseph Campbell meint, es gibt nur einige wenige, archetypische Geschichten, die den meisten Mythen der Welt zugrunde liegen. Wir erleben ein Abenteuer, müssen eine Reihe von Prüfungen bestehen, werden klüger und gelangen schließlich zu einer Art Meisterschaft oder Frieden. Wir Menschen leben durch Erzählungen, betrachten die Geschichte durch eine Brille von Geschichten, die wir uns selbst erzählen. Kein Wunder dass wir gemeinsame, verbindende Fäden in den Webmustern unserer Leben finden.

Auch Google hat seine Geschichte. Die meisten glauben, es fing mit Larry Page und Sergey Brin an, den Google-Gründern, als sie sich bei einer Campustour für Studienanfänger an der Stanford University kennenlernten. Doch es begann schon früher.

Larrys Ansichten sind von seiner Familiengeschichte geprägt: „Mein Großvater war Arbeiter in der Automobilindustrie, und ich besitze eine Waffe, die er zum Schutz vor der Firma hergestellt hat und die er mit zur Arbeit nahm. Es ist ein dickes Eisenrohr mit einem Klumpen Blei am Ende.“19 Und er erklärt: „Die Arbeiter fertigten das während eines Sitzstreiks an, um sich zu schützen.“20

Sergeys Familie ist 1979 vor dem Antisemitismus des kommunistischen Regimes aus der Sowjetunion geflüchtet – auf der Suche nach Freiheit.

17„Meine Aufsässigkeit kommt, glaube ich, daher, dass ich in Moskau geboren wurde“, erklärt Sergej. „Ich würde sagen, die ist mir im Erwachsenenleben erhalten geblieben.“21

Die Vorstellungen von Larry und Sergey, wie Arbeiten sein kann, sind außerdem geprägt von ihren frühen Erfahrungen in der Schule. Sergey hat dazu angemerkt: „Ich glaube wirklich, ich habe von der Montessori-Erziehung profitiert, die auf ihre Art den Schülern sehr viel mehr Freiheit gibt, die Dinge im eigenen Tempo zu tun.“ Marissa Mayer, damals stellvertretende Leiterin des Produktmanagements bei Google und heute CEO von Yahoo!, sagt zu Steven Levy in seinem Buch In the Plex: „Du kannst Google nicht verstehen … wenn du nicht weißt, dass Larry und Sergey auf eine Montessori-Schule gegangen sind.“22 An einer Montessori-Schule wird auf die Lernbedürfnisse und die Persönlichkeit eines Kindes eingegangen, die Kinder werden ermutigt, alles zu hinterfragen, nach eigenem Gutdünken zu handeln und kreativ zu sein.

Im März 1995 besuchte der 22-jährige Larry Page die Stanford University in Palo Alto, Kalifornien. Er stand im Begriff, sein Grundstudium an der University of Michigan abzuschließen und dachte darüber nach, an der Stanford University in Informatik zu promovieren. Sergey, gerade 21 Jahre alt, hatte sein Grundstudium zwei Jahre zuvor an der University of Maryland abgeschlossenii und war bereits für einen PhD-Studiengang eingeschrieben. Er hatte sich freiwillig als Führer über den Campus für die künftigen Neuen gemeldet. Und natürlich landete Larry in Sergeys Gruppe.23

Sie kamen schnell miteinander ins Gespräch, und wenige Monate später tauchte Larry als Studienanfänger wieder auf. Er war fasziniert vom Internet und insbesondere davon, wie Webseiten miteinander vernetzt waren.

1996 war das Internet ein einziges Chaos. Die Suchmaschinen wollten die relevantesten, nützlichsten Webseiten finden und stuften sie ein, indem sie den Text der Webseite mit dem eingetippten Suchbegriff verglichen. Das eröffnete den Besitzern der Seite kreative Möglichkeiten: Sie konnten ihr Ranking auf der Suchmaschine verbessern, indem sie beliebte Suchbegriffe unsichtbar auf der Seite verbargen. Wollte man, dass die Leute die eigene Tierfutterseite besuchten, schrieb man hundertmal „Tierfutter“ mit blauer Schrift auf blauen Hintergrund und das Ranking verbesserte sich. Ein anderer Trick bestand darin, Wörter im Quellcode der Seite – für den menschlichen Leser unsichtbar – möglichst häufig zu wiederholen.

Larry meinte, bei diesem Vorgehen würde ein wichtiges Signal übersehen: Was die Nutzer von einer Webseite hielten. Die relevantesten 18Webseiten seien von zahlreichen anderen Seiten aus verlinkt, weil die Menschen nur auf andere relevante Seiten hinweisen würden. Dieses Signal sei sehr viel aussagekräftiger als die Anzahl der Keywords auf einer Webseite.

Dabei stellte es ein übermenschlich schwieriges Problem dar, ein Programm zu schreiben, das jeden Link im Netz identifizieren würde, um dann die Stärke der Beziehungen zwischen allen Webseiten auf einmal hierarchisch geordnet zu präsentieren. Glücklicherweise fand Sergey das Problem ebenso faszinierend. Gemeinsam entwickelten sie BackRub, eine Art Ranking der Backlinks, die von der Seite, auf der man sich gerade aufhielt, zu der Seite zurückführten, auf der man zuvor gewesen war. Im August 1998 stellte Andy Bechtolsheim, einer der Mitbegründer von Sun Microsystems, bekanntermaßen einen Scheck über 100.000 Dollar an „Google, Inc.“ aus, noch ehe die Firma überhaupt eingetragen war. Weniger bekannt ist, dass Larry und Sergey nur wenig später einen zweiten Scheck über 100.000 Dollar vom Stanford-Professor David Cheriton erhielten, auf dessen Veranda sie Andy kennengelernt hatten.24

Larry und Sergey zögerten, Stanford zu verlassen, um eine Firma zu gründen. Sie versuchten Google zu verkaufen, es gelang ihnen jedoch nicht. Sie boten es Alta Vista für eine Million Dollar an. Ohne Erfolg. Sie wandten sich an Excite und auf Drängen von Vinod Khosla, einem Partner der Risikokapitalfirma Kleiner Perkins Caufield und Byers, senkten sie den Preis auf 750.000 Dollar. Excite verzichtete.iii Das war, bevor im Jahr 2000 das erste Werbesystem von Google, AdWords, ins Netz gestellt wurde. Es war vor Google Groups (2001), Images (2001), Books (2003), Gmail (2004), Apps (Tabellenkalkulation und Dokumente für Firmen, 2006), Street View (2007) und vor etlichen weiteren Produkten, die wir täglich benutzen. Das war, ehe es die Google-Suche in mehr als 150 Sprachen gab und ehe wir unser erstes internationales Büro in Tokio eröffneten (2001). Und lange bevor ein Android-Handy rechtzeitig Bescheid sagen konnte, wenn ein Flug Verspätung hatte, und man zu seinem Brillengestell sagen konnte: „Okay, Glass, mach ein Bild und schick es an Chris“ – in dem Wissen, dass Chris das Bild durch deine Augen sehen wird.

19Doch Larry und Sergey hatten weiterreichende Pläne. Sie gingen davon aus, dass sie wussten, wie Menschen behandelt werden wollten, und bauten auf dieser Vorstellung auf. So überspannt es klingen mag: Beide wollten eine Firma gründen, wo die Arbeit sinnvoll war, wo die Angestellten das Gefühl hatten, einer Leidenschaft zu frönen und wo die Menschen und ihre Familien sich versorgt fühlten. „Wenn man ein Student im Hauptstudium ist“, sagt Larry, „kann man arbeiten, woran man möchte. Und an den Projekten, die wirklich gut waren, wollten viele Leute arbeiten. Wir haben diese Erfahrung mit zu Google genommen und sie war wirklich sehr, sehr hilfreich. Wenn man die Welt verändert, arbeitet man an wichtigen Dingen. Man steht morgens gerne auf. Man möchte an bedeutungsvollen Projekten arbeiten, die Auswirkungen haben. Das ist es, woran es in der Welt wirklich mangelt. Ich glaube, bei Google haben wir das immer noch.“

Viele besonders sinnvolle, beliebte und effektive Führungsstrategien bei Google sind aus der Saat erwachsen, die von Larry und Sergey eingebracht wurde. Unsere wöchentlichen Treffen mit allen Angestellten wurden ins Leben gerufen, als „alle“ nur eine Handvoll Leute waren. Es gibt sie heute immer noch, auch wenn wir mittlerweile die Größe einer ganz ordentlichen Stadt haben. Larry und Sergey haben immer darauf bestanden, dass Einstellungsentscheidungen von einer Gruppe getroffen werden und nicht von einem einzelnen Manager. Von Anfang an konnten Angestellte Konferenzen einberufen, um über ihre Arbeit zu sprechen. Daraus sind die Hunderte Tech Talks entstanden, die wir jeden Monat haben. Die anfängliche Großzügigkeit von Larry und Sergey führte zu einer fast beispiellosen Beteiligung der Mitarbeiter am Besitz der Firma – Google ist eine der wenigen Firmen unserer Größenordnung, die allen Angestellten Aktienanteile gewährt. Auf Sergeys persönliches Drängen bemühten wir uns, mehr Frauen in die Informationstechnologie zu holen, noch ehe Google 30 Angestellte hatte. Unsere Politik, Hunde bei der Arbeit willkommen zu heißen, entwickelte sich unter den ersten zehn Mitarbeitern. (Genau wie unsere Einstellung zu Katzen, die in unserem Verhaltenskodex niedergelegt ist: „Wir mögen Katzen, aber wir sind eine Hundefirma, daher gehen wir im Grundsatz davon aus, dass Katzen in unseren Büros ziemlich unglücklich sein dürften.“)25 Und natürlich unsere Tradition der kostenlosen Mahlzeiten: Sie begann mit Müsli umsonst und einer großen Schüssel M&Ms.

Als Google am 19. August 2014 an die Börse ging, nahm Sergey einen Brief in unseren Prospekt für Investoren auf, in dem beschrieben steht, wie die Gründer ihre 1.907 Mitarbeiter sahen (das kursiv Gesetzte stammt von ihm):

Unsere Angestellten, die sich selbst Googler nennen, sind unser Ein und Alles. Die Organisation von Google zielt darauf ab, besonders begabte Technologie- und Wirtschaftsfachkräfte anzuziehen und ihre Talente wirksam einzusetzen …

20Wir hatten das Glück, zahlreiche kreative und hart arbeitende Stars mit hohen Grundsätzen zu engagieren. Wir hoffen, dass wir in Zukunft noch viele weitere einstellen können. Wir werden sie gut entlohnen und gut behandeln.

Wir bieten unseren Angestellten zahlreiche ungewöhnliche Vergünstigungen, darunter kostenlose Mahlzeiten, ärztliche Betreuung und Waschmaschinen. Dabei machen wir uns sehr differenzierte Gedanken über die langfristigen Vorteile dieser Vergünstigungen für die Firma. Rechnen Sie damit, dass wir eher weitere Zusatzleistungen aufnehmen, anstatt sie mit der Zeit zu verringern. Wir glauben, es ist leicht, im Kleinen geizig zu sein und im Großen verschwenderisch – was Vergünstigungen angeht, die für die Angestellten eine erhebliche Zeitersparnis bringen und ihre Gesundheit und Produktivität erhöhen.

Die ganz erhebliche Beteiligung der Angestellten am Besitz von Google hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Bei Google findet spannende Arbeit in fast jedem Bereich der Informationstechnologie statt. Wir gehören zu einer sehr wettbewerbsorientierten Branche, wo die Qualität des Produkts entscheidend ist. Begabte Menschen fühlen sich von Google angezogen, weil wir sie in die Lage versetzen, die Welt zu verändern. Google hat große Rechnerressourcen und einen Vertrieb, der es einzelnen Menschen ermöglicht, etwas zu bewirken. Unsere Hauptleistung ist ein Arbeitsplatz mit bedeutungsvollen Projekten, wo die Angestellten ihren Beitrag leisten und mit der Aufgabe wachsen können. Wir konzentrieren uns darauf, eine Umgebung bereitzustellen, wo begabte, hart arbeitende Menschen für ihren Beitrag zu Google belohnt werden – und dafür, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen.

Es war und ist ein großes Glück für Google, dass unsere Gründer so starke Überzeugungen haben, was die Art der Firma angeht, die sie schaffen wollen.

Aber wir waren nicht die ersten.

Henry Ford ist vor allen Dingen bekannt für die Einführung der Fließbandproduktion. Weniger bekannt ist, dass seine Philosophie, Arbeit anzuerkennen und zu belohnen, für seine Zeit bemerkenswert progressiv war:

Die Sorte Arbeiter, die der Firma das Beste gibt, was in ihm steckt, ist die beste Art Arbeiter, die eine Firma haben kann. Und wir können von niemandem erwarten, dass er das unbegrenzt ohne entsprechende Anerkennung tut … Wenn ein Mann das Gefühl hat, dass seine tägliche Arbeit nicht nur seine Grundbedürfnisse befriedigt, sondern dass sie ihm einen komfortablen Spielraum gibt und ihn in die Lage versetzt, seinen Jungen und Mädchen Chancen zu geben und seiner Frau etwas Freude im Leben, dann sieht seine Arbeit für ihn gut aus und er fühlt sich frei, wirklich das Beste zu geben. Das ist eine gute Sache für ihn und eine gute Sache für die Firma. Der Mann, der keine Befriedigung aus seiner täglichen Arbeit zieht, verliert damit den besten Teil seiner Entlohnung.26

21Das stimmt voll und ganz mit den Ansichten überein, die bei Google vertreten werden, obwohl Henry Ford diese Worte vor mehr als 90 Jahren geschrieben hat, im Jahr 1923. Er hat tatsächlich danach gehandelt und die Löhne seiner Fabrikarbeiter 1914 auf fünf Dollar pro Tag verdoppelt.

Noch früher, im Jahr 1903, legte Milton S. Hershey nicht nur den Grundstein für das, was später die Hershey Company werden sollte, sondern auch den für die Stadt Hershey in Pennsylvania. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert gab es in den USA mehr als 2500 solche „Company Towns“, Firmenstädte, in denen bis zu drei Prozent der Bevölkerung lebten.27 Doch Hersheys Pläne unterschieden sich von denen der meisten Industriellen:

Zusammen mit dem Erfolg stellte sich bei Milton Hershey ein profundes Gefühl der moralischen Verantwortung und Fürsorge ein. Sein Ehrgeiz beschränkte sich nicht darauf, Schokolade zu produzieren. Vielmehr stellte Hershey sich eine völlig neue Gemeinschaft rund um die Fabrik vor. Er erbaute eine Modellstadt für seine Angestellten, zu der behagliche Häuser gehörten, ein preiswertes Nahverkehrssystem, gute öffentliche Schulen und umfangreiche Erholungs- und Kulturangebote. Im Unterschied zu anderen Industriellen seiner Zeit vermied Hershey es, eine gesichtslose Firmenstadt aus lauter Reihenhäusern zu bauen. Er wollte eine echte ‚Heimatstadt‘ mit baumbestandenen Straßen, Ein- und Zweifamilienhäusern aus Ziegeln und gepflegten Rasenflächen.28

Was nicht bedeutet, dass alles, was Ford und Hershey dachten und sagten, akzeptabel war. Ford wurde angegriffen, weil er antisemitische Schriften veröffentlichte; später hat er sich dann entschuldigt.29 Auch Hershey gestattete die Veröffentlichung rassistischer Kommentare in der Lokalzeitung von Hershey unter seiner Federführung.30 Unbestritten bleibt jedoch, dass beide Firmengründer in ihren Arbeitern – das galt dann zumindest für einen Teil der Menschheit – mehr sahen als reinen Materialeinsatz bei der Produktion.

Ein jüngeres und moralisch weniger angreifbares Beispiel ist Mervin J. Kelly, der 1925 zu Bell Labs kam und dort von 1951 bis 1959 Präsident war.31 In dieser Zeit wurden bei Bell Labs Laser und Solarzellen erfunden, das erste transatlantische Telefonkabel wurde verlegt und es wurden grundlegende technische Verfahren entwickelt, die den Erfolg des Mikrochips möglich machten. Außerdem legte man bei Bell Labs Grundlagen der Informationstheorie durch die Arbeit der Firma am binären Code. Bereits zuvor war bei Bell Labs im Jahr 1947 der Transistor erfunden worden.

Als Kelly Präsident wurde, zeigte sich seine unorthodoxe Einstellung zum Management. Als Erstes gestaltete er die Laboratorien in Murray Hill, New Jersey, völlig neu. Statt der üblichen Anordnung, bei der jede Etage in separate Bereiche für den jeweiligen Forschungsbereich 22aufgeteilt ist, bestand Kelly auf einem Grundriss, der zur Interaktion zwischen den Abteilungen zwang: Die Büros lagen an langen Fluren, die durch das gesamte Geschoss verliefen. Ging man einen solchen Flur entlang, war praktisch garantiert, dass man Kollegen begegnete und über die Arbeit sprach. In einem zweiten Schritt richtete Kelly gemischte Teams aus Kopf- und Tatmenschen ein, dazu kam in bestimmten Gruppen der ein oder andere Experte. Der Autor Jon Gertner beschreibt so ein Team in seiner Geschichte von Bell Labs mit dem Titel The Idea Factory32: „Absichtlich gemischt beim Transistorprojekt waren Physiker, Metallurgen und Elektroingenieure; Seite an Seite arbeiteten Theoretiker, Spezialisten für Experimente und Produktion.“ Und in einem dritten Schritt gewährte Kelly seinen Mitarbeitern Freiheit. Gertner fährt fort:

Mr. Kelly glaubte, Freiheit sei entscheidend, besonders in der Forschung. Manche seiner Wissenschaftler hatten so viel Autonomie, dass er oft gar nicht wusste, wie sie vorankamen, selbst Jahre nachdem er ihre Arbeit autorisiert hatte. Als er beispielsweise das Forscherteam zusammenstellte, das an dem arbeitete, was später der Transistor wurde, vergingen mehr als zwei Jahre, ehe es tatsächlich zur Erfindung kam. Später, als er ein weiteres Team einsetzte, um die Massenproduktion der Erfindung umzusetzen, übertrug er die Aufgabe einem Ingenieur: Er solle einen Plan entwickeln. Gleichzeitig teilte er ihm mit, solange würde er, Kelly, nach Europa reisen.

Der Fall Kelly ist besonders interessant, weil er nicht der Gründer von Bell Labs war, nicht einmal ein besonders schnell aufsteigender Stern am Firmenhimmel. Ganz im Gegenteil, er schied zweimal aus der Firma aus, weil er das Gefühl hatte, seine Projekte würden nicht angemessen finanziert (und in beiden Fällen wurde er zurückgeholt – man versprach ihm weitere Mittel). Kelly war launisch und aufbrausend. Ein früher Manager, H.D. Arnold, „hielt ihn lange auf einer unteren Verwaltungsebene, weil er seinem Urteil misstraute.“33 Das führte dazu, dass seine Karriere nur langsam vorankam. Er arbeitete zwölf Jahre als Physiker, ehe er Leiter der Entwicklung von Vakuumrohren wurde, und es brauchte weitere sechs Jahre, ehe man ihn zum Leiter der Forschungsabteilung machte. Präsident von Bell Labs wurde er 26 Jahre nach seinem Eintritt in die Firma.

Was mir an dieser Geschichte so gefällt, ist, dass Kelly sich wie ein Firmengründer verhielt, wie der Inhaber einer Firma. Er machte sich nicht nur Gedanken über den Output von Bell Labs, er machte sich Gedanken darüber, was für eine Art Firma Bell Labs war. Er wollte, dass brillante Köpfe frei vom prüfenden Blick des Managements arbeiten konnten, während sie auf dem Weg den Flur hinunter ständig mit anderen Genies zusammenstießen. Es war nicht seine Aufgabe, sich Gedanken über die Aufteilung des Gebäudes und die Fußwege, 23die zurückgelegt wurden, zu machen. Weil er das tat, wurde er zum spirituellen Gründer einer der innovativsten Firmen der Geschichte.iv

Wenden wir uns wieder zurück zu Google. Larry und Sergey schufen bewusst Raum, damit andere sich wie Firmengründer verhalten konnten. Menschen mit einer Vision erhielten die Chance, ihr eigenes Stück Google zu schaffen. Jahrelang nannten wir die Troika aus Susan Wojicki, Salar Kamangar und Marissa Mayer die „Mini-Gründer“: kritische frühe Googler, die fortfuhren unsere Werbeabteilung, YouTube und die Google-Suche aufzubauen und zu führen, in Zusammenarbeit mit brillanten Computerwissenschaftlern wie Sridhar Ramaswamy, Eric Veach, Amit Singhal und Udi Manber. Craig Nevill-Manning, ein begabter Ingenieur, eröffnete unser Büro in New York, weil er der Großstadt gegenüber den Vororten im Silicon Valley den Vorzug gab. Omid Kordestani wurde als Vertriebsleiter bei Netscape abgeworben, um den Vertrieb bei Google aufzubauen und zu leiten. Von Larry, Sergey und Eric Schmidt, unserem Vorstandsvorsitzenden, wird er häufig der „Business Founder“ von Google genannt. Craig Cornelius und Rishi Khaitan beschlossen, ein Google-Interface in der Sprache der Cherokee zu schaffen und trugen so zur Bewahrung einer vom Untergang bedrohten Sprache bei.34 Ujjwal Singh und AbdelKarim Mardini taten sich mit Ingenieuren von Twitter zusammen, als die ägyptische Regierung Anfang 2011 das Internet abschaltete. Sie entwickelten Speak2Tweet, ein Produkt, das Nachrichten aus einer Voicemail-Box in Tweets umschreibt, die dann weltweite Verbreitung finden.35 Dadurch erhielten die Ägypter die Möglichkeit, massenweise mit der Welt zu kommunizieren. Und wenn sie sich in den Voicemail Account einwählten, konnten sie einander zuhören.

Sie sind ein Gründer

Der Aufbau eines außergewöhnlichen Teams oder einer außergewöhnlichen Institution beginnt mit dem Gründer. Aber Gründer sein bedeutet nicht unbedingt, dass man eine neue Firma gründet. Jeder von 24uns kann in seinem Team Gründer oder Wegbereiter einer bestimmten Firmenkultur sein, egal ob man der erste Angestellte einer Firma ist oder erst dazu stößt, wenn sie bereits seit Jahrzehnten besteht.

Bei Google glauben wir nicht, dass wir das einzige Modell zur erfolgreichen Mitarbeiterführung gefunden haben. Ganz bestimmt kennen wir nicht alle Antworten. Und es läuft viel öfter etwas schief, als wir hoffen. Aber wir waren in der Lage zu beweisen, dass viele von Larrys und Sergeys ursprünglichen Instinkten richtig waren, wir konnten einen Teil der üblichen Managementlehre widerlegen und wir haben auf dem Weg dahin ein paar schockierende Dinge entdeckt. Wir sind bestrebt mitzuteilen, was wir gelernt haben, und so auf bescheidene Art und Weise dazu beizutragen, die Erfahrung der Arbeit für zahlreiche Menschen auf der ganzen Welt zu verbessern.

Der russische Romanschriftsteller Leo Tolstoi hat geschrieben: „Alle glücklichen Familien gleichen einander …“v

Dasselbe gilt für alle erfolgreichen Organisationen. Sie haben ein Gemeinschaftsgefühl, nicht nur im Hinblick auf das, was sie produzieren, sondern im Hinblick auf das, was sie sind und wie sie sein wollen. In ihrer Vision (und vielleicht in ihrer Überheblichkeit) denken sie nicht nur über ihren Ursprung nach, sondern auch über ihr künftiges Schicksal.

Meine Hoffnung beim Schreiben dieses Buches ist, dass jemand, der es liest, beginnt, sich selbst als Gründer zu sehen. Vielleicht nicht als Gründer einer ganzen Firma, aber als Begründer eines Teams, einer Familie, einer Kultur. Die wichtigste Lektion aus der Google-Erfahrung ist, dass du dich vor allen Dingen entscheiden musst, ob du ein Gründer sein willst oder ein Angestellter. Das ist keine buchstäbliche Frage des Besitzes. Es ist eine Frage der Einstellung.

Wie Larry sagt: „Ich denke darüber nach, wie weit wir in der Firmenwelt gekommen sind seit jenen Tagen, als die Arbeiter sich vor ihren Chefs schützen mussten. Meine Aufgabe als Chef besteht darin sicherzustellen, dass meine Firma allen Mitarbeiter großartige Chancen bietet und dass sie das Gefühl haben, etwas Sinnvolles zu tun und zum Wohlergehen der Gesellschaft beizutragen. Wenn wir diese Aufgabe weltweit angehen, können wir sie noch besser lösen. Mein Ziel für Google ist es, dabei zu führen, nicht zu folgen …“36

So denkt ein Gründer.

Egal ob Sie Student oder leitender Angestellter sind – wenn Sie Teil einer Umgebung sein wollen, in der es Ihnen und Ihren Kollegen gutgeht, sollten Sie damit beginnen, Verantwortung für diese Umgebung 25zu übernehmen. Unabhängig davon, ob das nun in ihrer Arbeitsbeschreibung steht oder nicht, sogar unabhängig davon, ob es überhaupt erlaubt ist.

Und die größten Gründer schaffen Raum für andere Gründer, die neben ihnen mitbauen können.

Eines Tages wird Ihr Team eine Ursprungsgeschichte haben, einen Gründungsmythos, genau wie Rom oder Oprah Winfrey oder Google. Denken Sie darüber nach, wie diese Geschichte aussehen soll, wofür Sie stehen wollen. Denken Sie darüber nach, welche Geschichten die Menschen von Ihnen erzählen werden, über Ihre Arbeit, über Ihr Team. Heute haben Sie die Chance, zum Architekten dieser Geschichte zu werden. Zu wählen, ob Sie ein Gründer sein wollen oder ein Angestellter.

Ich weiß, wie meine Entscheidung ausfällt.

Work Rules! …

Wie man zum Gründer wird

27Kapitel 2:
Die Firmenkultur ist der Strategie haushoch überlegen

Geben Sie den Mitarbeitern ihre Freiheit – und Sie werden ein Wunder erleben

28Bei meiner Arbeit erhalte ich viel seltsame Post, meist von Menschen, die bei Google arbeiten wollen. Ich habe T-Shirts mit Lebensläufen bekommen, Puzzles und sogar Turnschuhe (von einem, der „den Fuß in die Tür kriegen“ wollte – alles klar?). Die originellsten hänge ich bei mir auf, darunter ein en Brief, in dem der Satz stand: „Die Strategie wird von der Firmenkultur verfrühstückt.“ Ich hatte den Satz noch nie zuvor gehört, fand ihn jedoch albern genug, um ihn als Beispiel für die Sprache der Manager aufzubewahren.

Wenn Sie auf Google das Stichwort „Google-Firmenkultur“ eingeben, bekommen Sie ein Ergebnis, das aussieht wie der Screenshot auf der nächsten Seite.

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Typische Fotos, die auf dem Bildschirm erscheinen, wenn man „Google-Firmenkultur“ eingibt. © Google, Inc.

Diese Bilder fassen zusammen, wie die Firmenkultur bei Google von Menschen wahrgenommen wird, die das erste Mal zu uns kommen. Die bunten Rutschen und Sitzsäcke, das kostenlose Gourmetessen, die verrückte Bürolandschaft (ja, da fährt jemand mit dem Fahrrad durchs Büro) und die fröhlichen Leute, die zusammenarbeiten und denen es dabei gut geht – das sieht alles so aus, als ginge es bei Google darum, „spielend zu arbeiten“. Ein Stück weit stimmt das, aber die Wurzeln der Google-Firmenkultur reichen deutlich tiefer. Ed Schein, ehemals Professor an der MIT School of Management und heute im 29Ruhestand, hat gelehrt, man könne die Kultur einer Gruppe auf drei verschiedene Arten untersuchen: indem man die „Artefakte“ betrachtet, beispielsweise den physikalischen Raum und das Verhalten; indem man sich die Überzeugungen und Werthaltungen ansieht, die von den Gruppenmitgliedern geteilt werden; oder indem man tiefer gräbt bis zu den Annahmen, die den Werten zugrunde liegen.37 Bei Google ist es naheliegend, sich auf den physikalischen Raum zu konzentrieren: die Schlafkapseln, in denen man ein Nickerchen machen kann, oder die Rutschen von einem Stockwerk ins andere. Adam Grant, jüngster Professor aller Zeiten an der Wharton School (University of Pennsylvania) hat mir erzählt: „Menschen halten eine Kultur für stark aufgrund der Artefakte, weil die am deutlichsten sichtbar sind, aber die zugrunde liegenden Werthaltungen und Ansichten spielen eine wesentlich größere Rolle.“

Adam hat Recht.

„Fun“ ist tatsächlich das meistverwendete Wort, mit dem wir Googler unsere Firmenkultur beschreiben.38 (Normalerweise wäre ich skeptisch, wenn Angestellte ihrer Firma erzählen, wie toll sie ist, aber diese Umfragen sind anonym – wenn überhaupt verleiten sie dazu, die Dinge schlimmer darzustellen, als sie sind!) Bereits sehr früh beschlossen wir, man könne „ernsthaft arbeiten ohne Anzug“ und verewigten diese Vorstellung in den „10 Dingen, die wir für wahr halten“, d.i. eine Liste von zehn Grundüberzeugungen, nach denen wir unsere Firma führen.vi

Wir spielen sogar mit unserem Markennamen – etwas, das in den meisten Firmen als tabu gilt – und tauschen das reguläre Logo auf unserer Webseite gegen Google Doodles aus. Das erste, vom 30. August 1998, war eine witzige Abwesenheitsnotiz für Larry und Sergey:

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Doodle zum Burning-Man-Festival. © Google, Inc.

30Sie waren unterwegs zum Burning-Man-Festival, einem alljährlich wiederkehrenden Kunst- und Communityfest in der Wüste von Nevada. Die Figur in der Mitte sollte den Burning Man darstellen.

Am 9. Juni 2011 erinnerten wir mit einem interaktiven Doodle an Les Paul, den Pionier der E-Gitarre. Strich man mit der Maus oder dem Finger über die Gitarrensaiten, erklang Musik. Man konnte sogar auf einen roten Knopf klicken und den eigenen Song teilen. Nach Schätzungen verbrachten die Besucher unserer Webseite an jenem Tag mehr als 5,3 Millionen Stunden damit, Musik zu machen.39

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Das Les Paul Google Doodle. © Google, Inc.

Den 1. April feiern wir jedes Jahr. Am 1. April 2013 verkündeten wir, YouTube sei in Wahrheit ein acht Jahre andauernder Wettbewerb, um das beste Video aller Zeiten zu finden. Jetzt seien wir endlich bereit, den Gewinner bekanntzugeben. Mein liebster Scherz war Google Translate for Animals, eine britische Android-Anwendung, die Tierlaute ins Englische übersetzte (Android ist unser Betriebssystem für Mobilgeräte) – nicht zu verwechseln mit der ein oder anderen Sprache, in die Google Translate tatsächlich übersetzt, beispielsweise „Der dänische Koch“ (aus der Muppetshow – „Bork, bork, bork!“) oder Pirate („Arrr!“). Am 1. April 2012 sah jeder, der im Google Play Onlinestore nach Musik suchte, einen für Android optimierten Kanye West auftauchen, der sagte: „Meinten Sie: Beyoncé?“

Wir erlauben uns auch Späße mit unseren aktuellen Produkten. Jedes Jahr stellen wir einen Santa Tracker ins Netz, der es den Kindern erlaubt, die Reise des Weihnachtsmanns rund um die Welt zu verfolgen. Und schauen Sie sich einmal an, was passiert, wenn Sie in Google.com oder den Chrome-Browser „do a barrel roll“ (deutsch: „Fassrolle“) eingeben!

Solche Scherze sind manchen Menschen vielleicht zu albern, aber Spaß haben ist ein wichtiger Teil von Google: So kann man ohne große Hemmungen Neues entdecken. Trotzdem ist die Spaßkultur bei Google mehr eine Folge dessen, was wir sind, weniger ein grundlegender 31Zug unseres Wesens. Spaß erklärt nicht, wie Google funktioniert oder warum wir uns für diesen Weg entschieden haben. Um das zu verstehen, müssen Sie die drei bestimmenden Merkmale unserer Firmenkultur näher ins Auge fassen: Firmenphilosophie, Transparenz und Mitsprache.

Eine bedeutsame Mission

Die Firmenphilosophie von Google ist die erste Säule unserer Firmenkultur. Sie besteht darin, „sämtliche Informationen weltweit zu organisieren und für jedermann zugänglich und nutzbar zu machen.“40 Wie stellt sich dieses Leitbild im Vergleich zu anderen Firmen dar? Hier einige Ausschnitte aus der Firmenphilosophie anderer Firmen (von 2013, Hervorhebungen von mir):

IBM: „Wir streben nach der führenden Rolle bei der Erfindung, Entwicklung und Herstellung der modernsten Informationstechnologie in der Branche, darunter Computersysteme, Software, Speichersysteme und Mikroelektronik. Durch professionelle Lösungen, Dienstleistungen und Beratung weltweit schaffen wir auf der Grundlage dieser modernen Technologien einen Wert für unsere Kunden.“41

McDonald’s: „Bei McDonald’s wollen wir der liebste Aufenthaltsort unserer Kunden sein, ihre Lieblingsart zu essen und zu trinken. Unsere weltweiten Aktivitäten folgen einer globalen Strategie, dem sogenannten Plan to Win, bei dem es um eine ganz besondere Kundenerfahrung geht – People, Products, Place, Price und Promotion. Wir sehen uns verpflichtet, unsere Aktivitäten ständig zu verbessern und den Erfahrungshorizont unserer Kunden zu bereichern.“42

Procter & Gamble: „Wir liefern Markenprodukte und Dienstleistungen von herausragender Qualität, die das Leben der Konsumenten weltweit verbessern, jetzt und in Zukunft. Daher belohnen uns die Konsumenten mit Spitzenverkaufszahlen, Gewinnen und einer Wertschöpfung, die unseren Mitarbeitern, unseren Aktionären und den Gemeinschaften, in denen wir leben, gestatten zu arbeiten und zu gedeihen.“43

Das sind absolut vernünftige und verantwortungsbewusste Leitbilder.

Doch zwei Dinge werden sofort deutlich, wenn man sie liest: Erstens muss ich mich bei Ihnen entschuldigen, weil ich Sie gezwungen habe, Firmenleitbilder zu lesen, vielleicht die schlimmste Form von Literatur überhaupt. Zweitens ist die Mission von Google bemerkenswert in ihrer Schlichtheit, aber auch im Hinblick darauf, was ungesagt bleibt. Weder geht es um Profite, noch geht es um den Markt. Kunden und Aktionäre kommen genauso wenig vor wie die Nutzer. Es bleibt unerwähnt, warum wir diese Mission gewählt haben und zu welchem Zweck wir unser Ziel verfolgen. Vielmehr gehen wir selbstverständlich davon aus, dass 32es eine gute Sache ist, Informationen zu organisieren und zugänglich und nutzbar zu machen.

Eine solche Firmenphilosophie verleiht der Arbeit des Einzelnen Bedeutung, weil es sich um ein moralisches, weniger um ein geschäftliches Ziel handelt. Besondere Momente der Geschichte waren immer moralisch motiviert, egal ob für die Unabhängigkeit oder für die Gleichberechtigung gekämpft wurde. Ich möchte nicht übertreiben, aber man kann schon sagen: Es hat seinen Grund, warum es bei Revolutionen um Ideen geht, nicht um Profite oder Marktanteile.

Ganz wichtig ist auch, dass wir unsere Zielsetzung nie erreichen können, weil es immer wieder neue Informationen geben wird, die organisiert werden müssen, und neue Wege, sie zu nutzen. Das schafft die Motivation, ständig innovativ zu sein und Neuland zu betreten. Eine Mission, die darin besteht, Marktführer zu werden, bietet kaum noch Inspiration, wenn dieser Zustand einmal erreicht ist. Weil unsere Mission so breit angelegt ist, treibt Google seine Entwicklung mit dem Kompass voran, nicht mit dem Tachometer. Natürlich gibt es immer Unstimmigkeiten – und einige davon sollen in Kapitel 13 zur Sprache kommen –, aber der grundlegende Glaube an die gemeinsame Mission eint doch die meisten Googler. Unsere Firmenphilosophie ist und bleibt ein Prüfstein dafür, dass wir eine starke Firmenkultur haben, auch wenn aus Dutzenden Mitarbeitern inzwischen Zehntausende geworden sind.

Ein Beispiel dafür, dass unsere Mission uns auf Neuland geführt hat, ist Google Street View von 2007.44 Der prinzipielle Ansatz bestand darin, einmalig zu dokumentieren, wie die gesamte Welt aussieht, wenn man sie von der Straße aus betrachtet. Vorausgegangen war der Erfolg von Google Maps, das wiederum auf der Arbeit von John Hanke und Brian McClendon beruhte. Sie hatten 2001 eine Firma namens Keyhole ins Leben gerufen, die Google drei Jahre später übernahm (beide sind noch heute Vizepräsidenten bei Google).

Nachdem wir uns mehrere Jahre lang Luftaufnahmen angesehen hatten, fragte Larry, warum wir nicht auch Bilder davon aufnehmen könnten, wie die Menschen die Welt tatsächlich sahen – vom Boden aus. Auch das waren Informationen, und sie würden uns ermöglichen zu verfolgen, wie Gemeinschaften heranwuchsen und sich mit der Zeit veränderten. Vielleicht würde sich ja etwas Interessantes daraus entwickeln.

Und genau so war es.

Der Arc de Triomphe!

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Luftbild vom Arc de Triomphe in Paris, Frankreich, in Google Maps. © Google, Inc.

Der Arc de Triomphe wurde 1806 in Auftrag gegeben und 30 Jahre später vollendet, zur Erinnerung an jene, die für Frankreich gekämpft hatten und gestorben waren. Die meisten Menschen auf der Welt werden 33nicht nach Paris reisen, sie werden niemals über den Platz rund um den Arc de Triomphe laufen und die ewige Flamme an seinem Fuß betrachten.

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Der Arc de Triomphe, von der Straße betrachtet, in Google Street View. © Google, Inc.

Aber die zwei Milliarden Menschen, die Internetzugang haben, können ihn jederzeit sofort sehen. Oder sie können das Basiscamp am Mount Everest besuchen45 oder mit Seelöwen um die Galapagosinseln schwimmen.46

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Südliches Basislager, Khumjung, Mt. Everest, Nepal. © Google, Inc.

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Unter Wasser mit Galápagos-Seelöwen, Galápagos-Inseln. © Google, Inc.

Dass unsere Mission so breit angelegt ist, hat einige überraschende praktische Vorteile mit sich gebracht. Außerhalb der Firma haben Philip Salesses, Katja Schechtner und César Hidalgo vom MIT Media Lab Bilder von Boston und New York mit Bildern von Linz und Salzburg in Österreich verglichen. Sie wollte herausfinden, welche Merkmale – schmutzige Straßen etwa oder die Anzahl der Straßenlaternen – einem das Gefühl geben, eine Gegend sei reich oder arm. Außerdem ging es um die Frage, ob die Indikatoren für die wirtschaftliche Situation und 35Klassenzugehörigkeit mit der Sicherheit in den betreffenden Gegenden korrelierten.47 Ihre Forschung sollte am Ende dazu dienen, Stadtverwaltungen eine Entscheidungshilfe zu geben, wie knappe Mittel am besten eingesetzt werden: Wirkt eine Gegend sicherer und wird sie sicherer, wenn mehr Bäume gepflanzt werden und man die Straßen instandsetzt?

Das Angebot von Google Maps ist eine Plattform, die über eine Million andere Webseiten und App-Entwickler im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit nutzen, von Airbnb bis Uber, von Waze bis Yelp.48 Damit dienen wir mehr als einer Milliarde Nutzer jede Woche.vii49

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Das Tadsch Mahal in Agra, Indien. © Google, Inc.

Mit einem traditionelleren Leitbild, was wir unseren Kunden bieten und wie wir mehr Profit machen können, wären wir niemals bei Street View gelandet. Und dabei haben wir uns mittlerweile weit davon entfernt, Rückverweise zu zählen, um Webseiten zu hierarchisieren. Unsere breit angelegte Firmenphilosophie bietet Googlern und anderen Menschen den Raum, wunderbare Dinge zu erschaffen. Kreativität und Leistung sind ganz unmittelbare Ergebnisse davon, dass wir die „Mission 36Google“ als etwas formuliert haben, das immer ein Ziel bleiben wird, immer ein wenig jenseits der Grenze des Vorstellbaren.

Die begabtesten Menschen der Welt wollen ein Ziel, das sie inspiriert. Die Herausforderung für uns als Führungspersonen besteht darin, ein solches Ziel zu gestalten. Selbst bei Google stellen wir fest, dass nicht jeder die gleiche starke Verbindung zwischen Arbeit und Firmenphilosophie spürt. Beispielsweise stimmten in unserer Umfrage des Jahres 2013 unter allen Googlern 86 % des Verkaufsteams klar der Aussage zu, dass „ich eine deutliche Verbindung zwischen meiner Arbeit und den Zielsetzungen von Google sehe“ – verglichen mit 91 % in anderen Bereichen der Firma. Dabei handelt es sich um die gleiche Mission in der gleichen Firma. Aber Motivation und Verbundenheit sind verschieden. Wie geht man damit um?

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Ein Mann und sein Hund im Central Park, New York City. Gesichter zum Schutz der Privatsphäre von Google Street View unkenntlich gemacht. Bild entdeckt von Jen Lin. © Google, Inc.

Adam Grant hat eine Antwort darauf. In Give and Take schreibt er über die Macht der (richtigen) Zielsetzung, nämlich nicht nur die Zufriedenheit zu erhöhen, sondern auch die Produktivität.50 Seine Antwort scheint – wie so viele brillante Einsichten – offensichtlich, wenn man sie ausspricht. Überraschend ist, wie erheblich dabei die Auswirkungen sind.

Adam untersuchte bezahlte Angestellte im Fundraising-Callcenter einer Universität. Ihre Arbeit bestand darin, potenzielle Spender anzurufen und um Unterstützung zu bitten. Adam unterschied drei Gruppen: Gruppe A tat als Kontrollgruppe einfach ihren Job. Gruppe 37B las Geschichten von anderen Angestellten über die persönlichen Vorzüge der Arbeit: Bildungsmöglichkeiten und Geld. Gruppe C las Geschichten von Stipendiaten darüber, wie das Stipendium ihr Leben verändert hatte. Zwischen Gruppe A und Gruppe B gab es keinen Leistungsunterschied. Bei Gruppe C hingegen stieg die wöchentliche Quote der Zusagen um 155 % (von 9 auf 23 pro Woche) und der wöchentliche Spendenbetrag um 143 % (von 1.288 auf 3.130 Dollar).

Wenn es einen so großen Unterschied machte, über andere Menschen zu lesen, dachte Adam, konnten die Auswirkungen noch größer sein, wenn man tatsächlich jemandem begegnete. Eine Gruppe von Fundraisern erhielt die Möglichkeit, Stipendiaten kennenzulernen und ihnen fünf Minuten lang Fragen zu stellen. Das Ergebnis: Im Lauf des nächsten Monats stiegen die wöchentlichen Spendeneinnahmen um mehr als 400 %.

Adam stellte fest, dass sich dieser Effekt auch bei anderen Aufgaben einstellte. Rettungsschwimmer, die Geschichten über die Rettung Ertrinkender lasen, waren um 21 % aktiver bei der Beobachtung ihrer Schwimmer. Studenten, die Briefe korrigierten, die von anderen Studenten geschrieben worden waren, verbrachten 20 % mehr Zeit mit dieser Aufgabe, wenn sie die Autoren zuvor kennengelernt hatten.51

Was war es also, dass Adam herausgefunden hatte? Wenn Mitarbeiter die Menschen kennenlernen, denen sie helfen sollen, ist das die größte Motivation, selbst wenn es sich nur um eine Begegnung von wenigen Minuten handelt. Die eigene Arbeit erhält dadurch eine Bedeutung, die über beruflichen Ehrgeiz oder Geld weit hinausreicht.

Tief im Innern möchte jeder Mensch einen Sinn in seiner Arbeit sehen. Lassen Sie uns ein extremes Beispiel wählen: Ist es sinnvoll, ein Fischfiletierer zu sein? Chhapte Sherpa Pinasha ist davon überzeugt. Er arbeitet bei Russ & Daughters, einem Lieferanten von Räucherfisch, Bagels und anderen Spezialitäten in Manhattan. Der 40-Jährige ist seit über zehn Jahren bei Russ & Daughters, wurde jedoch in einem Dorf im östlichen Himalaya geboren, wo er als jüngstes von vier Kindern in einer Holzhütte lebte. Mit 15 begann er zu arbeiten. Er trug 45 Kilogramm schwere Taschen mit Verpflegung in die Basislager der Kletterer am Mount Everest und begleitete Touristen auf ihren Wanderungen durch die Berge. Ist seine derzeitige Arbeit als Fischfiletierer weniger bedeutsam, als es seine Arbeit war, Menschen bei der Besteigung der höchsten Berge der Welt zu unterstützen? „Die beiden Jobs sind gar nicht so verschieden“, sagte Chhapte Sherpa Pinasha zum New York-Times-Reporter Corey Kilgannon. „In beiden Fällen helfe ich den Menschen.“52 Er hat sich entschieden, in seiner Arbeit eine echte Aufgabe zu sehen, eine Mission, während viele Menschen glauben, er schneide „einfach nur“ Lachs in Scheiben.

38Wir alle wollen, dass unsere Arbeit Sinn macht. Es gibt keine stärkere Motivation als zu wissen, dass das eigene Tun die Welt verändert. Amy Wrzesniewski von der Yale University sagte mir, Menschen sehen ihre Arbeit einfach als Job („reine Notwendigkeit, ohne klaren positiven Einfluss auf ihr Leben“), als Teil ihrer Karriere (etwas, das es zu „schaffen“ oder „voranzutreiben“ gilt) oder als Berufung („eine Quelle der Freude und Erfüllung, wenn man etwas sozial Sinnvolles tut“).

Man würde denken, dass es leichter fällt, in bestimmten Tätigkeiten eine Berufung zu sehen – verglichen mit anderen. Doch die unerwartete Entdeckung ist, dass es nur darauf ankommt, wie man darüber denkt. Amy hat Ärzte und Krankenschwestern befragt, Lehrer und Bibliothekare, Ingenieure und Analysten, Manager und Sekretärinnen. In allen Berufsgruppen sah ungefähr ein Drittel der Menschen in ihrer Arbeit eine Berufung. Und die, die das taten, waren nicht nur glücklicher, sondern galten auch als gesünder.53

Denkt man darüber nach, erscheint das logisch. Aber wie viele von uns nehmen sich die Zeit, nach der tieferen Bedeutung ihrer Arbeit zu fragen? Wie viele Firmen machen es sich zur Aufgabe, allen Mitarbeitern, insbesondere jenen, die weit vom Empfang entfernt sitzen, Zugang zum Kunden zu gewähren, damit die Auswirkungen ihrer Arbeit auf die Menschen spürbar werden? Und ist es denn so schwer, damit anzufangen?

Bei Google haben wir begonnen, mit dem persönlichen Touch zu experimentieren. Wir sehen darin einen Weg, unsere Mitarbeiter direkt mit unserer Mission in Kontakt zu bringen. Kürzlich habe ich mit einer Gruppe von 300 Vertriebsmitarbeitern gesprochen, die den ganzen Tag lang kleinen Firmen dabei helfen, Ihre Produkte im Internet zu bewerben. Für die Googler wird der Job zur Routine. Doch, so sagte ich ihnen, diese kleinen Geschäftsleute wenden sich an uns, weil das Problem, das einem Mitarbeiter bei Google so einfach erscheint, für sie schwierig ist. Sie, bei Google, haben Hunderte von Anzeigenkampagnen gemanagt, aber für diese Geschäftsleute ist es die erste. Als die Paul Bond Boot Company, ein Hersteller maßgefertigter Cowboystiefel aus Nogales, Arizona, über die reine Mundpropaganda hinaus expandieren wollte, erhöhten sich ihre Verkaufszahlen durch die erste Anzeige bei Google um 20 %. Pauls Firma hatte plötzlich Verbindung zu einer deutlich größeren Welt. Wir zeigten den Googlern ein Video von dieser Geschichte und sie waren begeistert und inspiriert. Nikesh Arora, damals stellvertretender Leiter unserer Abteilung Global Business, nennt das „magische Momente“. Es lohnt sich, danach Ausschau zu halten und sie miteinander zu teilen. So fühlen die Googler sich mit der Mission oder der Firmenphilosophie verbunden. Wenn das Herstellen einer solchen Verbindung nur halb so viel einbringt, wie Adam ermittelt hat, ist das eine ganz hervorragende Investition.

39Wenn Sie glauben, dass die Menschen gut sind, sollten Sie bedenkenlos Ihre Informationen mit ihnen teilen

Transparenz ist die zweite Säule unserer Firmenkultur. „Default to open“ (standardmäßig zu öffnen) ist ein Satz, den man im Bereich der Entwicklung quelloffener Software öfter zu hören bekommt. Chris DiBona, Leiter von Googles Open-Source-Bemühungen, erklärt das folgendermaßen: „Gehen Sie davon aus, dass alle Informationen mit der Gruppe geteilt werden können, nicht davon, dass keinerlei Informationen geteilt werden. Die Einschränkung des Zugangs zu Informationen sollte ein bewusster Schritt sein, und am besten hat man einen guten Grund dafür. Im Open-Source-Bereich ist es nicht üblich, Informationen zu verstecken.“ Das ist also kein Konzept, das wir uns ausgedacht haben, aber man kann sagen, Google hat sich dem angeschlossen.

Betrachten wir zum Beispiel die Google-Codebasis, das ist die Sammlung aller Quellcodes, die unsere Produkte am Laufen halten. Dazu gehört Programmiercode für praktisch alles, was wir tun, sei es die Suche, YouTube, AdWords oder AdSense. Unsere Codebasis enthält die Geheimnisse, wie Googles Algorithmen und Produkte funktionieren. Bei einer typischen Softwarefirma bekommt ein neuer Ingenieur nur einen Teil der Codebasis zu sehen, abhängig vom Produkt, an dem er arbeitet. Bei Google erhält ein neu eingestellter Softwareingenieur vom ersten Tag an Zugang fast zur gesamten Codebasis. In unserem Intranet findet er Roadmaps für Produkte, Pläne zu ihrer Veröffentlichung und Code-Ausschnitte von anderen Angestellten (sogenannte Snippets, das sind wöchentliche Statusberichte) neben Quartalszielen für einzelne Mitarbeiter und Gruppen (genannt OKRs, das sind „Objectives and Key Results“ … darum geht es im siebten Kapitel). So kann jeder sehen, woran wer gerade arbeitet. Wenige Wochen nach Quartalsbeginn führt Eric Schmidt, unser Executive Chairman, die Firma durch die gleiche Präsentation, die wenige Tage zuvor die Vorstandsangehörigen gesehen haben. Wir teilen alles miteinander und vertrauen den Googlern, dass sie wichtige Informationen vertraulich behandeln.

Zu unseren wöchentlichen TGIF-Meetings laden Larry und Sergey die gesamte Firma ein (Tausende nehmen persönlich oder per Videoübertragung teil, Zehntausende sehen sich die Übertragung später online an). Dabei geben sie aktuelle Informationen aus der vergangenen Woche, stellen neue Produkte vor, begrüßen neue Mitarbeiter und, das ist besonders wichtig, nehmen 30 Minuten lang Fragen von jedem Mitarbeiter der Firma an, egal zu welchem Thema.

Die Frage-Antwort-Runde ist dabei besonders wichtig.

Absolut alles kann hinterfragt und diskutiert werden, vom Trivialen („Larry, jetzt bist du CEO. Wirst du einen Anzug tragen?“ Die Antwort war ein klares Nein.) über das Geschäftliche („Was wird die Entwicklung 40von Chromecast kosten?“) bis zum Technischen („Der Guardian und die New York Times haben heute aufgedeckt, dass in internen Dokumenten der NSA steht, sie würden heimlich Schwachstellen in kryptografische Produkte einbauen. Was kann ich als Ingenieur tun, damit die Daten unserer Nutzer sicher verschlüsselt bleiben?“) und zum Ethischen („Für mich beinhaltet der Schutz der Privatsphäre, dass ich Dinge online sagen kann, ohne meinen wirklichen Namen anzugeben – beispielsweise kann ich öffentlich ein Video der anonymen Alkoholiker auf YouTube kommentieren, ohne mich selbst als Alkoholiker zu outen. Unterstützt Google nach wie vor einen solchen Schutz der Privatsphäre?“).viii Jede Frage ist berechtigt und jede Frage verdient eine Antwort.