»Die Unvollendete Geschichte ist das erregendste und ernsteste Stück Prosa, das in den letzten Jahren in der DDR erschienen ist. Für die Literatur der DDR hat Volker Braun mit dieser Erzählung etwas geleistet: Er hat ihr die Würde zurückgegeben, indem er neben all den vielen Geschichten oberflächlicher Konflikte und ›nicht-antagonistischer Widersprüche‹ daran erinnert, daß es andere, tiefere Widersprüche gibt, vor deren Gestaltung Literatur sich nicht drücken darf. Seit Christa Wolfs Roman Nachdenken über Christa T. ist in der DDR keine aktuelle Erzählung von ähnlicher Strenge und ähnlichem moralischem Ernst erschienen.«

DIE ZEIT

Volker Braun, geboren 1939 in Dresden, lebt in Berlin. Zuletzt erschien Werktage. Arbeitsbuch 1999–2008 (2014).

Volker Braun

Unvollendete Geschichte

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 14. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 1660.

© Volker Braun 1977

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Umschlagabbildung: Wolfgang Mattheuer. Abend, Hügel, Wälder, Liebe. © VG Bild-Kunst, Bonn 2014

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74557-1

www.suhrkamp.de

»Alle Toten ruhen in der Unruhe
eines vielleicht unnötigen Todes.«

Jorge Semprun
›Der zweite Tod des Ramón Mercader‹

Am Tag vor Heiligabend eröffnete der Ratsvorsitzende des Kreises K. seiner achtzehnjährigen Tochter, nachdem er sich einige Stunden unruhig durch die Wohnung gedrückt hatte, er müsse sie über gewisse Dinge informieren (er sagte informieren), von denen er Kenntnis erhalten, woher ginge sie nichts an, die aber vieles oder, im schlimmsten Fall, alles in ihrem Leben ändern könnten.

Die Tochter, die den großen, ruhigen Mann nie so bleich und entnervt gesehn hatte, ließ sich in das Arbeitszimmer ziehn vor den wuchtigen Schreibtisch, wo er ihr einige banale Fragen stellte: nach ihrem Freund Frank. Er holte dann ein Zettelchen vor und redete los. Es könne ganz kritisch werden, er könne noch nicht darüber sprechen, aber er müsse sie warnen, es werde etwas geschehn, Karin, es werde sehr bald etwas geschehn!

Sie solle sich vorher von Frank trennen, damit sie nicht hineingerissen werde. Die Tochter verstand nichts, aber der Mann beharrte darauf, nichts sagen zu können. Die Eltern von Frank, das wisse er, seien geschieden, der Vater vorbestraft, im Zuchthaus gesessen, Devisenschmuggel, Frank: ein Rowdy, er habe zu einer dieser Banden gehört, die sich in M. herumtrieben, vor vier Jahren, als sie schon einmal mit ihm ging. Die abends herumgammelten in der Karl-Marx-Straße und sich die Zeit vertrieben, die Mariettabar ihr sogenannter Stützpunkt, er gehörte dazu. Und Einbrüche machten im »Fischerufer«, Zigaretten klauten, und in mehreren Villen, der war dabei. Und hat auch gesessen. Aber jetzt habe er etwas vor, Karin … er habe irgendwas vor. Karin sagte: das glaube sie nicht, sie wisse genau, daß Frank nichts mehr vorhabe, er lache heute über sich selbst und schäme sich. Aber der Vater: Du weißt nichts! Trenn dich von ihm, denk dir etwas aus! Das können wir uns nicht erlauben, solche Sachen … diese Familie allein, das ist für uns untragbar. Sie werde schon sehn was kommt!

Die Unterredung wurde hitzig, die Tochter endlich aggressiv, und der Ratsvorsitzende stellte ihr Frank als Verbrecher dar, der die Wohnung nicht wieder betreten dürfe. Er solle jedenfalls nicht, wie verabredet, herkommen und mit ihr nach B. ins Theater fahren. Sie heulte. Sie kannte diese Reden alle, von den Berichten beim Abendbrot, aber es hatte sie nie selbst betroffen. Es war ihr für Augenblicke, als wär sie an einen fremden Ort versetzt, wo alle Gegenstände anders heißen und zu was anderem verwendet werden. Sie paßte nicht mehr dazu. Aber dann vergaß sie sich wieder und dachte schon wieder wie sonst, in einer Trägheit, die sie plötzlich körperlich spürte und gegen die sie nichts machen wollte. Sie konnte doch tun, was man ihr sagte.

Sie war auch unsicher geworden. Sie wußte selbst nicht mehr, ob ihr Frank nicht eine Rolle vorspielte. Ihr Vater war INFORMIERT worden, das war klar, und es mußte etwas Wahres daran sein. Aber woran denn? – Sie fühlte sich schon in der Schuld des Vaters, sie wollte sich nicht sagen lassen: sie habe nicht auf ihn gehört.

Sie dachte sich die Nacht lang aus, wie sie es anstellen könnte, daß es für Frank nicht schlimmer würde als für sie. Wenn sie sich vorläufig von ihm trennte, müßte sie sich ganz ins Unrecht setzen, damit es leichter wär für ihn, es auszuhalten. Sie müßte so dumm dastehn, daß es nicht lohnte, ihr nachzuweinen. Er liebte sie zu sehr, da konnte nichts andres helfen. Er hatte so heftig um sie gekämpft, so lange, das hatte sie noch nie erlebt. Sie war der einzige Mensch, an dem er hing. Am Morgen rief sie in M. an. Sie sagte folgendes: »Komm nicht her. Danny ist hiergewesen. Wir haben uns wieder verstanden. Es ist alles in bestem Frieden. Ich bin selig und glücklich. Mit dir will ich nicht mehr gehn.« Sie hörte Frank einige verwirrte Worte machen, aber legte auf.

Die Festtage war Karin elend zumut. Sie hing in dem Haus herum und wußte nichts anzufangen. Die Spiele der Geschwister gingen sie nichts an, in der Küche verdroß sie das betont unbekümmerte Gesicht der Mutter, daß sie erstickt hinauslief, sobald sie sich in ein Gespräch einließ. Es wurde, wie die Mutter fröhlich befahl, »auf Familie gemacht«. Sonst arbeitete sie in ihrer Lokalredaktion, von früh und manchmal bis nachts, und mußte die Kinder meist sich selbst überlassen.

Zwischen Weihnachten und Neujahr machten die Eltern einen Besuch in P., sie nahmen Karin mit. Bei der Gelegenheit ging sie zu Danny. Sie hatte ihn kennengelernt, als sie in K. gekellnert hatte, in den Ferien, in der Gaststätte meist Soldaten. Er war ihr aufgefallen, weil er »attraktiv« aussah, ein langer blonder Bursche, sie war ganz hingewesen. Er hatte sie auf der Straße angesprochen, und das war die einzige Aktivität gewesen, zu der er sich aufgerafft hatte, er hatte alles ihr überlassen. Als sie ihm erzählte, daß sie schon mit drei anderen gegangen war, hatte er sie angesehn wie: Mensch, wo kommst du denn her, das kannte er noch gar nicht. Bei ihm war nur alles Asche gewesen. Er war wie verriegelt; er hatte sie angehimmelt, und es war kein Rankommen an ihn gewesen. Sie hätte ihn zum Reden bringen müssen, und das hatte sie nicht gekonnt. Aber als Frank sie später gefragt hatte: Liebst du ihn noch? hatte sie gleich Ja gesagt, und es war die Wahrheit gewesen. Jetzt ging sie zu ihm hin, um zu sehn, daß Frank ihr mehr gefiel. Danny saß da und redete von sich; es liege alles an ihm, weil er zu eigensüchtig sei. Da schien er ihr ein kalter Mensch, der sie nicht rührte. Sie konnte über gar nichts sprechen. Sie dachte nur noch daran, einen Satz zu finden, eine Frage, um irgendwas zu sagen. Aber weil ihr die Situation so peinigend bewußt war, fiel ihr nichts ein. Sie wurde nur leerer, je länger sie in sich suchte. Und doch ging etwas vor zwischen ihnen, Minute für Minute, das ihr recht war und nicht mehr aufzuhalten und schließlich erreicht war. Nun war nichts mehr mit ihm.

Silvester schrieb Karin einen Brief an Frank. Sie versuchte, ihm etwas zu erklären. Aber sie sah gleich: es ging nicht. Sie konnte sich nichts denken, sie wußte nicht was war. Aber eins wußte sie: daß sie nicht glaubwürdig gewesen war am Telefon. Sie schrieb den Abend durch; es war zwecklos. Sie kam dann, auf Drängen des Vaters, in die Wohnstube, die Haare ungemacht in langen Strähnen im Gesicht, in den verwaschenen Jeans. Ihr Aufzug wurde gerügt, sie sagte, zum Fernsehen reiche es. Die Mutter machte den Kasten aus, sie saßen zusammen am Tisch und knackten Nüsse. Der Vater zündete noch einmal die Kerzen am Weihnachtsbaum an. Kurz vor zwölf füllte er die Sektgläser, aus dem Radio kam eine Fuge von Bach. Mitternacht stießen sie an auf das GUTE NEUE JAHR.

Am 2. Januar fuhr sie nach M. Sie sollte ihr Volontariat, das sie in H. begonnen hatte, in der Bezirksredaktion fortsetzen. Sie hatte sich auf diesen Tag wie noch auf keinen gefreut, aber nun saß sie bedrückt im Bus. Sie schaute in die plane Landschaft hinaus, die großen Felder, ein dünner Schnee fiel und verschwand am Boden. Die zwei herverschlagenen Bohrtürme, wenige stille Dörfer, der Wald preußisch gerade, bis in die nächste verwinkelte Stadt hinein kannte sie jeden Fleck. Hierhin war sie zur Oberschule gefahren. Dann kamen andere Wälder, zerrissen zwischen Wiesen und Schauern Schnees, und jetzt erst ging es von zuhause fort, ihr war seltsam im Kopf. Es schneite stärker, die Dörfer wie zugehängt, die Bäume am Straßenrand rückten ganz fern und unwirklich weg. Sie fror. Sie hielt die Masten und Schneisen in ihrem Blick, das kam ihr nun alles zu, und konnte nichts halten, es flog alles dahin, alle Gewißheiten, alle Sicherheit.

Vor M. schien Sonne, die Straße blendete, schnitt wie ein Schneidbrenner in die Brücken ein, der Fluß wie grauer Teig in den Mulden. Karin vergaß ihren Kummer, das Zentrum lag offen und breit, weggebaut über die Trümmer; sie wurde fröhlich. Sie kam an.

In der Redaktion ging alles glatt, wie immer alles glatt gegangen war in ihrem Leben. Sie könne anfangen, wenn sie ein Zimmer bekäme. Man führte sie herum, sie sah nur freundliche Gesichter. Sie war an ihrem Ziel. Sie kam auch ins Parteizimmer und wurde als Kandidatin vorgestellt, der Sekretär, ein weißhaariger Mann, ließ sich von ihr mit Du anreden, und sie genierte sich noch und war zugleich stolz. Sobald sie draußen war, rief sie Frank an.