Karsten Flohr

Villa Ludmilla

Was wirklich in Brunos Keller

geschah und wie es die Welt veränderte

Roman

Für Karin und die Katze mit Hut

1. Ein Zapfgott bist du!

Wie Bruno wieder mal von seiner Schlafbank fällt und Heinzi ihm hilft, seinen Alptraum wegzuspülen

Bruno wankte, die Beine gaben nach, sein Körper knickte ein. Zwei Soldaten stützten ihn, als er sich auf dem Camp dei Fiori an den Zuschauertribünen vorbei schleppte, auf denen 80 Bischöfe, Kardinäle sowie der Papst persönlich saßen. Die Soldaten stießen ihn mehr vor sich her, als dass sie ihn hielten, sein Körper war nach acht Jahren Festungshaft und etlichen Verhören durch die Heilige Inquisition abgestorben. Aber sein Geist! Giordano Brunos Geist, der aus seinen aufgerissenen Augen flammte, die den Scheiterhaufen in der Mitte des schönsten Platzes Roms fixierten, arbeitete ungebrochen. Es war, als würde er mit diesen glühenden Augen die Pflastersteine zu seinen Füßen trocknen, die nach einem Platzregen glänzten. Die Gaffer hinter den Absperrseilen wichen einen Schritt zurück, als fürchteten sie, von den magischen Kräften des Ketzers verseucht zu werden. Und Seine Heiligkeit auf dem Ehrenplatz senkte den Blick, um sich der Kraft dieses Mannes zu entziehen, der sich aufgemacht hatte, die Grundmauern der christlichen Lehre einzureißen. Man hatte ihm einen Knebel in den Mund gestopft aus Furcht vor seinen Worten. Giordano Bruno taumelte umhüllt von den Stofffetzen, die er am Leib trug, wie eine Vogelscheuche dem Holzstoß entgegen, die atemlose Stille der Menge ließ den Campo erbeben.

Ein dünner, hoher Schrei aus seinem eigenen Mund reißt Bruno aus seinem Alptraum, eher ein Quieken, ein verzweifelter Versuch der Angst, die vertrauten, immer wiederkehrenden Bilder zu verscheuchen. Bruno rollt zur Seite und fällt von der Holzbank.

Sein Gesäß landet in einer Bierlache, die er selbst verursacht hat, als das halbvolle Glas, das er auf dem Bauch abgestellt hatte, heruntergefallen war. Da hatte er schon tief geschlafen in seiner Lieblingsecke in der Hirschquelle. Schließlich ist es bereits halb drei am Morgen, jeder anständige Mensch schläft um diese Zeit. Und Bruno ist einer der anständigsten. Das finden alle in der Hirschquelle, und nicht nur hier. Bruno ist etwas Besonderes, das ist einhellige Meinung in den Bier- und Billardlokalen rund um den Hauptbahnhof.

Jetzt sind nur noch eine Handvoll da, die sich gleichzeitig vom Billardtisch ab- und Bruno zuwenden, ihre Queues wie Lanzen auf den am Boden Liegenden gerichtet.

„Was’n det?“, fragt Karli, den alle wegen seiner Frisur nur Wuast nennen, „hast dich nass gemacht?“ Er stippt mit seinem Queue in die Lache zwischen Brunos Beinen und riecht dann fachmännisch am Filz. „Bier!“, ruft er nach hinten zu den anderen, „er hat Bier gepisst.“

Dann, mit besorgter Miene sich zu Bruno beugend, wobei seine wurstförmige Tolle nach vorn fällt und seine Augen bedeckt: „Wieder dieser Traum? Mann, komm hoch! Heinzi zapft dir ein neues.“ Er packt Bruno am Arm, der hinter seinen geschlossenen Augenlidern immer noch den Campo dei Fiori sieht, und zerrt ihn in die Höhe.

„’Tschuldigung“, sagt Wuast zu den beiden Vietnamesinnen aus dem Club Amphore, die gerade ihre nächtliche Mittagspause machen, als er mit Bruno an ihrem Tisch vorbeigeht.

„Wat’n?“, fragt eine. „Wofür?“

„Für das Wort eben“, erklärt Bruno, „ist ihm rausgeflutscht – ’tschuldigung.“

„Flutsch!“, ruft die andere und lacht heiser, „flutsch is gut! Auch für dich, mein Kleiner.“

Aber Bruno will jetzt nur Bier. Auf dem Tresen steht es schon bereit, Heinzi ist der Schnellste am Zapfhahn. „Ein Zapfgott bist du!“, sagt Bruno, als er sich auf dem Hocker am Tresen niederlässt und seine Nasenspitze in den Schaum stößt. Nach zwei weiteren Radebergern ist der letzte Rest des Traumes fortgespült. Für den Moment hat Bruno Ruhe vor der Inquisition.

Als er eine Stunde später gemeinsam mit Wuast und Heinzi vor die Tür der Hirschquelle tritt, deren Sicherheitsschlösser Heinzi umständlich mit drei Schlüsseln verriegelt, dämmert es. Ein wolkenloser Himmel über den kümmerlichen Platanen der Bahnhofstraße schält sich aus der Nacht. Es wird wieder ein heißer Tag.

„Meine Bank ist frei“, sagt Bruno und deutet zur anderen Straßenseite, wo in einer kleinen Parkanlage drei Holzbänke um einen Mülleimer stehen, „gute Nacht allerseits.“

Wuast hält ihn am Arm. „Nix da“, sagt er, „du pennst bei mir. Die Glatzen sind wieder unterwegs, durchforsten die Parks nach Leuten wie dir.“

„Wie mir?“

„Tu, was er sagt“, empfiehlt Heinzi, „ist besser so.“

Wuast meint es gut mit Bruno. In seiner Abstellkammer hinter dem Klo hat er eine Liege, die stets für Bruno reserviert ist. Mit Decke und Kopfkissen. Das Fenster schließt nicht ganz, das ist angenehm. Und auch, dass es nicht weit zum Klo ist.

2. Was ist mit Dr. Jonas passiert?

Man weiß es nicht, aber Bruno arbeitet an seiner Rettung

Bruno schläft bis zwölf, da ist Wuast schon wieder unterwegs. Computer reparieren. Wuast ist Spezialist für Apple, ein gelernter Informatiker. Die Werbeagentur hat angerufen, Serverabsturz. Sie stehen auf Wuast, cooler Typ, immer zwei Zigaretten im Gesicht. Eine im Mund, eine hinterm Ohr. ‚Erstmal Neustart!‘, wird er wie immer rufen, und alle lachen. Oft genügt das schon, so ist das mit Apple.

Bruno ist kein gelernter Irgendwas. Er studiert Medizin seit 18 Semestern. Mit dem Studentenausweis kann er billig Bus fahren. Er weiß eine Menge über Hirnchirurgie. Nur nicht in den Zwischenprüfungen, da ist alles raus aus seinem Kopf, da herrscht die große Leere. Aber auf einem anderen Gebiet – da ist er ein Riese: Stundenlang erzählt er in der Hirschquelle von Quanten und Teilchen und Raumzeitkrümmung, all den Sachen, die man braucht für Zeitmaschinen. Nur will keiner an der Uni was von Zeitmaschinen wissen. Pech für ihn. Oder auch nicht. So hat er jedenfalls Zeit, sich auf dem Laufenden zu halten.

So wie jetzt. Eine Stunde lang hat er wach auf dem Rücken gelegen, hier in Wuasts Abstellkammer, und gedacht, was das für ein Riesenkumpel ist. Dann steht er auf und wirft Wuasts iMac an. Blitzschnell ist das Ding, in wenigen Sekunden ist Bruno auf der Raumzeit-Site und loggt sich in den Chat ein. Man tauscht sich gerade über Jonas aus, Dr. Jonas um genau zu sein. Der einzige Mensch, der je eine Zeitmaschine konstruiert hat, die funktionierte, wirklich funktionierte. Elf sind online, Bruno ist der zwölfte. „Die 12 Jünger ;-)“, schreibt einer, als Brunos Anwesenheit bemerkt wird, „jetzt kann’s losgehen.“

Sie sind tatsächlich Jünger, sie und mehrere tausend andere, die um diese Zeit leider nicht online sein können, weil sie andere Sachen machen müssen, zum Beispiel in Büro-Meetings sitzen. Die armen Kerle können es kaum abwarten, bis sie abends zu Hause sind und sich einloggen. Denn sie alle haben einen gemeinsamen Hero: Dr. Jonas!

Irgendwann in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte er es wahr gemacht, sich in die Zeitmaschine auf dem Dachboden seines Hauses in Marburg gesetzt und war verschwunden. Manche seiner Patienten litten danach Höllenqualen. Dr. Jonas war nämlich Zahnarzt.

„Vermutlich hat er den Time-Generator zu heftig hochgefahren“, schreibt Beamer3, „die Kupferspulen brauchten damals lange, um die nötige Wärme zu erlangen. Wenn man’s zu schnell macht, schmelzen sie.“

Diese Auffassung vertritt Bruno schon lange. Dr. Jonas war in Eile, er musste das Risiko eingehen, er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, um gut 400 Jahre zu überbrücken. Der Tag der Hinrichtung stand unmittelbar bevor. Wenn er rechtzeitig ankommen wollte, um Giordano Bruno noch zu retten, musste er Tempo machen, auch auf die Gefahr hin, dass die Kupferspulen schmelzen. Er hatte gar keine Wahl.

Aber im Gegensatz zu den anderen Jonas-Jüngern ist Bruno nicht der Meinung, dass ihm unterwegs etwas zugestoßen ist. Bruno ist sich ganz sicher, wirklich absolut sicher, dass Dr. Jonas noch vor dem Jahr 1600 Rom erreichte. Aber was dann mit dem Zahnarzt geschah – das weiß auch er nicht.

Bruno verzichtet auf eine Stellungnahme im Chat. Die Theorie mit den Kupferspulen ist nicht neu, in den Zeitmaschinen-Foren wird sie rauf und runter diskutiert. Der wiederkehrende Traum, so beängstigend er auch ist, gibt ihm das Gefühl, dass Dr. Jonas Erfolg hatte. Nur dass niemand davon weiß, außer ihm. In den Geschichtsbüchern – ja, da brennt Giordano Bruno wie eine Wunderkerze! Aber was wissen die schon?

Seit Bruno als Zehnjähriger im Fernsehen einen Film über den genialen Ketzer gesehen hat, lässt er ihn nicht los. Zwei stationäre Psychotherapien hatte man ihm verordnet, sinnlose Gespräche mit Ahnungslosen. Sie hatten keine Ahnung, wer Giordano Bruno in Wirklichkeit war!

Bruno hat alle seine Schriften gelesen – alles über den unendlichen Raum, die Paralleluniversen ohne Anfang und Ende. Kein Platz für Götter, jungfräulich Gebärende und ähnliche Kreaturen. Giordano Bruno ist sein Fixstern, und Bruno weiß, dass Dr. Jonas ebenso empfand. Und dass er das große Wagnis auf sich nahm, sein nettes, sicheres Leben aufzugeben, um einem der dramatischsten Momente der Geschichte doch noch eine andere Wendung zu geben. Auch ihn verehrt Bruno. Es kursiert ein Foto von Dr. Jonas im Internet. Unscharf, von hinten. Er trägt einen Hut und sitzt auf einer Gartenbank unter einem Kirschlorbeer.

Bruno sitzt vorm Computer und stützt den Kopf in die Hände. Er weiß genau: Um das Dunkel zu lichten, muss er selbst eine Zeitmaschine bauen – eine, die funktioniert. Nicht so eine wie die Spinner in den Foren sie basteln, Pappkartons mit Holzlöffeln als Schalthebel. Was würde er darum geben, das nötige Geld dafür zu haben? Alles! Einen Finger, einen Fuß, vielleicht sogar einen Hoden. Ja, das wäre es wert, denkt er, als er den iMac ausschaltet. Ein Mann kann auch mit nur einem Hoden Nachwuchs zeugen. Dafür hat man schließlich zwei. Wie auch zwei Augen, zwei Ohren, zwei Nieren, zwei Knie. Das ist erwiesen, soviel hat er aus dem Medizinstudium mitgenommen. Sogar auf einem Bein kann man stehen.

Das tut er nun. Es ist seine Art der Meditation. Bruno braucht jetzt Kraft, die er aus der Ruhe schöpft. Um vier soll er seine Eltern treffen, sie sind mal wieder in der Stadt. Wollen hören, wann er endlich promoviert. Er steht lange auf dem rechten Bein, auf dem linken geht es nicht so gut. Auch als Wuast kurz in die Wohnung kommt, steht er weiter da, die Arme über dem Kopf ausgestreckt, Hände verschränkt, Kopf im Nacken, Augen geschlossen.

„Lass dich nicht stören“, sagt Wuast und durchwühlt seinen Schreibtisch, „ich brauch nur meinen Stick.“ Und schon ist er wieder weg, der Gute.

Bruno weiß, was er an ihm hat. Wuast liebt ihn. Gemocht hat er ihn immer schon, lieben tut er ihn, seit Bruno ihm geholfen hat, seine Schwester von diesem furchtbaren Typen zu befreien, von dem jeder wusste, dass er nur hinter ihrem Hintern her war. Nur Wuasts Schwester wusste es nicht. Der Typ war rundum widerlich, ging zur Maniküre und trug eine blaue Designerbrille.

Wuasts Plan war einfach gewesen. Abends um sechs trafen sie sich in der Chillout-Lounge des City-Tower-Hotels, seine Schwester und der schmierige Typ. Da, wo die coolen Werber abhängen. Der Plan sah vor, der Schwester die Augen zu öffnen. Das würde schmerzhaft sein für den Augenblick, aber nur zu ihrem Besten. Sie kannte Bruno nicht, Wuast hatte sie noch nicht miteinander bekannt gemacht. Der Typ kannte Bruno auch nicht. Das war gut, denn so konnte Bruno unverdächtig die Lounge betreten, einen Schrei der Überraschung ausstoßen und auf den Typen zusteuern. „Wie lange haben wir uns nicht gesehen, Alter?! Zu lange, viel zu lange!“, ruft er freudig erregt und setzt sich an den Tisch. „Wen hast du denn da? Die kenn’ ich ja noch gar nicht! Naja, wie soll man bei dir den Überblick behalten. Wieder ’ne Krankenschwester?“

Wuast hatte Bruno gut gebrieft. Gudrun ist tatsächlich Krankenschwester.

„Krankenschwester mit Bausparvertrag?“ Gudrun besitzt einen zuteilungsreifen Bausparvertrag.

„Na ja, geht mich nichts an, Alter. Wirklich, das ist deine Sache! Ich will nur wissen, was mein Geld macht – unser Geld, meine ich. Wirft es endlich Rendite ab? Wieviel Prozent hattest du gesagt – fünfzehn? Nee, fünfundzwanzig, richtig?“

Der Typ ringt nach Worten, seine Augen hinter der blauen Brille scannen die Nebentische ab. Eine manikürte Hand umklammert das Rotweinglas, die andere zuckt unkontrolliert.

„Roland ist ein Knaller, wirklich!“, sagt Bruno jetzt zu Gudrun. „Er kennt die Bäume, auf denen das Geld wächst. Nur mit dem Pflücken hat er manchmal Probleme. Hat ja auch keine Pflückerhände. Guck sie dir an!“

Er nimmt Rolands Handgelenk, der vor Schreck mit der anderen Hand das Rotweinglas zerdrückt, und hält die Hand in die Höhe. „Mit der hat er mir geschworen, dass sich binnen vier Wochen meine Einlage verdoppeln würde. Er sitzt an den richtigen Hebeln bei der Commerzbank.“ Roland arbeitet tatsächlich bei der Commerzbank.

„Alles in Ordnung bei euch?“, fragt der Kellner. „Soll ich ein neues Glas bringen? Oh wartet, ich wechsle erstmal das Tischtuch aus. Wenn ihr kurz aufstehen würdet …“

Alle drei erheben sich. „Das ist das Zeichen“, sagt Bruno und lacht, „ich muss dann mal wieder. Aber du meldest dich!“ Er droht Roland, der ihn wie einen Geist anstarrt, scherzhaft mit dem Finger.

Vertraulich beugt Bruno sich zu Gudrun und flüstert ihr ins Ohr: „Roland weiß, was Frauen wollen. Drei haben ihn schon vor den Traualtar gezerrt. Das soll was heißen …“ Er steckt den Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger und hebt die Hand, dann verlässt er die Lounge.

Wuast steht auf der anderen Straßenseite und beobachtet den Ausgang der Lounge. Er sieht Bruno durch die Drehtür kommen und zur nächsten Bushaltstelle gehen. Und gleich darauf sieht er seine Schwester aus der Lounge stürmen. Wenig später erscheint auch Roland in der Tür und ruft ihr etwas hinterher. Gudrun dreht sich nicht um, im Stechschritt eilt sie zu ihrem Smart. Wenige Minuten später ruft sie Wuast an und fragt unter Tränen, ob sie zu ihm kommen darf, es sei etwas Unglaubliches passiert, sie könne jetzt nicht allein sein.

Natürlich durfte sie. Wuast erreicht Bruno gerade noch rechtzeitig, um ihm zu sagen, dass er erstmal nicht in die Wohnung kommen soll. Dann konzentriert er sich darauf, wie er seine am Boden zerstörte Schwester am besten wieder aufrichten kann. „Es gibt noch andere Männer auf der Welt“, würde er sagen. Oder: „Vergiss den Typ.“ Oder vielleicht lieber gar nicht sprechen und sie wortlos in die Arme nehmen – das hat Stil.

3. Er tanzt wie ein Mehlsack

Und trotzdem nimmt Sue die Schuld auf sich, als sie beim Abtanzball nur den zweiten Platz belegen

Bruno betritt den Waschsalon um eine Minute vor vier. Seine Eltern bestehen auf Pünktlichkeit. Aber nicht deshalb macht er es, er liebt es, auf die Sekunde genau zu einer Verabredung einzutreffen. Und wenn dann einer sagt ‚Pünktlich wie ein Maurer!‘, weiß Bruno, dass man ihn knicken kann. Denn wer sowas sagt, ist ein Dünnmann. „Mal ehrlich“, hat Bruno erst vor kurzem Heinzi, dem Zapfgott, erklärt, „es gibt keinen blöderen Spruch! Oder kennst du einen?“

„Wir sehen uns!“

„Was?“

„Ich mein’, wenn einer sagt: Wir sehen uns!“

„Ach so, ja. Total daneben! Aber nicht so, wie der mit dem Maurer, das ist … ich weiß nicht.“

Heinzi nickte. „Wo du Recht hast … Noch ’n Rade?“

Der Waschsalon gehört Brunos Eltern. 17 Stück haben sie aufgemacht, überall in Ostdeutschland. Der hier in Leipzig war der erste gewesen. So sieht er auch aus, abgenutzt und mit welligem Linoleum. Hier haben sie ihr Büro, von wo aus sie ihr Imperium verwalten, hinten zum Hof raus, mit einer feuerfesten Eisentür, ein Eisengitter vor dem Fenster, ein Tresor in der Wand mit Zahlenschloss. Sie sind aber fast nie da, Bernd schmeißt den Laden, ihr Schwiegersohn, der Mann von Brunos Schwester. Die ist zwar in den Westen gezogen, hat einen neuen Mann, aber die Eltern haben Bernd den Job gelassen. Das hat Bruno imponiert.

„Er hat seine Sache bisher gut gemacht, also warum sollen wir ihn dafür bestrafen, dass Helga ihn verlassen hat?“, sagte Brunos Vater.

Völlig richtig, dachte Bruno, Helga ist ein Aas. Bernd vergöttert sie, warum ihm jetzt noch den Job wegnehmen? Auf die Idee, Bruno die Leitung der Waschsalons anzubieten, sind sie nie gekommen. Er selbst auch nicht.

Bernd ist in Ordnung, auch wenn Bruno ziemlich sicher ist, dass er die Alten bescheißt, ein bisschen zumindest. Aber da sie immer noch genügend Kohle rausziehen, um sich elf Monate im Jahr Urlaub leisten zu können, gibt’s keinen Grund, ihm Vorwürfe zu machen. Und es ist nicht nur einfach Urlaub! Highway Number one, Ayers Rock, chinesische Mauer, Chichen Itza–alles schon gesehen, alles schon im Fotoalbum. Und es gibt noch so viel zu sehen! „Bruno, wenn du wüsstest! Mach endlich deinen Doktor, mach eine Klinik auf und lass die anderen für dich arbeiten! Dann kannst du das auch alles sehen.“

Einmal im Jahr wollen sie Bruno sehen, wenn auch nur kurz in ihrem Büro hinterm Waschsalon. Dann sagen sie ihm solche Sachen. Sie mögen ihn und sie trauen ihm viel zu. Sicher, er ist labil und etwas komisch – dieser Quatsch mit den Zeitmaschinen –, aber er hat was auf dem Kasten. Ihr Junge hat Grips! Im Gegensatz zu Helga, die immer nur shoppen wollte und nie mit ihrem Taschengeld auskam. Bruno dagegen hat nie um Geld gefragt.

Sie sind ok, trotzdem strengen sie ihn an. Genauer: Die Vorstellung, die er ihnen stets geben muss, strengt ihn an. Die Promotion ist bald abgeschlossen, der Doktorvater ist sehr happy mit den Zwischenergebnissen, er wird ihn sofort als Stationsarzt einstellen, wenn alles fertig ist, erzählt er. Die Eltern strahlen. Ob er Geld braucht, fragen sie. Bruno winkt ab. Wenn er sie schon anlügt, will er sie nicht auch noch abzocken. Eigentlich bräuchte er nicht zu lügen, warum tut er es? Darum: Er kann es einfach nicht ertragen, in ihre traurigen Augen zu blicken. Und sie können ungeheuer traurig gucken, wenn sie enttäuscht sind! Vor allem, wenn sie von Bruno enttäuscht sind.

Er wird es nie vergessen, damals auf dem Abtanzball. Seine Partnerin im Leistungskurs war hochbegabt, eindeutig die Beste. Warum sie sich ihn ausgeguckt hat, weiß er bis heute nicht. Er ist nicht hochbegabt, Rhythmusgefühl ist ihm ein Rätsel. Aber immerhin: Er hat sich alles beibringen lassen, alle Schritte, alle Drehungen einstudiert. Er wollte ihr gefallen, klar. Denn sie hatte ihn auserwählt – die Queen der Tanzschule.

Und dann wurden sie nur Zweite beim Tanzturnier des Abtanzballs, es lag an ihm, ganz klar. Es gab eine Flasche Rotkäppchen als Hauptpreis, er gewann die Flasche nicht. Und seine Eltern haben ihn so traurig angeblickt, so todtraurig. Sue – so ließ seine Partnerin Susanne sich nennen – tröstete die Eltern. „Ich war heute nicht in Form“, erklärte sie, „hab die Kurve nicht gekriegt, irgendwie fehlte der Schwung.“

Aber der Blick der Eltern blieb, sie wussten, dass es nicht Sues Schuld war, sondern seine. Bruno tanzte wie ein Mehlsack, und er hat nie erfahren, warum Sue ausgerechnet ihn als Partner wollte.

Egal, er will jedenfalls nie wieder in diese traurigen Augen blicken. Und jetzt strahlen sie, als sie hören, dass ihr Hirnchirurg bald am Ziel ihrer Träume ist.

„Und wenn ich dann später mal einen Tumor hab’ oder sowas, machst du ihn mir weg!“, sagt sein Vater und grölt vor Lachen. Fasziniert beobachtet Bruno, wie die Zigarre ihm trotzdem nicht aus dem Mund fällt, sie hängt an seiner Unterlippe als wäre sie dort festgetackert.

Aber im Blick seiner Mutter liegt noch etwas anderes, Sorge nämlich. „Die Zeitmaschinen“, fragt sie, „bist du da immer noch am Basteln?“ Sie war es gewesen, die ihn zur Therapie geschleift hatte, als er von Giordano Bruno besessen gewesen war – so hatte sie es formuliert –, und sie war es auch gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass er das Abitur nachmachen durfte, als die Therapien ihn monatelang von der Schule fernhielten. Sie wird ständig von Restzweifeln geplagt, ob wirklich alles gut ist mit ihrem Jungen.

„Ja, ich war schon zweimal bei Pharao Ramses“, antwortet Bruno, „und als ich ins vierte Jahrtausend flog, bin ich beinahe in ein schwarzes Loch gefallen. Das Spaghettimonster hat mich gerettet.“

Sein Vater fällt vom Stuhl vor Lachen. Schwager Bernd, der wie immer die ganze Zeit dabei steht, fängt den Vater auf und verhindert einen erneuten Steißbeinbruch. Das ist seine wunde Stelle, immer fällt er auf sein Steißbein. Viermal hat er es sich schon gebrochen. ‚Sehr schmerzhaft, Junge, kannst mir glauben‘, sagt er dann immer.

Ob er wirklich kein Geld bräuchte, fragt er Bruno erneut, nachdem er wieder richtig am Schreibtisch sitzt. Bruno verneint: „Alles paletti, ich jobbe in der Intensivstation, die Kohle reicht.“

„Wir haben es auch aus eigener Kraft geschafft“, sagt der Vater und bläst eine bläuliche Wolke zur Decke empor, „nur so geht’s!“ Er ist zufrieden, morgen geht es nach Ägypten.

Später fragt Bernd: „Wieviel brauchst du?“ Er kennt Brunos System. Die meisten anderen kennen es nicht, die wundern sich nur, wie Bruno stets seine Schulden begleicht und leihen ihm gerne weiter Geld, denn er zahlt mit Zinsen zurück, pünktlich. Dabei ist es ganz einfach: Er leiht sich immer ein bisschen mehr, als er zurückzahlen muss. So bleibt ihm immer was zum Leben übrig.