Anett Steiner

 

 

 

 

Unberührbar

Blitzlichtgeschichten

 

 

 

 

 

 

 

 

Twilight-Line Verlag GbR

Obertor 4

D – 98634 Wasungen

Deutschland

 

1. Auflage, November 2012

ISBN (Print): 978-3-941122-95-6

eBook-Edition

 

© 2012 Twilight-Line Verlag GbR

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erinnerung ist das einzige Paradies,

aus dem wir nicht vertrieben werden können.

 

Jean Paul

 


 

1

 

Wieso mögen wir Bilder? Wozu brauchen wir Sie? Um uns zu erinnern? Doch sind wir nicht selbst der Ort und das Werkzeug unserer Erinnerung?

Sinnliche und erotische Darstellungen waren bis ins 19. Jahrhundert auf die Malerei beschränkt. Sie galten als unmoralisch und wären für die breite Masse ohnehin unbezahlbar gewesen.

Farben, Perspektive, Licht und Schatten. Reicht das, um ein Abbild der Wirklichkeit auf Leinwand oder Celluloid zu bannen, um einen magischen Moment festzuhalten?

Die Anfänge der Fotografie gehen auf Louis Daquerre und das Jahr 1835 zurück. Fotos aufzunehmen und sie zu verbreiten war nicht immer so einfach wie heute, wo es das Normalste der Welt ist mit Handy oder Digitalkamera beinahe jeden Augenblick einzufangen. Um 1850 erschienen in Frankreich Postkarten von Frauen in erotischen Posen – vielleicht die Geburtsstunde der sinnlichen Fotografie und ihrer Verbreitung? Das erste Magazin, in dem erotische Fotos veröffentlicht wurden, war das französische La Beaute.

Schärfe, Kontrast und Auflösung der Bilder waren mit der heutigen Fotoqualität nicht zu vergleichen. Und es standen nur die Farben schwarz und weiß und ein paar Grautöne dazwischen zur Verfügung. Doch von Anfang an waren Erotik und Fotografie eng miteinander verbunden. Während die ersten Pin-up-Girls „nur“ nackte Beine zeigten, wurden im „Playboy“ ab 1953 auch zunehmend Brüste abgebildet. Im Fotomagazin „Penthouse“, das erstmals 1965 erschien, wurden schließlich hüllenlos „nackte Tatsachen“ veröffentlicht. Mit der Zeit haben sich Schönheitsideale und Körpervorstellungen verändert. Die Aktfotografie ist eine Form der künstlerischen Darstellung unseres Körpers, der dabei nackt oder teilweise bekleidet sein kann. Die Grenzen zwischen erotischer Fotografie und Pornografie sind fließend und oft subjektiv. Nicht nur die Darstellung von Blöße, sondern schon eine Andeutung genügt, um einen Reiz im Betrachter auszulösen. Künstlerischer Anspruch und Ästhetik in der Komposition der Aufnahme scheinen für ein sinnlich knisterndes Ergebnis wichtiger zu sein, als die Eindeutigkeit einer dargestellten Szene. Doch wie eine erotische Fotografie tatsächlich auf den Betrachter wirkt, ist von mehr abhängig als nur von dem, was sich dem Auge bietet. Es ist eine Einladung zu einem kleinen Ausflug ins Reich der Fantasie.

 

 

2

 

„Je dunkler der Himmel ist,

desto heller werden die Sterne erscheinen“

(Leonardo da Vinci)

 

Gelbes Licht verlieh der leeren Wohnung einen geheimnisvollen Schein. Die Räume waren leer und warm.

Lächelnd blickte Gregor aus dem Fenster. Er liebte die Stimmung vor einem Sommergewitter. Dann verdichtete sich die Luft, das Atmen fiel schwerer und Schweiß trat aus den Poren der Haut. Dann war es, als würde sich sogar die Zeit zusammenziehen, sich aufstauen, stehen bleiben. So wie in diesem Moment. Für Gregor war es ein magischer Moment.

Er stellte die Kartons wieder ab, die er schon auf dem Arm gehabt hatte, um sie in den Flur zu tragen. Dafür blieb später noch Zeit. Viel lieber wollte er ans Fenster gehen, seine Stirn gegen die Scheibe drücken, die sich trotz der Hitze kühl anfühlte und an der nur Sekunden später die ersten Regentropfen platzen würden. Er wollte hinaus auf die Straße sehen, die gelbgrau unter dem Licht des drohenden Unwetters lag. Eine ganz besondere Spannung breitete sich aus, in Gregor selbst und um ihn herum.

Dann war es soweit. Erste Tropfen lösten sich aus den tief hängenden Wolken und trafen zaghaft auf das Fensterbrett. Die Intensität des gelben Lichtes erreichte ihren Höhenpunkt, dann wurde alles grau und ein Platzregen trommelte gegen das Glas. Gregor Sommer vernahm den ersten Donner in der Ferne, der schnell näher kam, begleitet von zuckenden Blitzen.

Ein wunderbares Schauspiel so ein Gewitter, dachte er und ein zufriedenes Lächeln spielte um seine Lippen.

Hier würde er sich wohl fühlen. Eine Stadt, die ihn auf diese Weise begrüßte, musste ihm einfach wohlgesonnen sein.

Wenig später nahm er die Arbeit wieder auf. Er montierte die wenigen Möbel, die er mitgebracht hatte und stattete die Räume spärlich damit aus. Er verteilte die Umzugskisten nach Inhalt auf die entsprechenden Zimmer und blieb dann wieder vor dem Stapel Kartons stehen, den er im Flur abgestellt hatte. Er wusste nicht einmal genau, was sie enthielten, nur irgendwelchen Kram. Er schleppte sie von Wohnung zu Wohnung mit, ohne sie zu öffnen. Meist lagerte er sie im Keller oder auf dem Dachboden oder in einem Winkel unter der Treppe. Wahrscheinlich enthielten sie nichts Wichtiges, sonst hätte er ja längst etwas vermisst. Wenn er daran rüttelte und sich recht erinnerte, waren in einem alte Schallplatten, obwohl er längst keinen Plattenspieler mehr besaß. Im nächsten mussten Kleidungsstücke sein, die noch von Anna stammten und die er nicht wegwerfen konnte und im dritten – nun, wahrscheinlich Oster- und Weihnachtsdekoration. So etwas musste man zwar irgendwie besitzen, aber nicht zwingend in allen Lebensumständen für wichtig erachten.

Er überlegte, wo er diese schleichenden Besitztümer in der neuen Wohnung aufbewahren sollte. Vielleicht ganz unten im Schlafzimmerschrank? Andererseits stand ihm ein Raum auf dem Speicher des Hauses zur Verfügung, eine Dachkammer hätte seine Großmutter das wohl genannt. Diese schien ihm der geeignete Ort für die anhänglichen Kartons zu sein.

Gregor beschloss noch einen Kaffee zu trinken und eine Zigarette am Küchentisch zu rauchen, auf dem sich in Zeitungspapier eingewickeltes Geschirr stapelte. Er kippte das Fenster leicht an, damit der Rauch besser abziehen konnte. Noch waren die Wände weiß und frisch gestrichen und gelbe Ecken wollte er so lange wie möglich vermeiden. Während er an der Zigarette zog, hörte er dem Knistern zu, mit dem der Tabak verbrannte und konnte die Glut als roten Punkt im Spiegel des Fensters sehen. Er schaute auf die Straße hinaus, Blitz und Donner waren abgezogen, doch der Regen war geblieben, hatte sich über den Dächern der Stadt festgesetzt. Wie Schnüre hingen Wasserketten vom Himmel. Aus den Augenwinkeln fixierte Gregor die Rotweinflasche, die er sich für den Abend seines Einzugs auf der notdürftig montierten Küchenzeile bereitgestellt hatte. Nein, jetzt noch nicht, mahnte er sich, zuerst mussten die drei Kartons in die Bodenkammer.

Er drückte die Zigarette aus, griff aber dennoch zur Weinflasche, um das erlesene Etikett noch einmal zu studieren. „Schade, dass man Wein nicht streicheln kann“, hatte auf einem Schild über dem Regal im Feinkostladen gestanden, doch er hatte vergessen, von wem dieser Ausspruch stammte. Tucholsky?

Irgendwo musste auch der Dekanter sein. Er war ein Geschenk seiner verflossenen Freundin Anna. Sie hatte ihm erklärt, es hätte keine Kultur, Wein aus Flaschen zu trinken. Das edle Getränk müsse an die Luft und atmen. So viel Zeit muss sein, dachte er und begann zu suchen, bis er die Glaskaraffe ausfindig gemacht hatte. Er befreite die Flasche von ihrem Kunststoffkorken und füllte den Wein um. Er roch köstlich.

Dann nahm er die drei Kartons im Flur wieder auf, klemmte sie mit dem Kinn fest und verließ seine neue Wohnung. Die Eingangstür ließ er offen stehen, schließlich würde er nur ein paar Minuten brauchen, um seine Last auf dem Speicher loszuwerden. Er stieg die Treppe zum Dachgeschoss hinauf. Im ganzen Haus gab es Steinstufen, doch die letzte Treppe bestand aus knarrenden Holzbrettern. Das alte Stadthaus mit den weißen Fensterrahmen und der Stuck-Fassade verfügte über drei Wohnetagen mit jeweils zwei Wohnungen. Im Endgeschoss befand sich ein leerstehendes Ladenlokal. Wahrscheinlich hatte das über die Jahre verschiedene Mieter gehabt. Wenn alles gut ging, konnte er dort vielleicht ein kleines Atelier einrichten, träumte Gregor. Er hatte nicht wählen können, ob er einen Kellerraum oder eine Dachkammer zu seiner Wohnung dazu haben wollte. Die Kellerräume waren augenscheinlich beliebter, es gab nur drei davon und die waren alle belegt. Sicher, im Keller konnte man Bier und Kartoffeln und Fahrräder besser unterbringen als unter dem Dach. Aber Gregor trank kein Bier und ein Fahrrad hatte er auch nicht. Nur diese drei Kartons.

Die Tür zum Dachgeschoss war aus massivem Holz. Sie war über die Jahre mehrfach gestrichen und dazwischen nur unzureichend wieder abgebeizt worden. Gregor steckte den Schlüssel ins Schloss, der Bund war stattlich, bestand aus Haustürschlüssel, Wohnungsschlüssel, Briefkastenschlüssel und diesem, der an die Bodentür passte. Einen für die Bodenkammer gab es auch noch. Doch der hing nicht am Schlüsselbund, sondern Gregor hatte ihn in seine Hosentasche gesteckt, in der Absicht, ihn im Schloss der Bodenkammer gleich stecken zu lassen.

Er stieß die Tür zum Speicher auf, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Sie roch nach Hitze und modrigem Staub. Gregor rümpfte die Nase. Er war empfindlich was Schimmel und Moder betraf. Davon bekam er schnell diesem allergischen Husten, unter dem er schon als Kind gelitten hatte. Nun, egal, sagte er sich. Er wollte ja nur schnell die Treppe hinaufsteigen, die drei Kartons in seiner Bodenkammer abstellen und dann würde er erst wieder hier heraufkommen, wenn er eines schönen Tages wieder auszog. Er war ein ruheloser Mensch, kein Ort konnte ihn lange halten, nirgends fand er, wonach er suchte. Das mochte daran liegen, dass er nicht wirklich wusste, was er finden wollte.

Er stieg die Treppe hinauf, die alten Holzstufen knarrten dumpf unter seinen Schritten. Er zog den Kopf ein, obwohl nirgends ein Balken zu sehen war, an dem er sich hätte stoßen können. Es war ein Reflex, den er sich angewöhnt hatte, immer dann wenn er in Kellern und auf Böden unterwegs war. Bei einer Körpergröße von beinahe zwei Metern war es einfach besser gelegentlich den Kopf einzuziehen.

Als er die Plattform des Dachbodens erreicht hatte, hielt er die Luft an. Nicht wegen des Staubgeruchs, sondern wegen des Lichts. Trotz des Regens, der hörbar aufs Dach trommelte, malte das Licht, das durch die Fenster an den Giebeln und in den Dachschrägen fiel, einen kreuzförmigen Schatten von Gregors Körper auf die alten Holzdielen. Wie wunderbar musste das Licht hier oben erst bei Sonne sein oder in gelbroter Abenddämmerung? Das Herz des Malers in ihm begann höher zu schlagen und er sah schon seine Staffelei hier oben stehen.

Gregor ließ seinen Blick schweifen und zählte drei Bodenkammern. Zwei davon waren leer. Eine musste also seine sein und die andere gehörte einer alten Dame aus dem ersten Stock, die nicht mehr gut genug zu Fuß war, um hier heraufzusteigen. Das hatte sein Vermieter ihm erzählt und angeboten, dass er sich mit der alten Dame vielleicht auf Nutzung von zwei Bodenkammern einigen könnte. Aber eine genügte Gregor vollauf. Er hatte ja nur diese drei Kartons unterzustellen. Während er sich umdrehte, wurde ihm schwindlig. Die verbrauchte Luft hier oben war wirklich unerträglich.

Gregor stellte die Kartons ab, ließ sie die letzten paar Zentimeter sogar fallen und riss eines der Giebelfenster auf. Tief zog er die vom Regen gefilterte Luft in seine Lungen und spürte, wie sich sein Kreislauf wieder stabilisierte. Wahrscheinlich hatte er im Laufe des Tages auch viel zu wenig gegessen. Gregor genoss den Luftzug, der durch das offene Fenster drang und sein heißes Gesicht kühlte. Wie ein junger Wind strich der erfrischende Hauch durch die Holzgitter der Bodenkammer, wirbelte Staub auf und sauste die Bodentreppe hinab.

Die Bodentür schlug mit einem lauten Knall zu.

Gregor hörte nur seinen Schlüsselbund melodisch klimpern, der noch immer von außen im Schloss steckte. Doch in diesem Augenblick dachte er sich noch nichts dabei.

Er probierte den kleinen Schlüssel aus seiner Hosentasche und stellte fest, dass er an der hintersten Kammer passte. Durch den Lattenverschlag konnte er sehen, dass einer der Vormieter ein altes Regal zurückgelassen hatte. Die drei Kartons würden prima hineinpassen.

Gregor öffnete das winzige Vorhängeschloss, das wie ein Spielzeug anmutete und betrat die Bodenkammer. Die Holzdielen knarrten, und wenn er sich nicht täuschte, war in seinem Augenwinkel soeben eine Maus quer durch den Raum gesaust. Als er die Kartons in das alte Regal gestellt hatte, wäre er beinahe in eine Mausefalle getreten.

Gregor ließ noch ein paar Augenblicke frische Abendluft hereinströmen, bevor er das Giebelfenster wieder schloss. Von einem Augenblick auf den anderen waren alle Geräusche ausgesperrt, die von der Straße heraufdrangen.

Dann stieg er die Treppe wieder hinab. Die letzten Stufen lagen im Dunkel, denn der Wind hatte ja die Tür zugeschlagen, so dass kein Licht vom Treppenhaus heraufdringen konnte.

Von Innen hatte die Tür keine Klinke, nur einen runden, abgegriffenen Knauf, der sich glatt anfühlte. Er ließ sich nicht bewegen, die Tür blieb verschlossen. Gregor war auf dem Dachboden gefangen.

Das kann doch nicht wahr ein, dachte er und rüttelte an der Tür. Dann warf er sich mit der Schulter dagegen, rief um Hilfe. Niemand antwortete.

Die Tür ließ sich also nur mit dem Schlüssel öffnen und der steckte von draußen. Gregor verschluckte einen Fluch, dann hämmerte er mit beiden Fäusten gegen das Holz in der Hoffnung, dass der Schall bis ins Treppenhaus übertragen wurde und ihn jemand von den restlichen fünf Mietparteien hören würde. Dann wartete er, lauschte. Nichts geschah. Er trat mit dem Fuß gegen die Tür, als sich langsam Panik in ihm ausbreitete. Das brachte ihm einen schmerzenden Großzeh ein, der ihn eine Weile ablenkte.

Dann stieg er humpelnd die Treppe wieder hinauf und öffnete noch einmal das Giebelfenster. Vor dort konnte er hinunter auf die Straße sehen, die regennass und menschenleer in der Abenddämmerung lag.

„Hallo“, rief er hinaus und wunderte sich über seine eigene Stimme, die irgendwie verloren klang. Vielleicht hatte jemand im Haus ein Fenster offen stehen und würde ihn doch noch bemerken? Also fuhr er fort: „Hallo, hier oben bin ich“, zu rufen. „Die Tür ist zugefallen.“

Er fühlte sich wie ein kleiner Junge, der sich verbotenerweise auf den Dachboden geschlichen hatte und nun in der Falle saß. Er raufte sich die Haare und suchte nach einem Lichtschalter.

Wahrscheinlich würde er darauf warten müssen, bis ihn jemand fand. Wie lange würde es dauern, bis jemandem auffiel, dass seine Wohnungstür sperrangelweit offen stand? Er hatte ja nur für ein paar Minuten auf den Dachboden gehen wollen.

Noch einmal rief er zum Fenster hinaus, noch einmal stieg er hinunter und hämmerte gegen die verschlossene Tür, dann entschied er zu warten. Nicht einmal sein Handy hatte er dabei. Genervt schlug er noch einmal mit der flachen Hand gegen das Holz und tastete dann nach einem Lichtschalter. Mit einem feinen Knistern erwachten ein paar alte Glühbirnen zum Leben und tauchten das Dachgeschoss in einen gelben Schein. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das letzte Tageslicht verschwunden war.

Gregor ging eine Weile auf und ab und rieb sich die Stirn. Nun, wenn er schon einmal hier oben festsaß, sollte er sich vielleicht endlich dem Inhalt seiner drei alten Kartons widmen, um sicher zu gehen, dass er wirklich nichts davon brauchte.

Er durchwühlte einen nach dem anderen und fand darin, was er erwartet hatte: Schallplatten, alte Kleider und Weihnachtsdekoration.

Sehnsüchtig fokussierte er das abgewohnte Sofa mit dem Blümchenbezug, das in der anderen Kammer stand. Auch ein paar alte Bücher warteten dort im Regal. Damit könnte er sich wenigstens die Zeit verkürzen, dachte er und betrachtete das Schloss genauer. Er stellte fest, dass die fremde Kammer nicht abgeschlossen war. Ein kleiner, kupferfarbener Schlüssel in Spielzeugformat steckte in dem winzigen Schloss, das man wahrscheinlich mit wenig Kraftaufwand auch so hätte öffnen können.

Gregor zögerte.

Er hatte kein Recht die kleine Kammer zu betreten, weil sie ihm nicht gehörte. Aber wer sollte etwas dagegen haben, dass er sich für eine Weile auf das alte geblümte Sofa legte? So ein Umzug war schließlich anstrengend und zehrte an Nerven und Kräften. Und wenn er nun schon hier oben gefangen war, sprach doch nichts dagegen, die Zeit dafür zu nutzen, sich ein wenig auszuruhen? Er rang noch ein paar unruhige Momente mit seinem Gewissen, ging wieder zum Giebelfenster und noch einmal an die verschlossene Tür. Niemand war zu hören und zu sehen. Gregor lächelte müde. Was für ein Tag. Er hatte wirklich die Nase voll davon, ständig umzuziehen und doch hielt es ihn nirgends. Er fühlte sich heimatlos und das war schon so gewesen, als er noch Kind war. Seine Mutter wollte ihm beständig einreden, dass diese Unruhe davon kam, dass er ohne Vater aufgewachsen war. Deshalb, so meinte sie, sei er ständig nach etwas auf der Suche, das er niemals finden würde.

Gregor überwand seine Hemmung und zog das offene Schloss ab. Die Tür zur Kammer schwang quietschend auf, schlug Holz auf Holz gegen die Gitterwand. Das alte Sofa lockte. Er ließ sich darauf nieder, Staub stieg auf. Die Spannfedern knarrten. Er lächelte. Die Situation war wirklich seltsam. Das letzte Mal war es ihm als Junge passiert, dass er sich selbst eingeschlossen hatte. Damals hatte er in einem Buch gelesen, um sich die Zeit zu vertreiben, bis man ihn fand. Die Situation war quasi ein Déjà-vu.

Gregor richtete sich wieder auf und betrachtete die Bücher im Regal, die ihn nicht lockten, weil sie alt und staubig rochen. Dann sah auf einer alten Kommode ein abgegriffenes Fotoalbum liegen. Es war in braunes Leder gebunden.

Als Künstler wusste er das Flair des Alten und Vergangenen zu schätzen. Schließlich war es das Lebenswerk eines Künstlers, vergangene Momente in Form von Gemälden, Fotos und Plastiken festzuhalten.

Er setzte sich und streckte seine Hand nach dem Album aus, berührte die Oberfläche des Leders. Sie fühlte sich seltsam warm an. Außerdem war es frei von Staub, ganz so, als würde es von Zeit zu Zeit noch von jemandem in die Hand genommen.

Befangen zog Gregor seine Finger wieder zurück. Er war schon zu weit in die Privatsphäre eines Fremden eingedrungen, nur weil er diese Kammer betreten hatte. Der Inhalt des Albums ging ihn nichts an und verlockte ihn dennoch. Er fand, dass diese Neugier durchaus normal war und sich entschuldigen ließ. Erst Recht, weil er ein Künstler war und gerade nichts anderes zu tun hatte, als darüber nachzudenken, welches Motto seine neue Ausstellung tragen sollte. Er musste endlich wieder etwas tun, um Geld zu verdienen und sich im Geschäft zu halten. Viel zu lange hatte er seine künstlerische Arbeit vernachlässigt, um wieder einen neuen Ort zu suchen, an dem er sich niederlassen wollte. Hier würde er bleiben, hatte er beschlossen. Er konnte nicht ewig von einem Ort zum anderen ziehen, ohne überhaupt zu wissen was er eigentlich suchte. Er hatte einer alten Bekannten geglaubt, die mit einem Pendel über dem Stadtplan festgelegt hatte, dass er genau in dieser Gegend Ruhe von seiner Rastlosigkeit finden würde. Nicht dass er wirklich daran glaubte, aber einen Versuch war es wert gewesen.

Wieder streckte er die Hand nach dem Album aus. Diesmal ergriff er es und legte es auf seine Knie. Dann strich er mit der rechten Hand beinahe liebevoll darüber, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er es öffnen musste, auch wenn es ihn nichts anging.

 

 

 

 

3

 

„Aus kleinem Anfang

entspringen alle Dinge“

(Cicero)

 

„Hallo!“ Schwere Schritte ertönten auf der Treppe. „Hallo? Ist jemand hier oben? Herr Sommer? Sind Sie das?“

Gregor hob den Blick. Noch immer saß er auf dem alten, geblümten Sofa, das Fotoalbum lag auf der ersten Seite aufgeschlagen auf seinen Knien.

Jemand näherte sich der Bodenkammer.

Erschrocken schlug Gregor das Album zu. Schnell legte er es auf die alte Kommode zurück und war dafür so plötzlich aufgestanden, dass ihm erneut schwindlig wurde.

„Ja, ich bin hier“, sagte er und klopfte sich den Staub von der Jeans. Dann zog er die hölzerne Tür hinter sich zu und hängte das Schloss wieder ein. Gerade noch rechtzeitig, bevor der graue Haarschopf eines alten Mannes im Treppenaufgang erschien.

„Oh, diese hinterhältige Tür“, murmelte der Alte. „Sind Sie ihr also auch zum Opfer gefallen, Herr Sommer?“ Seine Augen lächelten.

„Meine Frau bat mich Ihnen den obligatorischen Begrüßungskuchen zu bringen und ich fand nur Ihre sperrangelweit offene Wohnungstür.“

Gregor nickte entschuldigend und zuckte mit den Achseln.

„Dann habe ich nach Ihnen gesucht und sah Ihren Schlüsselbund an der Bodentür stecken und dachte mir schon, dass ich Sie hier oben finde.“

Wieder nickte Gregor.

Hinter den Giebelfenstern war es nun beinahe dunkel.

„Waren Sie lange hier oben eingesperrt?“

Gregor schüttelte den Kopf. Verstohlen schielte er nach dem Fotoalbum.

„Naja, jetzt haben Sie mich ja gefunden“, antwortete er und drängte sich an dem alten Mann vorbei. Es war Leopold Duvall, der Vermieter.

Auch er warf einen schnellen Blick durch die Holzgittertür in die Kammer mit dem geblümten Sofa.

„Wie schön dass Sie mich befreien“, erklärte Gregor schnell. „Lassen Sie uns auf eine Tasse Kaffee hinunter gehen?“

 

Tatsächlich stand Gregors Wohnungstür noch immer weit offen, jeder hätte ein und ausgehen können. Doch da es kaum etwas von Wert in Gregors Besitz gab, machte er sich darüber keine Sorgen. Er lebte nach dem Motto eines Inders, dessen Name ihm entfallen war: Das Leben ist eine Reise, nimm nicht zu viel Gepäck mit. Und wenn ihm etwas verloren ging, war es eben nicht mehr da. Vielleicht war das auch das Problem mit seiner Freundin Anna gewesen. Er hatte sie eben einfach gehen lassen, ohne sich auch nur ein bisschen um ihr Bleiben zu bemühen. Das musste ihr den Eindruck vermittelt haben, dass sie ihm völlig egal war. Und vielleicht stimmte das sogar, aber da war er sich bis heute nicht sicher.

Gregor schloss das Fenster, das noch immer leicht angekippt war. Der Rauch seiner Zigarette hatte sich fast vollständig verzogen, hing nur noch in dem Zeitungspapier fest, mit dem das Geschirr eingewickelt war, das sich auf dem Küchentisch türmte.

Leopold Duvall schaute sich um und suchte nach einem Platz für den Kuchen seiner Frau. Er fand ihn neben der leeren Rotweinflasche und dem Dekanter und stellte das Gebäck dort ab.

„Richten Sie Ihrer Frau meinen Dank und beste Grüße aus“, erklärte Gregor. „Wieso ist sie denn nicht mitgekommen?“

Duvall lächelte.

„Sie ist sehr schüchtern, müssen Sie wissen“, antwortete er. „Natürlich werde ich ihr Ihre Grüße bestellen.“

Gregor hatte Duvalls Frau bisher nur einmal gesehen und zwar bei der Unterzeichnung seines Mietvertrages und da hatte sie eigentlich keinen schüchternen Eindruck gemacht.

Gregor warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Für Kaffee war es entschieden zu spät. Stattdessen bemerkte er, wie Duvall den Rotwein ins Visier nahm.

„Wollen wir vielleicht auf den Kaffee verzichten und uns diesen Tropfen gönnen“ fragte Gregor und griff nach dem Dekanter, um den Wein darin zu schwenken.

Der Alte zwinkerte fast unmerklich und neigte seinen grauen Kopf dann von links nach rechts und wieder zurück. Er zog die Stirn in Falten, als müsse er über Gregors Angebot nachdenken.

„Nun ja“, brummte er dann. „Das ist wirklich ein verlockendes Angebot. Meine Frau mag keinen Wein, müssen Sie wissen und allein trinke ich nicht. Es ist schon lange her, dass ich das letzte Mal auf etwas angestoßen habe“, sinnierte er und seine Stimme klang ein wenig wehmütig.

„Nun, dann ist es doch beschlossene Sache“, stellte Gregor fest. „Schließlich haben Sie noch etwas gut bei mir, weil Sie mich nicht in der Bodenkammer haben verdörren lassen.“ Gregor grinste breit und begann aus dem eingewickelten Geschirr die Gläser herauszusuchen. Gelangweilt habe ich mich dort oben jedenfalls nicht, dachte er, ganz im Gegenteil, doch er sagte es nicht.

Er polierte die Gläser mit einem Zipfel seines T-Shirts nach, machte ein entschuldigendes Gesicht und schenkte ein. Dann deutete er auf einen der Küchenstühle.

Leopold Duvall setzte sich und beide schauten für eine Weile hinaus auf die Straße, über die sich die Nacht ausgebreitet hatte und deren Gehwege wie ausgestorben in der Dunkelheit lagen.

Dann hob Gregor sein Glas und schnippte mit dem Zeigefinger gegen den Rand. Ein singender Ton entstand, der lange in der Luft hängen blieb.

„Auf Ihr Wohl und das Ihrer Frau!“ prostete Gregor.

Der Alte nickte.

„Und darauf, dass Sie sich hier in diesem Hause wohlfühlen werden“, ergänzte der Alte.

Dann nahmen sie einen Schluck und Gregor beobachtete Duvall aufmerksam. Der nickte anerkennend.

„Sehr guter Tropfen, ausgezeichnet!“

Gregor lächelte zufrieden.

„Wem gehört eigentlich die Bodenkammer mit dem geblümten Sofa?“ fragte er dann unvermittelt, während sich Wärme in seinem Bauch ausbreitete und sein ganzer Körper sich entspannte. Sogleich nahm er noch einen Schluck. Es war wirklich ein außerordentlich guter Wein. Fruchtig und edel. Zudem hinterließ er ein angenehmes Kribbeln auf der Zunge.

„Wieso fragen Sie?“, entgegnete Leopold Duvall.

Die eigentliche Antwort darauf wollte Gregor allerdings noch eine Weile für sich behalten. Stattdessen sagte er: „Ach, mir gefällt das geblümte Sofa. Es erinnert mich an meine Kindheit im Haus meiner Großmutter. Und da ich ohnehin noch Sitzmöbel brauche, könnte ich es vielleicht kaufen?“

Duvall spitzte die Lippen und betrachtete sein Glas. Dabei sah er aus wie ein grauhaariger Wahrsager, der seine Zauberkugel befragt.

„Ich fürchte, den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun. Die Kammer gehört mir und steckt voller Erinnerungen an die Zeit vor meiner Ehe. Nicht das ich unter meiner Frau leiden würde, ganz sicher nicht, aber auch ich war mal ein junger Mann und das war eine verrückte Zeit. Alles, was davon geblieben ist, befindet sich in meinem Kopf und in dieser Kammer. Nichts davon will ich hergeben.“

Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, dachte Gregor und wusste nicht, woher dieser Gedanke kam. Das Zitat jedenfalls stammte von Jean Paul.

Also gehörte die Bodenkammer dem Alten selbst. Und vielleicht würde er es nicht einmal bemerken, wenn Gregor sie noch einmal betrat, um sich das Album anzuschauen. Dieses ganz außergewöhnliche Album. Es war noch viel außergewöhnlicher als der Wein.

Gregor schenkte nach. Schon spürte er, dass seine Beine schwer wurden. Duvalls Augen begannen zu glänzen. Der alte Mann war es also tatsächlich nicht gewohnt, von Zeit zu Zeit einen Schluck zu trinken.

Gregor prostete ihm erneut zu. Leopold Duvall lächelte schwer und zufrieden.

„Sie waren in meiner Kammer, nicht wahr?“ fragte der Alte so unvermittelt, dass Gregor sich fast verschluckte. Er hustete und musste sein Glas abstellen. War das so offensichtlich gewesen? Vielleicht hatte Duvall das Quietschen der Sofafedern beim Aufstehen oder das Schwingen des Türchens gehört? Oder hatten Gregors eilige Schritte ihn verraten?

Doch es war nichts von alledem gewesen.

„Mein Fotoalbum lag nicht mehr so, wie ich es hingelegt hatte“, sprach der Alte weiter.

Gregor wurde rot. Er spürte, wie ihm die Hitze bis in die Ohren stieg. Noch bevor er anfangen konnte, etwas Unbeholfenes zu stammeln, fuhr Duvall fort: „Hat es Ihnen gefallen?“

Gregor schluckte. Dabei hatte er nur das erste Bild gesehen. Es war eine Fotografie aus den frühen zwanziger Jahren gewesen, schätzte er. Sie war also gut und gerne drei, wenn nicht vier Generationen alt. Und schon deshalb war sie ganz und gar außergewöhnlich. Er hatte das Foto so sorgfältig betrachtet, dass es ihm keine Schwierigkeiten machte, es vor seinem inneren Auge wieder heraufzubeschwören. Das Bild zeigte eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit lockigem Haar. Die Fotografie war sepiafarben gewesen, hatte jenen Braunton gehabt, der alten Aufnahmen eigen war. Das Mädchen stützte sich leicht an einen Baum, ihre Haltung wirkte leicht, ihre Pose fast tänzerisch. Sie hatte den Blick abgewandt. Und sie war nackt gewesen. Spielerisch, ganz ohne Scham hatte sie sich vor der Kamera bewegt. Oder vor dem Fotografen. Oder vor beidem.

 

Image

 

Für den Betrachter würde das Modell für immer jung bleiben, obwohl sie inzwischen eine alte Frau sein musste, wenn sie überhaupt noch lebte. Gregor hatte sich beim Betrachten des Bildes bei dem Gedanken ertappt, dass er den unbekannten Fotografen beneidete. Doch wahrscheinlich war auch er längst nicht mehr am Leben.