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J. R. R. Tolkien

DER SCHMIED VON
GROSSHOLZINGEN

ERWEITERTE AUSGABE


Mit Illustrationen von Pauline Baynes

Herausgegeben von Verlyn Flieger

 

Aus dem Englischen übersetzt von
Karl A. Klever und Lisa Kuppler

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Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

 

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Smith of Wootton Major« im Verlag Allen Unwin, London, 1967

Smith of Wootton Major »Extended Edition« wurde zuerst
veröffentlicht in Great Britain von HarperCollinsPublishers 2005

© The Tolkien Trust 1967, 2005
Vorwort, Nachwort und Anmerkungen © HarperCollinsPublishers 2005

Illustrationen © HarperColllinsPublishers 1967, 1980

Bel_96093_0001_abb_000-j6.jpeg und Tolkien ® ist ein eingetragenes Markenzeichen der J.R.R. Tolkien Estate Limited.

Die Illustrationen, Typoskript- und Manuskriptseiten sind
reproduziert mit freundlicher Genehmigung der Bodleian Library, University of Oxford aus den folgenden Beständen:

MS.Tolkien 6, fols. 98r, 99, 3r-v, 4r, 13r-v, 32r-v, 37r-v, 38r,
41-44r-v; und 10, fols. 48, 50, 51 - 56, 58, 59 (2 Bilder),
60 (Ausschnitt)

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung unter Verwendung der Illustrationen der Originalausgabe von Pauline Baynes

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96093-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10943-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Vorwort

DER SCHMIED VON GROSSHOLZINGEN

Der Schmied von Großholzingen

Illustrationen

Nachwort

»Entstehung der Geschichte« Tolkiens Notiz an Clyde Kilby

Tolkiens Entwurf einer Einführung zu The Golden Key

»The Great Cake« – Figuren und Zeitplan

Vorschläge für den Schluss der Geschichte

Essay »Der Schmied von Großholzingen«

Hybridfassung und Transkription von »The Great Cake«

Entwürfe und Transkriptionen von »Lake of Tears«

Anmerkungen

Hinweis zu Schreibweise und Sprachgebrauch der englischen Teile

Vorwort

»Lies das nicht! Noch nicht.«

Mit dieser unmissverständlichen Warnung eröffnete J. R. R. Tolkien seine nie fertiggestellte Einleitung für eine geplante Ausgabe von George MacDonalds Der Goldene Schlüssel. Die Überschrift oben auf der Seite richtete sich an kindliche Leser, wie auch der Rest der recht spielerischen Einleitung zeigt (eine Transkription findet sich in diesem Buch). Doch Tolkiens Überschrift war vollkommen ernst gemeint und die Warnung war an Kinder ebenso wie an erwachsene Leser gerichtet.

Tolkien war der festen Überzeugung, dass Einleitungen von Herausgebern eine unnötige Einmischung darstellten, denn sie drängten sich unweigerlich zwischen die Geschichte und ihre Leser und beeinflussten den ersten Leseeindruck. Nach Tolkiens Meinung sollten sich Leser und Geschichte erst einmal ohne einen Vermittler kennenlernen. Am Anfang sollte niemand die Geschichte interpretieren oder den Lesern erklären, worum es in der Geschichte gehe oder was sie darüber zu denken hätten. Die einzig angemessene »Einleitung« konnte laut Tolkien nur lauten: »Lieber Leser, darf ich vorstellen – Der Goldene Schlüssel.« Tolkien war dies so wichtig, dass er seine Einleitung für MacDonalds Geschichte gar nicht zu Ende schrieb, sondern stattdessen eine eigene Geschichte verfasste – das Buch, das Sie in der Hand halten, Der Schmied von Großholzingen.

Es gibt viel zu sagen über den Schmied von Großholzingen, und auch Tolkien selbst hatte jede Menge Interessantes beizusteuern. Aber das alles kann warten, bis Sie die Geschichte gelesen haben. Nach Tolkiens Anweisung habe ich deshalb in dieser Ausgabe die Einführung nach der Geschichte plaziert, wo sie sich gut in die anderen Anmerkungen einfügt. Lesen Sie die Einführung erst, wenn Sie die Geschichte gelesen haben. Bis dann:

Lieber Leser, darf ich vorstellen – Der Schmied von Großholzingen.

Verlyn Flieger

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DER SCHMIED VON GROSSHOLZINGEN

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DER SCHMIED VON GROSSHOLZINGEN

Da gab es einmal ein Dorf – für Menschen mit gutem Gedächtnis ist es nicht lange her und für solche, die gut ausschreiten können, nicht weit fort. Großholzingen hieß es, denn es war größer als Kleinholzingen, das einige Meilen weiter tief in den Wäldern lag. Sehr groß aber war es auch nicht, doch seinerzeit wohlhabend, und es lebte darin eine Anzahl Menschen, gute und böse, bunt durcheinander wie stets und überall.

Auf seine Weise war es ein bemerkenswertes Dorf, denn man kannte es im ganzen Land rundum wegen der Kunstfertigkeit, die seine Handwerker auf verschiedenen Gebieten besaßen; vor allem aber kannte man es wegen seiner Kochkunst. Es besaß eine große Küche, die dem Dorfrat gehörte, und der Küchenmeister war eine angesehene Persönlichkeit. Das Haus des Kochs und die Küche stießen an den Großen Saal, das größte, älteste und schönste Gebäude am Ort. Es war aus festem Stein und fester Eiche gefügt und in gutem Stand, wenn auch nicht mehr bemalt und vergoldet wie ehedem. In diesem Saal hielten die Dorfbewohner ihre Zusammenkünfte und Beratungen ab, ihre öffentlichen Feiern und Familientage. So hatte der Koch genug Arbeit, denn zu all diesen Gelegenheiten musste er ein passendes Mahl richten. Für die Feste, von denen es im Verlauf eines Jahres eine große Zahl gab, wurde ein umfangreiches und üppiges Mahl als passend erachtet.

Ein Fest gab es, auf das alle sich freuten, denn es war das einzige, das im Winter stattfand. Es dauerte eine Woche und an seinem letzten Tag, bei Sonnenuntergang, gab es eine Lustbarkeit, die das Fest der Guten Kinder hieß und zu der nur wenige geladen wurden. Gewiss übersah man einige von denen, die es verdient gehabt hätten, dass man sie einlud, und andere wurden zu Unrecht eingeladen – aber das ist der Lauf der Welt, so sehr auch die sich bemühen mögen, die dergleichen veranstalten. Wie dem auch sei: Ein Kind kam weitgehend durch den Zufall der Geburt für das Fest der Vierundzwanzig infrage, denn es fand nur alle vierundzwanzig Jahre statt und nur vierundzwanzig Kinder wurden dazu eingeladen. Bei diesem Fest erwartete man vom Küchenmeister, dass er sein Bestes gab, und neben vielen anderen guten Dingen bereitete er, so wollte es der Brauch, den Großen Kuchen. Sein Name blieb hauptsächlich dadurch im Gedächtnis, wie vortrefflich (oder auch nicht) der Kuchen gelang, denn selten blieb ein Küchenmeister lange genug im Amt, um einen zweiten Großen Kuchen verfertigen zu können.

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Doch dann kam ein Tag, da der amtierende Küchenmeister zu jedermanns Überraschung, denn derlei war nie zuvor geschehen, verkündete, er brauche einen Urlaub. Und er ging fort, niemand wusste, wohin. Als er aber einige Monate darauf zurückkam, schien er sich recht verändert zu haben. Ein freundlicher Mann war er gewesen, dem es gefiel, wenn andere sich wohlfühlten. Er selbst jedoch war ernst und wortkarg gewesen. Nun war er heiterer und er sagte und tat oft überaus lustige Dinge; bei Festen gar sang er fröhliche Lieder, was sich eigentlich für einen Küchenmeister gar nicht schickte. Auch brachte er einen Lehrling mit und das rief im Dorf Staunen hervor.

Dass der Küchenmeister einen Lehrling hatte, war nicht verwunderlich – es war üblich. Zur rechten Zeit nahm er einen und lehrte ihn alles, was er ihn lehren konnte. In dem Maße, wie beide älter wurden, übernahm der Lehrling mehr und mehr die wichtigen Arbeiten, so dass er, wenn der Meister sich zur Ruhe setzte oder starb, so weit war, dass er seinerseits Küchenmeister werden konnte. Doch hatte dieser Meister sich niemals einen Lehrling genommen. Stets hatte er gesagt: »Das hat noch Zeit«; oder: »Ich schau mich um und nehme einen, wenn mir einer zusagt.« Doch jetzt brachte er einen mit, der war noch ein Knabe und nicht aus dem Dorf. Er war zierlicher als die Burschen von Holzingen und flinker, von gewinnendem Wesen und überaus höflich, doch lächerlich jung für die Arbeit: Er sah aus, als sei er kaum dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Jedoch es war Sache des Küchenmeisters, seinen Lehrling auszuwählen, und niemand hatte das Recht sich einzumischen. So blieb der Junge und lebte im Hause des Kochs, bis er alt genug war, allein zu wohnen. Die Leute gewöhnten sich bald an seine Gegenwart und er gewann einige Freunde. Sie und der Koch nannten ihn Alf, bei den anderen aber hieß er stets nur der Stift.

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Die nächste Überraschung kam schon drei Jahre später. An einem Frühlingsmorgen nahm der Küchenmeister seine hohe weiße Mütze ab, legte seine sauberen Schürzen zusammen, hängte seinen weißen Kittel an den Haken, nahm einen kräftigen Wanderstab und ein kleines Bündel in die Hand und ging fort.

Dem Lehrling sagte er Lebewohl, sonst war niemand dabei. »Lebe einstweilen wohl, Alf«, sagte er. »Ich gehe fort und du verrichtest alle Arbeit nach besten Kräften. Da du immer sehr tüchtig warst, denke ich, wird alles gut ablaufen. Wenn wir einander wiedersehen, wirst du mir alles erzählen. Sag ihnen, dass ich noch einmal Urlaub nehme, diesmal aber nicht wiederkehren werde.«

Es gab ziemliche Unruhe im Dorf, als Stift den Leuten, die in die Küche kamen, das berichtete. »Wie kann er so etwas tun?«, sagten sie. »Und ohne ein Wort oder nur Auf Wiedersehen zu sagen! Was tun wir jetzt, ganz ohne Küchenmeister? Er hat uns niemanden dagelassen, der an seine Stelle treten könnte.« Bei all ihren Beratungen dachte niemand daran, den jungen Stift zum Koch zu ernennen. Er war zwar ein wenig gewachsen, sah aber immer noch wie ein Knabe aus und hatte auch erst drei Jahre abgedient.

Schließlich nahmen sie, da sie keinen besseren hatten, einen Mann aus dem Dorf, der recht und schlecht kochen konnte. In früheren Zeiten hatte er dem Meister geholfen, wenn es viel zu tun gab, doch der Meister war mit ihm nie warm geworden und hatte ihn auch nie als Küchenjungen haben wollen. Der war nun ein gesetzter Mann mit Frau und Kindern, der sparsam wirtschaftete. »Jedenfalls geht er nicht fort, ohne zu kündigen«, sagten die Leute, »und schlecht gekocht ist besser als gar kein Essen. Bis zum nächsten Großen Kuchen sind es noch sieben Jahre und in der Zeit müsste er so weit sein.«

Nokes, das war sein Name, gefiel die Wendung, welche die Dinge genommen hatten. Er hatte schon immer Küchenmeister werden wollen und an seiner Eignung dafür hatte er nie gezweifelt. Anfänglich setzte er sich, wenn er in der Küche allein war, zuweilen die hohe weiße Mütze auf. Dann betrachtete er sich in einer spiegelnden Bratpfanne und sagte: »Wie geht es, Meister? Die Mütze steht Ihnen trefflich zu Gesicht, als wäre sie für Sie gemacht. Ich hoffe, alles geht wohl für Sie aus.«

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Die Dinge entwickelten sich recht gut; denn zuerst gab Nokes sein Bestes und Stift war da und half ihm. Tatsächlich lernte er eine Menge, indem er Stift heimlich genau beobachtete, das allerdings gab Nokes keinesfalls zu. Doch dann näherte sich der Zeitpunkt für das Fest der Vierundzwanzig und Nokes musste sich Gedanken über den Großen Kuchen machen. Insgeheim bereitete ihm das Sorgen, denn er konnte zwar mit der Erfahrung von sieben Jahren brauchbare Kuchen und Backwaren für die üblichen Anlässe herstellen, wusste aber, dass man diesem Großen Kuchen mit Spannung entgegensah und dass er strenge Kritiker zufriedenstellen musste, keineswegs nur die Kinder. Ein kleinerer Kuchen aus den gleichen Zutaten und von derselben Art war für die Festhelfer zuzubereiten, auch wurde erwartet, dass der Große Kuchen etwas Neues und Überraschendes aufwies und nicht etwa nur eine Wiederholung des vorigen war.

Er hatte lediglich die Vorstellung, dass der Kuchen sehr süß und nahrhaft zu sein habe, und er beschloss, ihn ganz mit Zuckerguss zu überziehen (denn den konnte Stift gut machen). »Dann sieht er hübsch und elfenhaft aus«, dachte er. Elfen und Süßigkeiten – er wusste nicht viel über Kinder, doch das würde ihnen gefallen, stellte er sich vor. Elfen, dachte er, ließ man beim Heranwachsen hinter sich; aber Süßigkeiten sagten ihm immer noch zu. »Ach«, sagte er, »elfenhaft, da fällt mir etwas ein«, und ihm kam in den Sinn, dass man eine kleine Puppe auf einem schlanken Türmchen mitten auf den Kuchen setzen könnte, ganz in Weiß, und in der Hand würde sie einen kleinen Zauberstab halten, auf dessen Spitze ein Stern aus Rauschgold stecken sollte. Um ihre Füße herum sollte in rosa Zuckerguss »Elfenkönigin« im Kreis geschrieben stehen.

Doch als er mit dem Herrichten der Zutaten für das Kuchenbacken begann, stellte er fest, dass er sich nur ungenau an das erinnerte, was in einen Großen Kuchen hineingehörte; so schaute er in alten Rezeptbüchern nach, die frühere Köche hinterlassen hatten. Sie brachten ihn in Verlegenheit, selbst wenn er ihre Handschrift entziffern konnte, denn sie sprachen von vielen Dingen, deren Namen er nie gehört, und von anderen, die er vergessen hatte und die er jetzt nicht mehr rechtzeitig besorgen konnte. Doch dachte er, er könne ein oder zwei Gewürze ausprobieren, von denen in den Büchern die Rede war. Er kratzte sich am Kopf und ihm fiel ein alter schwarzer Kasten mit verschiedenen Fächern ein, in dem der vorige Koch einst Gewürze und allerlei andere Zutaten für besondere Kuchen aufgehoben hatte. Er hatte ihn seit Beginn seiner Tätigkeit nicht mehr gesehen, doch fand er ihn nach längerem Suchen auf einem hohen Regal im Vorratsraum.

Er nahm ihn herunter und blies den Staub von seinem Deckel, doch als er ihn öffnete, sah er, dass nur noch sehr wenige Gewürze da waren, und sie waren trocken und ohne Aroma. Doch in einem Eckfach entdeckte er einen kleinen Stern, kaum größer als ein Pfennig und schwärzlich, wie aus angelaufenem Silber. »Wie komisch!«, sagte er, als er ihn ans Licht hielt.

»Nein, keineswegs!«, sagte eine Stimme hinter ihm so unerwartet, dass er herumfuhr. Es war die Stimme Stifts und nie zuvor hatte er so zu seinem Meister gesprochen. Er sprach kaum je mit Nokes, wenn der ihn nicht anredete – wie sich das ja auch für einen jungen Menschen gehörte. Bei Zuckerguss mochte er ganz geschickt sein, doch musste er noch eine Menge lernen: Das war Nokes’ Ansicht.

»Was soll das heißen, junger Mann?«, sagte er, keineswegs freundlich. »Wenn es nicht komisch ist, was dann?«

»Es ist elbisch«, sagte Stift. »Es kommt aus Elbland.«

Da lachte der Koch. »Schon gut, schon gut«, sagte er. »Das bedeutet ja wohl dasselbe, doch kannst du es so nennen, wenn du magst. Du wirst schon noch erwachsen werden. Jetzt entkerne die Rosinen weiter. Wenn du seltsam elbische dabei siehst, sagst du mir Bescheid.«

»Was werden Sie mit dem Stern tun, Meister?«, fragte Stift.

»Natürlich in den Kuchen tun«, sagte der Koch. »Genau das Richtige, wenn es ein Elblandstern ist«, kicherte er. »Ich nehme an, es ist noch nicht so lange her, dass du auf Kindergesellschaften warst, bei denen solcher Tand in den Teig gerührt wird und wertlose Münzen und was weiß ich. Jedenfalls tun wir das hier im Dorf: Es macht den Kindern Spaß.«

»Aber das ist kein Tand, Meister, es ist ein Elbenstern«, sagte Stift.

»Das hast du schon mal gesagt«, fuhr der Koch ihn an. »Es ist gut, ich werde es den Kindern sagen, sie werden es lustig finden.«

»Das glaube ich nicht, Meister«, sagte Stift. »Aber man sollte es ruhig tun.«

»Was glaubst du eigentlich, mit wem du redest?«

Zur rechten Zeit wurde der Kuchen gebacken und glasiert, hauptsächlich von Stift. »Da dir so an Elfen liegt, lass ich dich die Elfenkönigin machen«, sagte Nokes zu ihm.

»Sehr wohl, Meister«, antwortete er. »Wenn Sie so viel zu tun haben, mache ich sie. Aber der Gedanke stammt von Ihnen, nicht von mir.«

»Es ist auch meine Sache, Gedanken zu haben, und nicht deine«, sagte Nokes.

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Beim Festmahl stand der Kuchen mitten auf der langen Tafel, in einem Kreis von vierundzwanzig roten Kerzen. Oben lief er in einen kleinen Berg aus, auf dessen Flanken kleine Bäume wuchsen, die glitzerten wie von Reif; und auf dem Gipfel stand eine winzige weiße Gestalt auf einem Fuß, wie ein tanzendes Schneefräulein; in ihrer Hand hielt sie einen ganz kleinen Zauberstab aus Eis, der im Licht blitzte.

Die Kinder schauten mit großen Augen darauf und eins oder zwei klatschten in die Hände und riefen: »Wie hübsch, wie elfenhaft!« Das gefiel dem Koch, aber der Lehrling blickte missvergnügt drein. Beide waren da: der Meister, um den Kuchen anzuschneiden, wenn es so weit wäre, und der Lehrling, um das Messer zu wetzen und es ihm zu reichen.

Endlich nahm der Koch das Messer und ging zum Tisch. »Ich muss euch sagen, meine Lieben«, begann er, »dass unter diesem hübschen Zuckerguss ein Kuchen ist, aus vielen guten Sachen, doch ist außerdem allerlei Tand hineingebacken, kleine Münzen und sonstiger Kram. Man sagt, dass es Glück bringt, wenn man etwas davon in seinem Stück findet. Im Kuchen sind vierundzwanzig Dinge, so dass jeder von euch eins bekommen müsste, wenn die Elfenkönigin gerecht ist. Aber immer ist sie das nicht, sie ist ein durchtriebenes kleines Geschöpf. Fragt nur den Herrn Stift.« Der Lehrling wandte sich ab und blickte in die Gesichter der Kinder.

»Ach, ich vergaß«, sagte der Koch, »heute Abend sind es ja fünfundzwanzig. Da ist noch ein kleiner Stern, ein zauberischer, ein besonderer, jedenfalls sagt Herr Stift das. Aufgepasst also! Wenn einer von euch sich einen hübschen Vorderzahn daran ausbricht, wird der Zauberstern ihn nicht heilmachen. Doch denke ich, es bringt trotzdem sehr viel Glück, ihn zu finden.«

Es war ein guter Kuchen und niemand konnte etwas daran bemängeln, außer dass er nicht größer war als nötig. Als er aufgeschnitten war, gab es für jedes Kind ein großes Stück, doch blieb nichts übrig, es war keine Aussicht auf eine zweite Portion. Die Stücke verschwanden bald und hie und da wurde ein Stückchen von dem Tand oder ein Geldstück gefunden. Einige fanden eines, andere zwei und manche keines; denn so geht es mit dem Glück, ob auf dem Kuchen eine Puppe mit einem Zauberstab ist oder nicht. Als aber der Kuchen ganz und gar verspeist war, war von dem Zauberstern nichts zu sehen.

»Na so was«, sagte der Koch. »Dann war er bestimmt nicht aus Silber; er muss geschmolzen sein. Oder Herr Stift hatte recht, es war wirklich ein Zauberstern und er ist einfach verschwunden und ins Elfenreich zurückgekehrt. Das ist nicht sehr nett, finde ich.« Er schaute den Stift hämisch an und Stift erwiderte den Blick mit dunklen Augen, ohne zu lächeln.

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Doch es war tatsächlich ein Elbenstern: Darin irrte sich der Lehrling nicht. Einer der Jungen hatte ihn beim Festmahl hinuntergeschluckt, ohne etwas zu merken, doch hatte er in seinem Stück Kuchen eine Silbermünze gefunden und sie Nell, dem kleinen Mädchen neben ihm, gegeben: Sie sah so enttäuscht drein, weil sie in ihrem Stück nichts gefunden hatte. Manchmal fragte der Junge sich, was wohl aus dem Stern geworden sein mochte, und er wusste nicht, dass der in ihm war, an einer Stelle, wo er ihn nicht spüren konnte; denn so sollte es sein. Dort blieb er lange, bis seine Zeit kam.

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Das Fest hatte mitten im Winter stattgefunden. Doch jetzt war Juni und die Nächte wurden kaum dunkel. Der Junge stand vor Morgengrauen auf, denn schlafen wollte er nicht, da es sein zehnter Geburtstag war. Er schaute aus dem Fenster und die Welt schien ruhig und erwartungsvoll. Eine kühle und würzige Brise schüttelte sanft die erwachenden Bäume. Dann kam das Morgengrau und von weither hörte er die Vögel ihr Dämmerlied anstimmen. Es wurde stärker, da es zu ihm drang, bis es über ihn hinströmte und alles Land um das Haus anfüllte und wie eine Welle von Klang westwärts drang, während die Sonne sich über den Rand der Erde erhob.

»Das erinnert mich an Elbland«, hörte er sich selbst sagen, »doch singen dort auch die Leute.« Dann begann er zu singen, laut und klar, mit seltsamen Worten, die er auswendig zu kennen schien. In dem Augenblick fiel ihm der Stern aus dem Mund und er fing ihn in der Hand auf. Blankes Silber war er nun, wenn die Sonne darauf glänzte; doch zitterte er und hob sich ein wenig, als wolle er davonfliegen. Ohne nachzudenken schlug sich der Junge die Hand an die Stirn und dort blieb der Stern, mitten auf der Stirn, und er trug ihn da viele Jahre.

Doch sahen nur wenige Menschen im Dorf ihn, wenn er auch aufmerksamen Augen nicht verborgen war; er wurde Teil seines Gesichts und leuchtete gewöhnlich nicht. Etwas von dem Licht ging auf seine Augen über; und seine Stimme, die begonnen hatte, schön zu werden, als der Stern zu ihm kam, ward umso schöner, je älter er wurde. Die Menschen hörten ihn gern sprechen, selbst wenn er nur »Guten Morgen« sagte.

Im ganzen Lande, weit über das Dorf hinaus, wurde er bekannt für seine gute Arbeit. Sein Vater war Schmied und ihm schlug er nach und leistete bessere Arbeit als er. Schmiedsohn nannte man ihn zu seines Vaters Lebzeiten und dann nur noch Schmied. Denn inzwischen war er der beste Schmied zwischen Fernostingen und dem Westwald und in seiner Schmiede konnte er allerlei Gegenstände aus Eisen fertigen. Die meisten davon waren natürlich einfach und nützlich, zum täglichen Gebrauch bestimmt: Werkzeug für die Landwirtschaft, für den Zimmermann, Gerätschaften für die Küche – Töpfe und Pfannen, Stangen und Schrauben und Scharniere, Kessel, Topfhaken, Feuerböcke, Hufeisen und dergleichen. Sie waren solide und haltbar, hatten aber zugleich eine anmutige Form, waren gut für die Hand und angenehm für das Auge.

Doch wenn er Zeit hatte, machte er manchmal Dinge zu seinem Vergnügen; und die waren wunderschön, denn er konnte Eisen in Formen bringen, die leicht und zart aussahen wie ein Hauch von Blättern und Blüten, aber sie bewahrten die strenge Kraft des Eisens oder schienen eher noch stärker. Kaum jemand ging an den von ihm gefertigten Gittern oder Toren vorbei, ohne stehen zu bleiben und sie zu bewundern, und niemand gelangte hindurch, wenn sie geschlossen waren. Er sang bei der Arbeit an solchen Gegenständen; und wenn der Schmied zu singen begann, hielten die in der Nähe mit ihrer Arbeit inne und kamen zur Schmiede, um zu lauschen.

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Das war alles, was die Leute gemeinhin von ihm wussten. Es war auch genug und war mehr als das, was die meisten Männer oder Frauen im Dorfe erreichten, auch diejenigen, die geschickt waren und sich Mühe gaben. Doch es gab noch mehr Bemerkenswertes an seiner Person. Denn der Schmied lernte Elbland kennen und einige seiner Gegenden kannte er so gut, wie dies ein Sterblicher vermag. Da aber zu viele so geworden waren wie Nokes, sprach er, außer zu seiner Frau und seinen Kindern, nur zu wenigen darüber. Seine Frau war Nell, der er die Silbermünze gegeben hatte, seine Tochter hieß Nan und sein Sohn Ned Schmiedsohn. Vor ihnen hätte er es ohnehin nicht geheim halten können, denn zuweilen sahen sie den Stern auf seiner Stirn leuchten, wenn er von einer seiner langen Wanderungen zurückkehrte, die er hin und wieder abends allein zu machen pflegte, oder wenn er von einer Reise heimkam.

Von Zeit zu Zeit ging er fort, manchmal zu Fuß, manchmal zu Pferd, und gemeinhin wurde angenommen, dass es aus beruflichen Gründen geschah. Mitunter stimmte das auch, manchmal auch wieder nicht. Jedenfalls tat er es nicht, um Aufträge einzuholen oder um Roheisen und Holzkohle und anderes Material zu kaufen, auch wenn er bei solchen Dingen sorgsam war und es verstand, sein Geld auf ehrliche Weise zu mehren. Er hatte eine besondere Art von Geschäften in Elbland zu erledigen und er war dort willkommen; denn der Stern leuchtete hell auf seiner Stirn und er war so sicher, wie es ein Sterblicher in diesem gefahrvollen Lande nur sein kann. Die kleineren Übel mieden den Stern und vor den größeren wurde er bewahrt.Bel_96093_0001_abb_005.jpeg

Dafür war er dankbar, denn er begriff bald und sah ein, dass man sich den Wundern von Elbland nicht ohne Gefahr nähern und dass man vielen der Übel nur mit Waffen entgegentreten kann, die zu mächtig sind, als dass ein Sterblicher sie zu führen vermöchte. Er war ein Lernender und Forschender, doch kein Krieger; und wenn er auch mit der Zeit hätte Waffen schmieden können, die in seiner Welt Macht genug gehabt hätten, um Stoff für Sagen zu liefern und von unermesslichem Wert zu sein, so wusste er doch, dass sie in Elbland nicht viel gegolten hätten. Und daher kennt man, obwohl er so vielerlei Dinge schmiedete, kein einziges Schwert, keinen Speer und keine Pfeilspitze von seiner Hand.