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Sophienlust
– 309 –

Der Eigenbrötler

Nur eine brachte ihn zum Lachen

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74090-256-8

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»Ich bin beleidigt«, verkündete Heidi Holsten, das jüngste Dauerkind des Kinderheims Sophienlust. »Ich finde es ungerecht. Ich will doch auch zur Schule gehen. Was kann ich dafür, daß ich noch nicht gehen darf?«

»Die Schule läuft keinem davon«, brummte Fabian Schöller. »Du wirst auch noch merken, daß es dort nicht immer lustig ist.«

Fabian war bereits elf Jahre alt und gehörte daher nicht mehr zu den Kleinen.

»Ich wäre aber gern hingegangen«, beharrte Heidi. »Also gebührt mir auch eine Belohnung.«

»Du mußt wohl überall dabei sein?« meinte Fabian und schnitt dabei eine Grimasse. Er meinte es jedoch nicht böse. Die fünf Jahre alte Heidi war bei allen sehr beliebt, denn sie war ein lebhaftes und besonders anschmiegsames Kind. Mit ihren hellblonden Haaren, die seitlich zu zwei Rattenschwänzchen zusammengebunden waren, sah sie auch entzückend aus.

»Komm einmal mit«, sagte Angelika Langenbach und faßte Heidi an die Schulter. Zugleich warf sie einen bedeutungsvollen Blick zu einem Jungen hin, der etwas abseits im Gras hockte.

»Warum?« fragte Heidi bockig. Sie, die gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen, fühlte sich im Moment sehr benachteiligt.

»Weil ich mit dir sprechen möchte.« Energisch zog Angelika die Fünfjährige auf die andere Seite des Spielplatzes.

»Du bist doch schon ein großes Mädchen«, begann Angelika. Sie wurde aber sofort von Heidi unterbrochen.

»Nein, bin ich nicht«, behauptete die Kleine entgegen ihrer sonstigen Ansicht. »Wenn ich groß wäre, dürfte ich mit in den Zoo gehen.« Ihre Unterlippe schob sich vor.

Angelika erkannte, daß Heidi den Tränen nahe war. Schnell legte sie ihren Arm um deren Schultern.

»Darüber will ich doch mit dir sprechen. Ich weiß, warum Tante Isi mit uns nach Stuttgart fahren und in den Zoo gehen will.«

»Das weiß ich auch«, behauptete Heidi und fuhr sich rasch über die Augen, die überlaufen wollten. »Ein Schuljahr ist zu Ende, und zur Belohnung dürft ihr in den Stuttgarter Zoo gehen.« Laut schnupfte sie auf.

»Auch, aber nicht nur deswegen.« Jetzt tat Angelika geheimnisvoll. »Wenn du ein großes Mädchen bist, dann verrate ich dir den anderen Grund.«

Heidi zog ihr Näschen kraus. Sie zögerte. »Du willst mich nur beschwichtigen«, stieß sie schließlich hervor.

»Nein. Ist dir eigentlich noch nichts aufgefallen?« Angelika drehte sich um und sah in eine bestimmte Richtung.

Heidi folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen. Trotzdem wurde sie neugierig.

»Was siehst du denn?« fragte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Ich sehe Frank Weber«, beantwortete Angelika gewissenhaft Heidis Fragen.

Damit war Heidis Neugierde jedoch nicht gestillt.

»Den sehe ich auch. Er sitzt da und rupft Gänseblümchen aus.«

»Und warum tut er das?« fragte Angelika jetzt ihrerseits.

»Weil er langweilig ist. Nie will er mit uns spielen.«

»Und warum will er das nicht?«

Heidi zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Ich habe ihn sogar schon einmal gefragt, aber er hat mir nur den Rücken zugewandt.«

»Ich kann es dir sagen«, meinte Angelika.

»Das glaube ich nicht. Du kennst Frank auch nicht besser als ich. Tante Isi hat erst gestern zu Schwester Regine gesagt, daß Frank ein schwieriges Kind ist. Was ist ein schwieriges Kind?«

»Das weiß ich auch nicht genau, aber ich weiß, daß Frank traurig ist«, trumpfte Angelika auf.

»Traurig?« Heidi runzelte die Stirn.

»Er ist eher böse. Nie hat er ein liebes Wort für mich.«

»Frank hat sich einfach bei uns noch nicht eingewöhnt«, versuchte Angelika zu erklären.

»Du meinst, es gefällt ihm bei uns nicht? Das ist doch nicht möglich. Es ist nirgendwo so schön wie bei uns.«

»Das finde ich auch«, stimmte Angelika ihr sofort zu, »aber wir sind schon sehr lange hier. Später, wenn Frank ebenso lange hier sein wird, wird es ihm sicher auçh gefallen.«

»Mir hat es gleich gefallen«, behauptete Heidi.

»Kannst du dich überhaupt noch daran erinnern, wie es war, als du nach Sophienlust kamst?«

Angestrengt dachte Heidi nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber jetzt weiß ich, daß Tante Isi, Schwester Regine und Tante Ma sehr lieb sind. Frank ist dumm, wenn er das noch nicht kapiert hat«, fügte sie trotzig hinzu.

»Nein«, entgegnete Angelika genauso heftig. Sie hatte den zehnjährigen Jungen, der nun schon seit vier Monaten in Sophienlust lebte, sich aber noch an niemanden angeschlossen hatte, heimlich in ihr Herz geschlossen. »Frank hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren. Darüber ist er traurig. Wahrscheinlich sehnt er sich nach seinen Eltern.«

»Ich sehne mich doch auch nicht«, meinte Heidi kopfschüttelnd. Sie wollte überall mitreden, behauptete alles zu verstehen, aber das war nicht immer der Fall.

»Setzen wir uns. Ich werde es dir erklären«, sagte Angelika geduldig. Sie ließ sich ins Gras fallen und zog Heidi auf ihre Knie.

»Als du deine Eltern verloren hast, warst du noch ganz klein«, begann sie. »Frank ist schon älter. Er kann sich noch genau an seine Eltern erinnern. Oh, ich kann ihn gut verstehen.« Angelika seufzte.

»Bist du nun auch traurig?« fragte Heidi und fuhr der Zwölfjährigen zaghaft über die Wange.

»Ich möchte Frank gern helfen«, gestand Angelika. »Ist dir noch nicht aufgefallen, daß Frank nie lacht?«

»Er macht immer ein böses Gesicht«, bestätigte Heidi.

»Nicht böse«, widersprach Angelika ihr heftig. »Er ist ganz sicher nicht böse, nur traurig.«

»Hm«, machte Heidi und schaukelte auf Angelikas Knien hin und her. Ganz konnte sie dem großen Mädchen nicht folgen. Da dieses nun nachdenklich vor sich hinstarrte, langweilte sie sich.

»Was wolltest du mir eigentlich sagen?« fragte sie, stieß Angelika an.

Angelika schreckte aus ihren Gedanken auf. »Ich wollte dir sagen, daß ich es ganz prima finde, daß Tante Isi mit uns nach Stuttgart fährt. Sie tut es hauptsächlich wegen Frank. Er soll ein Vergnügen haben.«

»Ich will aber auch ein Vergnügen haben.« Heidi rutschte von Angelikas Knien.

»Du bist egoistisch«, meinte Angelika.

»Ich weiß nicht, was das ist, aber ich bin es nicht«, sagte Heidi temperamentvoll.

»Egoistisch ist, wenn du keinem anderen etwas gönnst, sondern nur alles selber haben willst.«

Heidi senkte kleinlaut ihr Köpfchen. Das hatte sie verstanden. »Ich will gar nicht so sein.«

»Siehst du!« Lächelnd zog Angelika die Kleine wieder an sich. »Deswegen darfst du auch nicht bocken, wenn wir Großen morgen nach Stuttgart fahren. Alle kann Tante Isi nicht mitnehmen.«

»Ich würde so gern schon groß sein.« Heidi seufzte abgrundtief. »Aber ich muß noch sehr viel essen, bis ich so groß bin wie du.«

»Dafür bist du unsere Jüngste, und das lohnt sich doch, oder? Du bekommst immer Süßigkeiten von Magda.«

Heidi legte das Köpfchen schief. »Bist du jetzt egoistisch?« fragte sie.

»Aber nein. Wir alle wissen, daß du ein kleines Schleckermäulchen bist.«

»Das stimmt.« Heidis Zunge huschte blitzschnell über die Lippen. »Ich glaube, mein Bauch will schon wieder etwas Gutes. Ich werde einmal bei Magda vorbeisehen.«

Ehe Angelika etwas sagen konnte, sprang Heidi davon, um ins Haus zu laufen und Magda, die Köchin von Sophienlust, in ihrem Reich, der großen Küche, aufzusuchen.

Angelika sah wieder zu Frank Weber hinüber. Es hatte den Anschein, als habe sich der Zehnjährige die ganze Zeit über nicht gerührt.

Angelika erhob sich. Langsam, Fuß vor Fuß setzend, steuerte sie auf den Jungen zu. Dicht hinter ihm blieb sie stehen.

Frank sah nicht hoch. Seine Finger rissen einen Grashalm aus und wickelten diesen um seinen Finger.

Angelika räusperte sich. Gleich darauf biß sie sich in die Unterlippe. Es war wie immer. Frank reagierte darauf nicht. Sie wandte den Kopf und sah zu den anderen hinüber. Diese spielten Fangen und kümmerten sich nicht um Frank. Das war kein Wunder, denn alle hatten in der letzten Zeit mehrmals versucht, Frank zum Mitspielen zu bewegen. Stets war es vergebens gewesen. Hin und wieder sah er zu, aber viel hatte sich in seinem Benehmen seit seinem viermonatigen Aufenthalt im Kinderheim Sophienlust nicht geändert. Meistens saß er auf irgendeinem Fleck und starrte vor sich hin.

Entschlossen setzte Angelika sich an seine Seite.

»Angelika«, rief Fabian, der sie entdeckt hatte. »Was ist los mit dir? Willst du heute auch nicht mitspielen?«

»Nein«, sagte Angelika entschlossen. »Ich leiste Frank Gesellschaft.«

»Aber der will unsere Gesellschaft doch gar nicht«, schrie Fabian, ein schmächtiger Junge, zurück.

»Das ist nicht wahr«, antwortete Angelika in der gleichen Lautstärke.

»Doch«, sagte neben ihr Frank leise mit trotziger Stimme. »Ich will nichts als meine Ruhe.«

Sekundenlang sah es aus, als wollte Angelika aufspringen und zu den anderen laufen, dann rückte sie aber noch näher an Frank heran und sagte ebenso leise: »Das ist dumm von dir. Du darfst nicht immer daran denken.«

Kurz nahm Frank den Blick vom Boden und schielte zu ihr hin. »Was weißt denn du? Du hast ja keine Ahnung!«

»Natürlich weiß ich, an was du immer denkst. Du denkst an deine Eltern.« Jetzt war es ausgesprochen.

Frank zuckte zusammen. »Nichts, gar nichts weißt du«, schrie er. Dann sprang er auf und eilte über die Spielwiese davon.

»Warte, ich muß dir noch etwas sagen.« Angelika war genauso schnell auf den Füßen und stürmte hinter ihm drein.

Fabian trat ihr in den Weg.

»Es hat doch keinen Sinn. Er hört auf niemanden. Nicht einmal auf Tante Isi.«

Ein entschlossener Ausdruck trat in Angelikas Augen. »Auf mich wird er jetzt hören«, sagte sie energisch und ließ Fabian stehen.

Sie eilte nun ebenfalls in den Park hinein, versuchte dabei aber so wenig Lärm wie möglich zu machen. Vergebens suchte sie unter den großen, alten Bäumen nach dem Jungen. Sie war bereits an dem kleinen Weiher und dem Springbrunnen vorbeigegangen und näherte sich dem Pavillon, als sie ein verhaltenes Schluchzen hörte. Das konnte nur Frank sein.

Angelika verhielt ihren Schritt und sah sich um. Wo steckte Frank bloß? Noch immer konnte sie ihn nirgends sehen. Dann hörte sie wieder das Schluchzen. Sie ging ihm nach, und nun fand sie Frank. Er hockte hinter dem Pavillon auf der Erde.

»Frank«, sagte Angelika voller Mitleid und streckte ihre Hand nach den zuckenden Bubenschultern aus.

Frank fuhr hoch. »Laß mich in Ruhe«, schrie er außer sich. »Ich will euch alle nicht mehr sehen.«

Angelika hielt ihn fest, damit er nicht wieder davonlaufen konnte.

»Du hörst mir jetzt zu«, sagte sie bestimmt. Dabei fischte sie ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche. »Hier, putz dir zuerst die Nase.«

Der energische Ton in ihrer Stimme ließ Frank gehorsam zum Taschentuch greifen. Laut schneuzte er sich.

»So, und nun will ich dir etwas sagen. Du tust gerade so, als wären nur deine Eltern gestorben. Aber wir alle wissen, wie weh so etwas tut. Wir haben auch unsere Eltern verloren oder zumindest ein Elternteil. Bei anderen haben die Eltern keine Zeit mehr für ihre Kinder.«

»Meine Eltern hatten aber immer Zeit für mich. Sie waren so lieb.« Franks Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Meine Eltern waren die liebsten Eltern der Welt.«

Angelika kämpfte mit ihrem Mitleid, dann dachte sie aber daran, daß alle Kinder, die in Sophienlust lebten, ein schweres Schicksal hinter sich hatten. Deshalb sagte sie energisch: »Auch unsere Eltern waren lieb, aber trotzdem können wir nicht ständig an sie denken.«

»Ich wollte, ich hätte auch in dem Auto gesessen«, sagte Frank trotzig und drehte sich um. »Es war ein ganz schlimmer Autounfall. Dabei konnte mein Papa sehr gut Auto fahren.«

»Ich habe meine Eltern bei einem Lawinenunglück verloren«, erwiderte Angelika leise. »Meine Eltern waren sehr gute Skifahrer.«

Kurz hob Frank den Kopf und sah Angelika an. Da sprach diese schnell weiter: »Und Fabian hat seine Eltern bei einem Zugunglück verloren. Zuerst war er genauso wie du. Mit niemandem wollte er reden. Stell dir vor, er wird später ein großes Werk erben, aber dort will er jetzt noch nicht leben. Er will nur hier sein.«

»Seine Angelegenheit«, brummte Frank. Er senkte wieder den Kopf, stieß mit dem Fuß gegen einen Baumstamm.

Trotzdem hatte Angelika den Mut, von anderen Schicksalen zu berichten.

»Da ist Pünktchen. Wir mögen sie alle sehr. Weißt du überhaupt, daß sie ein Zirkuskind war? Sie hat ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren. Danach riß sie aus, weil sie es bei ihren Verwandten sehr schlecht hatte. Nick fand sie und brachte sie zu seiner Mutter. Seither ist Pünktchen hier.«

»Es ist gut. Mir nützt dies alles nichts. Meine Eltern werden dadurch nicht wieder lebendig«, brummte Frank. Er drehte Angelika den Rücken zu, steckte seine Hände tief in die Hosentaschen und stapfte in Richtung Haus davon.

*

»Schade, daß du keine Zeit hast. Das Wetter ist so schön.« Enttäuscht sah Jennifer Larsen ihren Verlobten an.

»Es geht wirklich nicht, Schatz.« Ronald von Winnert beugte sich über Jennifer und küßte sie flüchtig auf die Stirn. Mit seinen Gedanken war er bereits bei der Konferenz, die den ganzen Tag in Anspruch nehmen würde.

Jennifer unterdrückte nur mühsam einen Seufzer. Sie wußte, daß Ronald nicht anders konnte. Schließlich war er Konsul und hatte seine Verpflichtungen.

Aus Jennifers unterdrücktem Seufzer wurde ein Lächeln. Für sie war durch ihre Verlobung mit dem Diplomaten ein Märchen wahr geworden. Bereits im nächsten Monat sollte sie seine Frau werden.

»Ich muß gehen, Schatz.« Erneut wandte sich Ronald seiner Verlobten zu. Diesmal konnte er nicht widerstehen. Er nahm sie in die Arme, seine Lippen suchten ihren Mund.

Vor zwei Jahren war er Jennifer zufällig am Bodensee begegnet. Er, der Vierzigjährige, der sich nie viel aus Frauen gemacht hatte, war von ihr sofort fasziniert gewesen. Von diesem Augenblick an hatte er um sie geworben.

»Und was hast du heute vor?« Er strich ihr zärtlich über das Haar.

»Ich?« Jennifer zuckte die Achseln. Sie war enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß Ronald an diesem Tag für sie Zeit haben würde. »Vielleicht mache ich einen Schaufensterbummel in der Königstraße.«

»Dazu ist es heute viel zu schön.« Ronald hob ihr Kinn an. »Bei diesem Wetter muß man ins Grüne fahren.«

»Das wollte ich ja mit dir. Hast du vielleicht am Nachmittag Zeit? Wir könnten zum See fahren.«