Über Friedrich Schorlemmer

Friedrich Schorlemmer, geboren 1944 in Wittenberge/Elbe, aufgewachsen in der Altmark, Publizist und Theologe. 1978–1992 Dozent im Evangelischen Predigerseminar und Prediger an der Schloßkirche in der Lutherstadt Wittenberg, 1992–2007 an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt in Wittenberg. 1989 erhielt er die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Internationalen Liga für Menschenrechte und 1993 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Er gehört zum Herausgeberkreis der »Blätter für deutsche und internationale Politik«. Friedrich Schorlemmer wurde 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet; 2014 erhielt er die Humboldt-Medaille, außerdem die Ehrendoktorwürde der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder.

Informationen zum Buch

Zweifler, Ketzer, Reformator

Martin Luther war ein im Glauben verwurzelter Mensch, rebellisch als von seinem Gewissen geleiteter Einzelner, unerschrocken aus Fröhlichkeit. Er war ein Kirchen- und Sozialreformer, mit seiner Bibelübersetzung wurde er zum Sprachschöpfer.

Friedrich Schorlemmer beschreibt Luthers faszinierende Persönlichkeit in all ihren Facetten: den unbeugsamen Mönch, den streitbaren Publizisten, den begnadeten Prediger, treusorgenden Freund, Ehemann und Hausvater. Und er zeigt, wie viel Erkenntnis, Trost und Ermutigung wir aus Luthers Schriften bis heute schöpfen können.

ABONNIEREN SIE DEN
NEWSLETTER
DER AUFBAU VERLAGE

Einmal im Monat informieren wir Sie über

Folgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:

https://www.facebook.com/aufbau.verlag

Registrieren Sie sich jetzt unter:

http://www.aufbau-verlag.de/newsletter

Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir

jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!

Friedrich Schorlemmer

Luther

Leben und Wirkung

Inhaltsübersicht

Über Friedrich Schorlemmer

Informationen zum Buch

Newsletter

Leben und Denken des frommen Rebellen Martin Luther

Die Flucht aus der Angst

Den Hals hinhalten

Ein einfacher Mönch – eine Zäsur der Weltgeschichte

Eine ökumenische Perspektive

Reformschriften des Jahres 1520

Die Brandbulle im Freudenfeuer

Worms: Durchhalten und Durchkommen

Freiheitsglaube, Zivilcourage und Gewissensbindung

Schöpferischer Zwischenhalt auf der Wartburg

Zwischen Glaubensgewißheit und Intoleranz

Der Tabubruch – Mönch heiratet Nonne

Der Reformator und die Reformation kommen in die Jahre

Worauf es ankommt

Martin Pollich von Mellerstadts Rede bei der Ankunft Martin Luthers 1508 / 2008 an der Elbe zu Wittenberg

Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren. Freund Melanchthon

Die Bibel übersetzen Voraussetzungen und Wirkungen des Dolmetschens

Bauernkrieg, Gerechtigkeitsutopien und friedlicher Widerstand

Die Judenverspottung – ein Wittenberger Schandmal und ein Mahnmal

Ich kann nicht anders Martin Luthers Vermächtnis

Keine Angst vor der Angst

»Daß der böse Feind keine Macht an mir finde« Luther und der Teufel

Der Kampf gegen den Teufel

Bildteil

Die Reformation als Medienrevolution Bibel, Propaganda und Polemik

»Böcke, Säue und Stiere« Ein Kapitel christlich-unchristlicher Polemik

Ein Nachtrag. Die Trecksau und die Trucksau

Das Gehorsamsgebot in lutherisch geprägten Ländern

Das Gute tun – nicht nur das Böse vermeiden

Der Gemeine Kasten – eine reformatorische Sozialordnung

Gebildete Leute braucht das Land

Er erhebt die Niedrigen

Die Finger wund geschrieben – die Briefe Luthers

Geistes- und kulturgeschichtliche Wirkungen Martin Luthers

Ein Colloquium Erasmianum in Wittenberg

Was meinst du, lieber Dr. Martinus Luther? Eine Befragung Martin Luthers zum Reformationstag

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Bildnachweis

Dank

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Impressum

Leben und Denken des frommen Rebellen Martin Luther

Martin Luther, in die Kämpfe seiner Zeit verwickelt, wußte: »Wer mit Dreck rammelt – er gewinne oder verliere –, so geht er doch immer beschissen davon.« Martin Luther redet deutsch, selbstbewußt und geradezu, kräftig und deftig, polemisch und poetisch, weit hinausgreifend und tief ins Innere treffend. Der versteht was vom Leben. Der hat Ängste durchlebt, Brüche durchgestanden und Aufbrüche gewagt, wurde auf den Schild erhoben und in den Orkus gestürzt. Er war hoch erfreut und tief betrübt. Auf den Sockel wollte man ihn stellen, immer wieder. Er hat es sich verbeten. »Zuerst bitte ich, man wolle meinen Namen weglassen und sich nicht lutherisch, sondern Christ nennen. Was ist Luther? Die Lehre ist doch nicht von mir. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, daß man die Kinder Christi nach meinem heillosen Namen nennen sollte? So nicht, liebe Freunde. Laßt uns die Parteinamen ablegen und uns Christen nennen.«

Seine Bücher nennt er die Produkte seiner nächtlichen Schreibereien. Seinen Lebenssinn meinte er erfüllt zu haben, wenn er einem einzigen Laien mit all seinem Vermögen zur Besserung gedient hätte. Auch wenn er die 95 Thesen nicht angenagelt haben sollte, so hallten doch die Hammerschläge durch halb Europa.

Ein Augustinermönch aus dem Provinznest in Dunkeldeutschland erhob seine Stimme gegen das mächtig-prächtige Rom, ein Rom, das mit der Angst vor dem Fegefeuer Geld für den Petersdom und für die Schuldenbegleichung des Mainzer Kardinals Albrecht eintrieb. Gott wurde so zum Schacherer in einer Geld-Welt gemacht, in der »alles in der Habsucht ersoffen ist wie in einer Sintflut«.

Martin Luther hat sich lebenslang in die Bibel versenkt und fand, daß das Evangelium »ein gut Geschrei« und »eine gute Mär« sei, davon man singen und sagen soll. Von dem angstmachenden Gott-Vater hatte sich dieser sich lange selbst kasteiende Augustinermönch in einem quälenden Erkenntnisprozeß gelöst, bis er entdeckte, daß Gottes Gerechtigkeit keine Forderung an, sondern eine Gabe für den Menschen ist.

Allein aus Gnade. Allein aus Glauben. Allein durch Christus. Allein mit der Schrift. Alles andere ist zweitrangig. Alles andere folgt daraus. Gott ist dem Menschen gut, und dieser kann nun das Rechte und Gute tun. Zuspruch steht prinzipiell vor jedem Anspruch.

Der Mensch Luther steht uns als ein so frommer wie sinnenfroher, ein so geradliniger wie widersprüchlicher Mensch vor Augen. Er hat den Leuten nicht nur aufs Maul geschaut, er hat ihnen auch aufs Maul gehauen. »Man darf dem Pöbel nicht viel pfeifen, er tollt sonst gern, und es ist eher billig, ihm zehn Ellen abzubrechen als eine Handbreit. Der Pöbel hat und kennt kein Maß, und in jedem stecken mehr als fünf Tyrannen.« Deshalb sei es besser, von einem Tyrannen Unrecht zu erleiden als von unzähligen Tyrannen, das heißt vom Pöbel. Also: Ordnung vor Chaos, Gehorsam vor Aufruhr!

Nach jeder Wahl spüren es Regierung wie Wahlvolk, wie recht Luther 1526 hatte, als er schrieb: »Obrigkeit ändern und Obrigkeit bessern sind zwei Dinge, so weit voneinander entfernt wie Himmel und Erde. Der tolle Pöbel fragt nicht viel, wie es besser werde, sondern daß es nur anders werde. Wenn’s dann ärger wird, so will er abermals etwas anderes haben. So kriegt er denn Hummeln für Fliegen und zuletzt Hornissen für Hummeln.«

Sein Überleben verdankt er in kritischer Zeit nicht zuletzt der Standhaftigkeit zweier sächsischer Kurfürsten, die ihn allezeit und diplomatisch klug beschützten – wiewohl Luther sich in viel höherem Schutz geborgen weiß.

Wenn es denn nicht vorangehen will mit Land und Leuten, ja, wenn es im Krebsgang geht, so soll man bekennen, daß wir »Narren und elende Hümpler mit unserem Tun und Kunst« sind – und Gott allein Weisheit und Ehre geben sollen. Schließlich bleibt doch die Zuversicht: »Es glühet und glänzet noch nicht alles, es bessert sich aber alles.«

Jeder Mensch habe die Hölle in sich. Und von alleine kommt keiner heraus. Täglich – abends und morgens – betet Luther: »Dein heiliger Engel sei mit mir, daß der böse Feind keine Macht an mir finde.« Was dir im Nacken sitzt, wird für dein Tun entscheidend. Immerzu hat er es mit dem Teufel, dem Diabolus, zu tun, diesem großen Durcheinanderbringer, diesem Tausendkünstler, der einen ständig irre und zu Tode traurig machen will, in Zweifel und Verzweiflung stürzt. Man habe ihn ernst zu nehmen und spotte seiner zugleich. Wenn alles Beten und Disputieren nichts mehr hilft, »so weise man ihn als Zeichen der Verachtung mit einem Furz ab« und drehe sich um. »Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen.« So dichtet er in dem von Heinrich Heine »Marseiller Hymne der Reformation« genannten Choral »Ein feste Burg ist unser Gott«.

Wenn Friede ist, regiert die Musik. Und wo keine Musik ist, da hat der Teufel leichtes Spiel, denn »der Teufel ist ein trauriger Geist und macht traurige Leute. Darum kann er Fröhlichkeit nicht leiden. Daher kommt’s auch, daß er vor der Musica aufs weiteste flieht! Er bleibt nicht, wenn man singt. Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Fröhlichen traurig, die Verzagten herzhaftig zu machen, die Hoffärtigen zur Demut zu reizen, den Neid und den Haß zu mindern, denn die Musik.« Also dichtet und komponiert er, spielt im häuslichen Kreise zur Laute.

Zugleich hielt er in der Polemik seiner Zeit kräftig mit. Rom nannte er ein totes Aas, und die deutschen Bischöfe sah er gegenüber Rom dasitzen »wie die Nullen«. (Wenn man mit ansehen mußte, wie sich der römische Karol und der Trierer Marx – jetzt Kardinal in München – gegenüber dem Saarbrücker Priester Gotthold Hasenhüttl anno 2003 verhalten haben, kann man Luther nur dankbar bleiben, daß es mehrere Optionen für christliche Gemeinde in der Gestalt verschiedener – und zugleich im Innersten verbundener – Kirchen gibt.)

Was Luther aufbrachte und ihn zu seinem spektakulären Thesenanschlag veranlaßte, war offenkundiger Mißbrauch des Gottesnamens, die Verdunkelung der Jesusbotschaft, das Geschäft mit der Angst, bis man Gott geradezu zu einem Schacherer machte, dessen Wohlwollen man sich kaufen oder verdienen könne oder eben in Dauerangst vor Hölle und Fegefeuer sein Dasein fristen müsse. Die »Wahrheit« braucht einen Maßstab. Das ist die Bibel, und innerhalb der Bibel ist es die Frage, was zu Christus paßt: »Was Christum treibet!« Das gilt und bleibt gültig.

Die Priesterweihe als Sakrament, die ganze Kirchenhierarchie und die höheren Autoritätsansprüche des Papstes lehnt er ab. Päpste können irren, auch Konzilien. Dagegen kann ein einzelner Recht haben, selbst wenn er als Ketzer verbrannt wird. (Übrigens ist der Bann gegen Luther bis heute nicht aufgehoben. Dieses »Gastgeschenk« hätte Benedikt XVI. bei seinem Besuch in Erfurt 2011 als Zeichen einer sich versöhnenden Kirche »getrost« mitbringen können. Aber er wollte uns Protestanten ja gar nicht als Kirche gelten lassen. Welch ein neuer Geist ist mit Franziskus eingekehrt!)

»Was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, daß es schon zum Priester, Bischof und Papst geweiht sei.« 2005 hat BILD zur Wahl Kardinal Joseph Ratzingers getitelt: »Wir sind Papst!« Das hat Luther bereits 1520 behauptet, nur in ganz anderem Sinne: Höhere Würden als das Getauftsein gibt es nicht – ein Getaufter ist bereits »Priester, Bischof und Papst« – »wiewohl es nicht einem jeglichen geziemt, solches Amt auszuüben«.

Und jeder Mensch ist vor Gott in seinem Beruf als ein Begabter, also mit einer spezifischen Gabe Ausgezeichneter, gewürdigt. Vor Gott gelten unsere menschlichen »Rangabzeichen« nicht.

Überaus hoch schätzt Luther die menschliche Arbeit: »Von der Arbeit stirbt kein Mensch, aber vom Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben. Denn der Mensch ist zur Arbeit geboren wie der Vogel zum Fliegen.« Man bedenke solche Sätze auf dem Hintergrund unserer strukturellen Massenarbeitslosigkeit und des inzwischen sehr langen Rentnerdaseins.

Das ganz Große kommt aus dem ganz Kleinen, ganz so, wie durch die arme Magd Maria der Sohn des Höchsten in einem Stall zur Welt kommt. »Niemand lasse den Glauben daran fahren, daß Gott an ihm eine große Tat tun will.« Niemand. Das führt zum aufrechten Gang.

Die Würde des einzelnen Menschen ist unantastbar. Die Wahrheit macht frei. Sie braucht den Dialog, statt mit dem Argument der Macht die Macht der Argumente abzuwürgen. Luther hält seinen Hals für seine Überzeugungen hin. Gegen das Gewissen zu handeln ist unheilsam und gefährlich.

»Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.« Das hat er nicht gesagt, sich aber so verhalten. Was in Worms auf dem Reichstag 1521 geschah, sollte Geschichte machen. Ein einzelner behauptet sich vor aller Öffentlichkeit, vor der kirchlichen und der weltlichen Macht. Er kommt mit Haltung, mit seiner Haltung, durch. Eine Woge der Zustimmung seiner »lieben Deutschen« trägt ihn, doch bleibt er ganz ein einzelner. Sein Mut macht Mut. Die päpstliche Bannandrohungsbulle, die ihm bei Verweigerung seines Widerrufs das Schicksal des Jan Hus androht, verbrennt er. Im Dezember 1520 entfacht er ein Freudenfeuer der Befreiung! »Macht kaputt, was euch kaputtmacht«, hieß es 450 Jahre später.

Eine zentrale biblische Erkenntnis kommt dem Befreiten (aus Luder wird Luther, das dem griechischen »eleutherios« als »der Befreite« nachempfunden ist) nie aus dem Sinn: Es gibt keine Freiheit ohne Verantwortung für den Nächsten. Der Glaube wird in der Liebe tätig. Einer soll dem anderen zum Christus werden. Ein freier Herr aller Dinge ist der Christ (als ein von Gott Freigesprochener) und ein dienstbarer Knecht aller Dinge bleibt er (als einer, der seinem Mitmenschen verpflichtet ist).

1927-026.tif

Detail des Lutherdenkmals vor der Stiftskirche in Landau, Bronzeplastik von Martin Mayer (1931). Auf der Seite der aufgeschlagenen Bibel steht: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.« (Matthäus 16,26). Foto: Friedrich Schorlemmer

Das Neue Testament übersetzt er in seiner Zwangsklausur auf der Wartburg in nur elf Wochen und findet darin einen Ton, der die Leute an- und aufrührt. Sein Deutsch wird sprachbildend, seine Redeweise sprichwörtlich: Keiner soll sein Licht unter den Scheffel stellen. Der Glaube versetzt Berge. Unser Wissen ist Stückwerk. Auf dem Jahrmarkt des Lebens gilt es, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Die Bibel wird als Volksbuch ein Befreiungsbuch. Der einzelne Christ soll mitbestimmen, unterscheiden und beurteilen lernen. Dazu muß eine allgemeine Bildung her. Oder »soll man denn zulassen, daß lauter Flegel und Grobiane regieren, wenn man’s sehr viel besser machen kann? Da lasse man doch lieber gleich Säue und Wölfe zu Herren machen und über die setzen, die nicht darüber nachdenken wollen, wie sie von Menschen regiert werden.« Wenn Menschen aber nichts weiter lernen, »als Nahrung zu suchen und wie eine Sau mit der Nase im Kot zu wühlen«, dann müßten wir »gewiß von Sinnen sein oder unsere Kinder nicht richtig liebhaben«.

Wie Strauße, die es dabei bewenden lassen, »daß sie ihre Eier von sich geworfen und Kinder gezeugt haben«, würden sich viele Eltern verhalten. Sie sollten Zeit und Mühe aufbringen, um Kindern sowohl Kartenspielen, Singen und Tanzen als auch Lesen, Schreiben, Sprachen und Mathematik zu lehren. Aber ohne Angst und Prügel.

Die erste kommunale Sozialkasse wird in Wittenberg eingerichtet. Luther polemisiert in schärfster Form gegen Auswüchse von Zins und Wucher. Auch was legal ist, ist längst noch nicht legitim. Er geißelt eine ökonomische Praxis, in der die Bereicherung der einen zur Verarmung der anderen führt. Dabei hält Luther redlichen Handel und Gewinn keineswegs für verwerflich. »Daß Kaufen und Verkaufen eine notwendige Sache ist, kann man nicht leugnen.« Aber das Marktgeschehen verlottert; wo Habsucht zur Preistreiberei führt, wo die Monopolbildung andere in den Ruin treibt, wird Luther unerbittlich. »Solche Leute sind es nicht wert, Menschen zu heißen oder unter Menschen zu wohnen.«

Vor nichts anderem schien Luther mehr Furcht zu haben als vor dem Vorwurf, die ganze Reformation hätte er nur wegen der Weiber gemacht, um sich selber schließlich auch eins zu nehmen. Er zögert lange, ist voll Angst, daß aus der Verbindung zwischen Mönch und Nonne ein kleines Teufelchen hervorgehen könnte, wie es ein verbreiteter Aberglaube glauben machte. Er nimmt schließlich im Juni 1525 die übriggebliebene, recht selbstbewußte Nonne Katharina von Bora zur Frau – ausgerechnet unmittelbar nach dem grausigen Bauernkrieg. Ein Signal für die Priorität des Privaten, der bürgerlichen Alltagsexistenz gegenüber gesellschaftlichen Gestaltungsfragen?

Das Eheleben der beiden sollte vorbildhaft werden. Sie führt den Haushalt und er das Wort. Nicht genug kann er sich wundern, daß er nun, wenn er im Bett erwacht, ein Paar Zöpfe neben sich liegen sieht »Die erste Liebe«, schreibt er, »ist fruchtbar und heftig, damit wir geblendet werden und wie die Trunkenen hineingehen.« Sechs Kinder haben Katharina und Martinus miteinander, erleben Glück, durchleiden bittersten Verlustschmerz.

Er schreibt seiner Käthe innige Briefe, voller Respekt und oft mit leiser Ironie. »Meine liebe Jungfer und Frau Käte, Euer Gnaden sollen wissen, daß wir frisch und gesund sind; fressen wie Böhmen (doch nicht sehr); saufen, wie Deutschen (doch nicht viel); sind aber fröhlich. … Dein Liebchen Martin Luther.«

So gern er mit allen Sinnen lebt, so oft ist er krank. Lebenslang plagen ihn Verdauungsprobleme, Nieren- und Blasensteine – sie sind wohl durch damalige Ernährungsgewohnheiten wie auch psychosomatisch bedingt.

Seine Tischgespräche sind legendär. Allein von ihnen gibt es zehn fulminante Bände in der »Weimarer Ausgabe« seiner Werke. Für Sinnsprüche hat er ein Faible: »Iß, was gar ist. Trink, was klar ist. Sag, was wahr ist.« Er versteht es, sich subtil theologischer Begriffe zu bedienen. Viel lieber aber drückt er sich in ganz alltäglicher Sprache aus: »Laß einen jeden sein, der er ist, so kannst du wohl auch bleiben, der du bist.« »Einen Baum, davon man Schatten hat, davor soll man sich verneigen.«

An einem Kind mit vollgekackten Windeln kann er seine ganze Theologie veranschaulichen: »Diese Leute verdienen auch ihr Essen und Trinken – mit Scheißen, Weinen und Heulen – wie wir mit unseren guten Werken den Himmel.«

Es gibt kaum ein Thema, über das am Tisch Luthers nicht gesprochen worden wäre. Über die Prediger sagt er: »Wir sollen Säugammen sein, gleich wie eine Mutter ihr Kindlein säuget, die pappelt und spielet mit ihrem Kindlein und schenkt ihm aus dem Busen ein; dazu bedarf sie keines Weines.«

»Ich bin denen sehr feind, die sich in ihren Predigten richten nach den hohen gelehrten Zuhörern, nicht nach dem gemeinen Volk.«

»Mit wenig Worten fein und kurz anzeigen können, das ist Kunst und große Tugend; Torheit aber ist’s, mit viel reden nichts reden.«

Wenn man bei Hofe spricht, dann soll man die Regel einhalten, »daß man flugs schreie und klage, denn Bescheidenheit und das Evangelium gehören nicht gen Hofe, sondern man muß böse und unverschämt sein, klagen und geilen«. An Drastik ist nicht zu übertreffen, wie er über Juristen herzieht. So läßt er einen Abdecker urteilen: »Wir schinden tote Tiere, ihr Juristen aber lebendige.« Der Jurist sei »entweder ein Schalk oder ein Esel, der nichts kann in göttlichen Sachen«.

Die Deutschen seien früher feine Leute gewesen, aber in den letzten Zeiten hätten sie sehr abgenommen, seien aus der Art geschlagen und »zu Unflätern geworden«. Er möchte seinem »lieben Deutschland« dienen und mit dafür sorgen, »daß man uns für treue, wahrhaftige beständige Leute hält, die da Ja Ja und Nein Nein haben sein lassen«.

Etwa 2500 seiner Briefe sind erhalten geblieben. In ihnen zeigt sich der ganze Mensch, der fröhliche und der bittere, der einschreitende und fürsprechende, der todtraurige und der zum Leben ermutigende Theologe und Seelsorger. Einem deprimierten, in sich zerworfenen, in Melancholie (wir würden »Depression« sagen) versinkenden jungen Mann schreibt er: »Die Einsamkeit fliehet auf jede Weise. Durch Spiel und Nichtachtung wird dieser Teufel überwunden, nicht durch Widerstand und Disputieren. Treibt deshalb Scherz und Spiel mit meinem Weibe und anderen. Dadurch vertreibt ihr die teuflischen Gedanken und bekommt einen guten Mut. Sucht menschliche Gesellschaft oder trinkt mehr, treibt Kurzweil oder sonst etwas Heiteres. Man muß bisweilen mehr trinken, spielen, Kurzweil treiben und sogar eine Sünde riskieren und dem Teufel Abscheu und Verachtung zeigen, damit wir ihm ja keine Gelegenheit geben, uns aus Kleinigkeiten eine Gewissenssache zu machen.« Einen fröhlichen Sünder hat Gott lieb, nicht den selbstquälerischen – protestantischen! – Gewissensfummler. Ein reines Gewissen kann sowieso niemand haben, wohl aber ein getröstetes.

Um den Erbstreit zwischen zwei Mansfelder Grafen zu schlichten, reist er im bitterkalten Februar 1546 in seine Geburtsstadt Eisleben. Er ist bereits sehr krank. Er hatte geglaubt, wer den neuen Glauben angenommen hat, der müsse und könne auch vom alten Denken frei werden, dürfe sein Herz nicht an zeitlich Gut hängen und bis aufs Messer ums Erbe streiten. Gott nennt er das, »woran du dein Herz hängst«. So hat er es im Großen Katechismus eingeschärft.

Was getrostes Leben ist, ein Leben, das sich ganz der Gnade Gottes anvertraut, dokumentieren seine letzten uns überlieferten Sätze: »Wir sind Bettler. Das ist wahr.« Ein inniger Beter blieb Martin Luther lebenslang – ganz im Sinne von Psalm 19, Vers 15: »Laß dir wohlgefallen die Rede meines Mundes und das Gespräch meines Herzens vor dir.«

Schwer begreiflich bleiben indes einige seiner Verirrungen, die schrecklichen Entgleisungen in seiner Polemik gegen die Juden, seine zum Exzeß stimulierenden Gewaltaufrufe gegen die aufständischen Bauern, seine Unerbittlichkeit gegenüber den Wiedertäufern sowie seine Ausfälle gegen Rom (das ihm freilich auch nichts schenkte). Er wird sie selber vor Gott zu verantworten haben. Sie bleiben eine schwere Bürde für alle, die in lutherischer Glaubenstradition stehen.

Wenige Tage vor seinem Tod hatte er seiner lieben Hausfrau Katherina als »Euer Heiligkeit williger Diener M.L.« noch eingeschärft, daß er beinahe wegen ihrer Sorge gestorben wäre, denn seitdem »Ihr um uns gesorget habt«, wäre ihm gestern, »ohne Zweifel Kraft Eurer Sorge, schier ein Stein auf den Kopf gefallen und hätte uns zerquetscht wie in einer Mausefalle. … Bete Du und laß Gott sorgen.«

In unseren wiederum sehr kriegerischen und dafür den Namen Gottes abermals mißbrauchenden Zeiten bleibt Luthers weise Mahnung hoch aktuell: »Wer zwei Kühe hat, soll die eine darum geben, daß nur der Friede erhalten werde. Es ist besser, eine in gutem Frieden als zwei im Krieg zu besitzen. Wer ein Christ sein will, soll zum Frieden helfen und raten, wo immer er kann, selbst wenn es Recht und Ursache genug zum Kriegen gäbe.«

Hoch aktuell ist geblieben, wie er menschliche Verantwortung in einer Mehr-Generationen-Perspektive definiert: »Man soll arbeiten, als wolle man ewig leben, und soll doch so gesinnt sein, als sollten wir diese Stunde sterben.« Ganz loslassen können und leben, als müsse man ewig leben, also auch übermorgen noch für sein Tun und Lassen einstehen, gehören als christliche Haltungen zusammen. Aus dieser Gesinnung Luthers heraus legte nach dem 20. Juli 1944 ein evangelischer Pfarrer Luther den tröstlichen, hoffnungsstarken und zum Handeln ermutigenden Satz in den Mund: »Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.«

Fromm war Luther als ein im Glauben verwurzelter Mensch, rebellisch als ein gewissensgeleiteter einzelner, unerschrocken aus Fröhlichkeit.

Wittenberg, Oktober 2016

Die Flucht aus der Angst

In Eisleben wurde Martin Luther am 10. November 1483 geboren, einer Kupferbergbaustadt, die bis heute unterhöhlt ist. Er wuchs mit der Welt der Kobolde, mit Schreckensgeschichten und angstmachenden Geistern auf. Noch im hohen Alter hörte er bei jedem nächtlichen Spuk auf dem Dachboden den Teufel persönlich. Eine mark- und beinerschütternde Angst verließ ihn sein Leben lang nicht, jenes biblische »Furcht und Zittern«, das Søren Kierkegaard später aufgreifen sollte. Es ist die kreatürliche Lebensangst ebenso wie die Angst, zu versagen und erschüttert zu sein von den Ansprüchen, die die Wahrheit und das Seelenbeben in der Begegnung mit Gott an den Menschen stellen. Es ist jene existentielle »Verzweiflung, man selbst sein zu wollen« und zugleich »nicht man selbst sein zu wollen«. Nicht er selbst sein zu können – jedenfalls nicht aus eigener Kraft – wurde zu Luthers Lebensproblem und später zum erlösten »neuen Sein« in Christus. Ohne seine tiefen Ängste wäre er nicht zu der Tiefe – einschließlich aller Abgründigkeit – gelangt, die ihn ausmachte.

Ausgesprochene Ängste sind schon halb überwundene Ängste. Oft und bildreich erzählte Luther von der Kraft, die den Menschen in Traurigkeit treibe, ihn anfechte und verzweifeln lasse. Mit Scharfsinn, Glaubenszuversicht und Humor wies er jenen ab, der unsere Gedanken verdunkelt, unsere Gefühle verstört und unsere Ängste listenreich schürt. Wenn es nur oben im Dach polterte, nahm Luther es noch relativ leicht: »Es ist aber nicht ein seltsam, unerhört Ding, daß der Teufel in den Häusern poltert und umhergehet. In unserem Kloster zu Wittenberg hab ich ihn verschiedenmal gehört. Denn als ich anfing, den Psalter zu lesen, und nachdem wir die Nachtmetten gesungen hatten und ich im Rempter saß, studirete und schrieb an meiner Lektion: Da kam der Teufel und rauschte in der Hölle dreimal, gleich als wenn einer einen Scheffel aus der Hölle schleifete. Zuletzt, da es nicht wollte aufhören, raffte ich meine Bücherlein zusammen und ging zu Bette: Aber mich reuet es diese Stunde, daß ich ihn nicht aussaß, und hätte doch gesehen, was der Teufel noch wollte gemacht haben. So hab ich ihn auch sonst einmal über meiner Kammer im Kloster gehöret, aber da ich vermerkt, daß er’s war, achtete ich’s nicht, und schlief wieder ein.«

Und dennoch, der Teufel war ein nimmermüder Gast im Geiste und Hause Luthers. Da hieß es täglich widerstehen, daß der Glaube nicht träge und faul werde.

Der strenge Vater Hans Luder wünschte sich, daß aus seinem Erstgeborenen etwas werde. Alles steckt er in den begabten Sohn – wie so viele Eltern, die sich durch ihre Kinder einen sozialen Aufstieg erhoffen oder sich in ihnen selbst zu verwirklichen suchen. Hans Luder, Sohn eines Bauern, hatte sich strebsam zu einem kleinen Bergunternehmer hochgearbeitet und gehörte in Mansfeld bald zu den Bürgerschaftsvertretern. Margarete Luder sieht man auf einem Gemälde Cranachs an, was sie täglich zu tragen hatte. Luther selbst erzählte später in einer seiner kurzweiligen, skurrilen und lebensgesättigten Tischreden:

»Meine Eltern waren zuerst arme Leute. Mein Vater ist ein armer Häuer gewesen. Die Mutter hat alle ihr Holz auf dem Rücken eingetragen, damit sie uns erzogen hat. Haben harte Arbeit ausgestanden, dergleichen die Welt jetzt nicht mehr ertrüge.

Meine Mutter stäupte mich einmal um einer einzigen Nuß willen, daß das Blut hernach floß. Und ihr ernst und gestreng Leben, das sie mit mir führten, das verursachte mich, daß ich zuletzt in ein Kloster lief; wiewohl sie es herzlich gut gemeint haben, wurde ich doch allzu erschrockenen Gemüts.

Mein Vater stäupt’ mich einmal so sehr, daß ich ihn floh und daß ihm bang war, bis er mich wieder zu sich gewöhnt. Ich wollt’ auch nicht gern meinen Hansen sehr schlagen, sonst würd’ er blöde und mir feind, so wüßt’ ich kein größer Leid … Unser Herrgott wollt’ auch nicht gern, daß wir ihm feind würden.«

Die Eltern schickten den Vierzehnjährigen auf die Lateinschule in Magdeburg, ein Jahr später wechselte er an die Lateinschule der St. Georgspfarrei in Eisenach. Martin mußte in diesen Jahren trotz elterlicher Unterstützung wie viele »um sein Brot singen«. Der gehorsame Sohn schrieb sich 1501 an der Universität Erfurt ein. Der Vater wollte, daß er Jurist wird. Ein lustiger, ein lebenslustiger Kerl soll er gewesen sein, zugleich aber merkwürdig verschlossen. 1505 bestand er das Examen zum Magister artium als zweitbester Kandidat und erhielt damit eine erste Lehrerlaubnis. Ein Bergmannssohn war zu einem respektierten Universitätslehrer geworden. Fleiß und Eifer hatten sich gelohnt. Der Vater wechselte stolz seine Anrede und sprach den eigenen Sohn fernerhin mit »Sie« an. Er machte sich berechtigte Hoffnungen auf eine bürgerliche Karriere Martins – mit einer entsprechenden Einheirat in eine Erfurter Honoratiorenfamilie.

Nun fehlte nur noch das Studium einer der drei »höheren Fakultäten«. Auch damals eröffnete Jura vielfältige Anstellungs- und Aufstiegsmöglichkeiten.

Indes packte Martin eine tiefe innere Unruhe. Er ahnte, daß ihm diese Laufbahn nicht genügen, ja, daß sie ihn langweilen würde. Später erinnerte er sich an eine Begegnung mit einem alten Mann in Erfurt, der ihm gesagt hatte: »Es muß eine Änderung werden, und die ist groß, es kann also (so nicht weiter) bestehen.« Eine kryptische Vorahnung Luther selbst betreffend? Jedenfalls regte sich etwas in ihm, und er ist bestrebt, »den Kern der Nuß, das Innere des Weizenkorns, das Mark des Knochens« selber zu ergründen. In dem geselligen, gute Freundschaft haltenden jungen Mann mit dem braunroten Barett trat das Grüblerische, das seltsam Verschlossene und Abgründige, das Radikale des Denkens, Wollens und Fühlens hervor, ohne daß andere es gleich spürten. Das Jurastudium verstärkte seine Sinnkrise (später fällte er über Juristen meist harsche Urteile). Wenige Wochen nach Semesterbeginn ließ er alles stehen und liegen und machte sich auf zu seinen Eltern nach Mansfeld, von wo er am 2. Juli 1505 – wiederum zu Fuß – nach Erfurt zurückkehrte. Dort angekommen, berichtete er seinen Bursengenossen erregt, in der Nähe des Dorfes Stotternheim sei ein Blitz direkt neben ihm eingeschlagen und er habe in Lebensangst die heilige Anna – die ihm seit Kindheit vertraute Schutzpatronin der Bergleute und Helferin in extremer Not – um Beistand angerufen und ihr gelobt, Mönch zu werden. Für das Ereignis gibt es keine Zeugen. Jedenfalls war sein Entschluß unumstößlich, anderen unbegreiflich. Er warf alles hin und feierte seinen Abschied aus dem zivilen Leben. Daran erinnerte sich Luther 1539: »Am Tage vor Alexius lud ich eine Reihe von Freunden zu einem Abschiedsmahl und bat sie, daß sie mich tags darauf ins Kloster geleiten möchten. Und als sie zögerten, sagte ich: Heute sehet ihr mich und (dann) nimmermehr! Da gaben sie mir unter Tränen das Geleite.«

Der Erfurter Magister kehrte sich nicht nur vom bürgerlichen Leben, sondern auch vom Vater ab, der mit seinem Sohn eigene Karrierepläne hatte. Martin sollte schließlich etwas Ordentliches werden, etwas Handfestes und Einträgliches lernen. Der Vater war bestürzt und zürnte. Eiszeit zwischen Vater und Sohn. Luthers lebenslanges Problem: sein Vaterkomplex (auch wenn sich mit seiner Heirat 1525 das Verhältnis zwischen ihm und dem Vater entspannen wird). Liebevoll und einfühlsam reflektierte Luther dies:

»Hatte doch mein lieber Vater mit aller Lieb und Treu in der hohen Schule zu Erfurt mich gehalten und durch seinen sauren Schweiß und Arbeit dahin geholfen, daß ich hingekommen bin.

Da ich ein Mönch wurde, wollte mein Vater toll und töricht werden, schrieb mir einen bösen Brief und hieß mich ›Du‹ – vordem hatte er mich ›Ihr‹ genannt – und sagt’ mir väterliche Treue ab. Zu meiner Primiz kam er selbst mit zwanzig Reitern. Ich sagt’ zu ihm: Warum seid Ihr noch immer zornig? Er: Hast Du nicht gelesen: Ehre Vater und Mutter? Und vor aller Ohren: Wollte Gott, daß es nur kein Teufelsgespenst war.« Damit ist der Schrecken durch den von Luther so benannten Blitzschlag vor Stotternheim gemeint.

In einem Brief von der Wartburg – in seiner Zwangsklausur – bekannte Luther im November 1521: »Ich bin nicht gern und nicht aus Eifer ein Mönch geworden, viel weniger des Bauchs wegen, sondern da mich eine Angst und Todesschreck unversehens überfiel, tat ich ein erzwungen und erdrungen Gelübde. Da sagtest du: Gott gebe nur, daß es kein Teufelsgespenst gewesen sei! Das Wort durchdrang mich bis ins innerste Herz, gleich als hätte Gott durch deinen Mund geredet; aber ich verstockte mein Herz, so gut ich konnte, wider dich und dein Wort. Da ich dir aber mit kindischer Kühnheit deinen Groll vorrückte, gabst du mir noch eine zweite Antwort, und die traf mich so, daß mich dünkt, ich habe all meiner Lebtage aus keines Menschen Mund ein Wort vernommen, das mir mächtiger geklungen und fester gehaftet habe: Hast du nicht gehört das Gebot ›Ehre Vater und Mutter‹? Dennoch macht’ ich mich sicher in meiner Gerechtigkeit, hielt’s nur für Menschenwort und wollt’ es kühnlich verachten: denn es von Herzen verachten, das konnt’ ich nicht.«

Die fast gänzliche Identifizierung elterlicher, obrigkeitlicher und göttlicher Autorität sollte ein Lebensthema Luthers bleiben.

Er nahm sein Leben als Bettelmönch im Augustiner-Eremiten-Kloster ernst, sehr ernst, zu ernst. Er kasteite sich. Angst vor dem Gericht und dem strafenden Gott verfolgte ihn Tag und Nacht. Was kann er noch tun, um dem gestrengen Gott Genüge zu tun?

Einen ihn begütigenden väterlichen Freund fand er im Ordensoberen Johann Staupitz. Der ahnte, was in Bruder Martin schlummert, heranreifen und hervorbrechen wird.

Luther erzählte später: »Unter diesem Baum (im Hof des Klosters) hat mich Staupitz angesprochen, ich müsse Doktor werden, aber ich hatte fünfzehn Gründe dagegen. Sagt Staupitz: Wollt Ihr klüger sein als der ganze Konvent? Drauf ich: Mir ist’s gewiß, daß ich nicht lange leben werde; wozu alsdann solch großer Aufwand! Antwortet Staupitz: Es ist gleich recht. Unser Herrgott hat jetzt viel zu schaffen; wenn Ihr sterbt, so kommt Ihr in seinen Rat, denn er muß auch einige Doktores haben! So widerlegte er mich scherzhaft.«

In Staupitz erlebte er einen, der, anders als der Vater, nicht nur Gehorsam forderte und fortwährend Daseinszweifel provozierte, sondern ihn förderte und ihm beistand. Diese neue Vatererfahrung ging einher mit einer neuen Gotteserfahrung. Immer wieder wandte sich Luther mit einem kindlichen Vertrauen an seinen Ordensoberen:

»Da ich ein Mönch war, schrieb ich Dr. Staupitz oft, und einmal schrieb ich ihm: O meine Sünde, Sünde, Sünde! Darauf gab er mir diese Antwort: ›Du willst ohne Sünde sein und hast doch keine rechte Sünde; Christus ist die Vergebung rechtschaffener Sünden, als die Eltern ermorden, öffentlich lästern, Gott verachten, die Ehe brechen, das sind die rechten Sünden. Du mußt ein Register haben, darin rechtschaffene Sünden stehen, soll Christus dir helfen; mußt nicht mit solchem Humpelwerk und Puppensünden umgehen und aus einem jeglichen Bombart (lautes Geräusch) eine Sünde machen!

Da ich so traurig und erschlagen war, hub Dr. Staupitz an zu mir über den Tisch hinweg und sprach: Wie seid Ihr so traurig, Frater Martine? Da sagte ich: Ah, wo soll ich hin? Sprach er: Ah, Ihr wißt nicht, daß Euch solche Tentatio (Versuchung) gut und not ist, sonst würde nichts Gutes aus Euch! Das verstand er selbst nicht, denn er dachte, ich wäre gelehrt und wenn ich nicht Anfechtung hätte, so würde ich stolz und hoffärtig werden.

Es sagte einmal mein Beichtvater zu mir, da ich immer närrische Sünde vor ihn brachte: Du bist ein Narr! Gott zürnt nicht mit dir, sondern du zürnst mit ihm; Gott ist nicht zornig auf dich, sondern du bist auf ihn zornig! Ein teuer, groß und herrlich Wort, das er doch vor diesem Licht des Evangelium sagte!

Darum, wer mit dem Geist der Traurigkeit geplagt wird, der soll aufs Höchste sich hüten und vorsehen, daß er nicht allein sei. Denn Gott hat die Gesellschaft in der Kirche geschaffen und die Brüderschaft gebeten, daß sich ihre Glieder sollen zusammenhalten, wie die Schrift sagt: Weh dem Menschen, der allein ist; denn wenn er fällt, so hat er nicht, der ihm aufhilft. Auch gefällt Gott die Traurigkeit des Herzens nicht.«

Bruder Martin erhielt im April 1507 die Priesterweihe. Zu seiner ersten Messe am Sonntag Cantate reisten seine Familie und Freunde an. Der Vater stiftete dem Kloster 20 Gulden. Kurz darauf nahm Luther das Studium der Theologie auf, zu dem damals auch die Beschäftigung mit scholastischer Theologie gehörte.

1508 holte Staupitz ihn an die Wittenberger Universität, wo er bis Ende 1509 als »Lektor der Philosophie« wirkte. Zugleich predigte er im Kloster. Eine Reise in Ordensangelegenheiten führte Luther im Winter 1510 – zu Fuß, wie es den Mönchen geboten ist! – nach Rom, in eine ihm fremde Welt. Er las dort selbst Messen, hatte auch »viele andere Messen halten sehen, so daß mir grauet, wenn ich daran denke. Da hörte ich unter anderem grobe Possen über das Abendmahl die Priester lachen.« Später resümierte er: »Rom ist jetzt nur ein totes Aas und Haufen Schutt. Der Papst triumphiert mit hübsch geschmückten Hengsten, die vor ihm herziehen, und er führt das Sakrament (ja, das Brot) auf einen hübschen, weißen Hengst. Nichts ist da zu loben …«

Früh erfüllte ihn Mißtrauen gegen die Kirchenlehre und das Sentenzen-Lehren. Er entdeckte für sich die Heilige Schrift, die ihn begeisterte, die er sein Leben lang auslegen und schließlich in die deutsche Sprache, zugleich in seine unmittelbare Lebenswirklichkeit, die Lebenswirklichkeit der einfachen Menschen, übertragen sollte.

1511 kehrt Martin Luder nach Wittenberg zurück, promoviert dort im Folgejahr bei Karlstadt und übernimmt die »Lectura in Biblia« als Nachfolger von Staupitz. Nunmehr nennt er sich Luther. 1514 wird er Prediger in der Stadtkirchengemeinde, wo er ein Arbeitspensum von unvorstellbaren Ausmaßen absolviert.

Bereits im Oktober 1516 schrieb er an seinen Freund und Mitbruder Johannes Lang: »Ich müßte mir eigentlich zwei Schreiber oder Kanzlisten halten; denn den ganzen Tag tu ich nichts als Briefe schreiben. Drum werde ich wohl immer dasselbe wiederholen. Ihr werdet es bemerkt haben. Ich bin Klosterprediger und Tischprediger, und auch für den Predigtdienst in der Pfarrkirche begehrt man mich täglich; außerdem bin ich noch Leiter der Studienanstalt unseres Ordens; ich bin Ordensvikar und verrichte damit die Geschäfte von elf Prioren; in Leitzkau muß ich die Fischpacht vereinnahmen und in Torgau die Sache der Herzberger Mönche vertreten; ich halte Vorlesungen über Paulus, und außerdem stopple ich mir ein Kolleg über die Psalmen zusammen. Zu alledem kommt als zeitraubende Beschäftigung mein Briefwechsel. Selten habe ich Zeit, die Feier der Horen ordentlich zu halten; und wie oft bin ich Anfechtungen des Fleisches, der Welt und des Teufels ausgesetzt. Ihr seht, ich bin alles andre als faul!

Ich muß fürchten, daß die gegenwärtige Pest den Fortgang der Vorlesungen unterbricht. Diese hat bei zwei bis drei Menschen – alles in allem, nicht täglich – hinweggerafft … Kurz, die Pest ist da und beginnt unerwartet genug ihr rohes Handwerk, zumal gegen die Jugend. Ihr ratet mir und dem Magister Bartholomäus, mit Euch vor ihr zu fliehen. Aber wozu. Ich hoffe, daß die Welt nicht zusammenstürzt, wenn auch Frater Martinus dahinsinkt.«

Das Geschäft mit der Angst blühte. Jeder sollte sich selber und seine toten Angehörigen vom Fegefeuer freikaufen können. Der Dominikanermönch Johannes Tetzel trieb auch in der Umgebung von Wittenberg das Geld im Auftrage des (hochverschuldeten) Mainzer Kurfürsten und Kardinals Albrecht und des römischen Papstes ein (und Jakob Fugger will sein Geld zurück, mit Zins und Zinseszins).

Die Kirche predigte nicht innere Reue und Buße als Umkehr des Menschen, um Sinneswandel und Bewußtseinsänderung herbeizuführen, sondern forderte eine materielle Bußleistung, bot ein Geschäft mit dem Jenseits an. Ein gutes Werk tun für den sakralen Prachtbau, den Petersdom in Rom!

Auch Kurfürst Friedrich der Weise hatte in der Schloßkirche »Allerheiligen« 1743 Reliquien angesammelt, unter ihnen die Wiege des Jesuskindes, Dornen der Krone und Nägel vom Kreuz, die ihm einen »Ablaß« von etwa 130 000 Jahren einbringen sollten. In seiner »Turmstube«, einem engen Studierraum im Obergeschoß des Klosters, machte der Augustinereremit in Jahren inneren Ringens eine Entdeckung: Die Gerechtigkeit Gottes ist keine Forderung an den Menschen, sondern eine Mitgift für den Menschen. Nur das Vertrauen darauf macht das Heil in demselben Maße gewiß, wie es von Angst befreit. Zuspruch geht vor Anspruch, Geliebtwerden vor Lieben, das mir zugewandte Gute vor den Anforderungen des Guten. Prinzipiell. Existentiell. Deshalb: Vertrauen in Gott vor dem Gehorsam gegen Gott. Das sollte ihn sein Leben lang beschäftigen.

Nur wer eine Vorstellung davon hat, wie mit »metaphysischer Angst« reale Macht ausgeübt und Menschen mit moralisch-religiösen Forderungen sich quälten und gequält wurden, kann ermessen, welche existentielle Befreiung das »Turmerlebnis« für Luther bedeutete: Als er den Brief des Apostels Paulus an die Römer auslegte, gewann er – »auff der cloaca auff dem thorm« – eine innere Ruhe und Gewißheit, die ihm nur ein liebender Gott hat schenken können. Gott rettet nicht den »Heiligen«, sondern den »Sünder«, der zu seiner Schuld steht und »zu ihm schreit«. Das Paradoxe ist das Wahre. Simul justus et peccator – der Mensch ist immer Gerechtfertigter und Sünder zugleich. Wir leben schon in der neuen, noch in der alten Welt.

Das alles steckte hinter dem »heiligen Zorn«, der Luther 1517 gegen den Ablaß packte, gegen eine Kirche, die sich einerseits mit dem Wuchersystem verbündete und andererseits Gott selbst zu einem Schacherer machte, bei dem jeder mit Geld seine Schuld wie Geldschulden abtragen könne. Das Ablaßwesen und der äußere Pomp der Kirche waren ihm ein Greuel. Der wahre Schatz der Kirche seien die Armen, nicht der Reichtum – und das ganze Leben sei eine Umkehr (=Buße), ruft er den rattenfängerischen Ablaßhändlern entgegen. Über Nacht wurde der Mann aus dem Provinznest Wittenberg europaweit bekannt und in den Streit mit Rom hineingerissen. Er stellte sich ihm mit frischem Mut und erduldete Anfechtungen.

»Hätte ich am Anfang gewußt, da ich anfing zu schreiben, was ich jetzt erfahren und gesehen habe (nämlich, daß die Leute Gottes Wort so feind wären und setzten sich so heftig dawider), so hätte ich fürwahr stille geschwiegen; denn ich wäre nimmermehr so kühn gewesen, daß ich den Papst und schier alle Menschen hätte angegriffen und sie erzürnt. Ich meinte, sie sündigten nur aus Unwissenheit und menschlichen Gebrechen und unterstünden sich nicht, vorsätzlich Gottes Wort zu unterdrücken; aber Gott hat mich hinan geführt wie einen Gaul, dem die Augen geblendet sind, daß er die nicht sehe, so zu ihm zu rennen.

Denn da ich anfing zu predigen und zu schreiben, verachtete mich der Papst. Denn er gedachte: Es ist ein einzelner Mann, ein armer Mönch usw. Hab ich doch diese Lehre verteidigt vor vielen Königen und Kaisern, Fürsten und Herrn, was sollt denn nun ein einzelner Mann tun? Hätte er aber mein geachtet, so hätte er mich bald am Anfang konnt ausrotten und dämpfen.«

Die mächtigen Institutionen unterschätzten diesen kleinen Wicht, diese kleine Gruppe, die sich dort in Wittenberg bildete. Sie fühlten sich sicher und ihrer Wahrheit gewiß, weil sicher ihrer Macht, konnten sie doch Angst nach Belieben ausstreuen. Luther wurde vorgeworfen, es gehe ihm nur um seinen Ruhm und seine Ehre. Dazu schrieb er in einem Brief vom August 1520 an Wenzeslaus Link, Ordensprior und Theologieprofessor in Nürnberg:

»Ich will mit meinen Büchern und Flugschriften nicht Ruhm und Ehre einheimsen. Fast jedermann verurteilt an mir meine Heftigkeit, aber ich meine wie Ihr, daß Gott vielleicht eben damit die Lügen der Menschen aufdecken will. Denn was in unsrer Zeit mit Ruhe behandelt wird, das sehe ich bald in Vergessenheit geraten, ohne daß jemand sein achtet …

Wer kann sagen, ob mich nicht der Geist mit seinem Ungestüm vorwärts treibt, da ich doch gewißlich nicht aus Gier nach Ehre oder Gut noch Beifall so handle. Aber ich suche Rache? Vielleicht; der Herr verzeihe mirs; denn auch damit gehe ich nicht darauf aus, einen Aufruhr zu erregen, sondern einem allgemeinen Konzil seine Freiheit zu erfechten.«

Der Konzilsgedanke hat eine neue Dimension und eine neue Dringlichkeit gewonnen. Nachdem Papst Franziskus 2015 eine an die ganze Menschheit gerichtete Umweltenzyklika verfaßt und veröffentlicht hat, ist es an der Zeit, sich gemeinsam darauf zu besinnen, was das für Christen in der Welt heute Wesentliche sei.

Zum Wesentlichen kann der Ökumenische Konzilsgedanke gehören. Er geht zurück auf Dietrich Bonhoeffers Vision, die Christenheit solle mit einer Stimme sprechen, die er 1934 auf einer Ökumenischen Konferenz in Fanø darlegte: »Nur das Eine große ökumenische Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, daß die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muß und daß die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.«1 Diese Rede wurde in den 1980er Jahren zu einer inspirierenden Basisschrift für die block- und konfessionsübergreifende Friedensbewegung. 1983 wurde die Idee von der Weltkirchenkonferenz des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver aufgegriffen. Zum Jahr 1983 mit einer weltweiten Friedensbewegung angesichts einer neuen atomaren Weltbedrohung gehörte auch das Signal aus Assisi: der damalige Papst Johannes Paul II. hatte zu einem Friedensgebet Vertreter aller Weltreligionen eingeladen. Der »Konziliare Prozeß gegenseitiger Verpflichtung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« wurde durch Tagungen, viele Initiativen und Projekte fortgesetzt. Das insbesondere von dem Konzilstheologen beim II. Vatikanum Hans Küng angeregte Parlament der Weltreligionen verabschiedete am 4. September 1993 in Chicago die Erklärung zum Weltethos. Damit verständigten sich erstmals Repräsentanten aller Weltreligionen auf Kernelemente eines gemeinsamen Ethos wie das Prinzip Menschlichkeit, die »Goldene Regel«: »Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun, das tut ihnen auch« (Matthäus 7,12), und die »vier unverrückbaren Weisungen«: Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit sowie Partnerschaft und Gleichberechtigung von Mann und Frau.

1995 gründete Küng die »Stiftung Weltethos. Für interkulturelle und interreligiöse Forschung, Bildung und Begegnung«. Ihre Aufgabe ist noch längst nicht eingelöst. Sie ist vielmehr dringlicher denn je, sowie man die heutige friedensstiftende bzw. die konfliktbefördernde Rolle von Religionen besieht. Die Stimme der Christenheit wie die der anderen Weltreligionen muß in ihrer mit Mut und Geduld friedensstiftenden Dimension wieder erkennbarer werden. Luther sprach davon, daß Christen immer zum Frieden helfen und raten sollten. Er hatte als Kriterium für die Auslegung der Heiligen Schrift (des Alten und des Neuen Testaments) mit ihren gewalt- und auch haßstiftenden Passagen angegeben: »Was Christum treibet.« Also das gilt, was zu ihm paßt. Und nur das.

Es ist Zeit, nicht nur ein Apfelbäumchen der Hoffnung zu pflanzen, sondern sich um unsere Schöpfungsgrundlagen zu kümmern – auch um das Wachsen der Bäume, um den Schutz der Urwälder und um das menschenverursachte Wachsen der Wüsten weltweit.

Den Hals hinhalten