Heinichen, Veit Die Zeitungsfrau

PIPER

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Dies ist ein Roman, er erhebt keinen Anspruch auf Wahrheit, doch kommt er zu Schlüssen, die so stattgefunden haben könnten. Personen und Orte entspringen der Fantasie des Autors. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind unbeabsichtigt, rein zufällig und entbehren jeglichen realen Zusammenhangs.

Walter hingegen ist real, seine Gran Malabar gilt als Laurentis zweites Büro.

 

ISBN 978-3-492-97487-5

August 2016

© Veit Heinichen und Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: Zero Werbegantur, München

Covermotiv: FinePic, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Ever tried. Ever failed. No matter.

Try again. Fail again. Fail better.

Samuel Beckett

 

Mit Erleichterung, mit Schrecken verstand er,

dass auch er eine Illusion war,

dass eine andere Person von ihm träumte.

Jorge Luis Borges

Gute Reise

Mild spiegelte sich die Beleuchtung der Uferstraße auf dem glatten Meer. An den Anlegern in der Sacchetta warteten Hunderte Segeljachten und Motorboote darauf, mit dem Frühjahr aus der Winterruhe geführt zu werden. Nur vereinzelt vernahm der Maresciallo mit der Uniform der Guardia di Finanza, der sich auf dem Molo Fratelli Bandiera hinter einem Müllcontainer verbarg, das melodische Klingeln und Klappern der Wanten und Stege, wenn eine Brise übers Wasser hauchte. Mit weit geöffneten Augen folgte er in der Dunkelheit des neuen Monds und der matten Kaibeleuchtung den flinken Bewegungen eines schlanken Mannes, der keine hundert Meter weiter aus einem BMW Touring gestiegen war, dessen Tür er leise ins Schloss drückte, und dann die Absperrung eines Stegs überwand.

Mit einem katzenhaften Sprung landete der akrobatische Kerl an Bord einer enormen Motorjacht, wo er sich sogleich an der Tür zur Kabine zu schaffen machte. Metallisches Kratzen drang herüber. Der Klang eines schweren Vorhängeschlosses, das auf das Deck aus Edelholz fiel, zerriss wie ein Hammerschlag die Stille der Nacht, dem das Geräusch einer Schiebetür folgte, die bis zum Anschlag geöffnet wurde.

Ein greller Blitz zerriss die Dunkelheit, meterhohe Stichflammen jagten zeitgleich mit der Druckwelle der Explosion empor und setzten auch die beiden Segelboote neben der Jacht in Brand. Trümmer fielen in weitem Umkreis herab. Der Maresciallo taumelte ein paar Schritte zurück und fand an einer grauen Hauswand Halt, deren von salzigen Meerwinden mitgenommener Putz unter seinen Händen abbröckelte. Er klopfte sich eilig den Staub von der Uniformjacke, stieg in seinen ginstergelben Lancia Delta in Rallyeausstattung und hielt neben dem Fahrzeug des Einbrechers, aus dessen Kofferraum er drei flache Kartons zog, die er gerade noch mit seinen gespreizten Armen zu umfassen vermochte. Er überprüfte die Aufschriften und hievte sie eilig auf den Rücksitz seines Wagens, den er sogleich wendete und wieder die Mole entlangfuhr, um wenige Meter weiter in den Hof der Guardia di Finanza einzubiegen, aus der bereits die Kollegen der Nachtschicht gelaufen kamen und zum Ort der Explosion hinüberschauten.

»Haben Sie das gesehen, Maresciallo?«, rief ein aufgeregter junger Brigadiere und fuchtelte mit dem ausgestreckten Arm, als hätte er sich verbrannt.

»Alles habe ich gesehen, von Anfang an. Es war Diego Colombo. Er ist in die Jacht eingebrochen. Ich wollte euch gerade rufen, um ihn endlich einzulochen, als die Bombe hochging. Diesmal hat er ganz offensichtlich einen Fehler gemacht. Seinen letzten. Früher oder später passiert das jedem. Es war auf die Sekunde 4 Uhr 44. Montag der 14. April 1991, um 4 Uhr 44.«

Er wiederholte noch einmal Datum und Uhrzeit, als wollte er sie dem jungen Beamten einbläuen, doch das Sirenengeheul der herbeirasenden Feuerwehrautos und Streifenwagen der Polizia di Stato und der Guardia Costiera überlagerte seine Stimme.

»Nach dem Schreck brauche ich eine Zigarette. Hast du eine, Brigadiere?«

»Aber dann ist das unser Fall, Maresciallo.« Der Kollege reichte ihm aufgeregt die Packung und das Feuerzeug. »Worauf warten Sie?«

»Lass das die anderen erledigen. Schau, wie eilig sie es haben. Die Ersten von ihnen laufen schon hinüber. Ich war doch erst auf dem Weg zum Dienst. Ich sage als Zeuge aus. Falscher Ehrgeiz lenkt nur von der eigenen Arbeit ab. Merk dir das. Wir haben schon genug zu tun mit Steuersündern, illegaler Devisenausfuhr und Geldwäsche.« Er tat ein paar tiefe Züge, dann stampfte er mit dem Stiefel auf den Asphalt. »Mit Colombos Tod ist wenigstens Schluss mit den Raubzügen und seinen Bombenanschlägen in der Stadt. Eine wahre Befreiung.«

»Sind Sie sicher, dass er tot ist, Maresciallo?«

»Er hat ein großes Paket hineingeschleppt.« Er spreizte beide Arme. »Wenn du die Detonation so wie ich gesehen hättest, würdest du nicht so dämlich fragen. Von dem blieb höchstens Frikassee übrig, und das werden die Fische fressen, noch bevor die Kriminaltechniker etwas aus dem Wasser ziehen können.«

»War er denn drinnen?«

»Ja. Da ist er nicht mehr rausgekommen.«

Das Heck der Jacht versank immer tiefer, während sein Bug mit der Vertäuung bedrohlich am Steg zerrte. Vom Kabinenaufbau war lediglich ein metallener Stumpf übrig geblieben. Dampfwolken stiegen auf. Oder war es der Rauch von einem Feuer unter Deck? Die Polizisten auf dem Steg wichen zurück, um den Feuerwehrleuten Platz zu machen, die ihre Wasserkanonen auf die in Flammen stehenden Schiffe neben dem Wrack richteten. Trotz der frühen Stunde standen bereits Schaulustige an der Uferstraße.

»Brigadiere, ich hoffe nur, dass mein Wagen nichts abbekommen hat.«

»Solch einen würde ich auch gerne fahren, Maresciallo.«

»Dann musst du sparen. Du bist grad halb so alt wie ich.« Der Rallye-Lancia kostete mehr als drei seiner Jahresgehälter, doch niemand fragte danach, wie er ihn bezahlt hatte.

»Wie viele Exemplare wurden davon gebaut?«

»In Ginstergelb nur 220.« Der Marescallio trat die Kippe aus. »Den Staub allein kann man abwaschen. Kümmere dich darum, aber mach keine Kratzer in den Lack. Ich will, dass er wie immer glänzt, sobald es hell wird. Und sag mir dann Bescheid, ob der Wagen mehr abbekommen hat. Ich spendier dir später einen Kaffee.«

Der junge Beamte salutierte beflissen und machte sich an die Arbeit, während Maresciallo La Rosa sich am Empfang der Dienststelle in die Anwesenheitsliste eintrug.

 

Die Nachricht von der Explosion im Sporthafen verbreitete sich wie ein Lauffeuer und erreichte Teresa Fonda, kurz nachdem sie ihren kleinen Zeitungsladen an der Piazza San Giovanni geöffnet hatte und die ersten Kunden bediente. Vor wenigen Monaten hatte sie das neun Quadratmeter große Geschäft gegen eine erhebliche Abstandszahlung übernommen, für die Diego Colombo aufgekommen war. Sie waren ein Paar seit Teresas achtzehntem Geburtstag, und sie kannte den acht Jahre älteren, in Argentinien aufgewachsenen Cousin zweiten Grades, seit sie vierzehn war und er in Triest Unterschlupf bei den Verwandten gesucht hatte. In den Falklandkrieg hätte er damals ziehen sollen, stattdessen war er mit einer gestohlenen Jacht aus dem Hafen von Mar del Plata geflohen und hatte es über Brasilien mit dem Boot bis nach Europa geschafft. Rasch fasste er Fuß in der fremden Stadt und hatte sich als Skipper auf den Segeljachten reicher Leute verdingt oder für einen Finanzpolizisten Jobs erledigt, über die er selbst auf die Fragen Teresas schwieg. Erst kurz vor ihrer Hochzeit letztes Jahr hatte Diego sie eingeweiht.

Dank der stets guten Laune der 1,85 Meter großen jungen Frau mit dem schulterlangen dunklen Haar und den üppigen Formen, die sie nicht versteckte, schnellte der Umsatz der Bude an der belebten Piazza rasch empor. In vier Monaten erwartete sie ihr erstes Kind, was ihr noch mehr Energie zu verschaffen schien. Aber als sie das Gesicht des Inspektors sah, der mit einem Kollegen darauf wartete, dass sie alleine im Laden war, verflog ihr strahlendes Lächeln.

»Teresa Fonda?«, fragte der Polizist, der Jeans, T-Shirt und eine Lederjacke trug und seine Dienstmarke zückte.

Teresa schätzte ihn auf Mitte dreißig. Trotz seines Ernstes prägte ihn ein sympathischer Gesichtsausdruck. Blaue Augen, südlicher Teint, leicht welliges, schwarzes Haar. Sie nickte.

»Und wer sind Sie?«

»Ispettore Laurenti, Questura di Trieste. Wo ist Diego Colombo?«

Sein noch jüngerer, blässlicher und schlecht rasierter Kollege starrte wie gebannt auf das tiefe Dekolleté der Ladenbesitzerin.

»Im Urlaub, weshalb?«

Sie zupfte an ihrem leichten zitronengelben Pullover. Der jüngere Polizist errötete.

»Wann kommt er zurück?«

»Weshalb wollen Sie das wissen?«

Der Inspektor hob eine versiegelte Plastikhülle mit einem durchnässten Dokument empor. »Sein Personalausweis schwamm im Sporthafen in der Sacchetta zwischen den Trümmern einer Motorjacht, die mit Sprengstoff in die Luft gejagt wurde.«

Teresas Blick verfinsterte sich, als sie das Passbild erblickte. Rasch sperrte sie vor dem nächsten Kunden die Ladentür ab. »Diego kommt heute aus den Bergen zurück. Er war ein paar Tage im Urlaub.«

»Kann man ihn dort telefonisch erreichen?«

Laurentis Blick war streng. Teresa Fonda biss sich auf die Lippen und schüttelte stumm den Kopf.

»Wohin ist er gefahren? Wir werden die Kollegen bitten, ihn ausfindig zu machen.«

»In die Berge, hat er gesagt. Er nannte keine Adresse. Diego ist schon seit Jahren sauber, Ispettore, dass er ein halbes Jahr im Knast saß, war eine Intrige von diesem Maresciallo von der Guardia di Finanza. Eine üble Falle, doch das Wort eines Uniformierten zählte wie üblich mehr als das eines normalen Bürgers. Weshalb suchen Sie ihn?«

Der Jungspund an der Seite des Inspektors plusterte sich plötzlich auf, als wollte er sich für den süßen Traum rächen, den Teresas Dekolleté bei ihm ausgelöst hatte. Seine Stimme klang rechthaberisch wie das Bellen eines Zwerghundes.

»Ich hoffe, er hat eine gute Reise. Hätte das Dokument länger im Wasser gelegen, wäre es auf den Grund gesunken. Gehen Sie vom Schlimmsten aus, Signorina.«

»Signora, bitte.« Sie schenkte dem Kläffer keinen Blick und wandte sich nur an den Inspektor. »Wie kann ich Sie erreichen?«

Laurenti zog eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie und schrieb die Nummer seines ersten Mobiltelefons auf die Rückseite, das er seit einer Woche besaß. Ein klotziges Gerät mit einer langen Antenne. »Rufen Sie mich bitte an, sobald er sich meldet.«

Sie schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln und starrte noch immer auf den Schriftzug, als die beiden Polizisten schon auf der Straße waren. Teresa Fonda sah, wie sie die Piazza San Giovanni überquerten und an der Gran Malabar haltmachten, um einen Kaffee zu trinken. Kaum hatte sie den Kunden, die vor ihrem Laden warteten, fast wortlos Zeitungen, Zigaretten und das Wechselgeld ausgehändigt, drehte sie das Schild mit den Öffnungszeiten um, auf dessen Rückseite »Torno subito« zu lesen stand. Zweimal drehte sie den Schlüssel um und eilte zum Taxistand, wo sie den Fahrer anwies, sie zur Sacchetta zu chauffieren.

Diego Colombo, der zukünftige Vater ihres ersten Kindes, war bereits gestern von einer Reise in die Schweiz mit seinem Wagen zurückgekommen und hatte gesagt, er müsse noch einen letzten Auftrag für Maresciallo La Rosa von der Guardia di Finanza erledigen. Danach sei er ihn endgültig los.

Von Weitem schon sah Teresa die Fahrzeuge von Polizei und Feuerwehr, ein riesiger Kranwagen fuhr soeben die hydraulischen Stützen aus, die Köpfe von Tauchern ragten aus dem Wasser, die sich mit Handzeichen verständigten. Der Verkehr der morgendlichen Rushhour musste sich auf einer Fahrspur vorbeiquetschen, das Taxi kam nur schrittweise voran. Der Fahrer schimpfte, als sie ihm den Betrag in die Hand drückte, den der Taxameter gerade anzeigte, und lange vor dem Ziel ausstieg. Zu Fuß war sie deutlich schneller. Sie ließ das Hafenbecken keine Sekunde aus den Augen, erst als sie auf der gegenüberliegenden Landzunge am Molo Fratelli Bandiera vor dem Gebäude der Sektion der Finanzpolizei stand, wendete sie sich um und fragte am Empfang nach Maresciallo Lino La Rosa.

»Du hast ihn umgebracht, du Schwein«, brüllte sie schrill, kaum dass der Uniformierte nach einer langen Viertelstunde endlich auf sie zukam. Er hatte Teresa Fonda am Empfang schmoren lassen, wo sie nervös auf und ab gegangen war. Ein falsches Lächeln zeichnete seine Züge, die Hände steckten in den Hosentaschen.

»Das war kein Unfall, Lino. Das war Mord. Du hast das eingefädelt, weil du wusstest, dass du nichts mehr gegen Diego in der Hand hattest, und Angst bekamst, dass er dich hochgehen lässt. Du hast uns lange genug ausgepresst, dein Spiel ist aus.«

Teresas zeternde Stimme hallte durch den ganzen Flur, die Kollegen des Maresciallos schauten neugierig aus ihren Büros.

»Ah, hat man ihn also gefunden? Das ging ja schnell. Reg dich ab, ich habe nur die Explosion des Schiffes gesehen, als ich zum Dienst fuhr. Es war noch dunkel, aber die Gestalt, die sich dort zu schaffen machte, war eindeutig Diego. Um 4 Uhr 44 genau, heute am 14. April 1991. Das habe ich als Zeuge zu Protokoll gegeben. Dass sein Ausweis aufgetaucht ist, hörte ich auch erst vor Kurzem.«

»Du warst gestern mit ihm verabredet, du Dreckschwein.«

»Du hast eine blühende Fantasie, Mädchen. Liegt wohl an der Schwangerschaft.«

»Wo sind die Bilder? Ein Mantegna, eines von Daniele Crespi und La Maddalena von Tintoretto, die er aus der Schweiz holte. Sie gehören ihm.«

»Kunst interessiert mich einen feuchten Dreck, mir gefällt das richtige Leben. Du spinnst, Mädchen. Ich habe den Verbrecher seit Monaten nicht gesehen. Gott sei Dank. Such dir bessere Gesellschaft. Und verschwinde von hier, bevor ich dich wegen Beleidigung einer Amtsperson und Rufschädigung anzeige und verhaften lasse. Dann kommt die Brut dieses Teufels im Gefängnis zur Welt. Raus hier, und zwar sofort.«

Zwei weitere Uniformierte bauten sich hinter ihm auf. Teresa wich keinen Millimeter vom Fleck und fixierte ihn mit loderndem Blick, der andere in Angst und Schrecken versetzt hätte.

»Du wirst dich noch wundern«, zischte die aufgebrachte junge Frau.

La Rosa drehte sich wortlos ab und entfernte sich im langen Flur. Als er die Tür seines Büros öffnete, wagte er einen Blick zurück. Teresa Fonda war verschwunden. Er ging sofort zum Fenster und versuchte sie vergebens unter den Schaulustigen am Ufer auszumachen. An seinem Schreibtisch hielt er den Vorfall mit Datum und Uhrzeit und Teresas Wortlaut fest, brachte das Blatt dann dem Beamten am Empfang, der es als Zeuge unterschrieb. Man wusste nie.

Wütend und voller verzweifelter Sorge ging Teresa Fonda die Mole entlang und blickte immer wieder zum Anleger hinüber, an der die Taucher die Taue festgemacht hatten, mit denen ein riesiger Kran der Feuerwehr das Wrack bergen sollte. Am gegenüberliegenden Ufer standen noch mehr Gaffer, ein Pressefotograf hatte sich vorgedrängt, und der Kameramann des Regionalfernsehens hatte sein Stativ aufgebaut. Die Sportskanonen der anliegenden Ruderklubs mussten auf ihr heutiges Training verzichten, ein Schiff der Küstenwache blockierte die Hafeneinfahrt, solange die Untersuchungen und die Bergung andauerten.

Erst als Teresa die Bucht zur Hälfte umgangen hatte, schrak sie auf. Der Liegeplatz der Esperanza war leer. Wo zum Teufel war das alte, zwölf Meter lange Segelboot geblieben, mit dem Diego Colombo einst aus Argentinien geflohen war? Er hatte es wie seinen Augapfel gehütet. Teresa biss sich auf die Unterlippe – hatte Maresciallo La Rosa sich vielleicht getäuscht?

Geschäfte bis zum Ende

»Du schuldest mir 36 000 Euro Provision! Ich habe dir im letzten Monat sieben Leichen geschickt und in dem zuvor fünf. Ich kenne die Kalkulation. Du verdienst gut genug, und du kennst die Konsequenzen. Das Spiel ist aus.«

Die fahrige, gedrungene Handschrift Darias war unverkennbar. Früher hatte Corrado Giuliani unzählige Liebesbekundungen aus ihrer Hand erhalten, doch seit sich das Blatt gewendet hatte, ließ sie ihn nicht mehr aus dem eisernen Griff entkommen und presste ihn aus. Der 45-jährige Bestattungsunternehmer atmete tief durch, faltete ungeschickt das Papier zusammen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, gegen den die Klimaanlage machtlos war, es lag nicht an der ungewöhnlichen Wärme des Septembertags. Corrado Giuliani bebte vor Angst, und seine ohnehin helle Haut war jetzt fast so weiß wie Wandfarbe, als er zu den beiden Typen aufsah, die sich vor ihm aufgebaut hatten.

Seit einer Stunde parkte der klapprige und zerbeulte Lieferwagen vor dem Bestattungsinstitut Pace Eterna am Campo San Giacomo. Die beiden Kerle im Führerhaus hatten unablässig durchs Fenster zu ihm ins Büro im Erdgeschoss des schmucklosen Gebäudes hereingeschaut, wenn sie nicht gerade mit ihren Smartphones spielten. Giuliani war es schwergefallen, sich so lange auf das bedrückte Ehepaar zu konzentrieren, das vor ihm saß und die Beerdigung ihres soeben verblichenen Anverwandten zu regeln hoffte. Unkonzentriert musste er immer wieder nach den Wünschen fragen, die sie bereits genannt hatten, und dann verrechnete er sich auch noch beim Preis und musste die Liste noch einmal kontrollieren. Und als es um die Bezahlung ging, verhaspelte er sich gleich wieder, weshalb die beiden einen langen stummen Blick austauschten, den Vertrag aber dann doch unterzeichneten.

Nur einmal waren die zwei Männer eine Viertelstunde lang in der Spielautomatenbar schräg gegenüber verschwunden. Dann standen sie plötzlich vor ihm, mussten eingetreten sein, als seine letzten Kunden an diesem Tag das Institut verließen. Beide in schmutzigen Bluejeans und T-Shirts, die über ihren tätowierten Oberarmen spannten.

Der eine hielt ihm grob den Zettel vor die Nase, während der Dünnere und Nervösere der beiden sich sogleich an den Schränken und Vitrinen mit den Mustern zu schaffen machte, Stoffe herausnahm, Kruzifixe und Trauerkarten zu Boden fallen ließ, Holzstücke in den Farben der bestellbaren Särge ins Licht hielt, schließlich die Urnen in jeder Form, Material und Größe begutachtete. Nachdem er erst lange mit dem Schlüsselbund auf diesen herumgeklimpert hatte, knallte er demonstrativ eine auf den Schreibtisch.

»Du kannst uns deine Wünsche gleich mitteilen, wenn du nicht bezahlst.« Seine sizilianische Herkunft war nicht zu überhören. »Wir werden sie berücksichtigen, soweit uns dies möglich ist, wenn wir dich in einem Wald verscharren. Du hast die Wahl zwischen den Wurzeln von Eichen, Kastanien oder Pinien.«

»Oder ziehst du einen Stein an den Beinen vor, mit dem wir dich ins Meer werfen? Seebestattungen sind schwer in Mode gekommen.« Der Akzent klang nach Balkan, der Mann setzte sich vor Giuliani auf den Schreibtisch und scherte sich nicht darum, dass er den soeben abgeschlossenen Bestattungsvertrag zerknitterte. »Für eine Einäscherung garantieren wir dir einen Sonderplatz in der städtischen Müllverbrennung.«

»Du weißt, dass die Chefin zornig ist, weil du ihr ihren Anteil an deinem jämmerlichen Geschäft schuldest«, übernahm der Dünne nahtlos das Wort. »Wir beide aber sind stinkwütend auf dich. Auch wir bekommen unsere Kohle erst, wenn du ihren Anteil zahlst. Und wir warten nun schon zwei Monate.«

Der Sizilianer öffnete eine weitere Schranktür und warf den erstbesten Stapel Unterlagen zu Boden.

»Sie bekommt das Geld schon.« Giulianis blaues Hemd zeigte dunkle Schweißflecken. Seine Stimme war gepresst, der Blick starr. »Ich habe Daria erklärt, dass ich einige Investitionen tätigen musste, damit die Geschäfte weiterlaufen. Fragt sie gefälligst, bevor ihr hier noch weiteren Schaden anrichtet.«

»Vergiss es, Aasgeier. Die Chefin sagt, was Sache ist. Und auch du tust besser, was sie will, weil wir uns sonst selbst bedienen. Wo ist der Tresor?« Der Akzent aus dem Osten war so hart wie der Blick des Mannes.

»Habe ich nicht, schaut euch um. Die Leute bezahlen per Überweisung.«

»Nur den kleinen Teil, die Fünfzehnhundert, die sie von der Steuer absetzen können. Den Rest kassierst du schwarz.« Toni ließ ein Messer aufspringen und putzte sich mit der blitzenden Klinge demonstrativ die Nägel. »Rück die Kohle raus.«

»Ich habe kein Geld hier. Kommt morgen wieder. Zur gleichen Zeit.«

»Du hast gar nichts zu befehlen, du sollst blechen. Jetzt.«

Corrado Giuliani zuckte vor Schreck zusammen, als das Stilett schlagartig vor ihm auf der Tischplatte einschlug und ausfederte. Doch bevor er danach greifen konnte, hielt es bereits der Mann vom Balkan in der Hand und setzte ihm die Klinge an die Kehle. Im selben Moment zog er die Brieftasche des Bestatters aus dessen Jackett und entnahm das Bargeld.

»Was? Nur dreihundert Euro trägst du mit dir? Und wie bezahlst du deine Lieferanten? Ihr arbeitet doch alle schwarz. Und niemand kontrolliert euch.«

»Führ dich nicht auf wie ein Heiliger«, trotzte Giuliani. »Du hast mit Sicherheit noch nie eine Steuererklärung abgegeben. Kommt morgen wieder, habe ich gesagt.«

Sein Blick folgte sogleich dem Klirren einiger Urnen, die Toni am Boden zerschmetterte. Eine aus Gusseisen kullerte übers Parkett, dann fiel ihr Deckel ab und gab ein Bündel zusammengerollter Scheine frei. Der Sizilianer grinste breit, hob es auf und zählte durch.

»Wenigstens eine Anzahlung. Das sind 10 000.«

»Es sind 15 000. Spinnst du?«, krächzte Giuliani aufgebracht.

»Verzugszinsen und Fahrtkosten, Aasgeier. Mal sehen, was sich in den anderen befindet.«

»Sie sind alle leer«, rief Giuliani panisch und konnte dennoch nicht verhindern, dass die ganze Kollektion auf dem Boden landete.

Alabaster, Terrakotta, Kristallglas splitterten in feinste Scherben, nur die Urnen aus Gusseisen und Marmor hielten stand. Geld fand sich keines mehr.

»Du hast Zeit bis morgen Vormittag um neun, Aasgeier.«

Dardan klappte das Messer zu und warf es in Tonis Richtung, der es mit der linken Hand auffing und es gelassen mit den Banknoten einsteckte.

»Eine Quittung können wir dir leider keine ausstellen«, feixte der Sizilianer.

Corrado Giuliani saß zusammengesunken in seinem Bürostuhl und starrte ihnen stumm nach. Als er kurz darauf aus dem Fenster schaute, sah er, wie Toni ihm aus dem Führerhaus des Lieferwagens fröhlich zuwinkte.

Er griff zum Telefon und wählte die Nummer des Altenheimes Golden Age Residenz. Er wusste, dass dies die einzige Möglichkeit war, Daria zu erreichen, denn wenn sie seine Nummer auf dem Mobiltelefon erkannte, würde sie gewiss nicht antworten. Eine der Altenpflegerinnen nahm nach langem Klingeln ab und stellte ihn ins Büro durch, nachdem er sich unter falschem Namen nach einem Pflegeplatz für seine Mutter erkundigt hatte, die in Wirklichkeit schon vor zwei Jahren verblichen war. Noch immer erschauderte er, als er den gutturalen Klang von Daria Bonos Stimme vernahm, die sich in geschäftsmäßiger Freundlichkeit meldete.

»Ich habe ihnen 15 000 gegeben, Daria«, platzte der Bestatter sofort los. »Sie werden behaupten, dass es nur zehntausend Euro gewesen wären, und den Rest selbst einstreichen.«

»Das ist nicht mein Problem. Du bist ein elender Betrüger, Corrado. Du warst es, als du mich gevögelt und mir eine rosige Zukunft ausgemalt hast, bis ich nach Jahren entdecken musste, dass du verheiratet bist und zwei Kinder hast. Und jetzt traust du dich tatsächlich, mich noch einmal hinzuhalten. Vergiss es.«

»Du hast dich dabei nicht gerade zurückgehalten, du konntest ja nicht genug kriegen von mir und meinem Schwanz.«

Sein Blick fiel auf eine goldglänzende Ikone; die Grababnahme Christi war der einzige Wandschmuck in seinem Büro. Ein Geschenk von Daria, als sie noch über beide Ohren in ihn verliebt war und sie große Pläne schmiedete. Sie stammte aus dem Nachlass eines verstorbenen Bewohners der Golden Age Residenz.

»Du bist ein Schwein, wie alle Männer. Das vergesse ich nicht. Wir haben längst eine geschäftliche Übereinkunft, und wenn du deinen Teil nicht erfüllst oder zu dumm bist, deine Schulden richtig zu begleichen, dann ist das dein Problem. Außerdem bist du mit deutlich mehr im Rückstand. Keiner hat mich je so lange hingehalten.«

»Aber, Daria, ich habe dir doch gesagt, dass ich investieren musste …«

»Deine Probleme interessieren mich nicht. Wann bezahlst du den Rest?«

»Sobald ich kann, Daria. Hab ein bisschen Geduld.«

»Geduld hatte ich mehr als genug mit dir. Du bist seit Juli im Rückstand, der September kommt noch dazu. Ich will das Geld jetzt. Wenn du nicht bezahlst, kommen die beiden wieder und schneiden es dir aus den Rippen. Hast du das verstanden?«

»Aber, Daria, es ist nicht so einfach, wie du …«

»Wenn du willst, dann treffe ich mich gerne auch mit deiner Frau, Corrado. Sie wird dich auf die Straße setzen, das garantiere ich, wenn sie von deinen Schweinereien erfährt. Nicht nur mich hast du über Jahre betrogen, vergiss das nicht. Du hast das Bestattungsinstitut von ihrem Vater übernommen. Es gehört noch immer ihr, auch wenn du jeden Monat eine Menge Geld an ihr vorbeischleust.«

»Vergiss nicht, dass ich ein paar Dinge weiß, über die sich die Polizei freuen würde. Deine Ikone an meiner Wand, die du mir so hingebungsvoll vermacht hast, hat dich keinen Cent gekostet, weil deine Handlanger sie gestohlen haben.«

»Beweise es, du Idiot. Du kannst es von mir aus drauf ankommen lassen.« Daria war nicht einzuschüchtern. »Heute ist der 22. September 2015. Morgen will ich das Geld, sonst …«

»Beruhige dich, das habe ich doch schon deinen beiden Eintreibern versprochen. Sorg dafür, dass sie nichts unterschlagen. Du kannst mich nicht ewig ausquetschen.«

Giuliani vernahm nur noch das Tuten in der Leitung. Er wählte sogleich die Nummer der Wohnung im letzten Stock des Gebäudes und behauptete mit falscher Fröhlichkeit, dass er an diesem Tag erst später nach Hause komme. Er habe die Chance, gemeinsam mit Kollegen eine neue Kollektion preisgünstiger Urnen zu erstehen.

Der Bestatter schloss sein Institut an diesem Tag bereits am Nachmittag, rangierte den silbergrauen Mercedes-Leichenwagen aus dem Innenhof und wählte den schnellsten Weg aus der Stadt hinaus, um zwanzig Minuten später am italienisch-slowenischen Grenzübergang Fernetti Ausblick nach Patrouillen zu halten, die den Verkehr von und nach Osteuropa kontrollierten. Täglich kam es hier zu Festnahmen von Gesuchten, die Italien nach verübter Tat verlassen wollten, und zur Beschlagnahme von Diebesgut, das so rasch wie möglich auf den Balkan gebracht werden sollte. In der Gegenrichtung ging es um Flüchtlinge aus dem Nahen Osten oder Afghanistan, Drogen und Waffen.

Corrado Giuliani stellte beruhigt fest, dass im Moment kein besonderes Aufkommen an Polizeibeamten oder Zöllnern den Verkehr unter die Lupe nahm, und fuhr direkt ins nächstgelegene Einkaufszentrum der benachbarten Kleinstadt Sežana. Im Seitengebäude eines Supermarkts befand sich die slowenische Bankfiliale, bei der er noch immer seine unversteuerten Bareinnahmen deponierte, obgleich er diese wegen des kommenden internationalen automatischen Datenaustauschs längst aufgelöst haben müsste. Nicht einmal mehr in einer Urne ließen sie sich verstecken, wie er am Nachmittag lernen musste. Abertausende Bewohner von Grenzstädten in Europa traf das gleiche Problem. Sie waren sich so wenig wie er darüber im Klaren, dass Bares wieder nur unter dem Kopfkissen vor dem Fiskus sicher war.

Giuliani hob 50 000 Euro ab, die er in zwei Briefumschlägen in die Innentaschen seines Jacketts steckte, bevor er die Bank verließ. Er durchquerte den angrenzenden Supermarkt, ohne Einkäufe zu tätigen. Als er sicher war, dass ihm niemand folgte, setzte er sich in seinen Wagen, steckte fünfhundert Euro in seine Brieftasche und versteckte die beiden Umschläge daraufhin unter dem Fahrersitz. Einen Leichenwagen würden auch nervenstarke Diebe kaum anrühren, solange der Parkplatz mit genügend anderen Fahrzeugen voll stand.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Mercedes verschlossen war, ging er zu dem Gebäude zurück und wählte den Eingang zu einem Etablissement namens Paradiso, das er stets in jeglichen Belangen der Körperpflege und Entspannung aufsuchte: vom Haarschnitt bis zum Beischlaf mit einer kaum seiner Sprache kundigen, blutjungen Osteuropäerin aus der Gruppe der Mädchen im Foyer.

Bei Eintritt der Dunkelheit fuhr er zurück nach Triest und genehmigte sich noch einen Aperitif in einer Bar im Zentrum, bevor er den Rest des Abends als biederer Familienvater mit seiner Frau vor dem Fernseher verbrachte. Die Kinder tobten noch mit ihren Freunden auf dem Campo San Giacomo, dem großen Vorplatz der Kirche.

Die Zeitungsfrau

Teresa Fonda spielte ihre Klaviatur meisterhaft: Zeitschriften und Zeitungen, Schreib- und Papierwaren, Zigaretten und Feuerzeuge, die neben Lotterielosen das große weiße T auf dunklem Grund an der Fassade rechtfertigten, das von weithin auf ihren Laden aufmerksam machte. Auch kleinere Steuern und Strafzettel konnte man bei Tessie begleichen. Mehr als die Ware aber bestachen ihr breites Lächeln und ihre kecke Art, sich zu kleiden, deren leuchtende Farben von Tag zu Tag wechselten. Sie musste einen Kleiderschrank in der Größe eines Warenhauses haben; zumindest wusste sie zu variieren. Teresa war voller Überraschungen. Presse und Tabak bekam man auch anderswo, nicht aber ihre Fröhlichkeit und Sinnlichkeit, die Männerfantasien schweifen ließen und sie den kritischen Blicken und weniger wohlgesinnten Bemerkungen ihrer weiblichen Kundschaft aussetzten.

Die Zeitungsfrau wohnte nur fünf Bushaltestellen entfernt am Fuß eines ärmeren Stadtviertels am oberen Teil der Via Giulia, das wegen der engen Bauweise und der einstmals verwunschenen Gärtchen im Volksmund »Piccola Parigi« genannt wurde. Manche behaupteten, Napoleon habe hier einst vor der Eroberung Triests übernachtet, doch vermutlich hofften die Bewohner, ihre simplen Häuschen erinnerten an den Montmartre zu jener Zeit, als die Impressionisten dort ihre Staffeleien aufstellten, auch wenn in der Nähe weder Türme noch Kuppeln einer erhabenen Kirche emporragten und die überwiegend verwahrlosten Anwesen kaum Ansätze zeigten, wieder herausgeputzt zu werden. Dafür zeichneten Graffitis sorgloser Hände die Wände sowie dilettantische Plakate, die zum Protest gegen jedes Übel der Welt aufriefen.

Nur Teresa Fondas Garten war akkurat gepflegt und von einer dichten, penibel beschnittenen Hecke umsäumt, während die angrenzenden Grundstücke voller Unrat waren. Ihre geometrisch angelegten, üppig tragenden Gemüsebeete waren abgeerntet, der Feigenbaum und die Rebstöcke trugen reife Früchte, die Fassade ihres zweistöckigen Häuschens war tadellos verputzt und malvenfarben gestrichen, die Fenster, das sah man auf den ersten Blick, ließen keine Böen der Bora hindurch.

Wie immer war Teresa um 5 Uhr 50 in den Bus der Linie 6 eingestiegen und wenig später in der fünfspurigen Via Carducci wieder auf die Straße getreten, die sie sonst unbekümmert überquerte, weil noch wenige Autos unterwegs waren. Doch seit diese eigenartigen Hinterlassenschaften bei ihr zu Hause und am Laden auftauchten, schaute sie sich immer wieder um. Und an diesem Morgen hatte sie sich über das ungewohnte Sirenengeheul und die vielen Blaulichter gewundert, die in beiden Richtungen vorbeirasten. Kurz darauf schob sie den blechernen Rollladen vor dem Laden mit kreischendem Lärm nach oben, was manche Anwohner täglich verärgerte, anderen wiederum als zuverlässiger Wecker diente.

Sie schleppte die Pakete mit den Zeitungen in den Laden, ihr Blick fiel auf ein Blatt Papier, das zwischen ihnen steckte. Eine schlechte Schwarz-Weiß-Kopie eines Gemäldes von Giorgio Morandi. Sie starrte sie kurz an, biss sich auf die Unterlippe, schrieb das Datum darauf und legte sie zu den Lieferscheinen auf den Tresen. Wie jeden Morgen schnitt Teresa die Zeitungsstapel auf und entnahm einige Exemplare, klemmte sie sich unter den Arm und überquerte damit die kleine Piazza San Giovanni. Sie klopfte an den nur halb geöffneten Blechvorhang der Gran Malabar, schlüpfte mit eingezogenem Kopf unter ihm durch und rief einen fröhlichen Gruß ins Lokal. Und wie jeden Morgen, als sie die Zeitungen auf den Tresen legte, kam Walter, einer der beiden Inhaber, aus der engen Küche im Hintergrund, wo Tramezzini, Piadine, Toasts, Brioches oder andere Magentröster angerichtet wurden. Er hob die Augenbrauen, bereitete ihr fraglos einen Latte macchiato zu und stellte das dampfende Glas vor sie auf den Tresen. Als er die Zeitungen jeweils am Bund heftete und mit dem Stempel der Malabar versah, glitt sein Blick über die Schlagzeilen. Bei der Meldung, dass Super-Curvy-Models mit Plus-Size-Maßen die Magersüchtigen von den Laufstegen drängten, lächelte er breit.

»Du kannst eine neue Karriere beginnen, Teresa.« Seine Ironie, gepaart mit scharfer Beobachtungsgabe, war entwaffnend. »Deine Figur wird zum Kult, wie im Mittelalter für Klerus und Adel. Diese anorektischen Klappergestelle, die den Augen wehtun, sind out, und du betörst mit deinen Kurven schon lange die halbe Stadt. Ohne dich bräche auf der Piazza der Umsatz ein wie 1929 die Kurse an der Wall Street.«

»Red keinen Mist, Lieber. Großer Busen, schmale Taille, dicker Hintern. Alles von Mamma. Ich muss sie nur füttern, sonst wirken sie erbärmlich.« Teresa ließ zwei Tütchen Zucker in den Milchschaum rieseln und rührte um. »Gott sei Dank liegen unsere Geschäfte kaum zehn Schritte auseinander. Ohne die Malabar und deine Kommentare würde ich mir nur die Füße in den Bauch stehen und Trübsal blasen. Sag mir lieber, was heute früh passiert ist. Überall Sirenengeheul, Streifenwagen, Krankenwagen …«

»Weiß nicht, wie jeden Morgen bist du die Erste. Noch war keine der Tratschtanten hier.«

In den Wochen, in denen Walter die Frühschicht übernahm, tauschten die beiden lachend die letzten Anekdoten aus, die ihre Kundschaft ihnen Tag für Tag frei Haus lieferte. Der Zeitungsfrau und dem Wirt entging wenig vom Alltagsleben auf der Piazza, und beizeiten ergänzten sie sich vergnügt, wobei sie stets auf die Diskretion des anderen setzen konnten.

»Ich muss rüber und den Laden vorbereiten. Du wirst sehen, sie stehen schon eine Viertelstunde vor Öffnung an und schimpfen. Seit zwanzig Jahren haben sie es nicht begriffen.«

»Hier ist es nicht anders, Teresa. Die Leichenschänderin mit ihrem Hündchen wartet schon draußen.« Er deutete auf sechs Füße, die unter dem Blechrolladen zu sehen waren.

»So ist es, wenn man die Lektüre der Todesanzeigen und Nachrufe den Liebhabern vorzieht.«

»Erinnerst du dich an Galvano, den alten Gerichtsmediziner, Gott hab ihn selig? Er erzählte, dass in den Fünfzigerjahren dafür die Frauen am späten Vormittag mit ihren Taschen voller Lebensmitteln stets noch in der Leichenhalle halt machten, um zu sehen, wer gestorben war, bevor sie nach Hause gingen, um das Mittagessen zu kochen.«

»Aber die raucht nicht und kauft keine Zigaretten, die Zeitungen liest sie gratis bei dir in der Bar. Bei mir taucht sie nur auf, um Kondolenzkarten zu kaufen und kurz vor Silvester das Los der Jahresziehung der Lotteria Italia. Ich kenne nicht einmal ihren Namen.«

»Leichenschänderin« oder »Todesengel« nannten sie je nach Laune die zuverlässig erste Kundin, sobald die Bar öffnete. Eine offensichtlich alleinstehende, schlanke und energische Frau von vierzig Jahren, von der sie als Einziger der Stammgäste nichts Privates wussten. Scharf geschnittene Gesichtszüge, das rotbraune Haar zu einem strengen Knoten gefasst, grüne Augen und kaum Make-up, war sie konservativ, aber teuer gekleidet. Und stets lief ein kleiner, weißer Malteser an der Leine neben ihr her, der ständig zu seinem Frauchen aufschaute und auf den Namen »Gulasch« hörte.

»Aber sie hat ein Auge auf dich. Du hast es vielleicht noch nicht bemerkt. Sie beobachtet dich seit einiger Zeit.«

»Die? Das ist mir entgangen.« Tessie schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum sollte sie?«

»Fast so schlimm wie einst, als die Bullen Diego suchten. Falls sie deinen Laden nicht vom Auto aus beobachteten, saßen sie draußen auf der Piazza und konsumierten höchstens einen Espresso.«

»Damals hatte ich auf Schritt und Tritt Begleitung. Das Telefon war auch angezapft. Welch Aufwand, nur um ein Phantom zu fassen.«

»Ich würde ihn eher Fantomas nennen, bei dem, was Diego alles gestohlen hat, ohne dass sie ihn je zu fassen bekamen. Er wurde ja fast zur Legende.«

Teresa überging seine Bemerkung, wie immer, wenn jemand über ihren Mann sprach, den sie vor einem Vierteljahrhundert verloren hatte. »Und seit wann ist die Leichenschänderin hinter mir her, wie du glaubst?«

»Aus den Augen gelassen hat sie dich nie, aber erst seit ein paar Wochen observiert sie dich richtig. Immer wieder kommt sie vorbei und lässt ihren weißen Köter sein Geschäft dort beim Verdi-Denkmal machen, als reichte dem Armen nicht schon der Möwenschiss auf seinem Bronzekopf. Während das Vieh vor den Sockel kackt und die Sträucher markiert, schaut sie zu dir rüber, als vergewissere sie sich, dass du im Laden bist. Und wenn du über Mittag zusperrst, folgt sie dir mit großem Abstand.«

»Wir begegnen hier doch ständig denselben Gesichtern.«

»Für Zufall halte ich das nicht. Ich wollte es dir erst sagen, wenn ich sicher bin. Vielleicht eine Detektivin? Von den Polizisten unter unseren Gästen kennt sie auf jeden Fall keiner.«

»Danke. Aber in Triest hat doch jeder Zweite einen Tick.«

 

»Gib mir irgendein Päckchen Leichte und Il Piccolo, Tessie. Ich habe die ganze Woche keine Zeitung gelesen.«

Das Licht des frühen Septembermorgens war noch fahl, die Sonne hatte sich erst vor ein paar Minuten über den Karst gehoben, und Proteo Laurenti gehörte zu den ersten Kunden in dem kleinen Zeitungs- und Tabakgeschäft, in dem der Geruch ihres betörenden Parfums die Sinne noch zusätzlich zum Anblick der Inhaberin tanzen ließ. Nichts für nervenschwache Männer.

»Versuchst du wieder einmal, das Rauchen anzufangen, Commissario? Bisher bist du jedes Mal gescheitert.«

Teresa lachte aus vollem Herzen, ihre dunkelroten, vollen Lippen gaben blitzweiße Zähne frei, und ihr mächtiger Busen unter dem giftgrünen Sommerpulli machte freudige Sprünge, den Commissario begrüßen zu dürfen.

Wie jeden Morgen zog das Dekolleté der Zeitungsfrau mehr männliche Kunden an als die Schlagzeilen der Zeitungen oder ihr Tagesbedarf an Zigaretten. Der Duft des teuren Parfums, das sie üppig verwendete, tat den Rest. Aus den kleinen Lautsprechern an der Decke zelebrierte Aretha Franklin ihren legendären Song You make me feel like a natural woman.

»Hast du keine andere CD? Jedes Mal, wenn ich vorbeikomme, höre ich nur sie.«

»So oft kommst du leider nicht. Wenn du willst, leg ich Gianna Nannini auf. Aber die hindert die Leute am Geldausgeben, und mir geht sie mit ihrem Gegröle auf die Nerven.«

»Dann nimm Mina oder Adriano Celentano. Die passen zum Durchschnittsalter deiner Kundschaft.«

»Jammer nicht, wir sind alle älter geworden.«

Kaum mehr als neun Quadratmeter maß der Laden, dessen einzige natürliche Lichtquelle die verglaste Ladentür zur Piazza San Giovanni war. Kaum jemand ging hier einfach vorbei, für den dieser zentrale Platz in Reichweite des täglichen Rennwegs lag. Allein nach der Zahl der verkauften Exemplare der größten Triestiner Tageszeitung waren es ein paar Hundert Kunden, zu denen noch viele Raucher zu zählen waren. Die meisten kannte sie mit Namen, genauso wie ihre Gewohnheiten.

»Wie geht’s den Kindern, Tessie?« Sie hatte zwei Söhne und eine Tochter.

»Nur Jacqueline weiß nicht, was sie mit sich anfangen soll. Derzeit arbeitet sie in einem Restaurant als Küchenhilfe. Jacopo fährt auf einem Öltanker und freut sich, bald nach Hause zu kommen. Dann schleppt er wohl wieder alle Mädchen ab, die er in der Zwischenzeit entbehren musste. Jago quält sich dafür durchs Abendgymnasium, um das Abitur zu machen, und tagsüber jobbt er im Marmorbruch in Aurisina. Ich bewundere seine Disziplin.«

»Und wenn du nicht im Laden stehst, dann vertritt dich Jago. In letzter Zeit habe ich öfter ihn gesehen als dich, Tessie.«

»Nur bei schlechtem Wetter, wenn im Steinbruch nicht gearbeitet werden kann. Entweder ich schließe den Laden einen halben Tag, wenn ich etwas erledigen muss, oder ich lasse mich eben vertreten, Proteo. Nicht alle haben wie du einen privilegierten Zugang zu den Ämtern, wir müssen Schlange stehen.«

»Jago ist ein guter Junge, du kannst stolz auf ihn sein. Und er gleicht seinem Vater wie ein Ei dem anderen.«

»Woher weißt denn du, wer sein Vater ist, wenn ich selbst keine Ahnung habe? Ich hatte damals einiges zu kompensieren, wenn du gestattest. Diego kann es nicht gewesen sein, er war bereits über zwei Jahre tot, als Jago zur Welt kam.«

»Alle drei gleichen deinem Diego. Jago ist wie sein Vater deutlich kleiner als du und ist ihm wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten.«

»Du kannst es einfach nicht lassen. Such dir lebende Dämonen, Commissario. Erzähl mir lieber, wie es deinen Kindern geht. Ist Livia nicht in Deutschland?«

»In dieser Woche sind alle zu Hause. Dass die ganze Familie zusammenfindet, kommt nur noch selten vor. Die drei sind ständig in alle Winde verstreut. Livia hat sich einen Anwalt aus Frankfurt geangelt, an den muss ich mich erst noch gewöhnen, ein Besserwisser und Tennisspieler. Die kleine Barbara, Patrizias Töchterlein, hat längst die ersten Schritte gemacht und brabbelt ohne Unterlass. Marco hat dafür seinen Dienst in der Küche eines Kreuzfahrtschiffes nach einem halben Jahr aufgegeben, weil er nicht in einer Fabrik arbeiten wollte, und muss sich davon offenbar erst erholen, bevor er sich nach einem neuen Job umsieht.«

»Was ist eigentlich heute Morgen passiert, dass du so früh auf den Beinen bist?«

Von den meisten Kunden kannte Teresa die täglich gleichen Wünsche und hätte sie stumm bedienen können, doch wartete sie stets artig, bis sie diese vorbrachten. Dass aber der Chef der Triestiner Kriminalpolizei um diese Zeit vorbeikam, war ungewöhnlich.

»Höhere Gewalt. Ein Termin beim einzigen Staatsanwalt, der an Schlafstörungen leidet.«

»Und das Sirenengeheul, das kein Ende nimmt? Rück schon raus damit. Du weißt, ich bin die personifizierte Auskunftsstelle. Deute wenigstens etwas an, das erhöht meinen Umsatz.«

Sie strahlte sonnig und beugte sich ihm dabei so weit entgegen, dass er ihr unmöglich noch in die Augen sehen konnte.

»Ich bin eigentlich im Urlaub, Tessie. Aber ich habe gehört, es hätte mit dem Porto Vecchio zu tun. Es heißt, es sei eindeutig Diegos Handschrift. Hast du wirklich nie wieder etwas von ihm gehört?«

Teresa Fonda senkte für einen Moment den Blick, der Commissario glaubte ein sanftes Lächeln um ihre Mundwinkel zu sehen.

»Keine Sorge, ich weiß selbst, dass du es mir nicht sagen würdest. Falls sich die Sache aber bestätigen sollte, ist mein Urlaub zu Ende, und du wirst mich in nächster Zeit öfter zu Gesicht bekommen, als dir lieb ist.«

»Warum brauchst du dafür einen Vorwand, Proteo?« Sie hatte sich wieder im Griff. »Du weißt doch, welche Männer mir gefallen. Du gehörst zur engeren Auswahl, auch wenn deine Haare immer grauer werden. Lass mich nicht zu lange warten.«

Wieder lachte sie mit voller Stimme und strich eine kastanienfarbene Strähne ihres Pixie Cuts aus der Stirn. Hätte sein Beruf nicht zwischen ihnen gestanden, wären sie sich womöglich längst viel nähergekommen, als es sich für solide verheiratete Bürger gehörte.

»Du jagst ein Phantom, Proteo«, sagte Teresa lächelnd und gab ihm das Wechselgeld heraus.