Über das Buch:
Olga, der Krauskopf, ist ein frisches, gesundes Mädchen, voller Kraft und Arbeitslust. Sie schämt sich keiner Arbeit, sondern greift auf dem elterlichen Gut überall zu, wo es fehlt. Und es mangelt oft an Arbeitskräften, denn es ist hier wie überall: Alles strebt in die Stadt, auf dem Land will niemand mehr bleiben. Das ist nicht mehr Mode.
Ein Buch, wie es nur Helene Hübener schreiben konnte: Schlicht und ergreifend ist die Geschichte von Rika, dem stillen, ernsten Mädchen, von Elvira mit den tiefblauen Augen und dem blonden Haarschopf und von der krausköpfigen Olga.

Über die Autorin:
Helene Hübener wurde 1843 in einem mecklenburgischen Pfarrhaus geboren. Sie verlor früh den Vater, besuchte eine höhere Töchterschule und widmete ihr Leben der Pflege kranker Verwandter – ob Tante, Mutter oder Schwester. Einen Ausgleich für die schwere Arbeit fand sie im Bücherschreiben. 1918 starb sie hochgeachtet in Gehlsdorf an der Ostsee.

8. Eine Entdeckung

„Fräulein Olga, bei wem haben Sie Klavierstunden gehabt? Sie schlagen viel zu sehr auf die Tasten. Sachte, liebes Kind, sachte, nicht so ungestüm. Und dann, bitte, zählen! Sie halten gar keinen Takt. Eins, zwei; eins, zwei“, zählte Fräulein Müller und schalt: „Nicht so schnell über die schweren Takte hinweg! Das muss noch ganz anders werden, ganz anders!“

Olga seufzte. Klavierspielen war nicht ihre Lieblingsbeschäftigung. Aber sie hatte gelernt, sich tadeln zu lassen, und versuchte, es besser zu machen. „So ist’s recht“, lobte das Fräulein, „es wird schon mit der Zeit besser werden. Ich habe meine Schülerinnen meistens sehr weit gebracht; ich denke, ich werde mit Ihnen auch noch Ehre einlegen.“ So wechselten Lob und Tadel, und die erste Stunde war glücklich zu Ende.

„Sie hatten wohl am Sonntag viel Besuch, Fräulein Olga?“

„Ja, von Verwandten, die gewöhnlich alle acht Tage bei Tante einkehren.“

„Sie haben auch musiziert und geistliche Lieder gesungen?“

„Ja, die Tante liebt letztere sehr. Wir singen auch abends gewöhnlich bei der Abendandacht.“

„Das hören wir. Die Tante ist wohl sehr fromm?“

Olga sah sie verwundert an. „Halten Sie denn keine Abendandacht? Bei meinen Eltern war es stets Sitte. Vater sagt, man muss vor dem Schlafengehen Leib und Seele Gott befehlen, man kann nie wissen, ob es die letzte Nacht ist.“

„Um Gottes willen“, rief Fräulein Müller, „ein so junges Kind wie Sie muss doch noch nicht an den Tod erinnert werden.“

„Warum nicht?“, sagte Olga einfach, „es sterben doch auch junge Leute. Und wenn wir an den Herrn Jesum glauben, kommen wir in den Himmel.“

„Ich mag nicht gern an den Tod erinnert werden, das hat noch lange Zeit. Man muss sein Leben genießen und es sich nicht durch düstere Gedanken verbittern. Die Tante geht wohl auch jeden Sonntag in die Kirche?“

Olga, die noch nicht in solche Gespräche hineingezogen war, nickte nur und sagte nichts.

„Wir gehen“, sagte Fräulein Müller, „an die Gräber unserer Eltern, wenn’s das Wetter erlaubt. Das ist auch ein Gottesdienst. Da nehmen wir unsern Mylord mit. Nicht wahr, Mylord?“

Das kleine gelbe Schoßhündchen war bei Nennung seines Namens unter dem Sofa, wo es ein Schläfchen gehalten hatte, hervorgesprungen und sah schwanzwedelnd zu seiner Herrin auf. Diese hob es auf ihre Arme, klopfte ihm den Rücken, während es sich an sie schmiegte, und rief: „Ja, du bist mein lieber kleiner Liebling, wir verstehen uns, ist er nicht reizend, Fräulein Olga?“

„Ich gebe größeren Hunden den Vorzug“, sagte diese offen, nahm dann ihre Noten und verabschiedete sich.

Am späten Abend musste Fräulein Müller unwillkürlich an die Worte des jungen Mädchens denken: „Vater sagt, man muss vor dem Schlafengehen Leib und Seele Gott befehlen, man kann nie wissen, ob es die letzte Nacht ist.“ Sonderbare Ansichten haben diese Art Leute, dachte sie und suchte den Eindruck durch heitere Bilder zu verscheuchen.

Als Olga hinüberkam, brannte die Lampe im Wohnzimmer, und Alfred stand vor der Tante, in der Hand die kleine Geldbörse, grau und rot gesprenkelt. Sie schienen wieder einmal miteinander Abrechnung zu halten.

„Die Geldbörse hat doch kein Loch“, sagte Tante Susanne, „dass Geld herausfallen kann; die Rechnung stimmt wieder nicht.“

„Ein Loch hat sie nicht“, sagte Alfred. „Ich hätte lieber einen ordentlichen Geldbeutel, aber Schwester Klara hat sie mir zur Weihnacht gehäkelt, sie nimmt es übel, wenn ich die Börse nicht in Gebrauch nehme.“

„Dann muss auch das Geld stimmen, Alfred. Wenn du nicht gewissenhaft aufschreibst, werde ich dir nichts Eigenes geben können.“

„Das nächste Mal stimmt es, Tante Susanne, du kannst dich darauf verlassen“, sagte der Junge mit etwas verlegenem Ausdruck.

Tante Susanne äußerte später, als er in sein Zimmer an die Arbeit gegangen war: „Wenn nur der Junge keine Flausen macht und das Geld vernascht!“

Schon am andern Tag sollte Olga etwas entdecken, das auf Alfreds tadellosen Ruf einige Flecken warf. Es kam ganz zufällig. Die Tante hatte Olga beauftragt, einige Besorgungen für sie zu machen. Sie tat nichts lieber als dies. Das bunte Treiben in der Stadt, besonders um die Mittagszeit, machte ihr viel Vergnügen. Nur die vielen Räder, elektrische Straßenbahnen und Autos ängstigten sie. Scheu sah sie sich um bei den Straßenübergängen, ob auch ein solches Ungetüm in Sicht sei. Die Menschen eilten an ihr vorüber in hastigem Schritt; nun kam ein ganzer Schwarm Schulkinder, hier ein Trupp Schüler, dort plaudernde Mädchen. „O“, dachte sie, „ich bin in der Nähe des Gymnasiums, vielleicht treffe ich den Alfred und kann mit ihm nach Hause gehen.“ Da sieht sie einen Tertianer mit einem niedlichen kleinen Mädchen einträchtig zusammen gehen. Es waren Unbekannte, vielleicht Bruder und Schwester; Alfred war gewiss schon auf dem Heimweg.

Sie bog in eine Straße ein, die am schnellsten nach Hause führte, da sah sie unsern Freund, auch von einem kleinen Mädchen begleitet, mit dem er in schönster Harmonie plauderte. Sie gingen ein gutes Stück vor ihr her. Olga hemmte ihre Schritte, um nicht bemerkt zu werden, behielt sie aber im Auge, um zu sehen, was hieraus wurde. Der Zufall kam ihr zu Hilfe. An der nächsten Ecke blieben sie stehen, mit dem Rücken ihr zugewandt. Es gingen so vielen Menschen hin und her, dass sie nicht auf den Einzelnen achteten, so kam Olga ungesehen näher und stellte sich an einen Bilderladen, von wo sie die beiden beobachten konnte. Jetzt zog Alfred eine große Tüte aus der Tasche und händigte sie dem kleinen Fräulein mit einer artigen Verbeugung aus.

„Wie süß von Ihnen, das soll schmecken.“ Und mit lieblicher Miene und einem Kusshändchen verabschiedete sie sich von ihrem Gönner. Sie verschwand in einer Seitengasse, während Alfred geradeaus ging, seiner Wohnung zustrebend.

„Da bleibt also das Geld“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter ihm, und zu seinem Schreck gewahrte er Olga, die Zeugin des Auftritts gewesen. Er wurde dunkelrot und stotterte: „Du wirst es doch nicht gleich der Tante erzählen.“

„Verheimlichen dürfen wir ihr nichts, warum hast du es ihr nicht offen gesagt, dass du dem kleinen Mädchen Bonbons gekauft hast?“

„Darüber wird nicht gesprochen, das tut kein Schüler.“ Er warf sich in die Brust, als wäre er etwas Rechtes und sagte mit Würde: „Olga, das verstehst du wirklich nicht.“

Jetzt musste sie doch lachen. „Eine merkwürdige Geldverschwendung, die mir noch nicht vorgekommen ist.“

„Das glaube ich, in eurem Dorfe! Es ist modern, mit jungen Mädchen spazieren zu gehen; wir Tertianer füttern sie mit Bonbons, die Sekundaner und Primaner machen es anders.“

„Aber solche Moden brauchst du doch nicht mitzumachen.“

„Wer die Moden nicht mitmacht, gilt nichts bei den andern.“

„Ich denke, wer immer Recht tut, gilt etwas. Die Hauptsache ist doch, dass wir vor Gott Recht tun.“

„Du wirst schon gerade so weise wie die Tante. Dein Erstes wird nun sein, dass du ihr alles erzählst!“

„Wenn du mir versprichst, dass du den Unsinn lassen willst, sage ich es nicht. Du musst aber dein Geld richtig aufschreiben und darfst der Tante nichts wieder verheimlichen. Sonst sage ich es.“

„Lisi ist so niedlich; sie freut sich immer so sehr auf die Tüte.“

„Lass das kleine Naschkätzchen doch selber für sich sorgen.“

„Sie wird mir aber böse und erzählt es den andern. Dann bekomme ich sie alle auf den Hals.“

„Geh du nur ruhig deine Wege und lass sie reden. Tue Recht und scheue niemand.“

„Ach, du verstehst die ganze Geschichte nicht. Olga, du bist vom Lande.“

„Und du willst ein moderner Schüler sein, aber kein ehrlicher.“

Er schwieg. Sie waren beim Hause. Er legte die Hand auf den Mund und sagte zu Olga: „Also schweigen!“ Dann stürmte er voran, die Treppen hinauf.

Schweigen war eigentlich nicht Olgas Sache; sie musste alles heraussagen, was sie drückte. Sie wollte diesmal Alfred schonen, aber – sie wollte ihn beobachten. Wenn er fortfahren würde, sein Geld, das er zu nützlichen Sachen bekam, zu Leckerbissen für Lisi zu verschwenden, dann musste die Tante es wissen.

Sie richtete ihre Besorgungen nun öfter um die Mittagszeit ein, hatte aber nicht das Glück, Alfred zu treffen. Ob er vielleicht einen andern Weg nach Hause einschlug? Olga wollte es ergründen. Sie hielt sich unbemerkt in der Nähe des Gymnasiums auf, bis der Strom der Schüler sich ergoss. Ihr scharfes Auge entdeckte bald unsern Alfred, der sich nicht wie sonst nach rechts, sondern nach links wandte.

„Ei“, dachte sie, „der Schlingel geht einen andern Weg.“ Er trabte um die Ecke, sie ihm nach. Da kam aus einer Nebenstraße Lisi, sah sich um, ob keine ihrer Bekannten da sei, und ging wartend auf und ab, während Alfred in einen Konditorladen gegangen war und nun mit einer Kuchentüte heraustrat. In demselben Augenblick sah er Olga. Da gerade die Elektrische hielt, sagte er leise etwas zu Lisi. Sie stiegen beide ein in der Meinung, dass Olga sie nicht gesehen habe. Aber, o weh, sie kamen vom Regen in die Traufe. Herr Dahlburg, der im Begriff war auszusteigen, fasste Alfred am Ohr und sagte: „Jungelchen, du kannst wohl nach Hause gehen, komm nur mit mir.“ Zu dem Mädchen gewandt:

„Lisi, naschen verdirbt die Zähne.“

Lisi, eine Schülerin von Herrn Dahlburg, stand, wie mit Blut übergossen, hilflos in der Elektrischen, die mit ihr davonsauste. Die Kuchentüte war ihren Händen vor Schreck entfallen, und mit Entsetzen sah sie, wie ein Arbeitsmann mit derben Stiefeln auf die Tüte, die Windbeutel mit Schlagsahne enthielt, trat, zur Belustigung der Anwesenden, die mehr oder weniger in Gelächter ausbrachen. Bei der nächsten Haltestelle stürzte sie auf die Straße und eilte davon, so schnell ihre Füße sie tragen konnten.

„Schlingel“, sagte Herr Dahlburg zu Alfred, „was machst du für Geschichten. Was heißt das, dass du mit Lisi Steen in die Elektrische springst? Wolltest du mit ihr davonlaufen? Ah, Fräulein Stark, ich hatte Sie gar nicht bemerkt.“

Olga, die den ganzen Auftritt mit Spannung verfolgt hatte, war ganz froh, dass ein Zweiter dazugekommen war. Das, was nun kommen musste, konnte er viel besser durchfechten als sie. Alfred stand in höchster Verlegenheit da, während Herr Dahlburg mit dem Lachen zu kämpfen hatte. Er sagte ihm aber ernst, dass so etwas zu unterbleiben habe, er verbitte sich, dass er seine Schülerinnen mit Kuchen füttere.

„So, nun geh’ voraus; ich folge mit Fräulein Stark.“ Alfred ließ sich das nicht zweimal sagen; er atmete freier, als er die beiden hinter sich hatte.

„Es kommt ja alles von mir, Herr Kandidat“, sagte Olga treuherzig. „Ich war den beiden auf der Spur, und weil sie mich sahen, wollten sie sich in der Elektrischen verstecken. Da kamen Sie wie ein – wie soll ich sagen, wie ein –“

„Polizist“, ergänzte er, „wie ein Polizist dazwischen.“

„Dumme Kinder“, lachte er. „Sie machen die Unsitte den großen Schülern nach, gut, dass wir dazwischenkamen. Weiß die Tante davon?“

„Sie ahnt nichts. Ich habe Alfred schon einmal getroffen, als er dem Mädchen Bonbons zusteckte. Er hatte mir versprochen, es nicht wieder zu tun, widrigenfalls ich es der Tante sagen würde. Aber ich werde bei ihm in Ungnade fallen.“

„Seien Sie ruhig, ich werde die Sache für Sie abmachen.“

„O, ich danke Ihnen sehr. Wissen muss es ja die Tante, aber wenn es durch mich geschähe, würde er mir gram werden. Das möchte ich nicht gern.“

Alfred stand harrend an der Haustür. „Ich wollte Ihnen doch Adieu sagen, Herr Dahlburg.“

„Ist nicht nötig, mein Junge; ich gehe mit nach oben.“ Verdutzt zog Alfred seine Uhr und sagte: „Wir essen nämlich gleich.“

„Du meinst, ich störe jetzt. Ich will mich gar nicht lange aufhalten; die Tante wird mir’s schon verzeihen.“

Alfred konnte nichts dagegen tun. Herr Dahlburg ging mit hinauf, fasste Alfred am Arm und sagte: „Komm nur erst einmal mit, wir wollen die Sache gleich in Ordnung bringen.“

„Liebe Tante“, begann Herr Dahlburg, „dieser Junge wollte Ihnen bekennen, dass er sein Geld schlecht angewendet hat. Er füttert meine Schülerinnen mit Kuchen; ich habe ihn soeben dabei angetroffen. Sie tun wohl am besten, ihm eine Zeit lang das Taschengeld zu entziehen, bis er vernünftig geworden ist.“

Nun wusste die Tante, warum die Rechnungen nicht gestimmt hatten. Sie ermahnte den Jungen ernst, dass er keine Heimlichkeiten mehr haben dürfe. Herr Dahlburg fügte einige männliche, kräftige Ermahnungen hinzu und versprach der Tante, ihr mitunter bei der Erziehung des Knaben mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Dann empfahl er sich.

Olga trat ihm in den Weg. „Er hat doch keine zu harte Strafe bekommen?“

„Diesmal ist er noch mit ernsten Worten davongekommen; ich denke, es wird helfen, bösartig ist er nicht.“

„Bitte, grüßen Sie Fräulein Margarete.“

„Besuchen Sie meine Schwester nur einmal, Fräulein Stark; sie wird sich sehr freuen.“

Bei Tisch herrschte eine gedrückte Stimmung. Alfred stopfte mit gesenktem Haupt die Klöße, sein Lieblingsgericht, hinein und schleuderte von Zeit zu Zeit von unten her giftige Blicke auf Olga, die er für die Anstifterin alles Unheils ansah. Nach Tisch verschwand er in seinem Zimmer und wurde vor Abend nicht mehr gesehen.

Am andern Morgen erschien Hanne bei Olga, als diese eben ihr Zimmer verlassen wollte.

„Fräulein Olga, kommen Sie doch schnell zum Herrn Alfred herüber; ich glaube, er ist sehr krank. Er liegt noch zu Bett und zittert so, dass das ganze Bett fliegt; er hat gewiss ein böses Fieber.“

Olga schüttelte den Kopf, als könnte sie’s nicht glauben und fragte: „Weiß die Tante es?“

„Frau Doktor schläft noch, ich mag sie nicht wecken.“

Es blieb Olga nichts übrig, als selber nach dem Patienten zu sehen. Ja, das Oberbett flog ordentlich, als sie eintrat, man sah nur den oberen Teil eines Borstenkopfes herausgucken, und auf Olgas Frage: „Fehlt dir etwas, Alfred?“, kam nur ein dumpfes „Krank!“ heraus.

Jetzt wurde es Olga, die wenig von Krankheiten verstand, auch angst. „Wir wollen ihm doch etwas Lindenblütentee kochen, der soll gut sein“, meinte sie zu Hanne.

„Oder Kamillentee, Fräulein“, rief diese, „ich halte es immer mit Kamillentee.“

„Wir möchten doch lieber die Tante wecken.“

Die Tante kam und ging hinein zum Patienten, der inzwischen von Hanne mit Kamillentee getränkt war.

„Für bedenklich halte ich den Zustand nicht“, sagte sie. „Einen Arzt werden wir nicht nötig haben. Jetzt schwitzt er, wir lassen ihn zur Vorsicht bis Mittag im Bett, dann wird er aufstehen können.“

Kurz vor Tisch, als Olga über den Hausflur ging, klingelte es. Sie öffnete und sah ein unbekanntes kleines Mädchen draußen stehen. Sie hatte ein keckes, frisches Aussehen.

„Sie sind sicher das Dienstmädchen, nicht wahr?“, sagte sie, ohne sich Olga näher anzusehen. „Bitte, sagen Sie doch dem Alfred, der hier in Pension ist, Lisi Steen danke für seine Kuchentüten; sie hätte nicht Lust, noch einmal von Herrn Dahlburg abgefasst zu werden. Aber sagen Sie’s Ihrer Herrschaft nicht, das ist nicht nötig. Adieu!“

„Welch ein Ton!“, dachte Olga. Und die Tante sagte, als sie ihr die Botschaft ausrichtete: „Das ist ja sehr erfreulich, Ende gut, alles gut.“

„Soll ich es ihm sagen, Tante?“

„Er steht nach Tisch auf, dann kannst du ihm die Bestellung bringen.“

Als Olga in der Küche geholfen hatte und das Wohnzimmer betrat, saß Alfred am Tisch und las.

„Geht’s wieder besser, Alfred?“

Keine Antwort. „Fühlst du dich wohler, lieber Vetter?“ Tiefes Schweigen.

„Ich habe eine Botschaft an dich.“ Ein grunzender Ton ließ sich hören, es klang fast wie „Nun?“ Olga richtete die Bestellung aus.

„Freut mich sehr, freut mich außerordentlich“, kam es jetzt wie eine Erleichterung von seinen Lippen. „Ich mag das Mädel gar nicht mehr sehen; sie wurde immer unverschämter, nun sollten es schon Windbeutel sein. Na, dann kann ich ja wieder ruhig zur Schule gehen.“

Jetzt ging Olga ein Licht auf über die Art der Krankheit. Und als einige Tage später Lisi bei ihrer Freundin gegenüber zum Besuch war und dem Alfred, der gerade am Fenster stand, eine lange Nase drehte, da war’s mit der Freundschaft gänzlich aus, und das Spazierengehen mit kleinen Mädchen hatte für immer sein Ende erreicht.

9. Frau Weber

„Nun, Lina, wie geht’s?“, fragte Olga eines Tages, als sie das Mädchen auf der Treppe traf.

„Mir geht’s gut, Fräulein. Ich habe gute Behandlung, reichliches Essen und Trinken und guten Lohn. Arbeit gibt es viel, aber ich kann’s gut machen. Nur denke ich manchmal –“, sie stockte. „Nun, was denkst du?“

„Dann hätte ich auch bei Frau Stark bleiben können. Heimat ist doch Heimat. Bloß, dass ich Ihnen manchmal sehe, das ist mein bester Trost.“

Eben ging Frau Weber vorüber und grüßte höflich. „Wie geht’s Ihnen, Frau Weber?“, wandte sich Olga an die Frau, worauf diese erwiderte: „Sie wollten mich immer einmal besuchen, Fräulein, heute ist der alte Herr fort, da könnten wir ungestört reden.“

Als Olga der Tante davon redete, erlaubte sie es gern. „Frau Weber scheint eine sanfte, stille Frau zu sein; sie hat es gewiss nicht leicht mit dem alten Haudegen.“

Als Olga gegen Abend Einlass begehrte, hatte Frau Weber schon die Lampe angezündet, sie saß fleißig beim Stopfen und Flicken.

„Es ist gut, dass Herr Hirsch Sie hat“, begann Olga. „Ein Herr kann sich seine Sachen doch nicht in Ordnung halten.“

„Er glaubt es nur nicht, dass es für ihn besser ist, und doch, Fräulein, es ist sein Schade nicht. Faustgroße Löcher waren in Strümpfen und Unterjacken, ich habe Zeit gebraucht, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Wenn ich dachte, mein Sohn ginge so zerrissen einher, ich ertrüge es nicht.“

„Wo ist denn eigentlich Ihr Sohn?“, fragte Olga interessiert.

Diese Frage kam der Frau erwünscht. Es war von Anfang an ihr Zweck gewesen, das Gespräch auf den Sohn zu lenken.

„Ich erzähle Ihnen alles, Fräulein, aber zuerst muss ich Ihnen sagen, dass ich Ihre Eltern, Herrn und Frau Stark, ganz gut kenne. Sie und Ihre Schwestern habe ich manches Mal als kleine Mädchen gesehen. Ich bin aus Buschtal, gar nicht weit von Altenhorst.“

„Aus Buschtal“, jubelte Olga. Am liebsten hätte sie die Frau vor Freuden umarmt. Wie konnte sie denken, dass hier oben ein Stück Heimat war.

„Ich bin lange aus Buschtal fort, mindestens sieben Jahre. Können Sie sich erinnern, dass dort einmal auf dem Gut eine Scheune abbrannte?“

Olga dachte nach. „Ja, jetzt besinne ich mich, ich bin vielleicht zehn Jahre alt gewesen. Deutlich erinnere ich mich der Einzelheiten nicht, aber ich weiß, dass viel davon gesprochen wurde. Es ist nie an den Tag gekommen, auf welche Weise das Feuer entstanden ist, nicht wahr?“

„Und wird auch wohl nie an den Tag kommen“, sagte Frau Weber, und ein schmerzlicher Zug flog über ihr Gesicht.

„Ja“, fuhr sie fort, „ich habe glückliche Jahre in Buschtal verlebt. Mein Mann hatte auf dem Gut eine Anstellung, ich verdiente mir nebenher etwas durch Waschen und Plätten im Herrenhause. Als mein Mann jung starb, blieb ich als Witwe dort und verdiente mir so viel, dass wir beide, mein einziger Sohn und ich, unser Auskommen hatten. Mein Junge, der Hugo, war viel im Herrenhause und spielte mit den Söhnen, besonders mit Edgar, der in seinem Alter war. Manche Dummheiten haben die Buben ausgeübt, aber es waren keine Schlechtigkeiten. Darum kann ich es mir nicht denken, dass sie etwas wirklich Böses verübt hätten.“

„Hat man sie denn in Verdacht gehabt wegen des Brandes? Ich glaube nicht, dass Derartiges gesprochen worden ist. Es könnte ja Unvorsichtigkeit gewesen sein?“

„Das weiß kein Mensch. Edgar kam mit elf Jahren in die Stadt aufs Gymnasium. Wenn er in den Ferien zu Hause war, dann musste mein Junge ihm in der freien Zeit Gesellschaft leisten, was er natürlich lieber tat als Feld- oder Gartenarbeit. Einmal hat unser Herr sie beim Rauchen abgefasst, da gab’s tüchtig etwas, der Hugo hat von mir auch noch Strafe gekriegt. Seitdem verlässt mich der Gedanke nicht, ob der junge Herr nicht selbst an dem Unglück schuld gewesen ist.“

„Dann hätte er es doch natürlich gesagt, Frau Weber. Wie kann man seinen Eltern etwas verheimlichen?“

„So denken Sie, Fräulein Olga, und das ist recht und gut. Aber wie oft kommen Verheimlichungen vor, einesteils aus Feigheit, andernteils aus Angst vor der Strafe.“

„Denken Sie denn, dass Ihr Sohn auch beteiligt gewesen ist?“

„Ich glaube nicht an seine Schuld, denn er hat mir seine Unschuld hoch und teuer versichert; aber ich fürchte, der Brand hängt mit einer großen Dummheit vom jungen Herrn zusammen, und weil mein Sohn etwas davon weiß und ihn nicht angeben will, darum ist er geflohen.“

„Erzählen Sie mir weiter“, bat Olga, „es interessiert mich so sehr wegen Edgar, den ich so gut kenne und der jetzt sehr leidend ist.“

„Verraten Sie mich aber nicht, um alles in der Welt nicht“, bat Frau Weber. „Ich hätte es Ihnen gar nicht sagen dürfen! Aber die Sache geht Tag für Tag mit mir. Wenn ich allein bei der Arbeit sitze, muss ich immer daran denken. Denn mich und meinen Sohn hat es ja am härtesten getroffen.“

„Sie wollten weitererzählen“, drängte Olga.

„Also, Edgar war wieder einmal in den Ferien zu Hause gewesen, an einem Sonnabend sollte er zurück in die Stadt, wo er in Pension war. Es war ein heißer Augusttag, draußen auf den Feldern und in den Gärten herrschte große Trockenheit, denn es hatte lange nicht geregnet. Edgar sollte zu Fuß wandern, da das Städtchen mit dem Gymnasium nicht sehr entfernt war.“

„Ja, er war in A. auf der Schule; es ist unsere nächste Stadt; wir machen alle Besorgungen dort!“, rief Olga.

„Er hatte sich schon von den Eltern verabschiedet. Die Mutter war krank und lag zu Bett; der Vater war in der Erntezeit bei den Leuten auf dem Felde. Weil es mit dem Einfahren drängte, wollte dieser die Pferde nicht hergeben, Edgar konnte ja auch ganz gut gehen. Ich meine, ich habe ihn abwandern sehen. Es behaupteten auch viele von den Dorfleuten, ihn gesehen zu haben, wie er, das Ränzel auf dem Rücken, zum Hoftor hinausmarschiert sei. Mein Sohn aber sagte, er sei noch einmal zurückgekommen und habe sich vorher auf dem Heuboden noch etwas ausgeruht.“

„Das hätte ja auch nicht so viel geschadet“, sagte Olga harmlos.

Frau Weber sah sie so eigen an und sagte: „Wenn er nicht am Ende geraucht hat. Aber, bitte, lassen Sie sich nichts merken, es weiß niemand. Tatsache ist aber, dass an demselben Abend das Feuer auf dem Heuboden aufging. Den vereinten Anstrengungen gelang es, des Feuers Herr zu werden, so dass das Herrenhaus verschont blieb. Kein Mensch war dort gewesen, man meinte nur, meinen Hugo in der Nähe gesehen zu haben.“

„Wurde er denn ins Verhör genommen?“

„Konnte er ja nicht, denn am andern Tage war er spurlos verschwunden, alle Nachforschungen waren vergebens. Er hatte mir zwar am Abend heilig und teuer versichert, er habe nichts Unrechtes getan, aber dass die Leute anders dachten, konnte ich ja merken. Zwar meinten manche, Hugo sei immer ein aufrichtiger Junge gewesen und die Herrschaft gut gegen ihn, man könne sich nicht denken, dass er etwas Böses im Schilde geführt habe. Aber der Schein war gegen ihn, und ich mochte nicht an dem Ort bleiben, wo alles mich an das Unglück erinnerte. Wehen Herzens zog ich von Buschtal fort und ging in die Hauptstadt, um dort Arbeit zu suchen. Es gelang mir nur teilweise; spärlich und kümmerlich musste ich mich behelfen, bis ich eines Tages in der Zeitung die Anzeige las, dass ein älterer, alleinstehender Mann eine Haushälterin suche. Ich meldete mich und bekam die Stelle. Ich habe doch nun mein Auskommen und kann für den alten Herrn, der wirklich eine weibliche Stütze braucht, sorgen. Wenn ich nur wüsste, wo mein Hugo wäre! Die Sorge um ihn nagt an meinem Herzen.“

„Sie arme Frau!“, sagte Olga voll Mitgefühl. „Diese Feuergeschichte ist aber doch schrecklich, ich möchte wohl den Zusammenhang wissen.“

„Darüber wird wohl nie Aufklärung kommen. Herr Walsleben hat den Schaden bald verschmerzt; er ist ein reicher Mann und hat die Scheune wieder aufbauen lassen. Aber meines Sohnes Unglück war es, und was ich dabei gelitten, weiß nur Gott. Wie kommt es, liebes Fräulein, dass ich Ihnen jetzt alles anvertraut habe, was bis jetzt nie über meine Lippen gekommen ist? Das macht, weil Sie aus der Heimat sind. Als Sie es kürzlich sagten, trat alles wieder so lebendig vor meine Seele, als sei es gestern gewesen. Sie sprachen davon, dass Edgar leidend sei?“

„Ja, seit längerer Zeit. Man sagt, er hat die Schwindsucht und wird bald sterben. Elvira, meine Schwester, schrieb, sie seien in Buschtal gewesen; Edgar sei ganz zu Hause und liege fast immer.“

„Wenn doch vorher noch Aufklärung kommen möchte wegen dieser Sache, falls er sterben sollte. Wenn mein Sohn je wieder erscheint, wird die Geschichte doch wieder aufgerührt, seine Flucht hat stets den Schein gegen ihn gebracht.“

„Ja“, sagte Olga sinnend, „dunkel ist die Sache. Jedenfalls muss Ihr Sohn damit im Zusammenhang stehen, sonst hätte er ja nicht zu fliehen brauchen.“

„Das sage ich mir auch, und damit zermartere ich mir das Gehirn, wenn ich allein mit meiner Arbeit dasitze. Aber ich halte mich an Gott, auf ihn stelle ich mein Vertrauen. Er hat mir geholfen, und wenn die Not am größten, war seine Hilfe da. Aber jetzt höre ich meinen Alten, lassen Sie sich ja nichts merken von allem, was ich Ihnen anvertraut habe; er ahnt nichts davon.“

„Ich schweige, gute Frau Weber, Sie können sich darauf verlassen.“ – „Na, das dachte ich mir! Weiblicher Besuch. Hörte ich doch schon von weitem Frau Webers Jammerstimme. Sie sind eine ganz gute Frau, ich habe nichts gegen Sie einzuwenden, wenn Sie nur einen andern Sprechorganismus hätten.“

„Er meint eine andere Stimme, Fräulein. Aber Herr Hirsch, Sie müssen mich nun einmal nehmen, wie ich bin, sonst müssen Sie sich nach einer andern Persönlichkeit umsehen.“

„An ein weibliches Individuum hab’ ich genug; ich werd’ nich noch einmal mit einem andern Frauenzimmer anfangen –“

„Herr Hirsch, was soll Fräulein Stark davon denken –“

„Fräulein, alle Achtung vor Ihnen! Sie nehmen sich mit Ihrem Gepolter in Acht, in Anbetracht, dass ich ein alter Mann bin und Nervosität besitze, was letzteres früher nicht so war, was aber jetzt jeder Mensch besitzt.“

„Ich bin nicht nervös, Herr Hirsch“, rief Olga vergnügt, „bis jetzt spüre ich nichts davon.“

„Ja, das is die Jugend. Als ich noch ein junger Kerl war und Unteroffizier, wusst’ ich auch noch nichts von Nervosität und anderem Krankheitskram, anjetzo hab’ ich mancherlei Leiden, am schlimmsten sind die Krämpfe in die Hinterfüße –“

„Er meint ‚in den Fersen‘, Fräulein, Hinterfüße hat er gar nicht.“

„Sind Sie schon wieder klüger als ich, Sie mit Ihrem ewigen Jammern nach Ihrem Sohn. Ich kann mir doch denken, dass Sie mit dem Fräulein nichts weiter gesprochen haben. Es gibt jetzt wieder Fahrbilletter um die ganze Welt. Solch ein Ding hat der Taugenichts und kutschiert damit um die ganze Welt herum. Nach einer Seite ist er weggerutscht, und wenn er herum ist, kommt er von der andern wieder an. Aber wenn dieser Fall eintritt, dann – Frau Weber, bleib’ ich für mich und Sie für sich.“

„Ich weiß es, Herr Hirsch, Sie sagen es mir oft genug. Aber wenn Sie es mit keiner andern wieder versuchen wollen, dann müssten Sie allein hausen, und ob Ihnen das jetzt noch so gefallen würde –“

„Nun, bis jetzt ist der Herr Sohn noch nicht da; was wollen wir heute schon darum zanken. Ich denke, Sie besorgen uns das Abendbrot, Frau Weber.“

Olga fand, es sei Zeit zu gehen. Frau Weber begleitete sie zur Tür hinaus und flüsterte: „Was meinen Sohn betrifft, da kennt er kein Erbarmen, das macht, er hat nie Frau und Kinder gehabt. Liebes Fräulein, was ich Ihnen von dem Feuer in Buschtal erzählt habe, das behalten Sie ganz für sich. Nicht wahr, das versprechen Sie mir?“

„Ich werde darüber schweigen.“

Als Olga zur Tante kam, meinte diese, sie habe sich wohl ganz mit Frau Weber angefreundet, sie sei lange dort gewesen.

„Es war wirklich gemütlich drüben, liebe Tante. Alles so still und sauber und Frau Weber so freundlich, bis der alte Herr kam, da wurde es lebendig. Aber seine Ausdrucksweise macht mir Spaß. Denke dir, Frau Weber ist aus unserer Gegend; sie hat die Eltern gekannt, hat mich schon früher gesehen –“

„Dann hättest du sie auch kennen müssen.“

„Es ist möglich, dass ich sie gesehen habe. Wir haben zwar mit Walslebens verkehrt, kennen aber die vielen Leute auf dem Gut nicht alle. Ich weiß wenigstens nichts von ihr.“

Alles was Olga von Frau Weber gehört hatte, erregte sie sehr. Sie konnte den Abend lange nicht einschlafen; die Geschichte mit dem Feuer war doch eigentümlich. Sollte Edgar wirklich durch Unvorsichtigkeit den Ausbruch des Feuers verschuldet haben? Etwas leicht war er immer. Aber für aufrichtig hatte sie ihn stets gehalten, er würde es doch gewiss seinen Eltern gestanden haben; Verheimlichung wäre doch großes Unrecht gewesen. Sie konnte sich nicht denken, dass sie etwas verheimlichen könnte. War es ihr doch schon schwer geworden, der Tante gegenüber zu schweigen, als sie wusste, wo Alfreds Geld geblieben. Aber das war etwas anderes. Sie wollte erst Gewissheit haben, ob er sein Wort halten würde, und wie gut, dass Klarheit in die Sache gekommen war. Alfred war seitdem etwas ernster und fleißiger geworden, es wurde auch Zeit, es ging stark auf Ostern zu; wenn er versetzt werden wollte, mussten alle Kräfte angespannt werden. Die erste Zeit nach der Szene, bei welcher Herr Dahlburg für sie in so wünschenswerter Weise die Hauptrolle übernommen, hatte Alfred gegen sie den Beleidigten gespielt, doch allmählich hatte er das Maulen satt, und nach und nach stellte sich das alte Verhältnis wieder her.

Alfreds Vergehen war ja allerdings nicht so groß im Vergleich zu dem Edgars. Wenn dieser etwas so Schweres auf dem Herzen hatte und sagte es nicht, so war doch das ein viel größeres Unrecht. Und jetzt war er krank, und zwar hoffnungslos. Elvira besuchte ihn mitunter; sie mit ihrem frommen Herzen und weichen Gemüt hatte gewiss guten Einfluss auf ihn. Wenn er schuldig war, o, wenn er es doch bekennen wollte, damit der Sohn der armen Frau Weber, wenn er je wiederkommen sollte, von dem Verdacht gereinigt würde.

Von Elvira gingen die Gedanken zu Rika. Sie hatte immer etwas Gedrücktes, fast Trauriges. Plötzlich durchzuckte sie der Gedanke: „Wie, wenn Riekchen auch etwas auf dem Gewissen hätte? Wenn der Oberförster, Mariechens Vater, Recht hätte!“ Aber nein, das konnte ja nicht sein; sie war so edel, so gut, die rechte Hand der Mutter, so selbstlos, treu und fleißig. Wie kam sie auf diesen törichten Gedanken! Wie viel Trauriges gab es doch in der Welt! Und vor ihr lag das Leben so rosig, so sonnenklar. Sie wollte ihren lieben Eltern Freude machen und ihrem Heiland dienen mit ihren geringen Kräften. Ja, das wollte sie! So kam es, dass die Gedanken sich von dem Irdischen loslösten und sich zum Gebet sammelten, in das sie diesen Abend auch die bekümmerte Frau Weber einschloss.

10. Ein eigener Entschluss

Ostern war längst vorüber. Alfred, der in den Ferien daheim gewesen, war stolz in langen Beinkleidern wieder erschienen. Er war wirklich Sekundaner und sah mitleidig auf die jüngeren Schüler herab. Was die Tertianer trieben, belachte er jetzt von oben herab; sie waren ja Kinder gegen ihn. Das Rad hatte noch auf sich warten lassen, es war seit der Kuchengeschichte nicht wieder die Rede davon gewesen; er selbst hatte nicht gewagt, davon anzufangen, wohl ahnend, dass die Tante jetzt nicht willens sei, ihm eine besondere Anerkennung zuteil werden zu lassen. Aber eines Tages im Mai, als die drei zu Mittag aßen und Hanne die Speisen auftrug, drehte er den Kopf nach ihr um und sagte:

„Hanne, es ist Ihnen doch gewiss lieb, dass ich Ihnen immer noch, jetzt als Sekundaner, die Kohlen herauftrage. Ich habe ja jetzt bedeutend mehr zu tun, aber, wenn es Ihnen schwer fällt, will ich es gern weiter tun.“

„Ich kann es ja gar nicht mehr von dem jungen Herrn verlangen, aber eine Erleichterung ist es mir natürlich schon.“

„Nun gut, es wird gemacht“, sagte Alfred.

Olga bemerkte ein feines Lächeln im Angesicht der Tante. Dieselbe schwieg aber und sagte nichts.

Nach einer Weile begann Alfred: „Heute Nachmittag machen die Sekundaner einen Ausflug per Rad, das muss famos sein. Ja, wer dabei sein könnte!“

„Früher machten die jungen Leute Fußtouren und haben sich köstlich dabei vergnügt.“

„Jetzt ist einmal das Rad in der Welt, das änderst du doch nicht, liebe Tante. Die, welche keins haben, sind unten durch.“

„Armer Junge“, meinte Tante Susanne. „Doch ich denke, du hast heute auch etwas vor.“

„Wir armen Erdenwürmer, die wir kein Rad besitzen, wollen eine Fußtour nach der Buschmühle machen.“

„Recht so“, rief Tante Susanne, „da wollen wir dir ein tüchtiges Paket Butterbrote einpacken, zu trinken sollst du auch haben.“

Das versöhnte ihn etwas, aber die Sehnsucht nach dem Rade wurde immer mächtiger und die Hoffnung, dass der Tante Herz endlich erweicht werde, immer größer.

Olga hatte heute auch allerlei vor. Zuerst wollte sie zu Dahlburgs, um von Margarete Abschied zu nehmen. Dieselbe war ihr eine liebe Freundin geworden. Sie hatte bald gemerkt, dass sie viel von ihr lernen könne, und Tante Susanne hatte mit Freuden wahrgenommen, wie sehr sich die Mädchen aneinander anschlossen. An den Sonntagnachmittagen waren sie fast immer beieinander, und Olga war bei Dahlburgs auch schon bekannt. Die alten Eltern von Margarete waren schlichte, einfache Leute, aber fromm und gottesfürchtig. Sie hatten außer dem Sohn und Margarete noch eine Tochter, welche sie pflegte; es war ein frisches, lebhaftes Mädchen, an dem Olga auch Wohlgefallen hatte.

Margarete sollte in einigen Tagen abreisen. Sie schloss sich einer Missionarsfamilie an, die auch nach einjährigem Urlaub nach Indien zurückging. Die Trennung von den Eltern, die sie vielleicht zum letzten Mal gesehen hatte, wurde ihr schwerer, als sie sich merken ließ, aber mit großer Freudigkeit kehrte sie zu ihrem Beruf zurück.

„Margarete“, sagte Olga, als die junge Missionarin sie auf dem Heimweg ein Stück begleitete, „ich möchte wohl mit dir ziehen, mein Leben auch dem Dienst des Heilandes weihen.“

„Das kannst du hier ebenso gut wie draußen. Ich bin durch wunderbare Führungen zu diesem Beruf gekommen. Geh’ du auch, wie Gott dich führt, nur, dass du in allem ihn meinst und nicht dich selbst.“

Sie gingen schweigend nebeneinander her durch die im Frühlingsschmuck prangenden Anlagen der Stadt. „Jetzt muss ich umkehren, liebe Olga, Gott behüte dich und lasse es dir wohlgehen.“

„Wir schreiben uns und bleiben Freundinnen immer und immer“, sagte Olga, mit Tränen in den Augen. Dann umarmten sie sich und gingen voneinander, sich von Zeit zu Zeit einmal umsehend und sich Abschiedsgrüße zuwinkend.

Als Olga das Ende der Anlagen erreicht hatte, traf sie Herrn Dahlburg, der von einer Privatstunde kam und nach Hause wollte. „Nun, Fräulein Olga, Sie sehen so betrübt aus, was gibt’s denn?“

„Ich habe soeben Abschied genommen von Margarete.“

„Ja so“, sagte er freundlich und ging mit ihr ein Stück zurück. „Sie haben sie auch lieb gewonnen?“

„So sehr!“

„Es ist auch ein prächtiges Mädchen, ein Kind Gottes im wahren Sinne des Wortes. Ich verdanke ihr viel, sehr viel.“ Olga sah ihn verwundert an.

„Das glauben Sie doch wohl nicht? Und doch ist es so. Ich glaubte, bei meinem Studium alles mit meiner Vernunft zergliedern zu müssen, da hat sie mich gelehrt, meine Vernunft gefangen zu geben unter den Gehorsam des Glaubens. Seit ich täglich Gott gebeten um seinen Geist, sind mir die Tiefen der Heiligen Schrift aufgegangen. Ich bin mit Lust und Freudigkeit Theologe, während ich früher, als ich in Zweifeln steckte, die ganze Theologie am liebsten über den Haufen geworfen hätte.“

Olga sah ängstlich zu ihm auf. Ihre junge Seele war noch nicht von Zweifeln gequält worden; sie wusste nicht, dass man an irgendetwas, was in der Bibel stand, irre werden konnte.

„Ich hätte Ihnen nicht davon reden sollen“, sagte Dahlburg, „ich wollte nur bemerken, wie viel ich meiner Schwester verdanke. Ich freue mich, dass Sie sich kennen lernten und lieb gewonnen haben. Das Band der Gemeinschaft kann aufrechterhalten werden, trotz der Entfernung.“

„Wir wollen uns schreiben“, sagte Olga eifrig, „wir werden immer in Gemeinschaft bleiben.“

„Das ist recht. Treue Freundschaft ist mit das Beste, was wir auf Erden haben. Doch ich muss eilen. Es ist der letzte Tag, an dem wir beisammen sind, da gibt’s noch viel zu besprechen.“

„Grüßen Sie Margarete noch einmal.“ Er versprach es und trug einen Gruß an die Tante auf. Eben wollte er gehen, da kehrte er noch einmal um und fragte: „Was macht der Sekundaner?“

„Er ist, wie es scheint, jetzt recht fleißig.“

„Gut so“, rief er. „Sagen Sie ihm, bitte, er solle mich Sonntag zu einem längeren Spaziergang abholen.“ Er lüftete noch einmal den Hut und enteilte, während Olga sinnend nach Hause ging.

Später am Abend klingelte sie im zweiten Stock. Lina Jürß öffnete. Olga reichte ihr freundlich die Hand und sprach ein Weilchen mit ihr von der Heimat. Bei dem Namen Altenhorst leuchteten allemal ihre Augen.

„Ich hab’s ja gut hier und bin gern da, aber die Heimat bleibt doch das Schönste. Dumm war ich, dass ich nicht daheim blieb, auf dem Lande ist’s gar schön, nicht wahr, Fräulein Olga?“

Olga nickte. Je mehr es in den Sommer hineinging, um so enger wurde ihr die Stadt. Sie hatte oft Sehnsucht nach der ländlichen Freiheit, nach den grünen Bäumen und Büschen, nach der Luft, in der es sich viel besser atmen ließ als in der engen Stadt. Aber sie verkannte auch nicht das Gute, das ihr hier geboten wurde. Wie viel Neues lernte sie kennen, wie erweiterte sich ihr Gesichtskreis, wie viel edle Genüsse hatte sie im Winter gehabt durch die Güte der Tante, wie viele liebe Freundinnen hatte sie schon erworben. Die beste unter ihnen ging nun in die Fremde, aber ihr blieben die lieben Hausgenossen, die sie lieben und schätzen gelernt hatte. Annemarie und Lucie waren liebe, warmherzige Mädchen, beseelt für alles Gute; sie wirkten in verschiedenen Vereinen der Inneren Mission und entfalteten regen Eifer.

Eben jetzt wollte Olga sie abholen. Sie nahm teil an einer Vereinigung von jungen Mädchen aller Art, die an einem Abend in der Woche von 8 – 10 Uhr zusammenkamen. Solche, die wirkliche Kenntnisse besaßen, sei es in wissenschaftlicher oder sprachlicher Beziehung, oder die tüchtig und erfahren in Handarbeiten waren, hatten es sich zur Aufgabe gemacht, Mädchen aus den unteren Ständen unentgeltlich Unterricht zu geben, wenn sie die Fähigkeiten hatten, sich weiter ausbilden zu lassen. War dies der Fall, fanden sich wirklich Begabte, so halfen sie ihnen gern weiter, bereiteten sie vor zu irgendeinem Kursus, den sie dann noch durchzumachen hatten für diesen oder jenen Beruf. Es zeigte sich aber, dass viele Unbegabte darunter waren, denn es drängten sich viele herzu, weil es unentgeltlich war.

Bei den Unbegabten dahin zu wirken, einen Dienst bei einer Herrschaft anzunehmen, war eine der Hauptaufgaben, die sich die jungen Damen gestellt hatten. Denn es wurden immer mehr Klagen laut, dass alles in die Fabriken oder Geschäfte strömte und niemand sich fand, der im Hause Dienstleistungen tun wollte. Der Zwang beim Dienen war ihnen lästig, immer erst um Erlaubnis fragen, wenn man seinen Vergnügungen nachgehen wollte, das passte ihnen nicht. Sie liebten die freien Abende, darum machten sie mürrische Gesichter, als die jungen Damen ihnen mehrere Häuser nannten, in denen Dienende gebraucht wurden.

„Heute“, sagte Lucie, als sie mit Olga und Annemarie auf dem Wege nach der Wasserstraße war, wo der gemietete Saal lag, „heute muss es zum Austrag kommen. Wir haben uns lange genug mit den Unbegabten geplagt. Es sind kräftige Mädchen, deren Geschicklichkeit woanders liegt. Im Haushalt können sie etwas leisten, warum nehmen sie keinen Dienst an? Die Löhne sind hoch, dazu haben sie Kost und Wohnung frei, während die Ladenmädchen, Buchhalterinnen und Schneiderinnen von dem Lohn, den sie beziehen, sich nicht nur kleiden, sondern auch verköstigen müssen.“

Das Lokal war wieder sehr besucht. Die Unzufriedenen, das heißt die, welchen in der letzten Woche gesagt war, dass sie nicht die Fähigkeiten besäßen, sich zu einer nach ihrer Meinung höheren Lebensstellung aufzuschwingen, saßen beieinander und schienen irgendetwas im Schilde zu führen. Alle andern Mädchen saßen gruppenweise zusammen, je mit einer Dame an der Spitze. Hier wurden Handarbeiten gemacht, dort gerechnet, in einer andern Gruppe Französisch oder Englisch gelehrt, je nachdem das Bedürfnis da war. Zum Schluss vereinigte man sich zu einer Abendandacht.

Eine ältere Dame, die bei der Gruppe der Unzufriedenen saß, denen sie heute nur vorgelesen, erhob sich am Schluss und fragte freundlich, ob sich einige entschlossen hätten, bei den Herrschaften, die man ihnen genannt habe, in Dienst zu gehen. Es seien alles gute Häuser, sie würden es nicht zu bereuen haben. Ein Gemurmel ließ sich hören.

„Dienen“, ließen sich einige vernehmen, „mögen wir nicht, wir wollen auch etwas werden“, und eine, die keckste von ihnen, flüsterte so laut, dass das ältere Fräulein und die Nahestehenden es hören konnten: „Wenn es so schön ist bei den Herrschaften, kann ja das Fräulein selber hingehen und dienen, aber sie wird sich wohl hüten!“ Fräulein Siemig, so hieß die Dame, errötete flüchtig; sie hatte die Bemerkung wohl gehört, ignorierte sie aber vorderhand.

Die Mädchen wurden alle entlassen, auch die jungen Damen wollten schon auseinandergehen, als Fräulein Siemig bat, noch einen Augenblick zu bleiben.

„Sie haben alle gehört“, begann sie, „oder wenigstens einige von Ihnen, die in der Nähe des Mädchens standen, welche Äußerung getan worden ist. Wir glauben, die Mädchen sind uns dankbar, wenn wir uns Mühe mit ihnen geben, stattdessen müssen wir es uns gefallen lassen, spöttische Bemerkungen zu hören. Ich will mich aber dadurch nicht irre machen lassen. Unser Zweck, der heutigen Jugend das Dienen lieb zu machen, muss erreicht werden. Ich stehe ziemlich allein in der Welt, meine Eltern sind tot, Geschwister habe ich keine. Die Verwandte, bei der ich mich aufhalte, legt mir nichts in den Weg; ich habe mich entschlossen, den Mädchen zu zeigen, dass das Dienen keine Schande ist. Ich werde selbst, für ein Jahr etwa, einen Dienst annehmen.“

Die jungen Damen waren ganz starr vor Erstaunen; es wurde kein Wort laut, nur einzelne Ausrufe: „Oh!“ und Ah! ließen sich hören. Endlich erhob sich eine Stimme, die rief:

„Nein, Fräulein Siemig, Ihre Aufopferung geht zu weit, das dürfen Sie nicht.“

„Ich hatte gehofft, die eine oder andere würde mich unterstützen und sich auch zum Dienst melden, aber es überrascht Sie, meine Damen. Wer daheim einen nötigen Beruf hat, verlasse ihn nicht. Nur wenn sich eine unter Ihnen findet, die es mit mir versuchen möchte, würde ich mich freuen. Ich will heute natürlich keine Antwort, aber überlegen Sie es sich; nächste Woche, wenn die Mädchen fort sind, sprechen wir näher darüber.“