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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97504-9

August 2016

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Wir stehen vor atemberaubenden Möglichkeiten,
 die als unlösbare Probleme verkleidet sind.«

John W. Gardner

Prolog

Die ungelösten Probleme der Welt kommen nun zu Fuß zu uns

Im Jahr 1990 begann die erste globale Revolution. Hunderttausende Afrikaner machten sich auf den Weg, um ihren wohl unabwendbaren Hungertod nach einer großen Dürre nicht still in Afrika zu sterben, sondern in Europa, unmittelbar vor unseren Augen. »Seht zu, wie wir sterben«, war die Botschaft, die die Organisatoren damals den Europäern mit ihrem »Verhungern Live« übermitteln wollten.

Damals war dies noch ein Film, der für eine globale TV-Kampagne gedreht wurde, für die Kampagne »One World«, die von mehr als einer Milliarde Menschen gesehen wurde. Der deutsche Kampagnentitel war »Eine Welt für alle«. Der Filmtitel: »Der Marsch«. Der unter anderem auch in der ARD zur besten Sendezeit gezeigte BBC-Film wurde als maßlose Übertreibung und verantwortungslose Schwarzmalerei kritisiert. 15 Jahre später, 2005, verweigerte das spanische Fernsehen die Wiederausstrahlung mit der Begründung, dieser Film sei »zu realistisch«. Und zehn weitere Jahre später, 2015, überholte die Realität das filmische Szenario bereits um Längen. Am Ende des Films setzten gerade einmal 40 000 Menschen nach Europa über. In der Realität waren es 2015 bereits mehr als eine Million Flüchtlinge, die nach Europa kamen.

Inzwischen dämmert es immer mehr Europäern: Die ungelösten Probleme der Welt kommen nun, im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, zu Fuß zu uns. Wir können sie nicht mehr simpel »außen vor lassen«. Sie brechen sich, auf unterschiedlichsten Bahnen, den Weg zu uns. Die aktuellen Flüchtlingstrecks sind nur eine einzige von immer neuen Facetten einer globalrevolutionären Lage. Der sich ausbreitende globale Terrorweltbürgerkrieg ist eine andere Facette, der seine Todesspuren jetzt auch mitten in Europa hinterlässt. Weitere Völkerwanderungen aufgrund sich ausbreitender Zerstörungen von Ökosystemen und wachsender Folgen der Erdaufheizung zählen zu einer immer länger werdenden Liste von weiteren absehbaren Entwicklungen. Der Traum der Abschottung ist ausgeträumt. Die ungelösten Probleme der Welt, an deren Entstehung wir alles andere als wenig beteiligt waren, holen uns ein, schlicht und einfach, weil diese Probleme global sind, weil die Informationswege, die Wirtschaft, die Weltgesellschaft, weil alles global ist. Wegducken und Abschottung bedeuten heute eines: Die Wucht des Rückstoßes der ungelösten Weltprobleme nunmehr auch auf uns würde nur noch erheblich größer werden.

Daher gilt: Ohne Beseitigung der Fluchtursachen wird es keine Beendigung der Flüchtlingsströme geben. Ohne Beendigung der Erdaufheizung wird es kein Ende für deren eskalierende Folgen geben. Ohne endlich Ernst zu machen mit der Lösung der aufgestauten Flut globaler Probleme wird deren inzwischen sich von einem zum nächsten Thema fortsetzende Dammbruch Richtung Europa nicht mehr zu stoppen sein. Es ist alternativlos geworden, sich endlich in der notwendigen Dringlichkeit und Konsequenz der Lösung der Weltprobleme zu stellen. Dazu liefert dieses Buch konkrete, machbare und problemlösende Ideen – mit einem globalen Mindestlohn im Zentrum und etlichen damit verbundenen Vorschlägen.

In der gegenwärtigen Phase ist es wichtig zu verstehen, was da gerade abläuft und an welcher Stelle inmitten eines übergreifenden globalen Entwicklungsprozesses wir uns gerade befinden.

Der Club of Rome gab seinem im Jahr 1990 veröffentlichten zweiten großen Bericht den Titel »Die erste globale Revolution«. Dieser Begriff trifft den Kern des Prozesses. Alle bisherigen Phasen der sogenannten industriellen Revolution beschleunigten die Globalisierung aller menschlichen Gestaltungsoptionen in allen Lebensbereichen. Die digitale Revolution katapultierte diese Dynamik noch einmal in neue Dimensionen. Alle diese Revolutionen schufen in ihrem Ergebnis als neue Realität: eine Welt für alle, eine untrennbar miteinander vernetzte Lebenswelt einer Menschheit auf einer gemeinsamen Heimat namens Erde.

Diese in jedem denkbaren Wortsinne »globale Revolution« schafft die größten denkbaren Chancen, aber gleichzeitig – solange wir sie nicht verantwortungsvoll zu gestalten gelernt haben – die größten Herausforderungen und Gefahren. Auf die immensen Chancen der Globalisierung von Wissen, Information, Können, Erfahrung und allen technischen Hilfsmitteln für deren Vertiefung und Verbreitung kommen wir im Lauf dieses Buches ausführlich zu sprechen. Aber all diese Fortschritte nützen uns am Ende nichts, im Gegenteil, sie fügen uns sowie unseren Ökosystemen – den Grundvoraussetzungen für menschliches Leben auf diesem Planeten – irreversiblen Schaden zu, wenn wir es versäumen, die Ausweitungen der menschlichen Gestaltungspotenziale in eine globalsystemische Gesamtverantwortung einzubetten. Die Globalisierung menschlicher Möglichkeiten erzwingt unausweichlich die Globalisierung menschlicher Verantwortung.

Das Jahr 1972 markierte den Einstieg in eine Phase, in der die Menschheit sich der rasenden Globalisierung fundamentaler Bedrohungen ihrer Existenzgrundlagen bewusst wurde. Die Jahre 1990 bis 1992 markierten den Beginn der Phase, in der die Menschheit erkannte, dass sie sich eine global wirksame Gestaltungsfähigkeit für diese globalen Herausforderungen erarbeiten muss. Sie erkannte, dass davon schlicht ihre Überlebensfähigkeit abhängt. Sie organisierte globale Kampagnen wie »Eine Welt für alle« und nahm auch die entsprechenden globalen Verhandlungen auf der Ebene der Vereinten Nationen auf. Es sprechen starke Indizien dafür, dass das Jahr 2015 die entscheidende Phase dieser globalen Revolution markiert: die Phase, in der die Menschheit sich die so überfällige Gestaltungskraft samt der dafür erforderlichen konkreten Maßnahmen und Strukturen tatsächlich schafft. Große Meilensteine dieser Phase sind erreicht worden. Jetzt müssen wir sie festigen – mit einem globalen Mindestlohn.

Als der Club of Rome 1972 seinen ersten legendären Bericht, »Die Grenzen des Wachstums«, veröffentlichte, erwies sich dieser als Initialzündung für eine weltweite Umweltbewegung. Auf der Grundlage der Erkenntnis, dass die Belastbarkeit der Ökosysteme dieser Erde ihre Grenzen hat, nahm sich eine überall in der Welt aus dem Boden schießende Ökobewegung nichts Geringeres vor, als die Wende zu einer weltweiten Wirtschaftsweise der Nachhaltigkeit zu bewirken.

19 Jahre später erschien dann der schon erwähnte Bericht »Die erste globale Revolution«. Er machte deutlich: Umweltprobleme lassen sich nicht allein durch individuelles, lokales, regionales oder nationales Handeln lösen. Sie bedürfen auch und unumgänglich der Dimension globalen Handelns. Dieser Bericht blieb jedoch nicht bei den Umweltherausforderungen stehen, denn die technologischen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts hatten bis dahin menschliches Agieren bereits in jedem Lebensfeld globalisiert. Plötzlich hatten nahezu alle Probleme eine globale Dimension. Schlimmer noch: Weil es für diese Probleme auf der globalen Ebene keine auch nur annähernd vergleichbar handlungsfähige Institution gab wie auf kommunaler bis nationaler Ebene, verbreiterte sich die Kluft zwischen globalem Handlungsbedarf und globaler Handlungsrealität immer weiter. Eine Studie in den 1990er-Jahren, die im Kontext eines großen Forschungsprojekts für die Vereinten Nationen erstellt wurde, listete bereits mehr als 10 000 Probleme auf, die nur noch lösbar waren unter Einschluss von global verbindlichen Lösungsstrategien und damit von global wirksamem Handeln.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von »Die erste globale Revolution« fand in Rio de Janeiro die erste »Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung« der Vereinten Nationen statt. Diese Konferenz formulierte eine überaus komplexe und ambitionierte Agenda, derer sich die Menschheit in den folgenden Jahren und Jahrzehnten annehmen müsse, wenn sie nicht die gesamte menschliche Zivilisation an die Wand fahren wolle. Es folgten serienweise themenbezogene Weltkonferenzen, die bekannteste davon die Weltklimakonferenz. Allein für das Thema Klimawandel fanden bis 2015 nicht weniger als 21 Weltkonferenzen statt.

Die ersten 24 Jahre seit der Verkündung der ersten globalen Revolution waren gekennzeichnet von immer stärkeren und kreativeren Anstrengungen einer immer größer und einflussreicher werdenden globalen Zivilgesellschaft. Sie machte sich mit großer Ernsthaftigkeit auf, die aufgestauten globalen Herausforderungen zu lösen. Dieses knappe Vierteljahrhundert war jedoch auch gekennzeichnet von einem erschreckenden Schneckentempo der politischen Entscheider und einer Wirtschaft, die sich, von Ausnahmen abgesehen, in der Summe ebenfalls viel zu langsam und viel zu wenig bewegte. Dadurch metastasierten nahezu alle globalen Probleme ungebremst weiter.

Doch das Jahr 2015 markiert wohl durch zwei Entwicklungen eine entscheidende Wende. Zum einen spürten die westlichen Länder, dass die ungelösten globalen Probleme jetzt auch sie tangieren, und zwar nicht mehr nur marginal, temporär oder schleichend, sondern unmittelbar, fundamental und Angst einflößend. Die Rekordmarke von 60 Millionen Flüchtlingen weltweit im Jahr 2015, von denen so viele wie nie zuvor mitten ins Zentrum Europas kamen, ist nur ein Beispiel für viele.

Zum anderen gelangte, durch diese bedrohliche Entwicklung eher sogar verstärkt, ein ganz anderer Prozess zu Durchbrüchen, an die viele gar nicht mehr geglaubt haben: Sowohl die »Global Goals« als auch der Weltklimavertrag wurden im September beziehungsweise im Dezember 2015 von der Weltgemeinschaft einstimmig verabschiedet. Die Global Goals schreiben als Fortführung der »Millennium Goals«, die auch als »Sustainable Development Goals« bekannt wurden, Ziele fest. Dabei handelt es sich um die umfassendsten, mutigsten und konkretesten globalen Ziele, die jemals von der Weltgemeinschaft verabschiedet wurden, beispielsweise die vollständige und endgültige Beseitigung der absoluten Armut und des Hungers in der Welt bis zum Jahr 2030. Der Weltklimavertrag fixiert eine Roadmap zum Stopp des Klimawandels, die selbst über die optimistischsten Erwartungen hinausgeht. Die Weltgemeinschaft einigte sich tatsächlich auf die so lange vermissten Agenden für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunftsfähigkeit. Genau an diesem Momentum der Weltgeschichte ist es entscheidend, nun die umsetzungsstärksten Hebel für das tatsächliche Erreichen dieser gemeinsamen Agenda zu diskutieren.

Als wir das Konzept für die Etablierung eines globalen Mindestlohns mit der Untergrenze von 1 Dollar pro Stunde entwickelten, war noch offen, ob es zu einer Verabschiedung ernst zu nehmender Global Goals kommen und ob es überhaupt je einen Weltklimavertrag geben würde. Uns war lediglich klar, dass wenn die Weltgemeinschaft ihre Probleme endlich ernsthaft anpacken will, ein Schritt zwingend ist: endlich Schluss zu machen mit den massenhaften Sklavenlöhnen, die Hauptursache keineswegs nur für Armut und Hunger, sondern für ein sehr großes Bündel sehr vieler weiterer fundamentaler Weltprobleme sind. Ein globaler Mindestlohn wäre nach unserer Überzeugung der wirkungsvollste Hebel für das Erreichen der Global Goals und für die Überwindung sehr vieler weiterer systemisch miteinander verknüpfter Weltprobleme.

Ist dieses Ziel unrealistisch? Es ist genauso realistisch oder unrealistisch wie jedes andere kühne Ziel, das bisher von Menschengehirnen erdacht, gefordert, vorangetrieben und so verblüffend oft umgesetzt wurde. Wir müssen uns klarmachen: Jede bedeutende Entdeckung, jede bedeutende Erfindung, jede bedeutende Innovation, jedes gesellschaftspolitische Ziel war zu ihrer beziehungsweise seiner Geburtsstunde eine verrückte Idee, also weit außerhalb der bis dahin bekannten und vertrauten Realität. In Bezug auf technische Visionen halten wir inzwischen fast alles für möglich, was wenige Generationen vor uns noch als absurde Fantasterei abgetan hätten. Ein Werbespruch von Toyota in den 1990er-Jahren brachte dieses Phänomen geradezu philosophisch auf den Punkt: »Alles Mögliche war einmal unmöglich.«

Würde man die Wohlstandsfaktoren von Einkommen über Gesundheit, Lebensdauer, Mobilität und Bildung bis Kommunikationsmöglichkeiten gebündelt und additiv in einer Kurve erfassen, so hätte sich der Wohlstand auf dieser Welt in den vergangenen rund 200 Jahren um etwa den Faktor 100 erhöht. Es reicht also spielend für ein würdevolles Leben für jeden Bürger dieser Erde. Mit einem globalen Mindestlohn bringen wir jedoch etwas völlig anderes in Gang als ein globales Alimentierungssystem: Wir setzen die kreativen Entwicklungspotenziale eines Großteils der Menschheit frei! Diese können und werden dann kreativ mitwirken an einem nachhaltigen, friedlichen und umfassenden Wohlergehen der gesamten Menschheit.

Einleitung

Warum sich komplexe Probleme nur durch einfache Konzepte wirklich lösen lassen

Vorbemerkung: Wer in erster Linie auf die inhaltlichen Botschaften, Erkenntnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen dieses Buches neugierig ist, kann diese Einleitung überspringen und gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt seiner Lektüre darauf zurückgreifen. Hier werden Erkenntnisse aus der systemischen Evolutionsforschung dargelegt, die begründen, weshalb dieses Buch ganz bewusst einen im Kern sehr einfachen Gedanken und Vorschlag zur Lösung eines Bündels zentraler gegenwärtiger Herausforderungen ins Zentrum rückt. Der Grund ist keine Willkür oder Oberflächlichkeit, sondern angewandtes systemisches Denken in Bezug auf die Identifikation eines Schlüsselgedankens, der uns auf eine neue Ebene der Zukunftsgestaltung führen kann.

Wir sollten uns die Frage stellen, warum so viele der Probleme, die uns in den gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen begegnen, in Endlosschleifen zu hängen scheinen. Warum ist die Klimadebatte solch ein Wiedergänger, die Flüchtlingsdebatte, die Debatte um die Finanzsysteme, um fairen Handel oder um die Wirksamkeit ökologischer und sozialer Labels? Warum ist das so? Liegt dies in der Natur der Sache oder machen wir irgendwo einen Fehler im Umgang mit vielen unserer Probleme, vielleicht einen derart kardinalen Fehler, dass dieser die eigentliche Ursache der scheinbar unendlichen Geschichte unlösbarer Probleme ist?

Auch komplexe Probleme sind lösbar, selbst globale. Im Jahr 1974 warnten Wissenschaftler erstmals vor schädlichen Einflüssen von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, abgekürzt FCKW, auf unsere Umwelt. Als 1985 ein Zusammenhang zwischen dem FCKW-Ausstoß und dem Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre unserer Erde festgestellt wurde, einigte man sich erstaunlich schnell. Im Montrealer Protokoll vom 16. September 1987 verpflichteten sich viele Staaten auf eine drastische Reduktion der Herstellung von FCKW. Am 29. Juni 1990 beschloss die Internationale Konferenz zum Schutz der Ozonschicht in London, die Herstellung und Anwendung von CFK und FCKW ab dem Jahr 2000 zu verbieten.

Die Problemlage bei FCKW war in nahezu allen Punkten nicht anders als bei all den anderen Herausforderungen, die in Endlosschleifen rotieren. Das FCKW-Problem war »komplex«, was nahezu immer als Universalproblematik von vermeintlich kaum lösbaren Problemen angeführt wird. Es war neben vielen anderen Komplexitätsmerkmalen vor allem deshalb »komplex«, weil »global«. Bei anderen Problemen sorgen die grundsätzlich immer sehr weit auseinanderliegenden Interessenlagen der höchst unterschiedlichen Länder der Weltgemeinschaft chronisch für Dauerverhandlungen und, wenn es zu Ergebnissen kommt, ebenso chronisch für Kompromisse, die weit außerhalb einer sachlich notwendigen Wirksamkeit liegen.

Im Falle der FCKW-Herausforderung gab es einen Tipping Point, einen Umkipp-Punkt beziehungsweise »qualitativen Umschlagspunkt«, wie die Wissenschaftler Phänomene nennen, die den normalerweise zu erwartenden Entwicklungen plötzlich eine gänzlich andere Richtung geben. Der Tipping Point war vermutlich die Meldung, dass in Australien, wo die Ozonschicht bereits am stärksten geschädigt war, die Zahl der Hautkrebserkankungen rapide angestiegen war. Bilder von sonnenbadenden australischen Bürgern, die bereits erkennbar an Hautkrebs erkrankt waren oder sich nur noch in Badegewändern an den Strand wagten, die den ganzen Körper bedeckten, gingen um die Welt und pflanzten schlagartig in alle unsere Köpfe ein sehr persönliches Horrorszenario. Vor diesem Hintergrund erwarteten nahezu alle Bürger der Welt von ihren Politikern rasches und wirksames Handeln. Alle »normalen« lobbyistischen, politischen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bremsmechanismen waren durch diesen Erwartungsdruck außer Kraft gesetzt.

Was hindert uns, bei den so vielen anderen, nicht minderen oder gar noch viel größeren Bedrohungen ähnlich schnell zu problemanpackendem und problemlösendem Handeln zu kommen? Brauchen wir für diese nur ähnlich »starke Bilder« wie beim FCKW, um Tipping Points zu setzen? Genau das haben die weltweite Umweltbewegung wie auch alle anderen globalen Bewegungen zu akuten Bedrohungen versucht. Der Effekt der Bilder reduzierte sich jedoch in dem Maße, wie ihr Einsatz und ihre dramatisierende Zuspitzung zunahmen, sprich: Die Macht der Bilder nutzt sich mit der Zeit ab. Der Effekt wirkt gelegentlich noch, aber in vielen Fällen nicht mehr. Sein vorletzter großer Erfolg waren die Bilder von Fukushima. In Deutschland bewirkten sie eine Kehrtwende in der Frage des Atomausstiegs. Allerdings war Deutschland das einzige Land, das derart radikal auf die Bilder reagierte, die in allen Ländern der Welt in analoger Intensität über die Bildschirme liefen. Die jüngsten »Tipping-Point-Bilder« sind jene aus Lampedusa, Lesbos, Budapest, München, Leipzig, Berlin und vielen weiteren europäischen Orten. Hier entscheidet sich noch, wie klug wir mit ihnen umgehen.

Die gute Nachricht lautet: Die Welt der Tipping Points reduziert sich nicht auf Bilder oder Horrorszenarien. Vor allem wirken auch überzeugende Vorteile als Tipping Points. Ein Beispiel aus der Wirtschaft: Digitalkameras lösten Analogkameras weltweit innerhalb von nur drei Jahren ab. Vor allem durch ihre Kombination mit Mobiltelefonen, also den »Einbau« des Fotografierens in ein schon etabliertes, alltäglich begleitendes technisches Werkzeug, wurde der Vorteil von Digitalkameras gegenüber analogen auch ohne große Kampagnen für alle evident und wirkte entsprechend.

Gibt es ähnlich überzeugende Vorteile und damit ähnlich wirksame Tipping Points bei wichtigen Problemen wie der Beseitigung des Ozonlochs? Ja, die gibt es. Sie sind der eigentliche Kern dieses Buches. Sie werden insbesondere in zwei zentralen Themenfeldern exemplarisch ausgebreitet: den miteinander auf das Engste verwobenen Großproblemen systembedrohender Umweltschädigungen und der ungebrochen schreienden Armut von mehr als zwei Milliarden Menschen. Diese Problemlagen haben die vielleicht größten und nachhaltigsten Auswirkungen auf fast alle anderen Problemlagen von Flucht bis Frieden, von demografischem Wandel bis Energiewende. Doch bevor wir auf die Ebene dieses zentralen Anwendungsbeispiels kommen, seien noch einige Grunderkenntnisse vorangestellt, was die Lösbarkeit von komplexen Problemen betrifft.

Die Systemwissenschaft, die sich mit den Grundlagen der Entwicklung und Veränderung von allen Systemen – von natürlichen bis zu sozialen und menschlichen, von Mikrosystemen bis zum System unseres Universums – befasst, entdeckte folgendes universal gültige Gesetz:

Evolution erfolgt auf allen Ebenen – von der Entwicklung der ersten Mikroorganismen bis zu der eines so hochkomplexen Sozialsystems wie der Menschheit – durch ein Zusammenspiel von Differenzierung und Integration. Am Anfang jeder Evolutionsstufe steht eine Ausdifferenzierung ihrer Möglichkeiten. Ist ein gewisses Maß an Ausdifferenzierung erreicht, vollführt die Entwicklung einen Evolutionssprung zu einer neuen Ebene. Das zentrale »Organ« der neuen Ebene erfüllt vorrangig integrative Leistungen. Es koordiniert die Potenziale der darunterliegenden Stufen zu neuen Möglichkeiten. Die bereits zuvor entwickelten Organe werden in ihren Einsatzmöglichkeiten erheblich erweitert. Die Einsatzmöglichkeiten von Händen und Füßen sind nicht dieselben, ob diese instinktgeleitet sind oder durch ein intelligentes menschliches Gehirn gesteuert werden. Das menschliche Gehirn erhöht durch seine integrativen Steuerungsfähigkeiten gleichzeitig die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten all jener Werkzeuge, die prinzipiell auch einem Tier zur Verfügung stehen. Die Qualität der integrativen Organe (zum Beispiel Gehirn) erhöht die Qualität und die Handlungsmöglichkeiten der Differenzierungsorgane (etwa Hände). Evolution ohne integrative Sprünge ist nicht denkbar. Am Ende, sozusagen an der Grenze einer Ausdifferenzierungsphase, geraten Systeme in chaotische, instabile Zustände, die nur auf eine Weise einen Ausweg finden können: durch den Sprung zu einer neuen integrativen Qualität.

Beim Menschen schließlich waren die Voraussetzungen für einen neuen Evolutionssprung gegeben durch die Herausbildung der bisher wichtigsten Kulturleistung: der Sprache. Sie gestattet uns, Erfahrungen mit anderen auszutauschen. So können wir nicht nur aus eigenen Erfahrungen lernen, sondern ebenso aus Erfahrungen anderer. Auch in dieser Phase gab es jeweils weiter beschleunigende Entwicklungssprünge, beispielsweise durch die Erfindung der Schrift, des Buchdrucks, der Telegrafie, der Telefonie, des Internets. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit zu einem einzigen, wechselseitig vernetzten Informationsprozessor wird, zu einer Art Weltgehirn. Wir stehen nunmehr mitten in dem Prozess der Ausgestaltung dieser neuen Ebene der Evolution, in der die gesamtmenschheitliche Vernetzung und die Kooperation aller menschlichen Leistungen dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologie stattfindet.

An jeder dieser Schwellen zu einer neuen Systemebene und zu einer neuen Welt von bis dahin unvorstellbar neuen Entwicklungsmöglichkeiten stand ein im Kern einfacher Schritt oder genauer: ein Schritt der Vereinfachung, und zwar der Vereinfachung des Informationsaustauschs und der Kommunikation. Wenn wir uns die Bedeutung von vereinfachenden Lösungen für evolutionäre Sprünge vergegenwärtigen möchten, müssen wir uns nur die Schwelle in das digitale Zeitalter ansehen: Die Mathematik schien mit der Einführung der arabischen Ziffern von 0 bis 9 bereits am Optimum ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Dann dachte Gottfried Wilhelm Leibnitz 1679 als erster Mensch darüber nach, ob nicht ein binäres Zahlensystem viel besser sein könnte. Es dauerte noch knapp 300 Jahre, bis seine Überlegungen zur praktischen Anwendung kamen. Das Ergebnis kennen wir als den Einstieg in das digitale Zeitalter.

Aus diesen Ausführungen können wir Folgendes lernen: Der Interessanteste aller Tipping Points ist die Komplexitätsreduzierung durch den Wechsel in ein neues System, das vereinfachten Informationsaustausch schafft und damit eine neue Handlungsfähigkeit für eine neue Qualität an menschlicher kreativer und komplexer Schöpfungskraft.

Wenn wir uns mit einem bis dato entwickelten System – beispielsweise unserem Rechtssystem – in ein Ausmaß an Komplexität verirrt haben, das von immer weniger Menschen »beherrscht« wird, entsteht nicht mehr Recht, sondern mehr Spielraum für dessen Manipulationen aufgrund immer exklusiveren Herrschaftswissens über die versteckten »Gestaltungsräume« im Gesetzesdschungel. Sind schon immer mehr nationale Rechtsthemen so komplex, dass selbst die gesetzgebenden Instanzen kaum mehr durchblicken, mutierten Recht und Verordnungen und steuerliche Regelungen und vieles mehr im internationalen Raum längst zu Feldern, die zu Herrschaftsgebieten von Superexperten wurden jenseits echter öffentlicher und demokratischer Kontrollmöglichkeit.

Überkomplexe Systeme führen zwangsläufig irgendwann zu immer mehr und immer gefährlicheren Fehlfunktionen. Wir sollten also aufhören, für jedes neue Problem immer nur in Richtung von noch komplexeren Lösungen innerhalb eines ohnehin schon höchst komplexen Systems zu denken. Wir sollten uns öffnen für ein Nachdenken über systemische Lösungen, die unsere Systeme verständlicher machen, transparenter, demokratischer, überzeugender, gestaltbarer, entwicklungsfördernder, nachhaltiger und handlungskräftiger.

Dieses Buch setzt auf bewusst einfache Lösungskonzepte, auf Lösungskonzepte, die das Potenzial in sich tragen zu systemischen Sprüngen auf neue Ebenen menschlicher und menschheitlicher Gestaltungsfähigkeit. Der wichtigste Vorschlag mit dieser Qualität eines systemischen Sprungs zu völlig neuartiger Lösungsmacht ist der eines globalen Mindestlohns von 1 Dollar netto als globale und wettbewerbsneutrale Lohnuntergrenze. Dieser Vorschlag verfolgt kein geringeres Ziel als die Überwindung der modernen Sklaverei und damit eng verbundener Folgeprobleme wie das Drama massenhafter weltweiter Flüchtlingsströme.