Inhaltsverzeichnis

Das graue Haus in der Rue Richelieu in Paris
Eine Criminalgeschichte
Karoline Pierson

Das graue Haus in der Rue Richelieu & Eine Kriminalgeschichte


e-artnow, 2016
Kontakt info@e-artnow.org

ISBN 978-80-268-6817-0

Das graue Haus in der Rue Richelieu in Paris
Nach einer wahren Begebenheit von Edmund Hahn

Inhaltsverzeichnis
I
II
III
IV
V
VI
VII

I

Inhaltsverzeichnis

An einem sonnigen Maimorgen gingen zwei Herren über die Brücke in Paris, die den Namen pont neuf führt. Unweit von der Statue König Henri IV., welche die Brücke ziert, blieb der ältere stehen, mit einer raschen Bewegung faßte er die Hand seines jugendlichen Begleiters und sagte: »heute vor siebzehn Jahren« – aber plötzlich hielt er inne und schwieg.

»Was wolltest Du mir erzählen lieber Vater?« fragte der Jüngling und blickte liebevoll den Ersteren an.

»Nichts von Bedeutung mein theurer Alphonse, man muß Vergangenes vergangen sein lassen«; erwiederte der Vater.

Alphonse kannte ihn zu gut, um eine zweite Frage auszusprechen, er bemerkte, daß sein Vater bleich geworden war und mit starren Blicken hinab auf die Seine schaute, welche ruhig dahin floß, nur durch wenige Fahrzeuge belebt. Er wagte nicht zu reden, aber er dachte desto mehr.

Endlich erwachte Herr Henri Maurice, dies war der Name des älteren Herrn, aus seinem Nachdenken und freundlich, wie es stets seine Weise, sagte er zu Alphonse, »Es ist Zeit, Herr Duresnell wird uns erwarten, wir wollen nicht unpünktlich sein.«

»Kennst Du Herrn Duresnell näher, Vater? glaubst Du, daß ich in seinem Hause gut aufgenommen sein werde?«

»Ich weiß, daß Herr Duresnell über große Reichthümer gebietet und ein Mann ist, vor dem sich Jeder tief verbeugt, wenn er auf der Börse erscheint. Es ist meinem Freunde nicht ganz leicht geworden, Dir einen Platz im Duresnellschen Comptoir zu verschaffen, aber da Du Kenntnisse und Fleiß besitzest, wird es Dir nicht schwer Dich anfangs nützlich, und später unentbehrlich zu machen. Du trittst jetzt auf die erste Stufe, welche Dich auf den Weg zu dem Tempel der Zufriedenheit und des Wohlstandes führen soll, siehe zu, daß Du auf dieser nicht ausgleitest«.

»Ich will mich bestreben, Dir Ehre und Freude zu machen, bester Vater, obgleich ich mich lieber der Literatur, als dem Handelsstande gewidmet hätte«.

»Der Literatur?« rief Herr Maurice mit bitterm Lächeln, »angenommen, daß Du mehr Talent hättest, als ich bisher an Dir bemerkte, mehr als ich, wenn Du nicht Dich herablassen willst zu kriechen, zu intriguiren, zu spekuliren und zur Zeit auch zu bramarbasiren, wirst Du stets ein, vielleicht geachteter, aber nie hoch honorirter, nie viel genannter Schriftsteller bleiben. Als Kaufmann hast Du Aussichten, daß Dein Fleiß Dir Früchte trägt, Dein Leben wird ein glücklicheres sein, und nur in Deinem Glücke finde ich meinen Frieden«!

Herr Maurice sprach diese Worte mit so tiefer Bewegung, daß Alphonse lebhaft ausrief: »gewiß, lieber Vater, ich will Alles thun, was Deiner Ansicht nach, mein Glück begründen kann«.

Jetzt standen Vater und Sohn in der Rue-Richelieu vor dem pallastähnlichen Hause des Herrn Duresnell, das dastand wie ein Zeuge aus Zeiten, welche für Frankreich nie wiederkehren mögen.

»Ein altes, graues Haus«, bemerkte Alphonse. »Es steht wohl seit den Zeiten der letzten Valois und hat stets der Familie Melville gehört, bis Herr Duresnell es von seinem Oheim, der kinderlos gestorben ist, erbte«.

Der Portier wies die Herren nach der ersten Etage, wo ein Diener sie empfing.

»Herr Maurice?« fragte der Diener mit einer Verbeugung, »ich habe Befehl, Sie zu Herrn Duresnell zu führen.«

Die beiden eben Angekommenen folgten dem Diener durch mehrere, mit weichen Teppichen belegten Zimmern, endlich rief er in ein etwas dunkles Gemach, dessen Thüre halb offen stand: »Die Herren Maurice, mein Herr?«

»Eintreten!« entgegnete eine heisere Stimme.

Das Zimmer, welches Vater und Sohn jetzt betraten, war prachtvoll und mit Geschmack eingerichtet, an einem Tische saß Herr Duresnell, das Gesicht durch einen Augenschirm halb bedeckt.

Nachdem Maurice seinen Sohn vorgestellt hatte, sagte Herr Duresnell: »nehmen Sie dieses Buch und lesen Sie daraus vor, Herr Alphonse, aber treten Sie an das Fenster«. Alphonse that es, als er eine kleine Pause machte, sprach Herr Duresnell: »Ihr Organ ist höchst angenehm, und Sie lesen schön, ich hoffe, Sie werden für mich passen. Können Sie schweigen, junger Mann?«

»Ich bürge für seine Verschwiegenheit, sie ist ein Theil der Treue«.

»Gut, gut! Sie werden bei mir im Hause wohnen, mein Kammerdiener hat Befehl, Ihnen Ihr Zimmer anzuweisen, richten Sie sich heute ein, Morgen werden Sie erfahren, was Sie zu thun haben. Guten Morgen, meine Herren«.

Als Vater und Sohn sich allein gegenüberstanden, sagte Alphonse: »Herr Duresnell ist offenbar ein sehr reicher Mann, ob aber glücklich? Auf diese Frage wage ich nicht bejahend zu antworten?«

»Hm, der Mann leidet jetzt an den Augen, das drückt ihn, aber auch arme Menschen sehen zuweilen nicht gut, und für diese ist es noch schlimmer. Sein vieles Geld erleichtert Herrn Duresnell das Leid, welches er zu tragen hat«.

»Das ist wahr«, entgegnete der Sohn.

II

Inhaltsverzeichnis

Zwei Monate befand sich Alphonse bereits im Hause des Millionärs, aber obgleich er einen anständigen Gehalt empfing, nicht zu viel Arbeit hatte und offenbar bei Herrn Duresnell gut angeschrieben war, fühlte er sich doch immer noch nicht heimisch in dem großen Hause, auf dessen langen Gängen sein Schritt widerhallte.

Alphonse bewohnte zwei große, gut möblirte Zimmer, ein Diener brachte ihm täglich sein Frühstück, sein Diner und bediente ihn, aber der Mann war schweigsam und selten glättete sich seine gefurchte Stirn.

Um zehn Uhr mußte Alphonse zu Herrn Duresnell, um ihm die französischen, englischen und italienischen Zeitungen vorzulesen, dann sandte er den jungen Mann mit besonderen Aufträgen auf die Börse und ließ sich später über alles, was daselbst vorgefallen war, Bericht erstatten, obgleich der älteste Handlungsgehilfe das auch that. Im Comptoir, wo es auch sehr still zuging, hatte Alphonse nur selten zu thun, doch lernte er, da er lernbegierig war, und eine scharfe Auffassungsgabe besaß, viel aus den Bemerkungen des Herrn Duresnell, welcher ein kluger Mann war.

Ob Herr Duresnell Wittwer oder nie verheirathet gewesen war, ob er Kinder besaß oder jemals besessen hatte, wußte Alphonse noch immer nicht. Er hatte einmal den Diener, als ihm dieser das Frühstück gebracht hatte, darnach gefragt, aber keine Antwort erhalten.

Eines Morgens, als Alphonse eben beginnen wollte, Herrn Duresnell die Zeitungen vorzulesen, trat der Kammerdiener desselben ein und brachte einen Brief.

»Welches Postzeichen?« fragte Herr Duresnell in seiner kurzen Weise.

»Genf.«

»Ah, von Claudia, geben Sie mir den Brief.«

Herr Duresnell ging an das Fenster, wischte sich die Augen mit einem Tuche und versuchte zu lesen.

»Zu klein geschrieben, warum schreiben die Menschen Alle so klein, und sogar Sie, welche doch weiß, daß ich nur große Schrift lesen kann!« brummte Herr Duresnell, »nehmen Sie Briefpapier Alphonse und schreiben Sie:

Mademoiselle,

auf Befehl des Herrn Duresnell sende ich Ihnen diesen Brief zurück, er erbittet sich den Inhalt desselben umgehend, aber mit großen Buchstaben, da Herr Duresnell kleine Schrift nicht zu lesen vermag. Und nun den gewöhnlichen höflichen Schluß. Hier, legen Sie dieses Briefchen zu Ihrem Schreiben und adressiren Sie: Mademoiselle Claudia Duresnell, Genf, Pensionat von Madame Hallfeld. Lassen Sie den Brief besorgen Alphonse, sprechen Sie aber zu Niemand davon, überhaupt vergessen Sie nie, daß ich Sie augenblicklich entlasse, sobald Sie eine Sylbe von dem sprechen, was Sie in meinem Zimmer lesen, hören oder sehen«.

»Sehr wohl, Herr Duresnell«.

Alphonse hielt Wort, selbst seinem Vater theilte er über das Haus und dessen Bewohner nicht das Geringste mit. Er liebte den Vater von ganzem Herzen, und es machte Alphonse glücklich, daß er von dem ansehnlichen Gehalte, welchen er empfing, einen Theil an den Mann abgeben konnte, der ihm durch Zärtlichkeit und Sorgfalt auch die Mutter ersetzt hatte. In freien Stunden machten Vater und Sohn kleine Ausflüge auf das Land und der letztere war glücklich, zu sehen wie die alte schriftstellerische Thätigkeit den Vater wieder glücklich machte, seit er keine Nahrungssorgen mehr hatte.

Herr Duresnell behielt nur solide Männer in seinem Geschäft, auch wußte er stets zu erfahren ob sie die Kirche besuchten. Er selbst pflegte, wenn er gesund war, jeden Morgen in der nächsten Kirche eine stille Messe zu hören und Klöster und Kirchen erhielten oft reiche Spenden von ihm. An Sonntagen durfte in seinem Hause nicht gearbeitet werden, seine Dienerschaft hatte an diesem Tage vollkommene Freiheit, nur der alte Kammerdiener blieb aus freier Wahl auch diesen Tag daheim und trug seinem Herrn die Speisen auf, welche von einem Restaurant geschickt wurden.

An einem Sonntage erwachte Alphonse später als gewöhnlich. Er fühlte sich nicht ganz wohl und da der Regen wie mit Eimern vom Himmel stürzte, beschloß er zu Hause zu bleiben. Zu seinem Herrn brauchte er nicht zu gehen, er beendigte also rasch sein Frühstück, und setzte sich dann in seinen Armstuhl, um den neuesten Roman zu lesen. Alle Diener des Hauses, hatten dasselbe verlassen, es war noch stiller als gewöhnlich, auch von Außen wurde Alphonse wenig gestört, da Rue Richelieu eine von den Straßen ist, auf welchen nicht viel gefahren wird.

In der Regel ging Alphonse Sonntags aus und erhielt kein Diner an diesem Tage. Weder Herr Duresnell noch der Kammerdiener vermutheten, daß der junge Mann daheim sei.

Alphonse dachte nicht daran, da er aber nach einigen Stunden seinen Roman zu Ende gelesen hatte und kein anderes Buch zur Hand nehmen wollte, kam er auf den Einfall sich einmal gründlich in dem großen, alten Gebäude umzusehen.

Erst stieg er zwei Treppen hinab und ging über die Corridors, der ersten Etage, in welcher Herr Duresnell wohnte, klinkte an einigen Thüren, welche aber alle verschlossen waren. Dann stieg er die zweite Treppe hinauf, und versuchte die großen Flügelthüren zu öffnen, welche sich in der Mitte des Vorsaales befanden. Sie sprangen auf, Alphonse befand sich in einem großen Salon, welcher durch die dunkelviolette Tapete und die violetten Sammetvorhänge etwas Düsteres an sich hatte. Die Mobilien waren offenbar zur Zeit Ludwig des XIV. gemacht und prachtvoll, auf den Marmorplatten der Tische lag Staub. Die großen Kronleuchter waren in Schleier gehüllt.

Jetzt drang, nach langem Regnen, wieder ein Sonnenstrahl durch die Fenster, er erhellte das Portrait einer Dame, welche in dem leichten Costüm der ersten Kaiserzeit von der Wand herablächelte.

Bewunderungsvoll stand Alphonse vor dem Portrait, der junge Mann glaubte, niemals etwas Schöneres gesehn zu haben. Endlich riß er sich von dem Bilde los, und trat in das Nebengemach, auch dies war mit Pracht eingerichtet, die Wände waren mit Blumenstücken geziert, an der einen Seite stand eine Spinett. Noch drei Gemächer durchwanderte Alphonse, jetzt öffnete er wieder eine Thür und erschrack nicht wenig, als er eine alte Dame gewahrte, welche an einem Tische saß und schrieb.

Hocherröthend und verlegen wollte der junge Mann, eine Entschuldigung murmelnd, sich zurückziehen, aber die Dame stand auf und sagte halb befehlend, halb humoristisch: »nur näher mein Herr, Sie entkommen mir nicht, was wollen Sie hier, und wer sind Sie?«

Anstand, Sprache, Kleidung der Dame verriethen, daß dieselbe den höheren Kreisen angehörte und Geist besaß, deshalb erwiederte Alphonse mit einer graziösen Verbeugung: »es macht mich sehr glücklich, Madame, daß Sie mich nicht sofort verbannen, obgleich ich nicht weiß, ob eine offene Beichte mich vor Ihnen rechtfertigen wird. Mein Name ist Alphonse Maurice, ich gehöre zu den Comptoiristen der Handlung, blieb heute des schlechten Wetters wegen daheim und hielt es nicht für Unrecht, mich in dem Hause umzusehen, da ich eine große Vorliebe für Alterthümer habe und Herr Duresnell mir nie verboten hat, mich im Hause umzuschauen«.

Die Dame lächelte ein wenig und sprach: »Ihren Namen wußte ich bereits, ich wollte nur hören, ob Sie mir die Wahrheit sagen würden, was die jungen Herrn, oder richtiger gesagt, alle Männer, nicht oft thun. Darum sollen Sie auch nicht verbannt werden, sondern Thee mit mir trinken, denn Ihr Gesicht, vor Allem aber Ihre Art zu sprechen erinnert mich an einen Freund, aus der goldenen Jugendzeit«.

»Vielleicht hatte mein Vater Henri Maurice früher die Ehre von Ihnen gekannt zu sein, Madame, doch soll ich ihm nicht ähnlich fein«.

»Habe nicht das Vergnügen Ihren Herrn Vater zu kennen. Jetzt will ich den Thee machen, und mich Ihnen nennen, Athenais Varreux, oder eigentlich de Varreux; aber mein Großvater hat in der Revolution sich in den Bürger Varreux verwandelt, mein Vater ward Kaufmann und im Grunde klingt Athenais Varreux auch ohne das de gut. Gefällt es Ihnen hier im Hause?«

»Herr Duresnell ist sehr gütig gegen mich, endlich bin ich nützlich, selbstständig meinem Vater gegenüber, was den Geldpunkt betrifft«.

Die Dame nickte mit dem Kopfe, »gut, gut, aber still ist es im Hause, nicht wahr? Ich liebe diese Ruhe, bin nun seit Jahren daran gewöhnt, aber für einen jungen Mann, mag sie wohl viel Langweiliges enthalten. Vielleicht, wenn Herrn Duresnells Augen wieder hergestellt sind, und Claudia kommt, wird es lebhafter.«

»Ist Mademoiselle Claudia eine Verwandte des Herrn Duresnell, Madame?«

»Seine Tochter, von sechs Kindern das einzige, das ihm geblieben ist. Sie war etwas schwächlich, deshalb haben sie die Aerzte in die Schweiz geschickt. Jetzt soll sie sich vortrefflich befinden. Wollen Sie das Porträt von Mademoiselle Claudia sehen?«

»Mit großem Interesse«.

Mademoiselle Varreux nahm ein Etuis von dem Schreibtisch, drückte an einer Feder und hielt dem jungen Manne ein Engelsköpfchen hin.

»So sah Claudia mit zwölf Jahren aus, jetzt ist sie zwei Jahre in Genf. Ich hoffe, daß sie in einigen Monaten heimkehrt«.

»Ich sollte glauben, daß der Umgang mit solch lieblichem Kinde, Herrn Duresnell aufheitern müsse

Ach, Herr Maurice, Herr Duresnell hat viel Hartes erlebt!«

»Das scheint so, vielleicht sind deßhalb alle seine Diener so schweigsam und über das Haus ist eine so dunkle Wolke ausgebreitet, welche nur figürlich zu sprechen, jeden Sonnenstrahl abhält.«

»Freilich, da Sie mein Hausgenosse sind und mir ganz besonders wohlgefallen, als ob Sie mein Verwandter wären, will ich Ihnen Einiges aus dem Leben des Herrn Duresnell erzählen, wenn Sie hören wollen.«

»Mit der lebhaftesten Theilnahme, Madame«.

»Die Brüder meines Vaters und er selbst wurden Kaufleute, dieses Haus, in dem meine Urgroßmutter die Ehre hatte Molière und andere berühmte Schriftsteller bei sich zu sehn und Personen vom höchsten Adel zu empfangen, wurde ein Kaufmannshaus und die Varreux standen sich gut dabei. Ich war das einzige Kind meines Vaters, einer seiner Brüder starb unvermählt, noch ziemlich jung, der andere verheirathete sich und hatte einen Sohn, welcher nach seinem Tode die Handlung fortführte. Seine Frau war die holdseligste Person und meine liebste Freundin, deßhalb blieb ich in diesem Hause wohnen.

Ihr Mann, mein Vetter Victor Varreux machte glänzende Geschäfte, er nahm Herrn Duresnell, den Bruder seiner Frau in seine Handlung und wir bildeten eine Familie. Auch Duresnell verheirathete sich, mit einer schönen, stolzen Frau, Ihr Porträt hängt im violetten Salon.«

»Wie, dies Bild, offenbar von Meisterhand gemalt, stellt Herrn Duresnells verstorbene Gattin vor? Ich nehme an, daß sie todt ist.«