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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Pesch



ISBN 978-3-492-97481-3
Oktober 2015
© Shirin Ebadi, 2016
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Until We Are Free. My Fight For Human Rights In Iran« bei Random House, Penguin Random House LLC.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Hans Jørgen Brun
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen



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Und diejenigen, die Unrecht tun,
werden bald erfahren, was für
eine Rückkehr ihnen bevorsteht.

DER KORAN, SURE 26, 227

Wer verbannt ist, der, ich weiß es,
nagt an leeren Hoffnungen.

AISCHYLOS

PROLOG

Morddrohung

Ich war unruhig. Es war ein Abend wie jeder andere – wir aßen gemeinsam im Haus meines Bruders –, doch ich spürte eine Beklommenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Der Raum war stickig, die Lampen waren zu hell, die Kinder lauter als gewöhnlich. Ich trat auf den Balkon hinaus, um frische Luft zu schnappen, und beobachtete, wie Wolken den Himmel verdunkelten. Plötzlich gab es einen lauten Knall; dann begann der so dringend benötigte Regen den giftigen Smog aus der Luft zu waschen. Obwohl es April war und der Wind den Wintersmog aus Teheran hätte vertreiben sollen, war mir das Atmen draußen schwergefallen. Ein Regierungsvertreter hatte vor Kurzem gesagt, dass es einem »Massenselbstmord« gleiche, in einer Stadt mit einer derart verpesteten Luft zu leben.

Seit Wochen arbeitete ich bereits an einem Bericht über die Hinrichtung von Kindern durch die Regierung. Fast jede andere Nation der Welt hatte die Todesstrafe für Minderjährige abgeschafft, doch der Iran verhängte sie regelmäßig für eine Reihe von Straftaten, von Mord bis zu Tötung in Notwehr. 2004 war ein sechzehnjähriges Mädchen wegen vorehelichem Sex beziehungsweise »Verbrechen gegen die Keuschheit« zum Tode verurteilt worden. Der Richter selbst fungierte angeblich als Henker, führte die Schülerin zur Schlinge, verband ihr die Augen und gab dem Kranführer das Zeichen, sie vom Boden hochzuziehen. Ihr Körper hing fast eine Stunde lang von diesem Kran herab, ihr schwarzer Tschador flatterte im Wind. Der Staat wollte verhindern, dass die Aufmerksamkeit, vor allem die des Auslands, auf diese Hinrichtungen gelenkt wurde, doch meine Kollegen und ich hatten hart daran gearbeitet, ein Muster dieser Strafen aufzuzeigen. Es war der vielleicht mutigste Bericht, den wir je verfasst hatten, und wir wollten ihn bald den Vereinten Nationen vorlegen, wo man die Islamische Republik zweifellos scharf verurteilen würde. Sicher war das der Grund für meine Beklommenheit, sagte ich mir. Wenn ich später wieder zu Hause wäre, den Bericht in der Hand hätte, ihn bei einer Tasse Tee sprachlich überarbeiten und die Einzelheiten überprüfen könnte, würde diese Unruhe bestimmt nachlassen.

Ich beschloss, früh nach Hause zu fahren, und verabschiedete mich von meinem Bruder und seiner Familie. Die Straßen waren weitgehend leer, und die Luft roch nach Abgasen, verfaulten Blättern und Regenwasser, als ich in mein Auto stieg. Beim Losfahren fiel mir an der Seitenmauer eines Gebäudes ein Graffiti ins Auge. Es wurde von einer Straßenlaterne beleuchtet und verhöhnte die USA und den Westen: »Verhängt ruhig eure Sanktionen; wir werden schon damit fertig.«

Auf den Straßen war es sehr still; das einzige Geräusch verursachte der Regen unter meinen Reifen. Ich bog in meine Straße ein, ein ruhiges Gässchen. Bei diesem Wolkenbruch war niemand draußen, und der Bürgersteig wirkte noch verlassener als sonst. Mein Mann, Javad, war nicht zu Hause, und die Fenster waren dunkel. Ich dachte an den Bericht, der drinnen auf meinem Schreibtisch auf mich wartete, an die entsetzlichen Schilderungen, wie Kinder von Kränen herabhingen. Voller Angst tastete ich nach den Schlüsseln in meiner Tasche. Ich wich den Pfützen aus und schaute nervös über die Schulter, sodass ich den Zettel erst sah, als ich direkt davor stand. An meine Haustür geheftet war eine Botschaft auf weißem Papier von jemandem, der mich beobachtet hatte:

Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden wir gezwungen sein, Ihr Leben zu beenden. Wenn Sie am Leben hängen, dann hören Sie auf, die Islamische Republik zu verleumden. Hören Sie auf, im Ausland für Wirbel zu sorgen. Sie umzubringen wäre für uns ein Leichtes.

KAPITEL 1

Einschüchterung

Die Geschichte des Irans ist die Geschichte meines Lebens. Manchmal frage ich mich, warum ich so stark an meinem Land hänge, warum die Silhouette von Teherans Elburs-Gebirge mir so vertraut und so kostbar für mich ist wie der Umriss des Gesichts meiner Tochter, und warum mein Pflichtgefühl gegenüber meinem Land stärker ist als alles andere. Ich erinnere mich an die 1980er-Jahre, als so viele meiner Freunde und Verwandten das Land verließen, entmutigt von dem Bombenregen, der während des Kriegs mit dem Irak über uns niederging, und den Kontrollstellen der Moralpolizei, die von der neuen islamischen Regierung errichtet wurden. Ich verurteilte zwar niemanden, der gehen wollte, konnte diesen Drang jedoch nicht verstehen. Verließ man die Stadt, in der man seine Kinder zur Welt gebracht hatte? Ließ man die Bäume in dem Garten zurück, den man jedes Jahr bepflanzte, noch bevor sie Granatäpfel und Walnüsse und duftende Äpfel trugen?

Für mich war das undenkbar. Als ich das höchste Gericht des Landes betrat und das Säuberungskomitee mir mitteilte, Frauen könnten nicht länger Richterinnen sein, blieb ich. Ich blieb, als man mich in eben dem Gericht, dem ich vorgesessen hatte, zur Büroangestellten degradierte. Ich verschloss die Ohren, als die Revolutionäre, die die Leitung des Strafjustizsystems übernommen hatten, sich in meiner Anwesenheit darüber ausließen, dass Frauen launenhaft, entscheidungsschwach und ungeeignet seien, Recht zu sprechen, was nun die Arbeit von Männern sein würde. Ich blieb, als die irakischen Kampfflugzeuge Häuser in unserer Straße in Schutt und Asche bombten. Ich blieb, als die neuen Machthaber erklärten, dass der Islam eine hart durchgreifende Rechtsprechung verlange, dass er es erlaube, junge Männer und Frauen auf Hausdächern hinzurichten, sie wegen ihrer politischen Überzeugungen an Kränen aufzuhängen und ihre Leichen in Massengräber zu werfen.

So wie ich den Iran nicht verließ, so wendete ich mich auch nicht vom Islam ab. Wenn wir alle unsere Koffer packten und in Flugzeuge stiegen, was würde dann von unserem Land noch übrig bleiben? Wenn wir uns fügten, still zu Hause blieben und es zuließen, dass sie verkündeten, der Islam erlaube die Ermordung von Schriftstellern und die Hinrichtung von Teenagern, was bliebe dann noch von unserem Glauben?

Auf dem dünnen, transparenten Papier, das wir damals für Luftpost verwendeten, schrieb ich lange Briefe an Freunde, die ausgewandert waren, und berichtete ihnen, dass ich trotz allem mit dem Leben hier zurechtkam. Mitte der 1980er-Jahre hörte ich ganz auf zu arbeiten. Ich entfloh der brutalen politischen Realität, die das neue Regime geschaffen hatte, und zog mich in mich selbst zurück. Trotz der Bomben und der Kontrollstellen der Moralpolizei zogen mein Mann und ich unsere beiden Töchter groß, die mit Zöpfen zur Schule gingen und lesen lernten. Jeden Abend aßen wir zusammen. Javad arbeitete weiterhin als Ingenieur, und ich kümmerte mich um die Mädchen und überlegte, wie ich mich jetzt, wo das Gerichtswesen das Reich von Männern geworden war, neu erfinden könnte.

Nach dem Ende des Kriegs, Anfang der 1990er-Jahre, waren die Mädchen älter und brauchten mich nicht mehr so sehr. Ich versuchte kurz, Familienrecht zu praktizieren, erkannte jedoch schnell, dass die Gerichte der Islamischen Republik völlig anders operierten, als es unter dem Schah der Fall gewesen war. Frauen durften zwar als Anwältinnen tätig sein, doch das System und all seine neuen Verfahren waren so dysfunktional, dass es unmöglich war, einen Fall zügig zu bearbeiten. Mehrmals hatte ich Schwierigkeiten, einfach nur an Gerichtsakten heranzukommen, die ich noch einmal überprüfen wollte. Als der Gerichtsbedienstete erkannte, dass ich ihm kein »Trinkgeld« dafür geben würde, mir eine bestimmte Akte herauszusuchen (korrupte Länder haben eine Vielzahl von Euphemismen für Bestechung), sagte er: »Tut mir leid, die Akte fehlt. Kommen Sie morgen wieder.« Wenn ich am nächsten Tag wiederkam, sagte er: »Tut mir leid, ich hatte noch keine Gelegenheit, nach Ihrer Akte zu suchen.« Am dritten oder vierten Tag holte er dann endlich die Akte, weil er wusste, dass ich nicht lockerlassen würde. Da ich jedoch nicht bereit gewesen war, Schmiergeld zu bezahlen, hatte ich zwei oder drei Arbeitstage verloren.

In den Gerichten ging es noch viel schlimmer zu. Dort hatte derjenige recht, der gewillt war, mehr zu bezahlen. Gerechtigkeit wurde erkauft, nicht erkämpft oder verhandelt. Aus Protest hängte ich schließlich ein großes Schild vor mein Anwaltsbüro: »Aufgrund der derzeitigen unzumutbaren Verhältnisse bei Gericht werde ich keine Mandate mehr akzeptieren, sondern kann nur noch Rechtsberatung anbieten.« Dies kam mir damals nicht sonderlich riskant vor. Ich war einfach nur ehrlich in Bezug auf das rechtliche Klima des Landes und versuchte nicht bewusst, den Staat herauszufordern. Heute weiß ich jedoch, dass friedlicher Ungehorsam eine machtvolle Trotzreaktion sein kann – etwas, was ich im Lauf der Zeit lernte. Nach einer Weile kamen Menschen zu mir, die es sich nicht leisten konnten, einen Anwalt zu engagieren – unter ihnen viele, die eines politischen Verbrechens beschuldigt worden waren.

Nach der Revolution von 1979 war der Zustand des Strafrechts besonders besorgniserregend. Die Islamische Republik hatte das säkulare Strafrecht, das unter dem Schah gegolten hatte, durch ein System des islamischen Rechts ersetzt, das auf Auslegungen der Scharia aus dem 7. Jahrhundert basierte. Ich erinnere mich noch lebhaft an jenen Fall, der mir das ganze Ausmaß der Dysfunktionalität und Grausamkeit des Systems deutlich machte.

Meine Freundin Shahla Sherkat, die führende feministische Redakteurin und Verlegerin des Landes, rief an, um zu fragen, ob ich die Familie eines elfjährigen Mädchens namens Leila juristisch beraten könne. Als Leila eines Tages in den Bergen hinter ihrem Dorf wild wachsende Blumen pflückte, schlichen sich drei Männer an und fielen über sie her. Die Männer vergewaltigten sie, schlugen sie wiederholt auf den Kopf und warfen sie dann einen nahe gelegenen felsigen Abhang hinab in den Tod. Die örtliche Polizei nahm die Männer fest. Einer von ihnen erhängte sich unter mysteriösen Umständen im Gefängnis, die beiden anderen wurden vom Gericht der Vergewaltigung und des Mords für schuldig befunden. Da die damaligen Gesetze dem Leben eines wegen Mordes verurteilten Mannes mehr Wert beimaßen als dem Leben eines vergewaltigten und einen Abhang hinabgeworfenen Mädchens, sollte Leilas Familie für die Hinrichtung der Männer bezahlen. Sie konnte das Geld jedoch nicht aufbringen, und die Männer wurden aus dem Gefängnis entlassen.

Die Islamische Republik behauptete, diese Gesetze würden auf den sogenannten »Blutgeld«-Regelungen in der islamischen Scharia basieren, aber meiner Ansicht nach waren sie nicht nur ungerecht, sondern stellten auch eine Verzerrung der wahren islamischen Rechtsgrundsätze dar.

Die Suche nach Gerechtigkeit vor Gericht machte Leilas Familie bettelarm. Leilas Mutter hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, Tag für Tag in einem weißen Leichentuch vor dem Gerichtsgebäude zu sitzen und ein Plakat hochzuhalten, auf dem der Überfall auf ihre Tochter beschrieben wurde. Wie in Mein Iran ausführlicher beschrieben, übernahm ich ihren Fall, und obwohl es mir nicht gelang, auch nur annähernd so etwas wie Gerechtigkeit zu erwirken, gab ihre Leidensgeschichte den Ausschlag dafür, dass ich beruflich einen neuen Weg einschlug, nämlich den als Menschenrechtsanwältin. Der für Leilas Fall verantwortliche Richter beschuldigte mich zwar, mit meiner Verteidigung den Islam zu kritisieren, doch ich bot ihm die Stirn, indem ich mich auf das islamische Recht und die islamischen Grundsätze berief. Ich stellte fest, dass viele Richter der Islamischen Republik wenig oder gar keine Kenntnis von islamischen Rechtsgrundsätzen hatten, aber auch, dass viele iranische Frauen völlig ahnungslos waren, auf welch ungeheuerliche Weise das Gesetz sie diskriminierte. Erst wenn sie in ihrem Leben an einen dunklen Scheideweg gelangten – durch eine Scheidung, den Tod eines Kindes, den Kampf um ein Erbe –, erkannten sie, wie gering ihr Status vor dem Gesetz war.

Ich ging mit Leilas Fall an die Öffentlichkeit und schrieb Artikel darüber. Die ausführliche Berichterstattung in der iranischen Presse führte bald zu einem öffentlichen Aufschrei. In einem meiner Artikel legte ich dar, dass das Strafgesetzbuch laut den »Blutgeld«-Regelungen einem Mann, der eine Verletzung der Hoden erleidet, eine Entschädigung zuspricht, die dem Wert des Lebens einer Frau gleichgesetzt wird. Ich formulierte dies so: Wenn eine Frau mit einem Doktortitel von einem Auto überfahren wird und stirbt und ein ungebildeter Rowdy sich bei einer Schlägerei einen seiner Hoden verletzt, dann entspricht der Wert ihres Lebens dem seines verletzten Hoden, und stellte dann die Frage: Ist das die Art, wie die Islamische Republik ihre Frauen betrachtet?

Zum ersten Mal seit der Revolution wurde die Ungleichheit von Frauen vor dem Gesetz ins nationale Rampenlicht gerückt. Die Reaktion der Menschen zeigte, wie betroffen die iranische Gesellschaft von dieser Ungerechtigkeit war und welche Wirkung ein öffentlicher Aufschrei haben konnte. Doch mehr als alles andere ließ sie die Obrigkeit aufhorchen. Das war der Moment, in dem ich den Kurs einschlug, den ich bis heute verfolge: Gerechtigkeit vor dem Gesetz zu erwirken, indem ich für die Rechte der Schwächsten kämpfe – Frauen, Kinder, Dissidenten und Minderheiten – und mir die öffentliche Stimmung zunutze mache, um auf gesetzliche Änderungen zu drängen.

In der Islamischen Republik gibt es eine Unzahl von Missständen. Sie verleiht einem nicht gewählten obersten Führer absolute Macht, schikaniert eigenständig denkende Geistliche, die die religiöse Basis ihrer strengen islamischen Herrschaft infrage stellen, und verfolgt eine Politik, die ideologisch radikal und von den nationalen Interessen des iranischen Volkes losgelöst ist. Doch wie jedes Regime, das danach strebt, seine Macht aufrechtzuerhalten, zeigte es zuweilen eine gewisse Sensibilität angesichts der Verurteilung durch die internationale Gemeinschaft und der gärenden Unzufriedenheit in der eigenen Bevölkerung.

Eben dieses Regime hat vor allem in den 1990er-Jahren und Anfang des 21. Jahrhunderts mehrere zögerliche Korrekturen seiner inhumansten Gesetze und Regeln vorgenommen, und zwar als Reaktion auf den Aktivismus, den viele meiner Kollegen und ich im Bereich Menschenrechte und Frauenbewegung betrieben. Dieser Kurs schien für uns, abgesehen von Kofferpacken und Auswandern, der einzig gangbare Weg zu sein. Obwohl in dieser Zeit Tausende von Iranern das Land verließen, waren sie nicht weniger stolz auf den Iran als Nation als diejenigen, die blieben. Wir waren von Autokraten und Königen regiert worden und wurden nun von Geistlichen regiert. Unsere Geschichte reichte Jahrtausende zurück bis hin zu Kyros dem Großen, dem persischen König, der die ersten Menschenrechte der Zivilisation in einen Tonzylinder eingravieren ließ. Ich betrachtete mich als Erbin dieser Geschichte, der großen Tradition persischer Dichtung, die ich meinen Mädchen jeden Abend vor dem Schlafengehen vorgelesen hatte. Wie die meisten Iraner war ich gerade wegen der Liebe und Bewunderung, die ich für die Vergangenheit des Irans empfand, bitterlich enttäuscht von seiner Gegenwart.

Im Oktober 2003 erhielt ich den Friedensnobelpreis für meine Bemühungen um Demokratie und Menschenrechte. Man sollte meinen, dies hätte meine Arbeit im Iran vorangetrieben und die Regierung hätte mir, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt entgegengebracht, doch sie übte nur noch größeren Druck auf mich aus und ließ mich noch strenger überwachen. Der iranische Staat tat alles, um die Nachricht von dieser Auszeichnung zu unterdrücken. Er verbot es dem staatlichen Radio und Fernsehen, sie auch nur zu erwähnen, und verpasste auch mir einen Maulkorb. Als ein Reporter den damaligen Präsidenten Mohammed Chatami, einen Reformer, fragte, warum er mir nicht gratuliert habe, erwiderte dieser: »Dies ist kein so wichtiger Preis. Das Einzige, was wirklich zählt, ist der Nobelpreis für Literatur.«

Doch im Iran gibt es immer Möglichkeiten, die offizielle Zensur zu umgehen. Nachrichten, die von Bedeutung sind, finden ihren Weg zu denen, die sie erfahren sollen. Ich lud eine kurdische Musikgruppe dazu ein, bei der Nobelpreisverleihung aufzutreten. Das iranische Regime diskriminiert seine kurdische Minderheit seit Jahren, verweigert ihr das Recht, in ihrer eigenen Sprache zu studieren und sich ihre kurdische Identität im öffentlichen Leben zu bewahren. Iranische Kurden im ganzen Land sahen die Aufführung der kurdischen Gruppe über Satellitenfernsehen und weinten vor Stolz. Es war ein kleiner, aber symbolischer Akt, und unter iranischen Kurden verbreitete sich das Gerücht, ich müsse kurdischer Abstammung sein. Während die iranische Regierung bestrebt war, meinen Nobelpreis zu ignorieren – mit dem letztlich die Arbeit von Menschenrechtsaktivisten geehrt wurde, die versuchten, das Land auf friedliche Weise zu verändern –, waren wir in einem Zeitalter angelangt, in dem es dank Satellitenfernsehen und digitaler Medien nicht länger möglich war, eine Nation im Dunkeln zu lassen.

Auch andere nahmen Notiz von dem Preis, allen voran die iranischen Frauen, die sich seit Langem für Gleichberechtigung und Anerkennung eingesetzt hatten. Sie empfanden die Entscheidung des Nobelkomitees als globale Unterstützung und Wahrnehmung ihres Kampfes. Die Rektorin der Frauenuniversität Alzahra, Zahra Rahnaward, lud mich ein, eine öffentliche Vorlesung zum rechtlichen Status von Frauen zu halten. Rahnaward, die erste Frau, die nach der Islamischen Revolution an der Spitze einer Universität stand, war eine angesehene Gelehrte und Aktivistin. Der Weltöffentlichkeit wurde sie 2009 bekannt, als sie als Ehefrau des Oppositionsführers Mir Hossein Mussawi, der die »Grüne Bewegung« anführte, auf den Titelseiten von Zeitungen erschien. An jenem Tag im Jahr 2003 hieß Rahnaward mich im Hörsaal des Campus willkommen, in einem hohen Gebäude aus gelbem Ziegelstein, umgeben von weitläufigen Rasenflächen, auf denen junge Frauen unter Ahornbäumen saßen und lasen. Hunderte von Studentinnen standen draußen Schlange, obwohl der Saal, in dem ein großes Stimmengewirr herrschte, bereits bis auf den letzten Platz besetzt war. Wir beratschlagten gerade, wo wir das Rednerpult hinstellen sollten, als die Türen am hinteren Ende des Auditoriums aufflogen und ein Mob von rund dreißig in schwarze Tschadors gehüllten Frauen hereinströmte und wütend schrie.

»Wenn heute Ebadi hier eine Vorlesung hält, werdet ihr morgen nach George Bush rufen!«, brüllten sie und drängten zur Bühne, vor der Rahnaward und ich standen. »Diese Vorlesung fällt aus!« Sie waren eindeutig keine Studentinnen, sondern vom Staat unterstützte Ordnungshüterinnen. Die Studentinnen, die vorne saßen, standen auf, bewegten sich auf mich zu und bildeten einen Schutzring. Rahnaward trat ein paar Schritte nach vorn, das Gesicht vor Wut verzerrt.

»Diese Vorlesung wird mit der offiziellen Erlaubnis der Universität gehalten. Ihr habt kein Recht, sie zu stören«, sagte sie. »Verschwindet sofort von hier.«

Eine der zum Mob gehörenden Frauen ging auf Rahnaward los und griff nach ihrem Tschador. »Du verdienst es nicht einmal, diesen Tschador auf dem Kopf zu tragen«, sagte sie und zog heftig an dem Stoff, dessen Enden an Rahnawards Mantel befestigt waren.

Ihre Komplizinnen preschten voran. Die kleine Schar von Studentinnen, die einen Kreis um mich gebildet hatte, begann sich auf die Rückseite des Hörsaals zuzubewegen. »Khanum Ebadi«, drängten sie, »wir müssen Sie hier rausbringen – folgen Sie uns.« Sie lotsten die Rektorin und mich aus einer Nebentür hinaus und einen langen Flur entlang. Dann führten sie uns in einen kleinen Unterrichtsraum, verschlossen die Tür und verbarrikadierten sie mit Stühlen und Tischen. Schon bald hörten wir Geschrei, schnelle Schritte und Rufe: »Sie sind hier, sie verstecken sich in diesem Raum!« Fäuste hämmerten gegen die Tür und versuchten, sie aufzudrücken. Rahnaward rief über Handy die Polizei.

»Diese Frauen zwingen mich, etwas zu tun, was ich nie tun wollte. Ich glaube nicht, dass die Polizei ein Universitätsgelände betreten sollte, aber ich habe keine andere Wahl«, sagte sie zu mir.

Die Polizei traf ein und geleitete den Mob gewaltsam hinaus. Wir kamen überein, dass es das Sicherste wäre, die Vorlesung ausfallen zu lassen, und ich dankte der Rektorin und ihren Kolleginnen für die Einladung und ihre Geistesgegenwart, als wir angegriffen wurden. Wir schüttelten uns herzlich die Hand, und dann führten mich zwei Polizeibeamte, die zurückgeblieben waren, sicher vom Universitätsgelände. Der Vorfall hatte keinerlei Nachspiel. Es gab keine Festnahmen, und wir fanden nie heraus, wer die Frauen an jenem Tag losgeschickt hatte, um meine Vorlesung zu stören. Rahnaward drohte zurückzutreten, falls die Behörden die Verantwortlichen nicht ausfindig machten und verfolgten. Doch das taten sie nie, und nach der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad legte sie ihr Amt schließlich nieder oder wurde gefeuert – bis heute weiß man es nicht genau. Obwohl es schon immer schwierig war, im Iran über Frauenrechte zu diskutieren, schien das, was an jenem Tag geschah, der Beginn einer völlig neuen Art von Schikane und Einschüchterung zu sein.

KAPITEL 2

Eine Hochzeit

Der Nobelpreis verstimmte zwar die iranische Regierung, doch das Geld, das damit verbunden war, erwies sich als enorm hilfreich für meine Arbeit. Ich kaufte davon eine Wohnung, die als Zentrale des Zentrums für Menschenrechtsverteidiger diente – der Organisation, die ich gegründet hatte, um zusammen mit zahlreichen Anwälten des Landes politische Gefangene zu verteidigen und die Rechtsansprüche und Menschenrechte iranischer Staatsbürger zu stärken. Das Zentrum wirkte der politischen Repression der iranischen Regierung auf sehr effektive Weise entgegen und fungierte überdies als Rechtshilfe-Netzwerk für Regimekritiker sowie Opfer staatlicher Unterdrückung. Das Preisgeld bedeutete, dass wir ambitioniertere Pläne und Programme verfolgen konnten als je zuvor.

Ich legte zudem einen Teil davon auf einem hochverzinslichen Bankkonto im Iran an und verteilte die Zinsen unter den Familien von politischen Gefangenen, die dringend Hilfe benötigten, weil einer ihrer Ernährer im Gefängnis saß. Eine kleine Summe zahlte ich außerdem für das Studium meiner Töchter bei einer Bank in Frankreich ein. Da die islamische Obrigkeit mich 1980 meines Richteramtes enthoben hatte, war es mir nicht mehr möglich gewesen, Geld zu verdienen und für ihre Ausbildung zu sparen, und meine Arbeit als Verteidigerin der Rechte von Frauen und Kindern, die ich in den 1990er-Jahren aufnahm, leistete ich fast vollständig unentgeltlich.

Wir übernahmen diese Pro-bono-Mandate nicht nur, weil wir dies als Anwälte für richtig hielten. Wir verfolgten auch ein höheres Ziel: Wir wollten die Menschen dazu ermutigen, ihre Meinung zu äußern. Sie sollten wissen, dass es eine Gruppe von Anwälten gab, die sie – ohne ein Honorar zu verlangen – verteidigen und sich um ihre Familien kümmern würden, wenn sie wegen prodemokratischer Aktivitäten oder der freimütigen Äußerung zu Bürgerrechten oder anderer heikler Themen festgenommen wurden. Wir hatten zum Beispiel auch ein Team von Psychiatern und Ärzten, die den Verwandten unserer Mandanten eine kostenlose Behandlung anboten.

Die Berichte, die wir alle drei Monate erstellten, waren der zweite Schwerpunkt unserer Arbeit. Wir verwendeten viel Zeit und Sorgfalt darauf und nahmen nur Menschenrechtsverstöße darin auf, die dokumentiert und belegt waren, wie willkürliche Verhaftungen und Schikanen gegen Aktivisten. Es waren die ersten Berichte dieser Art, die eine iranische Organisation im Iran veröffentlichte, und sie wurden bald zu einer wichtigen Quelle für die Vereinten Nationen und andere internationale Menschenrechtsgruppen, was die Obrigkeit dazu veranlasste, die Aktivitäten des Zentrums noch aggressiver zu überprüfen. Wir führten Schulungen für jene durch, die aufgrund ihrer Vorgeschichte oder ihrer Aktivitäten besondere Gefahr liefen, festgenommen zu werden – Studentenaktivisten, religiöse und ethnische Minderheiten und Journalisten. Wir klärten sie über ihre Rechte im Fall einer Festnahme auf und zeigten ihnen, wie sie sich bei einem gerichtlichen Verfahren verhalten sollten, um sich einen Hafturlaub und manchmal eine vorzeitige Entlassung zu sichern.

Wir hatten das Zentrum ohne die Erwartung gegründet, jemals von unserer dortigen Arbeit leben zu können, und es hatte uns Mühe gekostet, eine auch nur grundlegende Infrastruktur zu schaffen: ein Büro, ein paar Schreibtische, funktionierende Telefone, einen Ort, an dem verzweifelte Menschen Unterstützung erfuhren. Jetzt, wo uns das Nobelpreisgeld zur Verfügung stand, hatten die Anwälte des Zentrums endlich einen Ort, an dem sie zusammenkommen und arbeiten konnten.

Im selben Jahr, in dem ich den Friedensnobelpreis gewann, wurde jemand, den kaum einer kannte, zum Bürgermeister von Teheran ernannt. Die meisten Iraner und sogar die meisten Teheraner hatten zuvor noch nie von Mahmud Ahmadinedschad gehört, dem Bauingenieur aus einem Arbeiterviertel im Süden Teherans. Bei den Stadtratswahlen war die Wahlbeteiligung so niedrig wie wohl noch nie zuvor in der Geschichte Teherans. Nur zwölf Prozent der Einwohner waren zu den Wahlurnen gegangen. Diese gehörten fast ausnahmslos der traditionellen, radikalen Minderheit der Gesellschaft an, die dem islamischen Regime gegenüber loyal war. Die anderen Iraner aber blieben der Wahl aus Enttäuschung darüber fern, dass es Präsident Mohammed Chatami nicht gelungen war, seine Reformen voranzutreiben.

Da die moderate Mehrheit ihre Stimme nicht abgegeben hatte, war den Konservativen der Wahlsieg sicher, und der Stadtrat, der sich aus Traditionalisten und Hardlinern zusammensetzte, entschied sich für Ahmadinedschad als Bürgermeister der Stadt.

Was als Nächstes passierte, versetzte alle in Erstaunen, vor allem Menschen wie mich, iranische Muslime, die zwar gläubig waren, aber die Ansicht vertraten, dass die Religion eine Privatangelegenheit sei und nicht für extravagante politische Gesten missbraucht werden solle. Ahmadinedschad verkündete, dass die Märtyrer des Ersten Golfkriegs es verdienten, dass man ihnen einen größeren Platz im öffentlichen Gedenken einräume, und ordnete an, die vor Kurzem gefundenen Gebeine von Kriegstoten an 72 Orten der Hauptstadt, in Parks und auf Plätzen, zu begraben. Das Teheran, in dem ich meine Zeit als Collegestudentin verbracht hatte, einschließlich der Parks, durch die mein Mann und ich als Jungverliebte Hand in Hand spaziert waren und in die ich meine kleinen Töchter zum Spielen gebracht hatte, sollte in einen Friedhof verwandelt werden.

Vor allem die jungen Iraner waren empört. Die grünen Parks der Stadt gehörten zu den wenigen Orten, an denen Freunde und Paare ihre Freizeit verbringen konnten, und sie waren angesichts der strikten Sozialgesetze des Staates – des Verbots westlicher Filme und Musik, der Zensur des Internets und der häufigen Razzien in Cafés – besonders kostbar. Doch Ahmadinedschad war fest entschlossen, sein Vorhaben zu verwirklichen. Er ließ sogar mit Flaggen drapierte Särge mit den sterblichen Überresten von Kriegsveteranen in Teherans Universitäten bringen, wo es zu Zusammenstößen zwischen Studenten und der Polizei sowie städtischen Leichenbestattern kam. Die größte Auseinandersetzung fand an der Scharif-Universität für Technologie statt, einer Elite-Uni, deren Studenten ihr Studium anschließend oft an der Stanford University und anderen Spitzen-Universitäten im Westen fortsetzten. Iranische Universitäten sind wie Universitäten in vielen Teilen der Welt Brutstätten für politischen Extremismus. Die Studenten wussten, dass man ihnen mit den Beerdigungen eine deutliche Botschaft vermitteln wollte: dass die Gedankenfreiheit, die Ausbildung und die Universität selbst der Revolution und ihren Märtyrern gehörten.

Teheran wurde nach und nach zur Leinwand, auf der Ahmadinedschad seiner radikalen Staatsvision Ausdruck verlieh. Als ich eines Nachmittags mit dem Auto unterwegs war, fiel mir seitlich an einem Gebäude ein riesiges Wandgemälde ins Auge. Es zeigte eine palästinensische Selbstmordattentäterin, ein Gewehr unter den einen Arm geklemmt, ihren kleinen Sohn unter den anderen. So sah in den Augen des Staates wohl Gleichberechtigung aus. Ahmadinedschad ordnete die Einrichtung getrennter Aufzüge für Männer und Frauen in Regierungsgebäuden an und entließ ganze Scharen von Stadtarbeitern, die nicht religiös genug oder seiner Ideologie nicht treu genug ergeben waren.

In Teheran hatte sich schon seit der Revolution von 1979 ein Wandel vollzogen. Doch die ungewöhnliche Art, in der Ahmadinedschad das Kommando über die Stadt übernahm und sie so umgestaltete, dass sie seinem extremistischen Weltbild entsprach, erfüllte mich mit Traurigkeit. Ich erinnerte mich an das kosmopolitische Teheran der 1970er-Jahre, in dem Javad und ich uns kennengelernt hatten. Vielleicht zeugten die eleganten Restaurants und gepflegten Gärten von sozialer Ungleichheit, doch sie symbolisierten auch das Streben der meisten Einwohner der Stadt, ein angenehmes, städtisches Leben zu führen. Javad beunruhigte die Umgestaltung Teherans ebenfalls zutiefst. Er arbeitete als leitender Ingenieur an vielen führenden Entwicklungsprojekten mit und hatte es sich zum Ziel gesetzt, eine moderne Stadt mit glänzenden Krankenhäusern und Fernmeldetürmen zu bauen.

Javad und ich lernten uns 1974 – ich war damals 27 Jahre alt – im Haus von Freunden der Familie kennen. Wenige Wochen später spazierte er in einem weißen Anzug in mein Büro beim Teheraner Gericht und gab vor, meinen Rat zu einer schwierigen rechtlichen Frage zu benötigen. Er war Elektroingenieur, und seine Arbeit hatte nicht viel mit den Feinheiten des Zivilrechts zu tun, doch er wollte unbedingt, dass wir uns näher kennenlernten.

Ich wusste seine Initiative zu schätzen. In jenen Tagen bestanden viele Eltern darauf, den Partner ihrer Kinder auszuwählen, doch meine Eltern waren aufgeschlossen und begrüßten es, dass ich meine eigenen Entscheidungen traf. Während meiner Verabredungen mit Javad in Teheraner Restaurants in den Anfängen unserer Beziehung wurde deutlich, dass er meine Unabhängigkeit akzeptierte und dass ihm meine Direktheit und mein Eigensinn gefielen. Das war mir sehr wichtig, denn viele iranische Männer hatten Probleme damit, wenn Frauen einen anspruchsvollen Beruf ausübten. In den 1970er-Jahren waren zwar viele Frauen der gebildeten oberen Mittelschicht berufstätig, doch die traditionellen Ansichten über die häuslichen Pflichten der Frau hatten sich kaum geändert. Für Javad hingegen schien es das Natürlichste von der Welt zu sein, dass ich Richterin war. Er schätzte meine Unabhängigkeit, und ich fühlte mich von seiner Selbstsicherheit angezogen. Wir heirateten an einem Frühlingstag, mit dem Oberstaatsanwalt als einem unserer Trauzeugen. Mein Brautstrauß bestand aus weißen Rosen.

Von Beginn an hatte unsere Ehe trotz all der Schwierigkeiten, mit denen wir kämpfen mussten, eine solide Basis. Als ich meines Richteramtes enthoben wurde, war Javad mir eine große Stütze, ebenso zu Beginn der 1990er-Jahre, als ich Menschenrechtsfälle übernahm. Wir mussten unsere beiden Töchter großziehen und besaßen als Zufluchtsort ein kleines Landhaus mit einem Obstgarten. Wir hatten unsere Eltern und Geschwister. Und obwohl sich unsere Interessen unterschieden – Javad war sportlich und spielte gern klassische persische Instrumente, während ich lange arbeitete und mit meinen Dichterfreundinnen wandern ging –, gab es in unserer Ehe, selbst nachdem unsere Töchter erwachsen waren, einen Zusammenhalt, den wir beide schätzten, einen reichen Vorrat an gemeinsamen Auffassungen, Insiderscherzen und geteilten Sorgen.

Die Behörden hatten mich seit den 1990er-Jahren, in denen meine Arbeit als Anwältin von Frauen und Kindern nach und nach nationale Aufmerksamkeit erlangte, streng überwachen lassen. Als wir einmal Probleme mit unseren Telefonleitungen im Büro hatten, nahm ein Elektriker die Abdeckung der Telefondose ab und fand an den Drähten befestigt zwei Wanzen, die so klein waren wie Uhrenbatterien. Er entfernte sie mit einer Zange, hielt sie hoch und sah mich ungläubig an.

»Möchten Sie, dass ich in allen Dosen im Büro nachsehe, Khanum?«, fragte er.

»Nein, ist schon in Ordnung. Sollen sie doch zuhören.«

Es machte mir nichts aus, wenn sie meine Unterhaltungen bei der Arbeit abhörten. Ich hatte nichts zu verbergen. Schon lange bevor ich die Wanzen gesehen hatte, war mir klar gewesen, dass meine Telefone abgehört wurden. Während der drei Wochen, die ich im Jahr 2000 im Gefängnis verbracht hatte, nahmen die Vernehmungsbeamten ganz offen Bezug auf Privatangelegenheiten – Beziehungen mit Freunden und genaue Einzelheiten von Streitigkeiten unter Kollegen –, von denen sie nur durch Spionage wissen konnten. Nach der Nobelpreisverleihung wurde die Überwachung noch verschärft. Der Staat behauptete, er fürchte um meine Sicherheit, und wies mir zwei Vollzeit-Bodyguards zu; sie waren angeblich da, um mich zu beschützen, aber ich wusste, dass ihre eigentliche Aufgabe darin bestand, meine Arbeit zu überwachen und über jeden, mit dem ich mich traf und redete, Bericht zu erstatten. Wenn Javad und ich zum Essen ausgingen, kamen sie ebenfalls mit und setzten sich an einen der Nachbartische.

Diese strenge Überwachung zwang uns, öfter zu Hause zu bleiben. Abends bereiteten wir uns zusammen einen Salat zu, saßen an unserem Küchentisch und sprachen über Javads aktuelles Projekt – das Milad-Krankenhaus, welches das größte in der Hauptstadt werden sollte – und meine letzten Fälle. Wenn ich jetzt nach der Arbeit nach Hause kam, nahm ich als Erstes mein Kopftuch ab und entfernte den Akku aus meinem Handy. Handys konnten, auch wenn sie ausgeschaltet waren, als Abhörgeräte benutzt werden. Wie viele iranische Familien teilten wir uns ein Haus mit Verwandten, und wenn ich meine Mutter in der Wohnung unter uns besuchte, wie ich es meistens nach dem Abendessen tat, fragte ich mich, ob sie ihre Räume auch verwanzt hatten und die Bewegungen und Ansichten einer 70-Jährigen kontrollierten.

Besonders unbehaglich fühlte ich mich bei dem Gedanken, dass ständig jemand meine Unterhaltungen mit meinen Kindern mithörte. Meine ältere Tochter, Negar, absolvierte ein Masterstudium an der McGill University in Kanada, und ich telefonierte jeden Tag mit ihr. Nicht lange nach der Verleihung des Nobelpreises klingelte eines Nachts um drei das Telefon, das auf meinem Nachttisch lag. Ich griff danach und stieß dabei den Wecker um, sodass auch Javad wach wurde. Mir schlug das Herz bis zum Hals, als ich die Antworttaste drückte. Was war passiert? Ich machte mir insgeheim immer Sorgen um meinen Mann und meine Töchter, denn mir war klar, dass das Regime nie zögern würde, sie gegen mich auszuspielen. Das wusste ich seit dem Tag im Jahr 1999, an dem ich mich auf einen Prozess vorbereitet hatte, bei dem ich die Familie zweier ermordeter Dissidenten vertreten hatte und beim Durcharbeiten der Regierungsakten auf eine Todesliste gestoßen war, auf der auch mein Name stand. Größere Angst als in diesem Moment habe ich wohl nie empfunden, doch später dankte ich Gott oft dafür, dass ich die Gelegenheit gehabt hatte, diese Liste zu sehen. Sie zeigte mir die Skrupellosigkeit, mit der ich es zu tun hatte, und machte mir bewusst, wie stark und vorsichtig ich sein musste.

»Was ist los?«, fragte ich, ohne Hallo zu sagen.

»Nichts! Ich meine, es tut mir leid, dass ich so spät anrufe. Aber Behnud hat mir heute Abend einen Heiratsantrag gemacht. Ich wollte, dass du es als Erste erfährst.«

Ich sank zurück auf mein Kissen, atmete tief durch und bedeutete Javad mit der freien Hand, dass alles in Ordnung war. Behnud war ein junger Iraner, dem ich in Kanada einmal begegnet war, als ich Negar besuchte. Ich wusste, dass die beiden sich mochten, doch er war in die USA gezogen, um am Georgia Institute of Technology seinen Doktor zu machen.

»Aber Behnud ist in Georgia«, sagte ich.

Wie alle entschlossenen verliebten jungen Leute hatte Negar bereits ihre Möglichkeiten sondiert. Sie hatte Kontakt mit der Universität aufgenommen und erfahren, dass ihre Chancen, dort ebenfalls ein Promotionsstipendium zu bekommen, gut standen. Ich versuchte, ermutigend zu klingen und ihr das Gefühl zu geben, dass ich mich für sie freute, doch ihr Plan beunruhigte mich. Was, wenn sie dort nicht aufgenommen wurde? Was, wenn sie das Stipendium nicht bekam? Würde sie diese Liebe aufgeben müssen oder ihr Studium abbrechen und mit der vagen Hoffnung nach Georgia ziehen, dass sie dort letztendlich an einer nahe gelegenen Universität würde studieren können? Nachdem wir uns verabschiedet hatten, schaltete ich das Licht aus, machte es mir wieder unter der Bettdecke bequem und überließ Gott die Lösung des Problems. Glücklicherweise erhielten wir kurze Zeit später die Nachricht, dass man Negar am Georgia Tech angenommen hatte und sie bald nach Georgia ziehen würde, wo sie und Behnud ihr gemeinsames Leben beginnen würden.

Es gab nur ein kleines Problem. Sie würden bald heiraten müssen, da Negar mit einem Studentenvisum in die Vereinigten Staaten einreisen würde und die US-Regierung iranischen Studenten damals nur ein Visum für eine einmalige Einreise ausstellte. Das bedeutete, dass die vielen Tausend jungen Iraner, die jedes Jahr in die USA zogen, um an einer Universität zu studieren oder zu promovieren, ihre Familien im Iran erst wieder besuchen konnten, wenn sie ihr Studium beendet hatten. Trotz der jahrelangen Feindschaft zwischen dem Iran und den Vereinigten Staaten hatte der Wunsch junger Iraner, in Amerika zu studieren, nicht nachgelassen, doch sie bezahlten einen hohen Preis dafür. Wie immer war es der einfache Bürger, der am meisten unter den Konflikten seiner Regierung mit anderen Ländern litt. In den USA zu heiraten kam für Negar und Behnud auch nicht infrage, da Behnuds Eltern und Verwandte keine Chance hatten, Einreisevisa zu bekommen, um zur Hochzeit zu reisen.

Zu Beginn des Sommers kam Negar zurück nach Teheran. Wir feierten ihre Hochzeit in einem großen Obstgarten am Stadtrand – dies war der einzige Ort, an dem wir eine Hochzeitsfeier ohne Geschlechtertrennung veranstalten konnten. Die meisten Mittelschichtpaare der Stadt heirateten entweder zu Hause oder mieteten einen dieser privaten Hochzeitsgärten, in denen es Pavillons und einen Catering-Service für Empfänge gab. Den Hotels und Restaurants der Stadt war es gesetzlich verboten, gemeinsame Feiern für Männer und Frauen auszurichten, selbst wenn es um eine Hochzeit ging, und die Behörden ließen oft Razzien bei Empfängen und Partys in Privatwohnungen durchführen, wo sie Gästen eine Geldstrafe auferlegten, sie festnahmen oder von ihnen Schmiergeld verlangten.

Am Hochzeitsabend hielt ich mich eine Weile lang am Rande der Festlichkeiten auf, um meine Tochter zu beobachten. Schon bald gesellte sich Javad zu mir, ein sanftes Lächeln im Gesicht. Wir standen dort zusammen in der warmen Nacht, hörten, als die Tanzmusik kurz aussetzte, das Zirpen der Grillen, und hatten beide denselben unausgesprochenen Gedanken: Es hat sich alles zum Besten gekehrt.

Ich dankte Gott und bat ihn, uns weiterhin vor jenen zu beschützen, die uns Schaden zufügen wollten.