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In einem kleinen Hotel in Fredrikstad bereitet sich der Musiker Ketil Bjørnstad auf seinen Auftritt beim ersten Mozartfestival Norwegens vor. Was soll er spielen? Vielleicht die A-Dur-Sonate nehmen? Oder doch ein anderes Stück? In Gedanken kehrt er zu seiner ersten Begegnung mit der Musik Mozarts zurück: Er ist sechs Jahre alt, im Radio läuft Eine kleine Nachtmusik.

 Lebendig und anschaulich erzählt Ketil Bjørnstad von dieser Begegnung, die seinem Werden als Musiker so entscheidende Impulse gab. Erzählt aber auch von Unlust und mangelnder Disziplin, von der Konkurrenz mit dem Bruder und immer wieder von der leidenschaftlichen Liebe zur Musik, die seine Kindheit prägte. Mozart wird dabei mehr und mehr zum Dreh- und Angelpunkt seiner Entwicklung.

 

Mein Weg zu Mozart ist ein Memoir des Musikers und Autors Ketil Bjørnstad und zugleich eine Hommage an den großen Wolfgang Amadeus Mozart.

 

 

Ketil Bjørnstad, geboren 1952, studierte in Oslo, London und Paris klassisches Klavier. Er debütierte mit 16 Jahren, wandte sich dann aber der Jazzmusik und dem Schreiben zu. Er lebt als Schriftsteller und Musiker mit seiner Familie in Oslo. Zu seinen erfolgreichsten Büchern zählen Villa Europa und Oda sowie die Trilogie um den jungen Pianisten Aksel Vinding: Vindings Spiel, Der Fluß und Die Frau im Tal.

 

Lothar Schneider lebt als Übersetzer und Autor in Vorpommern und hat u. ‌a. Lars Svendsen, Arne Melberg und Åsne Seierstad ins Deutsche übertragen.

 

 

Ketil Bjørnstad

Mein Weg zu Mozart

Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider

 

Insel Verlag

 

 

Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Veien til Mozart bei Aschehoug & Co., Oslo

Die Übersetzung wurde durch NORLA gefördert

 

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe 2016

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2016

© 2014 H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Umschlagfoto: Hans Fredrik Asbjørnsen, Oslo

Umschlaggestaltung: hißmann, heilman, hamburg

eISBN 978-3-458-74909-7

www.insel-verlag.de

 

 




Für Tormod, der immer dabei war

 

 

»Die Musik überhaupt ist die Melodie,
zu der die Welt der Text ist.«

Arthur Schopenhauer

 

»Mozart tut mir gut. Er hilft mir zu leben.«

Aldo Ciccolini

1

Der Tod und die Musik

Das letzte Mal, als Wolfgang Amadeus Mozart vor einem Publikum auftrat, war in Wien, am 17. November 1791. Er war fünfunddreißig Jahre alt. Niemand konnte die Spur einer Krankheit an ihm sehen, obwohl er im Frühherbst tief melancholisch und physisch geschwächt war. Die Schaffenskraft war auch nicht mehr dieselbe gewesen. Aber jetzt war er plötzlich wieder da, voller Energie. Die ihn kannten und schätzten, hatten sich lange große Sorgen um ihn gemacht. Stets war er ein liebenswürdiger Mensch, jemand, der andere inspirierte, sie aufmunterte und ihnen half, wenn er sie für begabt hielt. Seine Sorge galt vor allem Constanze, seinem »liebste[n], beste[n] Weibchen«, das so häufig kränkelte und ständig nach Baden zur Kur mußte. »Nimm dich des Morgens und des Abends, wenn es kühl ist, in acht!« Diese Aufenthalte waren nicht umsonst, aber die Kosten waren nie ein Thema zwischen ihnen. Er hatte die einzigartige Fähigkeit, den Alltag zu verwandeln, den Gemütszustand eines Menschen zu verändern, ein großes Publikum in Ekstase zu versetzen. Und diese Fähigkeit hatte er noch. Er konnte die Menschen zum Lachen bringen und ihnen das Gefühl geben, wichtig zu sein. Er konnte schmeicheln und gleichzeitig die Menschen, denen er begegnete, mit den schockierendsten Ausdrücken belegen. Es waren erst wenige Wochen vergangen seit der mäßigen Begeisterung für Die Zauberflöte bei der Uraufführung im Theater auf der Wieden, einer experimentellen Vorstadtbühne, die in den Augen vieler unter der Würde des Komponisten war. Aber die Oper wurde trotzdem ein großer Erfolg. Mozart hatte mit dem Librettisten Schikaneder über den Text gestritten, den er in vieler Hinsicht für zu seicht hielt, ohne jeden Tiefgang. In einem seiner letzten Briefe an Constanze schreibt er, er hätte Lust, seinen alten Freund einen Esel zu nennen oder auch Papageno, wie diesen feigen und einfältigen Vogelfänger. Die lange Auseinandersetzung mit Schikaneder führte trotzdem zu Ergebnissen, weil sie beide Freimaurer waren. Mozart gelang es, aus dem Text eines reinen Märchenspiels für Kinder eine reflektiertere Geschichte über den Kampf des Guten gegen das Böse zu machen. Er brachte Schikaneder auch dazu, das Denken der Freimaurer und die zeremoniellen Rituale zu übernehmen. Und an diesem Novemberabend führte er eine Kantate zu Ehren der Freimaurer auf, zu einer Zeit, als die Freimaurer fast als revolutionär galten. Allein der Gedanke an die Bruderschaft war für die Adligen bereits verdächtig. Erziehung und Veredelung. Jeden Menschen dazu bringen, sich selbst zu verstehen: frei seinen eigenen Weg wählen zu können?

 

Drei Tage später konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er war gerade mit dem Klarinettenkonzert fertig geworden. Seit Anfang Oktober hatte er an der düsteren Messe gearbeitet. Sie war von einer Person bestellt worden, die ein ansehnliches Honorar geboten hatte, aber ihre Identität nicht preisgeben wollte. Bedingung war, daß Mozart den Urheber des Werkes nicht bekanntgeben sollte. Mozart erhielt die Bestellung bereits im Juli: »Ich kann meine Augen nicht von dem Bild jenes Unbekannten befreien. Ich sehe ihn dauernd, wie er mich bittet, mich bedrängt, wie er das Werk ungeduldig fordert.«

Wahrscheinlich ist diese Äußerung eine Fälschung. Über 200 Jahre haben die Biographen Mythen und Behauptungen über Mozarts letztes Lebensjahr verbreitet. Man hat ihn kränker machen wollen, als er war, weil damit Bücher und Berichte dramatischer und sensationeller wurden. Und mit Salieri betrieb man ›Leichenschändung‹.

Noch gut zwei Wochen vor seinem Tod war Mozart ein Mann voller Optimismus, der große Pläne für die Zukunft hatte. Deshalb war es um so tragischer, als er plötzlich unfähig war, sich auf den Beinen zu halten. All das, was noch nicht verwirklicht war! Die letzten Wochen mit Constanze, nachdem er sie vom Kuraufenthalt in Baden abgeholt hatte. Seine Familie finanziell nicht abgesichert, die Kinder seiner Schwester Nannerl hatte er noch nie besucht. Und dabei war ihm diese Melancholie durchaus bekannt. Als Vater Leopold vier Jahre vorher erkrankte, schrieb Mozart, eher um den Alten zu trösten, daß niemand wisse, wann der Tod eintreffen werde. »Ich lege mich niemals zum Schlafen nieder, ohne zu bedenken, daß ich den nächsten Tag vielleicht nicht mehr erleben werde.«

 

1791. Ende der osmanisch-habsburgischen Kriege. Die politischen Unruhen hatten für Mozart große ökonomische Konsequenzen. Auf Schönbrunn hatte man plötzlich andere Dinge im Kopf als Musik und Maskerade. Aber für Mozart spielt jetzt nichts davon eine Rolle. »Ich fühle, mit mir dauert es nicht mehr lange. Jemand hat mir Aqua Toffana eingegeben! Ich kann mich von diesem Gedanken nicht loswinden.« Aqua Toffana, Arsen, Blei und Belladonna. Eine Mixtur, die die Adern vergiftet. Der Wunsch nach einem äußeren Feind, jemanden, den man identifizieren und bekämpfen kann. Der Fremde, der das Requiem bestellte, war es nicht. Er wollte anonym bleiben, um selbst den Ruhm für die Komposition ernten zu können. Er war Graf und hieß Franz von Walsegg zu Stuppach. Er wünschte sich ein Requiem für seine verstorbene Frau. Aber den Gerüchten zufolge sagte Mozart zu Constanze: »Ich schreibe es für mich selbst.«

 

Sie wollte anfangs nicht, daß er ein Requiem schreibt. Eine Todesmesse dieser Art könnte sich in seinem Nervensystem festsetzen, schrieb sie ihm schon im Herbst aus Baden. Er würde es nicht aushalten. Mozart hatte gehorcht. Er fühlte sich nicht mehr so erschöpft und krank. Er unterbrach die Arbeit am Requiem und schrieb statt dessen in rasender Geschwindigkeit das letzte Werk, das er vollendete. Laut verkünde unsre Freude (KV 623). Er schrieb seiner Frau: »Wüßte ich nicht, daß ich schon Besseres geschrieben habe, würde ich glauben, daß dies eines meiner besten Werke ist. Ja, ja, ich sehe ein, daß ich krank gewesen bin als ich die absurde Idee hatte, ich wäre vergiftet worden. Gib mir mein Requiem und ich werde daran weiterarbeiten.«

 

Am 20. November zwingen ihn Ödeme an Händen und Füßen, sich ins Bett zu legen. Innerhalb weniger Tage schwillt der Körper so sehr an, daß er am Ende nicht mehr im Bett sitzen oder sich bewegen kann. Rheumatisches Fieber, Infektion mit Streptokokken, Vitamin D-Mangel, Hämatome. Wassersucht. Hypochondrie? Die Gerüchteküche brodelt. Mozart im Bett, offenbar todkrank, schreibt verzweifelt an seinem Requiem. Ein Duell mit dem Tod. Ein Kampf mit der Zeit, wie er es vermutlich immer empfunden hat, so oft schob er das Komponieren bis zum allerletzten Augenblick hinaus. Die Ouvertüre für Don Giovanni hatte er am Tag vor der Uraufführung in Prag noch nicht einmal angefangen. Er war es gewohnt, mit hohem Tempo zu arbeiten. Die Musik entsteht ja im Kopf. Sobald er den musikalischen Verlauf durchdacht hatte, konnte er die Noten aufs Papier schreiben, ohne dabei voll konzentriert zu sein. Er konnte sich mit anderen unterhalten, während die Tinte spritzte. Der Zirkus Mozart – der kleine Junge, der spielen konnte, auch wenn die Klaviertasten verdeckt waren. Vom ersten Moment an war er bereit gewesen, alles zu tun, was das Publikum von ihm wollte: improvisieren zu einzelnen Themen, verzieren, ornamentieren, imponieren. Anfangs klatschte man nicht wegen der Musik, sondern wegen der technischen Geschicklichkeit. Er war das Zirkuspferd. Der kleine, reizende Clown. Jetzt ist er der sterbende, junge Mann. Von Anfang an ging es um Geld. Jetzt geht es auch um Geld. Constanze sieht plötzlich die Notwendigkeit, daß das Werk fertig wird, damit das Resthonorar von dem Mann, dessen Namen sie nicht weiß, bezahlt wird. Ein Pflaster auf die Wunde, nicht genug, um der Familie auf Dauer die Sorgen zu nehmen. Mozart ist klar, daß er diesen Kampf verlieren wird. In Absprache mit Constanze wird Mozarts Schüler Joseph von Eybler geholt, aber der ist nicht imstande, den Erwartungen seines Lehrmeisters zu entsprechen. Sie wenden sich an den zehn Jahre jüngeren Komponisten Franz Xaver Süßmayr, Schüler von Antonio Salieri, der Mozart vor einigen Jahre bereits half, als seine Operette Der rauschige Hans uraufgeführt wurde. Ja, genau der Süßmayr, der sich so gut mit Constanze verstand, vielleicht zu gut, nicht unbegabt, ein Mann, der später erzählt, daß er die Messeteile Lacrimosa, Agnus Dei, Sanctus und Benedictus zu Ende schrieb. Denn Mozart wird nicht fertig. Am 4. Dezember weiß er, daß die Schlacht verloren ist. Er hat nur noch knapp einen Tag zu leben. Ungarische Adlige bieten ihm ein jährliches Ehrengehalt von 1000 Gulden an, aber es ist zu spät. Es wird erzählt, daß einige seiner engsten Freunde, selbst Musiker, sich an diesem letzten Tag seines Lebens an seinem Sterbebett versammeln, um für ihn die Messe zu singen. Mozart liegt im Bett und schaut sie an, hört den Klang seiner Musik im Zimmer. Als sie zum Lacrimosa kommen, versucht er mitzusingen. Aber die Stimme trägt nicht.

Mozart bricht in Tränen aus.

2

City Hotel, Fredrikstad

Ich hatte im City Hotel eingecheckt. April 2013. Das erste Mozartfestival in Norwegen sollte in Fredrikstad stattfinden. Es gibt nicht so viele Mozartfestivals auf der Welt. Salzburg und Oklahoma. Vielleicht auch noch andere, aber nicht viele. Man hatte mich gebeten, zu einigen von Mozarts Themen zu improvisieren. Ich hatte die A-Dur-Sonate (KV 331) ausgesucht, mit Variationen und dem Alla-turca-Thema. Vor allem wegen des weniger bekannten D-Dur-Trios im Menuett, mit derselben Ewigkeit in sich, der Schubert in seinen zweiten Sätzen nachspürt, die auch Mahler in den langsamen Sätzen benutzt oder in den Waldszenen, wo man eine Militärtrompete oder ein Jagdhorn in der Ferne hört. Der Zauber der Kindheit, ein Raum für Träume, für die wir nie zu alt werden. Ich packte den kleinen Koffer aus, berechnet für einen Tag Abwesenheit, stellte das altmodische Rasierzeug mit dem Pinsel aus Dachshaar auf das Waschbecken. Die kleinen Rituale, die ein Tourneedasein erträglich machen. Ich war müder als sonst. Ein schlechtes Zeichen, wenn man improvisieren soll. Das Zimmer war groß und schön, aber ohne Lebendigkeit oder Energie. Aussicht auf ein Flachdach mit Dachpappe. Geblümte Vorhänge, die nach kaltem Rauch rochen. Ich schaltete den Fernseher an, bekam einen Überblick über die Wiederholungen, Serien und Shows, die an diesem Samstagnachmittag im Angebot waren, blieb dann bei NRK2 hängen, wo ein längst erwachsener Mann über das schwierige Verhältnis zu seinem Vater redete. Was da geboten wurde, war umständlich, kompliziert und peinlich und ich merkte auf einmal, daß da der Sohn des schwedischen Filmregisseurs Bo Widerberg sprach. Er erzählte davon, wie es ist, Sohn einer berühmten Persönlichkeit zu sein, über die Abwesenheit des Vaters und die plötzliche Anwesenheit, über den Film Ådalen 31, über die qualvolle Fahrt nach Cannes, als der Vater die Geliebte dabeihatte. Ich war mit halbem Ohr dabei, während ich den Konzertanzug auspackte und darüber nachdachte, wie wichtig es inzwischen für jeden Typ Mensch in allen Milieus und Altersgruppen geworden war, sein Leben dokumentieren zu können. Das war keine Doku über einen weltberühmten Filmemacher, sondern über seinen Sohn. Ich wußte nicht einmal, was dieser Sohn machte, und ich merkte, daß mein Interesse nachließ; es gibt immerhin noch mehr Leute, die mit einem weltberühmten und untreuen Papa leben mußten.

Aber dann hörte ich plötzlich die Musik. Die Mord-und Selbstmordszene aus Bo Widerbergs Elvira Madigan. Die zwei Liebenden im Wald draußen bei Tåsinge. Die Liebe hat sie weit hinein zwischen die Bäume geführt. Sie haben gegen die Regeln verstoßen. Die Normen der Gesellschaft. Was erlaubt ist. Was verboten ist. Was sie aus der bestehenden Ordnung ausgeschlossen hat. Das Begehren verwandelt sich in den Todestrieb. Jetzt bleibt nur die Vernichtung. Sie bittet ihn, die Waffe zu nehmen und sie zu erschießen. Er kann nicht, bringt es nicht über sich. Der erfahrene Regisseur weiß, daß er jetzt auf die Gefühle setzen muß. Die Bilder von den zwei verzweifelten Menschen sind allein noch nicht intensiv genug. Sie bewegt sich nun im Wald. Langsam. Als warte sie auf etwas. Die Musik setzt ein. Warum wählt er Mozart? Das ist keine überzeugende Wahl. Mahler oder Tschaikowski wären naheliegender. Romantik und starke Gefühle. In dem langsamen Satz dieses zurückhaltenden Klavierkonzerts werden niemandem Mozarts Gedanken aufgebürdet. Die Musik ist wie ein Schiff, das langsam auf dem Wasser dahinschwimmt. Als ich die Musik zum ersten Mal hörte, dachte ich an Mark Twain und die Geschichte von Huckleberry Finn. Die Darstellung von Jugend, plötzlichem Glück, vor dem Hintergrund von Flucht, Angst und verborgenen Gefahren. Die lange Fahrt den Mississippi hinunter. Ein intensives Leben zu haben, während alle denken, man sei tot. Das Thema ist mit dem entsprechenden Thema im Konzert für Flöte und Harfe verwandt. Die Melodie ist eine lange Linie, ein Fluß auf dem Weg zum Meer. Logisch, stark und selbstverständlich, aber ohne sich aufzudrängen. Ein zurückhaltender Ernst, der beeindruckt. Die Sonne scheint auf eine schöne Landschaft, wo bald jemand sterben wird.

Dann schießt er.

Er hat sie doch noch getötet! Mein Gott! Und nur Sekunden später erschießt er sich selbst! Ich sitze im City Hotel und werde von der Handlung mitgerissen. Aber da, wo die Darstellung subjektiv und nur genau der Geschichte vorbehalten ist, die Bo Widerberg uns erzählen möchte, wird die Musik allgemeingültig. Sie erfaßt die ganze Trauer. Nicht nur den tragischen Tod der Liebenden, sondern auch die beinahe existentielle Trauer, die mit aller Konsequenz folgt. Ich sitze im Hotelzimmer und merke zu meiner Bestürzung, daß ich weine. Sind das Tränen des Alters? Die Klaue der Zeit? Beginnende Sentimentalität? Ich möchte nicht ein gefühlvoller, alter Trottel werden, der jedesmal heult, wenn eine neue Seite im Album der Erinnerung aufgeschlagen wird. Aber ein so unvorbereitetes Erleben von Mozart macht etwas mit mir. Das Bruchstück einer Melodie bringt mich zurück zu den großen Gefühlen der Kindheit. Mozart war der erste Komponist in meinem Leben. Jedenfalls der erste, zu dem ich eine Beziehung hatte. »Hör zu«, sagte Mutter und deutete auf das Radio. »Eine kleine Nachtmusik.« Ihre Stimme, während sie mitsummt. Das Wohnzimmer daheim im Melumveien, mit dem großen Westfenster. Das Licht von der funkelnagelneuen, elektrischen Nähmaschine. Das Brummen des ersten, senfgelben Kühlschranks, der so klein ist, daß er auf einer Bank steht. Die rechteckigen Brotbackformen auf dem Küchenboden, mit denen mein Bruder und ich Eisenbahn spielten. Das Weihnachtsheft 1958, 91 Stomperud, das auf der Couch herumliegt, obwohl Sommer ist. Mutter nahm es nicht so genau mit der Unordnung der Kinder, der Jungs. Schlimmer war es mit Vater. »Wenn du mehr übst, kannst du Mozart auf dem Klavier spielen, mein Freund. Die kleine D-Dur-Sonate. Die ist so schön.«

»Wer war Mozart? Warum Mozart?«

»Frag nicht. Hör einfach!«

»Ich höre.«

»Er war ein Genie.«

»Was ist ein Genie?«

»Einer, der ein bißchen mehr ist als alle andern. Einer, dem wir nacheifern sollten.«

»Ich muß also Mozart spielen. O Mama, muß ich wirklich?«

Sie schaltet das Radio aus und setzt sich an das glänzende neue Klavier, das uns Onkel Aage geliehen hat. Er hat ein Klaviergeschäft in der Universitetsgaten 12, gegenüber dem Savoy.

»Ja, mein Junge. Du mußt. Hör jetzt zu.«

Mutter spielt mit ihrem festen und zugleich geschmeidigen Anschlag. Ich lege mich auf den Fußboden, bin froh, nicht selbst spielen zu müssen. In diesem Alter verwende ich die meiste Energie darauf, mich zu drücken. Wenn Vater Freitag abends sagt, daß wir am nächsten Tag mit dem Bus ins Lommedalen fahren werden und dann zu Fuß von Guriby über Vensåsseter bis hinauf zu der baufälligen Hütte gehen, die wir am Gipfel des Hügels gemietet haben, weiß ich, daß ich toter Mann im Bett spielen werde. Niemand wird mich wecken können. Niemand. Ich weiß selbst sehr wohl, daß ich zu dick und verfressen bin. Daß der Körper sich schwer anfühlt, bedeutet, daß das Leben schwer ist. Schwer, in die Schule zu gehen. Schwer, gezwungen zu werden, Klavier zu spielen. Jetzt drohen sie mir sogar mit Blasorchester und Jugendchor. Gibt es keine Grenzen mehr? Da sitzt Mutter und spielt Mozart. Es klingt banal. Uninteressant. Bekannt.

»Hab ich schon mal gehört!« rufe ich vom Fußboden.

»Macht nichts!«

»Ich gehe in die Küche und spiele Eisenbahn!«

»Das läßt du schön bleiben!«

Mir fehlt mein Bruder, der sich ausgerechnet jetzt draußen mit schlimmen Jungen herumtreibt. Der große Bruder. Drei Jahre älter. Welche Auszeichnung. Er wagt es, sich gegen Mutter zu wehren. Das wage ich nicht. Ich liege auf dem Fußboden und lausche einer Melodie, die mich nicht im geringsten begeistert.

 

Bin ich eingenickt? Im Sitzen? Großmutter passierte das immer, mit dem Inhalator in der Hand. City Hotel, Fredrikstad. Die Kindheitserinnerungen werden jedesmal, wenn ich in diese Stadt komme, übermächtig. Die Mutter und alle ihre musikalischen Verwandten. Die Büste meines strengen Urgroßvaters vor der Bibliothek. Jetzt bin ich mit Kjell Hillveg verabredet, meinem alten Freund. Wir kennen uns zwar nicht von Kindesbeinen an, aber im Laufe der Jahre hat er mir immer neue Seiten von Mozarts Musik gezeigt. Deshalb ist dieser plötzliche Ernst, dieser unerwartete Gefühlsausbruch vor dem Fernseher, nicht so erstaunlich. Die Musik kommuniziert präzise und direkt, ohne Umwege. Ich habe keine Ahnung, was ich in einigen Stunden spielen werde, weiß nur, daß ich mit Mozart beginne. Danach ist alles möglich.

Trotzdem hat die Phantasie eine Basis. Erfahrungen, Ereignisse. Vorgeschichten.

3

Das Wunderkind

Die Straßen damals, von Salzburg nach München und weiter nach Augsburg. Oder in die andere Richtung, nach Wien und Prag, Dresden, Leipzig, Berlin. Die Straßen nach Paris, von dort weiter nach London. Die Wagen ohne Stoßdämpfer, das Holpern und Rütteln, wie man es erlebt, wenn man über zweihundert Jahre später durch Wien fährt, wo das Kopfsteinpflaster erstklassig ist. Für Mozart war das nicht eine einstündige Sightseeingtour über den inneren Ring. Die Reisen dauerten oft fünfzehn, sechzehn Stunden, bis man bei strömendem Regen ein Wirtshaus fand, wo man bewußtlos vor Müdigkeit einschlief, um am nächsten Tag weiterzufahren. Die besondere Anspannung, wenn der Regen prasselte und ständig die Gefahr von Erdrutschen bestand. Das Gefühl, wenn der Wagen zu kippen drohte, wenn die Fahrspur vor den Augen des Kutschers zerrann. Wenn jemand schrie.

Die wenigen Male, wenn der ganze Wagen umstürzte, wenn das Pferd mit verdrehten Augen verzweifelt Halt suchte, wenn man nicht weiterkam, wenn man umkehren mußte. All diese Mißlichkeiten gehörten dazu. Ein wesentlicher Teil von Mozarts Erfahrungen. Auf die Toilette müssen. Die körperlichen Befindlichkeiten, die Mozart immer wieder faszinierten, die spitze Nase, die besondere Muschelform der Ohren, Mutters Ungeniertheit, was die Verdauung angeht. In einem Brief an ihren Mann schrieb sie: »Leb gesund, reck den Arsch zum Mund, ich wünsch eine gute Nacht, scheiß ins Bett, daß kracht.«

 

Auf dem Papier mag das 18. Jahrhundert weit weg erscheinen, aber es war gestern. Ein Fingerschnippen und man ist im schrulligen Österreich. In Salzburg. Der katholischen Stadt, wo der Erzbischof auch weltlicher Fürst ist. Eine strenge und gnadenlose Hierarchie. Die Winterstadt mit den Schneestürmen. Die Sommerstadt mit Wein und Blumen. Die Musik, die aus allen Fenstern dringt. Die Liturgie in den Kapellen und Kirchen. Die Stadt von Georg Trakl. Die Stadt von Thomas Bernhard. Die Berge und der Föhn, der den Menschen den Kopf verwirrt. Der Klassenhaß in beide Richtungen. Mozart. Feuerrot im Gesicht, als er später in Wien vom Hofmarschall des Erzbischofs buchstäblich die Treppe hinuntergestoßen wird. Alle die demütigenden Absagen auf seine Gesuche um eine feste Stelle. Der Traum von stabilen finanziellen Verhältnissen, die er nie gehabt hat, nach all diesen Jahren des Reisens und eines Lebens von der Hand in den Mund. Die unrealistischen Phantasien, gut bezahlte Aufträge zu bekommen, Opern am laufenden Band und eine gesicherte Zukunft. Aber hier bin ich bereits tief eingedrungen in sein Leben. Es ging so schnell mit Mozart. Und wir hecheln hinterher, über zweihundert Jahre danach, suchen nach Haltepunkten.

Die Geburt war dramatisch. Anna Maria, geborene Pertl, hatte bereits drei Kinder verloren. Nur Nannerl überlebte. Und dann war Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus an der Reihe.

Ein Albtraum von einer Geburt. Im Haus des Kaufmanns Hagenauer. Getreidegasse 5, dritter Stock. Leopold Mozart wagt sich nicht ins Entbindungszimmer, wo der Hausarzt sich bemüht, die Schmerzen der sechsunddreißig Jahre alten Frau zu lindern. Notwendigkeit, die Nachgeburt zu entfernen. Große Gefahr für Blutungen. Kaiserschnitt empfohlen, aber nicht durchgeführt. Leopold Mozart gehörte zu denen, die meinten, Kinder müsse man mit Wasser ernähren. Ihm ging es darum, alles richtig zu machen, die beste Diät aus Gerstenwasser und Haferschleim, alles tun, um Infektionen, die das Stillen oft mit sich brachte, zu vermeiden. Aber nach flehentlichem Bitten der Schwiegermutter und seiner Frau hatte er sich gefügt. Und Nannerl lebte trotzdem. Wenn er nun wählen mußte zwischen der Frau und dem Kind? Die Wahl blieb ihm erspart. Als er schließlich ins Entbindungszimmer geht, ist seine Frau vom Blutverlust bewußtlos, lebt aber. Er sieht den neugeborenen Jungen, fragt den Arzt, welche Chancen er hat. Und der Arzt antwortet, mitgenommen nach Stunden des Bangens und Mühens:

»Sie dürfen sich nicht zu große Hoffnungen machen.«

 

Der Eigenbrötler Leopold. Getauft auf Johann Georg Leopold Mozart. Zweiter Violinist in der Salzburger Hofkapelle. Sohn des Buchbinders Johann Georg Mozer. In seiner Geburtsstadt Augsburg erhielt er bei den Jesuiten eine strenge Erziehung. Aber er war von seinem Charakter her antiautoritär. Er ließ sich nicht von Macht oder Geld blenden. Später sollte er schreiben: »Stecken nicht oft die besten und fähigsten Leute in der größten Armut?« Für Äußerlichkeiten hatte er nichts übrig. Als er seinen Versuch einer gründlichen Violinschule schrieb, die in ganz Europa verwendet werden sollte, warnte er davor, das Instrument nach dem Aussehen, nach dem Glanz und der Farbe des Lacks auszusuchen. Ein gutes Instrument hänge nicht vom Aussehen ab, erklärte er und zog eine Parallele zur Gesellschaft im Allgemeinen, zu allen, die nach äußeren und flüchtigen Werten leben: »Wie oft sind nicht das Kleid, das Geld, der Staat, sonderbar aber die geknüpfte Perücke jene Verdienste, die manchen zum Gelehrten, zum Rath, zum Doktor machen?« Leopolds Familie war streng katholisch und alle gehörten der »Kongregation Mariä Himmelfahrt« an. Dann begann er das umfassende Studium am St. Salvator Gymnasium. Logik, Naturwissenschaft, Theologie und Rhetorik. Latein mündlich und schriftlich war selbstverständlich. Griechisch ebenso, damit man das Neue Testament im Original verstehen und lesen konnte. Außerdem Mathematik und Physik. Und wie ein Nährboden lag darunter die Musik. Als sei die ganze Gesellschaft, damals wie jetzt, besessen von Musik. Sie mußte dabeisein, in allen Verschnaufpausen und Mußestunden. Musik in der Kirche und Tafelmusik bei Tisch. Leopold hatte ein überdurchschnittliches Gesangstalent. Daneben spielte er virtuos die Geige. Er war bei allen Schulaufführungen und bei mindestens acht Theateraufführungen zwischen 1724 und 1736 dabei. Gleichzeitig wurde er von Krankheit heimgesucht, was seine Studien verzögerte. Er entwickelte seine trotzige Persönlichkeit. Ein »satyrischer Humorist« mit Talenten, die nicht gewürdigt wurden. Mit speziellem Sinn für Teleskope und Mikroskope.

Dann starb sein Vater. Unerwartet.

Die Gesellschaft mit eigenen Kodizes und Erwartungen. Wie der Vater, so der Sohn. Buchbinder Leopold Mozart? Er weigerte sich, wollte seine Studien fortsetzen, brauchte dazu aber Geld. Was wollte er in Salzburg? Es dauerte ein Jahr, dann immatrikulierte er sich an der dortigen Benediktiner-Universität mit der Absicht, Philosophie und Jurisprudenz zu studieren. Knapp zwei Jahre später kam ein Brief des Rektors: »Johann Georg Mozart, ein Schwabe aus Augsburg, hat vom Beginn seines ersten Jahres an selten mehr als ein- oder zweimal an den Naturwissenschaften teilgenommen und hat sich deshalb als unwürdig erwiesen, Student zu heißen. Einige Tage vor dem Examen wurde er zum Dekan gerufen und darüber unterrichtet, daß er deswegen nicht länger als Student geführt würde. Als er dieses Urteil gehört hatte, gab er keine Erklärung dazu ab, anerkannte das Urteil und ging ohne Zeichen einer Bewegung weg: er wird deshalb zu weiteren Prüfungen nicht zugelassen.«

 

Die Macht der Musik. Leopold Mozart 1740: angestellt als Kammerherr und Musiker bei dem angesehenen Domherrn Graf Johann Baptist Thurn-Valsassina und Taxis. Zum Berufsmusiker gehört auch, Diener zu sein. Die Familie zu Hause in Augsburg war schockiert. Man hatte ihn nach Salzburg fahren sehen in der sicheren Erwartung, daß er in der kirchlichen, benediktinischen Hierarchie eine Karriere machen würde. Er sollte nach dem Tod des Buchbinders das verläßliche Familienoberhaupt werden. Statt dessen debütierte er als Komponist mit sechs Triosonaten, Opus 1. Er widmete sie seinem Dienstherrn, »der väterlichen Sonne, die mich aus der harten Finsternis der Not gerissen und den Weg zum Horizont des Glücks geebnet hat«.

 

Mit der Autorität brechen. Der Graf mit dem langen Namen hat ihm die Freiheit gegeben, das zu tun, was ihm das liebste war: Musik machen. Gleichzeitig: die finanziellen Probleme. Die Geldherrschaft, die er verachtet. Er befindet sich im deutsch-römischen Kaiserreich. Dreihundertdreißig unabhängige Staaten unterschiedlicher Größe, die in Beziehung zum Kaiser nur repräsentative Verpflichtungen hatten. Schon nach drei Jahren in Salzburg hatte er seine augsburgische Bürgerschaft verloren.

 

Aber dann verliert er sein Herz an die ein Jahr jüngere Anna Maria Pertl, die hübsche Tochter des stark verschuldeten Musikers und Amtmannes Niklas Pertl aus St. Gilgen am Wolfgangsee. Arme Familie, die Tochter nicht besonders musikalisch oder belastet mit irgendeiner Form von Ausbildung. Glänzt nicht in der Schreibkunst, zeigt aber einen auffallenden Hang zum Analhumor. So ist die Liebe. Die beiden kannten sich schon lange, als sie sich schließlich im November 1747 das Ja-Wort gaben. Leopolds Mutter ist überhaupt nicht begeistert von der Verbindung. Um sie zu besänftigen und zugleich wegen einer zu erwartenden Aussteuer reicht er beim Augsburger Stadtrat ein Gesuch auf Verlängerung seiner Bürgerschaft ein. Das würde sein Ansehen erhöhen. Außerdem hätte er damit eine Rückzugsmöglichkeit, wenn es mit Thun-Valsassina und Taxis und dem erzbischöflichen Hof schiefginge. Lange nach dem Tod seines Vaters schreibt er am 12. Dezember 1747 an den Stadtrat von Augsburg: »Mein Vater lebt noch als Buchbinder und schickte mich kürzlich (vor zehn Jahren und der Vater war da ein Jahr tot) für mein Studium nach Salzburg, dem ich mich eifrig widme (exmatrikuliert nach einem Jahr). Nun aber glückte es mir, unterstützt durch die hohe Empfehlung des Erzbischofs und anderer hoher Behörden, in oben genannter Stadt als Cammerdiener angestellt zu werden. Zur gleichen Zeit habe ich das große Glück, eine wohlhabende (verarmte) Bürgerstochter ehelichen zu können (er war bereits seit einem Monat verheiratet) und einen Hausstand zu gründen. Abgesehen vom Respekt für meinen aufrechten alten Vater bitte ich, meinen auswärtigen Aufenthalt fortsetzen zu dürfen, meine Bürgerschaft aufrecht zu erhalten, wobei ich die gewöhnlichen Taxen im Voraus bezahlen werde.«

 

Leopold Mozart hatte trotz der falschen Angaben Erfolg mit seinem Antrag. Aber nach drei Jahren mußte die Staatsbürgerschaft erneut verlängert werden. Diesmal reichte seine Mutter das Gesuch für ihn ein. Gleichzeitig weigerte sie sich, ihm die ansehnliche Mitgift von 300 Gulden (mehr als ein Jahresgehalt) auszubezahlen, eine Summe, die dann seine Geschwister bei ihrer Heirat bekommen haben. Ein Vorschuß auf das Erbe des verstorbenen Buchbinders. Der Sohn reagiert mit Wut und Verbitterung. Es war vorbei mit einer engen Verbindung zwischen Leopold und seiner Mutter Anna Maria Sulzer, Tochter des Webers Sulzer aus Baden-Baden. Die Mutter sollte weder die andere Anna Maria kennenlernen noch Nannerl oder Wolfgangerl, die als einzige von den sieben Kindern überlebten. In einem Brief an seinen Freund, den Buchbinder Lotter, der seine Violinschule verlegte, schreibt er verärgert: »Es ist leider nur allzu wahr, daß sie, auch wenn sie halt noch tausendmal meine Mutter ist, elend ist und sehr wenig Vernunft hat. Das Letzte ist freilich nicht ihre Schuld. Das ist der Wille Gottes. Aber es ist ihr Fehler, wenn sie ein unglückliches Ende nimmt, weil sie mir nicht vertraut, obwohl ich ihr Kind bin.«

 

Er ist voller Unrast. Der ausgeprägte Ehrgeiz. Die Lügen. Die Ungeduld. 1793 wäre er um ein Haar der Ketzerei angeklagt worden. Der Magistrat der Salzburger Domkirche läßt ihn kommen und wirft ihm vor, in einer gedruckten Schmähschrift einen der Grafen von Thurn und Taxis sowie den Pfarrer Egglstainer beleidigt zu haben. Zwei prominente Bürger, die am erzbischöflichen Hof Position und Einfluß haben. Jetzt steht der begabte Violinist und Hofmusiker in dem riesigen Dom und sieht, wie der Magistrat das Pamphlet in Stücke reißt und ihm vor die Füße wirft.

»Bitten Sie um Entschuldigung? Andernfalls wird der Verfasser dieses gehässigen Pamphlets im Gefängnis landen und seiner wohlverdienten Strafe zugeführt.«

Die Stimme hallt von den Steinwänden wider.

Über zehn Jahre hat er sich nun in dieser Stadt eingerichtet, so gut er es vermochte. Die Hoffnung auf den Hofkapellmeister, die höchste Stellung, die ein Musiker erreichen kann.

Die Geringschätzung der katholischen Priester, Jesuiten, Mönche, Kanoniker und anderer Kleriker. Daheim in Augsburg sind es die Lutheraner, mit denen er befreundet ist.

Er bittet um Entschuldigung.

 

Leopold Mozart. Alleine in der Welt – oder in seinem Weltbild –, obwohl er verheiratet ist. Anna Maria, nach der Geburt des Sohnes sehr geschwächt, physisch und psychisch. Theophilus – das griechische Wort für Gottlieb. Auf lateinisch wird daraus Amadeus. Wolfgang Amadeus Mozart, Getreidegasse 9, geboren am 27. Januar 1756. Getauft am folgenden Tag in der St.-Rupert-Kathedrale. Die Kunst, unabhängig zu bleiben. Und gleichwohl versucht er, pragmatisch zu sein. Immer noch besucht Leopold die katholische Messe. »Gott geht vor allem! Von dem müssen wir unser zeitliches Glück erwarten, und für das ewige immer Sorge tragen … Ich kam doch bei allen meinen jugendlichen Narrenpossen immer wieder zu mir, floh alle Gefahren meiner Seele.«

Jetzt profitiert er von seiner jesuitischen Erziehung. Wissen. Fleiß. Werte, die er versucht, in den Alltag zu übertragen. Als Wolfgang drei Jahre alt ist, entdeckt Leopold, daß das siebenjährige Nannerl eine musikalische Begabung ist. Er gibt ihr Klavierunterricht und stellt fest, daß sie sehr lernwillig ist. Da sammelt er Menuette und andere kurze Stücke zeitgenössischer Komponisten. Er macht ein eigenes Notenbuch für sie. Nannerls Träume. Nannerls Ehrgeiz. Die fast fünf Jahre ältere Schwester von Wolfgang Amadeus Mozart zu sein. Noch hat sie die Kontrolle und weckt die Begeisterung des Vaters. Leopold Mozart will nichts lieber, als aus den Kindern glänzende Musiker zu machen. Musik ist eine wichtige Qualifikation am katholischen Hof. Mit ihr hat er lange seinen Lebensunterhalt bestritten.

 

Die Familie im dritten Stock des Hauses von Kaufmann Hagenauer, mitten in der Altstadt von Salzburg, lebt nicht für die Kunst allein. Die Kinder werden bürgerlich erzogen. Der Vater unterrichtet sie. Mit vier Jahren lernt Wolfgangerl selbständig ein Menuett, das die Schwester übt. Und das geht rasch, mit der irritierenden Fähigkeit des kleinen Bruders, zu kopieren, zu stören, nachzuahmen. Nannerl wird in einem Alter auf die Probe gestellt, in dem sie besonders verletzlich und von Hilfe und Aufmerksamkeit abhängig ist. Sie gibt nicht auf. Sie übt und entwickelt ihr Klavierspiel zu etwas Außerordentlichem. Zugleich merkt sie, daß der kleine Bruder immer mehr an Zuwendung stiehlt. Bald beginnt Leopold, die Kunststücke des Wolfgangerl in dem Notenbuch aufzuschreiben, das er für sie allein gemacht hatte: »Wolfgangerl lernte dieses Menuett im Alter von vier Jahren.« Was nun geschieht, ist sehr ungewöhnlich. Der kleine Junge unterbricht ständig die Schwester, wenn sie übt. Kommt mit Einwänden. Will es selber können. »Kann es selbst!« Leopold notiert stolz in Nannerls Notenheft: »Dieses Menuett hat der Wolfgangerl, den 2anuarii 1761 um halbe 10 Uhr nachts in einer halben Stunde gelernt.«

Als würde Leopold bereits für die Nachwelt schreiben. Das Gefühl von einer Sensation. Eine unvergleichliche Begabung, die Nannerl wegfegt, obwohl Leopold alles tut, was er kann, damit die große Schwester auch Zeit und Ruhe bekommt, um ihr Talent zu entwickeln. Mit fünf Jahren macht Wolfgangerl seine ersten Kompositionen, Andante und Allegro für Klavier, (KV 1a und 1b). Der enge Kontakt zwischen Vater und Sohn. Die Begeisterung nach beiden Seiten, wenn Wolfgangerl sich nach einem glücklichen Tag in der Welt der Musik schlafen legen soll. Er hat nun angefangen, Lieder zu komponieren. Jeden Tag ein neues. Am Abend singt er es und der Vater muß die zweite Stimme singen. Und beim Singen küßt er jedesmal den Vater auf die Nasenspitze. War das Lied zu Ende, sagte er, er wolle seinen Papa, mon très cher Père, unter eine Glasglocke setzen. Dort würde Leopold geschützt sein vor der Luft mit all ihren schlimmen Ansteckungen. »Nach Gott kommt gleich der Papa!« sagt der Junge mit den großen Kinderaugen. Dann legt er sich zufrieden ins Bett.

Er schläft sofort ein.