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Die traditionelle, protestantisch geprägte Geschichtsauffassung sah in der »Tat Luthers« eine Befreiung von den »dunklen Mächten« der Papstkirche und ein »Ende des Mittelalters«. Doch weder war das Spätmittelalter »finster« noch Luther eine Lichtgestalt. Sein kirchlicher Reformimpuls steht im Kontext vielfältiger Umbrüche, die um 1500 im politischen, ökonomischen und kulturellen Leben einsetzten. Daß die Reformation viele Menschen mitriß und zuletzt in ein eigenes Kirchenwesen mündete, war nur möglich, weil verschiedene Akteure (Landesfürsten, städtische Magistrate, Bürger und Bauern) etwas mit ihr ›anfangen‹ konnten. Dabei spielten auch die neuen Massenmedien der Zeit (Flugschriften, Predigten) eine große Rolle.

 

»Selbst wer meint, die Materie bereits zu kennen, wird durch die souveräne Beherrschung des Stoffs, die Vielfalt der wahrgenommenen Aspekte und die Kenntnis der alten wie der aktuellen Diskurse zur Sache angetan sein. Der Göttinger Kirchenhistoriker erweist sich auch hier als einer der derzeit kraftvollsten, ausdrucks- wie urteilsstärksten und synthesefähigsten Vertreter seines Faches.«

(Martin Brecht, Theologische Literaturzeitung)

 

Thomas Kaufmann, geboren 1962, ist Professor für Kirchengeschichte in Göttingen. 1998 wurde er mit dem Akademiepreis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet. Er gehört der Göttinger Akademie der Wissenschaften als ordentliches Mitglied an und ist Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte.

 

 

THOMAS KAUFMANN
GESCHICHTE
DER REFORMATION
IN DEUTSCHLAND

Suhrkamp

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

 

Der vorliegende Text folgt der ersten Auflage dieser Ausgabe im Suhrkamp Verlag 2016.

 

© Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag Berlin 2009

Erste Auflage dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag 2016

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Lucas Cranach d. ‌J., Porträt Martin Luther (Umschlagvorderseite), Porträt Philipp Melanchthon (Umschlagrückseite), 1546, Privatsammlung

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-74786-5

www.suhrkamp.de

GESCHICHTE DER REFORMATION IN DEUTSCHLAND

 

INHALT

Einleitung: Die Reformation und die Liebe zur
Kirche

Teil I: Die Voraussetzungen der Reformation

Teil II: Die Reformation im Reich

Teil III: Die Unwiderruflichkeit der Reformation

Resümee: Die Reformation und das lateineuropäische
Christentum

Epilog: Martin Luther und die Reformation in
Deutschland – in der Erinnerungskultur und in der historischen Forschung

 

Anmerkungen

Ausgewählte Biogramme

Glossar

Zeittafel

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Zu den Abbildungen

Register

 

Inhaltsverzeichnis

»… dan die welt eilet, quia per hoc decennium fere novum saeculum fuit [weil während des letzten Jahrzehnts beinahe ein neues Zeitalter entstand].«

WA.TR 2, Nr. ‌2756b, S. ‌637,10f. (Herbst 1532)

 

»Ein weib ist bald genumen; aber stets lieb zu haben, das ist dan schwer, und es mag einer unserm Herrngott wol davor dancken, wer dasselbige hat.«

WA.TR 5, Nr. ‌5324, S. ‌214,27-29 (1542/43)

Antje gewidmet

EINLEITUNG
DIE REFORMATION UND DIE LIEBE ZUR KIRCHE

Im Frühjahr 1413 schrieb ein Magister der Universität Prag am Anfang eines später berühmten Werkes über die Kirche (Tractatus de ecclesia): »Wie jeder [christliche] Wanderer treulich glauben soll, daß es eine heilige katholische Kirche gibt, so soll er den Herrn Jesus Christus als Bräutigam dieser Kirche und die Kirche als seine Braut lieben; aber er liebt seine geistliche Mutter nicht, wenn er sie nicht durch den Glauben erkennt; also muß er sie durch den Glauben erkennen und sie so wie eine hervorragende Mutter ehren.«1

Der theologische Lehrer, der dies schrieb, war Jan Hus (um 1370-1415), der zwei Jahre später durch das Konzil von Konstanz (1414-18) als Ketzer verurteilt und verbrannt wurde. Die Liebe zur Kirche, die Hus gefordert und beschworen hatte, bezog sich auf die eine, universale, umfassende, also die katholische Kirche des Glaubensbekenntnisses. Diese eine Kirche des Glaubens war für ihn nicht identisch mit der ›real-existierenden‹ römisch-katholischen Papstkirche; denn diese war damals in unterschiedliche Obödienzen konkurrierender Papstprätendenten gespalten, ein belastender Mißstand, den das Konstanzer Konzil zu überwinden antrat. In Hus' Vorstellungen von der Kirche als der geistlichen Braut Christi, nicht als Rechts-, Verwaltungs- und Machtapparat, wirkten Anregungen fort, die von dem Oxforder Theologieprofessor John Wyclif (um 1330-1384) ausgegangen waren. Dieser hatte, anknüpfend an den wichtigsten Kirchenvater des Abendlandes, Augustinus, der irdischen Gestalt der römischen Papstkirche die Idee einer wahrhaft umfassenden, universalen Kirche, deren einziges Haupt Christus sei, entgegengesetzt. Neben 30 Sätzen von Hus wurden auch 45 Artikel aus Schriften Wyclifs in Konstanz verurteilt.2

Luther und seine sogenannten Vorläufer

Das theologische Denken dieser beiden berühmtesten ›Ketzer‹ der abendländischen Kirchengeschichte vor Martin Luther (1483-1546) stellte nicht einfach eine Inspirationsquelle seiner eigenen Theologie dar. Vielmehr setzte seine Beschäftigung besonders mit Hus, später auch mit Wyclif, erst zu einem Zeitpunkt ein, als sich sein innerer und äußerer Ablösungsprozeß von der römischen Papstkirche schon deutlich abzuzeichnen begann, das heißt zwischen dem Frühjahr 1519 und dem Sommer 1520. Gleichwohl hat sich Luther dann gern in eine Traditionslinie mit diesen und anderen seines Erachtens zu Unrecht verketzerten Theologen und enttäuschten Liebhabern der Kirche gestellt und sie damit zu seinen ›Vorläufern‹, sich selbst zu ihrem Nachfolger und Vollender gemacht. In den historiographischen Selbstentwürfen des lutherischen Protestantismus ist dieser Faden weitergesponnen worden: Luther erschien nun als Höhe- und Schlußpunkt einer Schar aufrechter Wahrheitszeugen (testes veritatis), die der verkommenen Papstkirche ihrer Zeit entgegengetreten seien und sie zu reformieren versucht hätten. Mit Luther, so eine feste Überzeugung seiner Anhänger im späteren 16. Jahrhundert, habe Gott den größten und letzten Propheten gesandt, um seiner Kirche vor dem baldigen Ende der Zeiten Buße zu predigen und die widergöttlichen Mißstände zu überwinden.

Dieses protestantische Geschichtsbild, das in seinem ursprünglichen, an Luther anknüpfenden Kern ein Konzept heilsgeschichtlicher Selbstvergewisserung einer beanstandeten Ketzerei darstellt,3 ist zu einer der einflußreichsten ›Meistererzählungen‹ der Geschichtsschreibung überhaupt geworden. Es hat, angereichert mit zunächst humanistischer, später aufklärerischer Rhetorik, die Epoche Luthers als lichtvollen Aufstand der geistigen Freiheit, des christlichen oder bürgerlichen Gewissens, der deutschen Nation gegen die finstere Herrschaft der Päpste und ihrer klerikalen Heerscharen zu inszenieren erlaubt und so dazu beigetragen, jenes Zerrbild des finsteren Mittelalters zu erzeugen, das niederzuringen außerhalb der Wissenschaft noch immer nicht ganz gelungen ist. Indem Luther und seine ›Vorläufer‹, die sogenannten Vorreformatoren, im Verhältnis zu ihrer Gegenwart als große, gefährdete, unverstandene, verfolgte Außenseiter positioniert wurden, geriet häufig das aus dem Blick, was Luther und die Reformer des 15. Jahrhunderts jeweils mit ihrer Zeit verband. Je dunkler die ›mittelalterliche‹ Welt erschien, gegen die Luther und seine Vorkämpfer aufstanden und revoltierten, desto ›zeitloser‹ oder ›moderner‹ erschienen sie selbst. Daß die von Heroisierungen nicht freien Dekontextualisierungen insbesondere Luthers in der weiteren Forschung zu ihrerseits nicht selten angestrengten Bemühungen seiner ›Rekontextualisierung‹ im Mittelalter, ja zur Entdeckung eines mittelalterlichen Luther geführt haben, verwundert daher nicht. Aber wirklich gewonnen war damit wenig. Denn daß all jene Zuschreibungen – mittelalterlich, vormodern, zeitlos-evangelisch, modern usw. – künstliche Konstrukte sind, kann heutigentags wohl kaum ernsthaft strittig sein.

Luther und die sogenannten Vorreformatoren verbindet zunächst nicht sehr viel mehr, als daß sich der Wittenberger ab einem bestimmten Zeitpunkt der Konfliktgeschichte zwischen ihm und der kirchlichen Hierarchie mit ihnen zu beschäftigen und auf sie zu berufen begann. Im Rückblick, von seiner eigenen Verketzerung her, konstruierte er eine Genealogie der von der Papstkirche verfolgten wahren Kirche, die von den altgläubigen Gegnern ihrerseits reproduziert und bestätigt wurde. Denn diese ›häresiologische Genealogie‹ erwies doch schließlich, daß Luther eben wirklich jener Ketzer war, als den man ihn verurteilt hatte. Wer sich selbst öffentlich mit dem Ketzer Hus solidarisierte, durfte sich schließlich nicht wundern, als Hussit beschuldigt und verdammt zu werden. Die protestantisch-emphatische und die katholisch-häresiologische Geschichtsdarstellung erscheinen als zwei Seiten derselben Medaille.

Daß im Rückblick eine Verbindungslinie zwischen Luther und seinen sogenannten Vorläufern gezogen wurde, hat den Blick dafür verstellt, daß die Bemühung um eine Reform der Kirche, um eine lebendige Anpassung der Institution an die sich wandelnden Bedingungen ihrer Zeit, um eine geistliche Reorganisation von ihren heiligsten Ursprungsdokumenten in der Bibel und bei den Kirchenvätern her, kein primär von Außenseitern verfochtenes Nebenthema des Zeitalters um 1500 war, sondern ein Hauptthema, das viele Personen, Gruppen und geistliche Korporationen beschäftigte. In der Intensität, in der man an der Verbesserung der Kirche und ihrer Glaubwürdigkeit arbeitete, manifestierte sich, daß sie der weithin alternativlose Raum war, in dem Individuen, soziale Gruppen und Stände, Zünfte und Genossenschaften, bäuerliche ›Verbündnisse‹ oder Dynastien ihre Bedürfnisse nach Heilssicherung, Kontingenzbewältigung und soziokultureller Repräsentation inszenierten und artikulierten. Nicht zuletzt in der Kritik an der Kirche oder ihren klerikalen Repräsentanten zeigte sich, wie wenig man ihrer entbehren konnte oder wollte. Aus einer im Laufe des 15. Jahrhunderts zunehmenden Kirchenkritik zu folgern, man habe innerlich mit ihr gebrochen und gebe ihr keine Zukunft mehr, wäre ein Irrtum. Offener Widerspruch oder entschlossener Aufstand gegen die Kirche, ihre Praktiken und Lehren bildeten einen höchst marginalen Tatbestand. Eine Ableitung der Reformation aus einer vorreformatorischen feindseligen Haltung gegenüber der Kirche, sofern es diese überhaupt in nennenswertem Maße gab, greift deshalb zu kurz. Die durchaus verbreiteten kirchenkritischen und -reformerischen Stimmen gegenüber dem vorfindlichen Kirchentum sind hingegen als Ausdruck jener prinzipiellen Anerkenntnis ihrer Idee und ihres Wesens zu deuten, ja als Versuch, die Wirklichkeit der Kirche ihrem Ideal anzunähern, die Hus im einleitenden Zitat mit dem affektiven Verb diligere, »lieben«, bezeichnet hat. Da die Kirche immer zugleich real-existierende Institution welthafter Verfehlung und Gegenstand des Glaubens war, konnte jede Kritik an ihr als Erweis ihrer Unumgänglichkeit, Unverzichtbarkeit und Heiligkeit gelten. Ja, die Polemik konnte gegen ihre vornehmsten Repräsentanten im Namen Christi, des Herrn der Kirche, erfolgen und mit dem Anspruch auftreten, aus dem Innersten der wahren Kirche selbst zu stammen. Die schärfsten Kritiker der Kirche waren zumeist ihre glühendsten Liebhaber.

Hierin stimmte Luther mit Hus, mit Wyclif und mit vielen anderen überein, lange bevor er genauere Kenntnisse über ihre Lehren besaß. Diese in der Theologiegeschichte des Abendlandes, bei ihrem wichtigsten ›Vater‹ Augustinus, verwurzelten Selbstunterscheidungen der Kirche als sichtbarer und unsichtbarer, heiliger und sündhafter, welthaft-verstrickter und geistlicher Größe bildeten ein Ferment der Unruhe, der Infragestellung und der Reformbemühung während einzelner Etappen des Mittelalters, aber eben auch in der Zeit der Reformation.

Die selbstverständliche Allgegenwart von ›Kirche‹

Die Reformation und ihr Ringen mit der real-existierenden, ihr Kampf für die ›wahre‹, die ›evangeliumsgemäße‹ Kirche sind nur vor dem Hintergrund der unabweisbaren Allgegenwart der Kirche zu verstehen. Für jeden Europäer nichtjüdischen und nichtmuslimischen Glaubens war ›die Kirche‹ vor Luther, zu seiner Zeit und auch noch ein Jahrhundert nach ihm eine schlechterdings unausweichliche, unhintergehbare Wirklichkeit. Geändert hat sich durch die Reformation nicht der Anspruch der Kirche an die Menschen als solcher, sondern die Art und Weise, in der dieser Anspruch begegnete. Geändert hat sich allerlei an den sichtbaren Erscheinungsformen, am Autoritäts- und Institutionengefüge usw.; an der selbstverständlichen Gebundenheit jedes Menschen an eine der nun konkurrierenden und einander anathematisierenden, das heißt mit dem Bann belegenden Kirchen änderte sich nichts. Denn zur ›Kirche‹ gehörten vor wie nach der Reformation im Prinzip alle, außer den Juden, den Muslimen und den Exkommunizierten. Zur Kirche gehörte man ›von der Wiege bis zur Bahre‹; im Unterschied zu allen anderen soziokulturellen Bindungs- und Organisationszusammenhängen, vielleicht außer den familiären, umspannte die Zugehörigkeit zur Kirche jedes vollständige menschliche Leben. Die Kirche war für die weit überwiegende Mehrzahl der Menschen vor und nach der Reformation eine nähere, konkretere, erfahrbarere Wirklichkeit als das politische Ordnungssystem – der Staat. Die Kirche war zugleich die umfassendste Kategorie, in der sich die Menschen vieler Zeiten und Weltengegenden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfassen und aufeinander beziehen ließen. Die Kirche war nah und fern, umfassend und lokal, hatte mühelos zu besuchende, mit Mühen erreichbare, auch praktisch unerreichbare Orte und Räume, Zentren und Epizentren. Die Kirche war die einzige Ordnungsgröße des Zeitalters, die wirklich bei den Menschen aller Stände, Orte und Lebensalter war. Weil Kirche vor und nach der Reformation nie nur – und wohl für die meisten Europäer nicht einmal primär – ›Rom‹ war, konnte man über den Papst und seine Kurtisanen herziehen und sie als Teufelsbrut desavouieren, ohne an der Kirche als derjenigen Sozialform der Religion, zu der potentiell alle gehörten, irre zu werden. Weil die Kirche so unzählig viele Gesichter hatte und die Bindung an sie nicht auf freiwilligem, individuellem Entschluß basierte – weder vor noch nach der Reformation –, sie mithin eine selbstverständliche Lebensordnung darstellte, hat sie im Zuge der Reformation zwar Spaltungen erlebt, aber als Institutions- und Sozialtypus, eben als ›Kirche‹, überlebt. Freiwillige religiöse Vergemeinschaftungsformen galten der vorreformatorischen Kirche ebenso wie den nachreformatorischen Kirchen als sektiererisch und häretisch. Zur Kirche gehörte man vermittels der Taufe, nicht aber aufgrund eigener Entscheidung. Lediglich für die radikalen Randsiedler der europäischen Religionsgeschichte, die vorreformatorischen und vor allem die protestantischen Sekten, oder für Konvertiten aus Judentum und Islam spielte eine persönliche religiöse Entscheidung eine Rolle. Für alle anderen war die Zugehörigkeit zur Kirche eine unhintergehbare und zumeist unhinterfragte Selbstverständlichkeit.

Die Reformation als Aufstand der ›Kirche‹ gegen die ›Kirche‹

Da sie viele Gesichter hatte, nur wenige kultische oder moralische Verpflichtungen bindend auferlegte und in sich selbst Raum für vielfältige Alternativen ließ, gab es nur relativ wenig Anlaß, gegen die Kirche aufzubegehren. Darauf konnte man eigentlich nur verfallen, wenn man es mit dem, wofür die Kirche stand oder stehen sollte, ernster nehmen zu müssen meinte als die berufenen Vertreter der Kirche selbst. Die Reformation ist ein solcher Aufstand der ›Kirche‹ gegen die ›Kirche‹ gewesen. Und sie hat es mit dem Kirchesein der Kirche ernster genommen, als es ihres Erachtens jene Kirche beziehungsweise ihre Repräsentanten taten, gegen die sie aufbegehrte. Sie hat die religiösen Pflichten ihrer Gläubigen gesteigert, auf persönliche Aneignung gedrängt und insofern das Ideal eines alle Menschen umfassenden corpus christianum, einer christlichen Gesellschaft, konsequenter umzusetzen versucht als die vorreformatorische Kirche. Wenn es ein Ziel schon der mittelalterlichen Kirche gewesen sein sollte, eine christliche Gesellschaft zu formen, dann ist dieses Ziel im Zuge der Reformation und der durch diese provozierten Gegenreformation konsequenter und am Ende wohl auch erfolgreicher realisiert worden als je zuvor.

Die Reformation zielte darauf ab, daß die bestehende Kirche nach Maßgabe biblischer Verbindlichkeiten ›zurechtgebracht‹, re-formiert, werden sollte und daß die Glieder der Kirche, die Christen, Mitverantwortung für Lehre und Leben der Kirche übernahmen. Nur weil sich die Reformation an die Kirche als die alternativlose Form christlicher Lebens- und Sozialgestaltung gewiesen wußte und für die Bedingungen ihrer Zeit eine begriffliche Unterscheidung zwischen ›Kirche‹ und ›Gesellschaft‹ ganz unangemessen ist, konnten ihr Angriff auf die Kirche und ihr Neubau evangelischer Kirchen christentumsgeschichtlich epochale Wirkungen zeitigen. Ein Angriff auf die Kirche, der nicht wieder zur Kirche, zur religionskulturellen Sozial- und Integrationsgestalt aller Bürger und Bauern, aller Menschen sämtlicher Stände eines geopolitischen Raums geführt hätte, wäre nichts anderes als ein weiteres Kapitel der mittelalterlichen Sektengeschichte gewesen, aber kein epochales Phänomen.

Nach einer »gemein reformation <…> in der gantzen christenheit«4 zu rufen implizierte für Autoren vor Luther wie für diesen selbst nichts Geringeres, als einer grundstürzenden Umorientierung der gesamten christlichen Gesellschaft in allen Gliedern das Wort zu reden. Eine solche totale Reformation hatte entweder als menschliches Unterfangen ihre Ausweglosigkeit und ihr Scheitern bei sich oder war allein von Gott zu erwarten.5 Dies hielt jedoch nicht davon ab, im Rahmen kleinerer Gestaltungsräume und Handlungszusammenhänge nach Möglichkeiten zu suchen, Mißstände zu verändern. Schon der Straßburger Münsterprädikant Johann Geiler von Kaysersberg (1445-1510), einer der einflußreichsten Prediger und theologischen Schriftsteller vor der Reformation, hatte aus der Unmöglichkeit einer ›Generalreformation‹ nicht gefolgert, sich in die Mißstände zu schicken, sondern dafür plädiert, in überschaubaren Verantwortungsbereichen reformerisch tätig zu werden: »<…> in der sunderheit möchte jeglich wol sein stat und yeglicher oberer sein unterthon reformieren. Ein bischoff in sein bistumb. Ein apt in seinem closter. Ein rat sein stat. Ein bürg sein hauß, daz wer leicht. Aber ein gemein reformacion der gantzen cristenheit, das ist hart und schwer, und kein consilium hat es mögen betrachten und weg mögen finden.«6 Damit waren die Realisierungsbedingungen lokaler, regionaler, auch häuslicher Reformationen präzise erfaßt, die im großen und ganzen den Erfolg der Reformation ausmachen sollten. Nicht der durch ein Generalkonzil initiierten und strukturierten »gemein reformation«, sondern den städtischen, territorialen, häuslichen, in den überschaubaren soziokulturellen Lebens- und Organisationseinheiten der christianitas liegenden Partikularreformationen gehörte die Zukunft. Apostel einer ›Generalreformation‹, der ›großen Veränderung‹, der grundstürzenden ›Verwandlung‹ der Christengesellschaft, fanden sich im 16. Jahrhundert bald vorwiegend auf dem sogenannten linken Flügel der Reformation, bei den Radikalen. Ihre generalreformatorischen Programmtexte sind literarische und mentale Parallelerscheinungen der frühen Utopien. Der Erfolg der Reformatoren aber bestand in der Reduktion des Universalismus und in der pragmatischen Partikularisierung ihrer Gestaltungskontexte, mithin in der Addition der vielen größeren und kleineren Reformationen zu der einen, die man zusammenfassend ›die Reformation‹ zu nennen pflegt. Die Summe dieser Einzel- und Partikularreformationen jedenfalls veränderte das abendländische Kirchenwesen grundlegender als irgend etwas vorher oder nachher.

Der Erfolg der Reformation ergab sich freilich ganz wesentlich daraus, daß in den jeweiligen kleinen und partikularen Räumen so reformiert wurde, daß man alle Menschen einbezog, also Kirche baute, und daß man die Neuerungen in der Regel zügig und verbindlich für einen bestimmten sozialen und politischen Lebensraum durchsetzte. Duldsamkeit gegenüber abweichendem Verhalten einzelner Personen oder Gruppen, seien es nun Anhänger der alten Kirche, Täufer oder radikalreformatorische ›Schwärmer‹ und Einzelgänger, war der Reformation im ganzen nicht weniger fremd als jener Kirche, gegen die sie aufstand und deren Anspruch, die allgemeine Kirche zu sein, sie teilte. Die Reformation hatte also Erfolg, weil sie die Partikularität ihrer Gestaltungs- und Durchsetzungsräume mit einer generellen Verbindlichkeit, also: Kirchlichkeit ihres Anspruchs, verknüpfte. Wenn man die Auflösung der selbstverständlichen Geltung des in konstantinischer Zeit eingeführten religionssoziologischen Vergesellschaftungsmodells, dieses ›Sozialtypus Kirche‹, als entscheidenden religionsgeschichtlichen und kulturellen Indikator der Neuzeit versteht,7 dann kann es keinem Zweifel unterliegen, daß es historiographisch unsachgemäß wäre, Reformation und Mittelalter zwei unterschiedlichen historischen Epochen zuzuweisen. Die Vorstellung, daß alle Menschen eines Gemeinwesens zur ›Kirche‹ gehörten, teilten die Reformatoren mit jener Kirche, gegen die sie rebellierten.

Die Reformation als Epoche?

Ist es deshalb nicht naheliegend oder gar unausweichlich, die Bedeutung der Reformation als einer kirchen- und allgemeingeschichtlichen Zäsur zu nivellieren und die insbesondere seit Leopold von Ranke (1795-1886) als eigene Epoche stilisierte Reformationszeit (1517-55)8 in eine – Spätmittelalter und Frühe Neuzeit umspannende – Periode des Übergangs zwischen etwa 1400 und 1650 einzuordnen? Die Diskussion um die Zuordnung der Reformation zu Mittelalter oder Neuzeit, auch ihrer historiographischen Situierung ›zwischen den Zeiten‹, ist stets mit besonderer Leidenschaft geführt worden. Dies hängt wesentlich mit den – nur selten explizit gemachten – geltungspolitischen Ansprüchen, die sich mit dieser Frage verbinden, zusammen. Wer die Reformation tendenziell stärker dem Mittelalter zuschlägt, scheint ihre aktuellen Geltungsansprüche zurückhaltender zu beurteilen, sie konsequenter zu historisieren, Luther »ohne Goldgrund«9 in seine Zeit zu stellen. Wer hingegen Luther und die Reformation auf die Seite der Neuzeit herüberzieht, reklamiert den Wittenberger als eine Gestalt, die auch uns Heutigen noch Wesentliches zu sagen hat, ja, deren Leben und Werk, deren Theologie ganz entscheidend für kardinale religionskulturelle Prozesse wie Individualisierung oder Pluralisierung, die Bindung religiöser Letztverbindlichkeiten an das eigene Gewissen oder die Emanzipation von klerikaler Bevormundung, die Begründung beziehungsweise Ermöglichung persönlicher Menschenrechte usw. verantwortlich gemacht werden. In bestimmten Periodisierungskonzepten begegnen also nicht selten dogmatische Geltungsansprüche, denen nicht zuletzt im Horizont aktueller Auseinandersetzungen um religiöse Konkurrenz und Ökumene Wirkungskraft zugeschrieben wird.

In bezug auf die neuere allgemeinhistorische Epochendiskussion kann diese nicht selten bei protestantischen Autoren begegnende Aufgeregtheit in der Frage ›Reformation: Mittelalter oder Neuzeit?‹ inzwischen als entschärft gelten. Denn wohl kaum jemand wird heute noch ernsthaft die Vorstellung vertreten, unsere eigene Gegenwart sei mit der Zeit der Reformation in eine und dieselbe Epoche zu setzen. Die Fremdheit der Reformation, ihre Andersartigkeit, kann in historischer Perspektive nicht ernsthaft strittig sein. Wegen der allgemein üblich gewordenen Einführung des Epochenbegriffs der ›Frühen Neuzeit‹ kann die Diskussion über die ›Mittelalterlichkeit‹ oder ›Neuzeitaffinität‹ Luthers oder der Reformation also getrost jenen überlassen werden, die noch immer meinen, daraus Funken schlagen zu können.

Die Reformation als Veränderung des bestehenden Kirchenwesens

›Die Reformation‹ beginnt nicht an einem bestimmten kalendarischen Datum, etwa dem 31. ‌10. ‌1517, jenem Tag vor dem Allerheiligenfest, als der Wittenberger Theologieprofessor seine 95 Thesen über den Ablaß an den Erzbischof der Diözese Magdeburg und Primas der deutschen Reichskirche, Albrecht von Brandenburg, der für den Vertrieb des Petersablasses verantwortlich war, schickte, sich erstmals ›Luther‹ statt ›Luder‹ nannte und wahrscheinlich auch seine Thesen zum Zweck der Ankündigung einer freilich nie gehaltenen Disputation an die Kirchentüren Wittenbergs, die ›schwarzen Bretter‹ der Universität, anschlagen ließ. Sie endet auch nicht mit einem bestimmten Ereignis, etwa dem Augsburger Reichsabschied vom 25. ‌9. ‌1555, als den Anhängern der Confessio Augustana von 1530, des wichtigsten protestantischen Bekenntnisses, eine reichsrechtliche Duldung bis zur – schlußendlich erwarteten – kirchlichen Wiedervereinigung zuerkannt wurde. Die Reformation, wie sie in diesem Buch verstanden wird, stellt einen Prozeß der theologischen Infragestellung, der publizistischen Bekämpfung und der gestaltenden Veränderung des überkommenen Kirchentums dar. Aufgrund der untrennbaren Verbundenheit von Kirche und Gesellschaft betrafen diese mit unterschiedlichen Mitteln ins Werk gesetzten Veränderungen des Kirchenwesens viele Menschen in unterschiedlichster Weise. Unter Reformation verstehe ich die – in bewußter Abgrenzung von der Kirche Roms und im Bruch mit den in ihr geltenden Rechtsgrundlagen des kanonischen Rechts vollzogenen – Umgestaltungsprozesse des Kirchenwesens in städtischen und territorialen Zusammenhängen, die diese Prozesse zum Teil initiierenden, zum Teil begleitenden, teils privaten, zumeist aber öffentlichen Kommunikationsakte insbesondere der sogenannten Flugschriftenpublizistik und die mit diesen Prozessen untrennbar verbundenen politischen, rechtlichen und militärischen Auseinandersetzungen, die auf den unterschiedlichsten Ebenen und Bühnen der Städte, Territorien und Regionen, des Reichs und Europas stattfanden. Mit Reformation wird also nicht schon eine bestimmte theologische Erkenntnis Luthers im Zuge seiner prozessual zu deutenden theologischen Entwicklung bezeichnet; als ›reformatorische‹ ist Luthers Theologie im Sinne der hier verfolgten Perspektive nur insofern und ab jenem Zeitpunkt von Interesse, als sie auf eine Veränderung des bestehenden Kirchenwesens oder einzelner seiner Erscheinungen abzielte und sich kommunikativer und medialer Praktiken bediente, um diese zu erreichen. Den Auftakt jener Ereignissequenzen, die zur Reformation wurden, stellt der Ablaßstreit dar.

Die Frage nach dem Zusammenhang dieser so verstandenen Reformation mit bestimmten Einsichten ihrer führenden Theologen, die man Reformatoren zu nennen pflegt,10 kann nicht in dem Sinn als ein für allemal beantwortet gelten, daß man voraussetzt, bestimmte reformatorisch-theologische Erkenntnisse hätten unmittelbar ›reformatorische‹ Wirkungen gezeitigt. Dies setzte ein wohl zu naives Modell dessen voraus, wie theologische Gedanken wirksam geworden sind. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen reformatorischer Theologie und Reformation wird also in bezug auf die jeweiligen Beobachtungsfelder, Gegenstände und Themen der kirchlichen Veränderungen gesondert zu stellen sein.

Reformation und Frühe Neuzeit

Der Prozeß der Umgestaltung des bestehenden Kirchenwesens, der die deutsche Geschichte seit dem dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts nachhaltig prägte, brachte Wirkungen hervor, die auch dann als epochal oder jedenfalls zentral bedeutsam einzuschätzen sind, wenn man einen Epochenbegriff der Reformation verabschiedet und sie als hochwichtige Etappe innerhalb einer Epoche der Frühen Neuzeit verortet.11 Daran freilich, daß die Reformation einen tiefgreifenden Einschnitt oder »Umbruch«12 in der Kirchen- und Christentumsgeschichte darstellt und insofern, angesichts der untrennbaren Verquickung von Kirche und Staat, Christentum und Gesellschaft, religiöser Mentalität und Kultur, zugleich einen solchen der ›allgemeinen Geschichte‹, wird man auch dann festhalten können, wenn man der gesellschaftsgeschichtlichen Dynamik der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die in der neueren Forschung gemeinhin mit dem Begriff der Konfessionalisierung bezeichnet wird,13 eine besondere Bedeutung für die historische Entwicklung auf dem Weg in die Neuzeit zuerkennt. Denn in der zweiten Jahrhunderthälfte lebten ja Tendenzen und Überzeugungen auf, kamen zum Erfolg oder verfestigten sich, die durch die zum Teil eruptiven Aufbrüche der Reformation hervorgerufen oder indirekt ermöglicht worden waren. Der kulturelle Zusammenhang zwischen der Reformation und der Konfessionalisierung läßt es wenig sinnvoll erscheinen, sie zwei unterschiedlichen historischen Epochen zuzuweisen. Die Katechismen etwa, die man in der zweiten Jahrhunderthälfte durch verstärkte disziplinatorische Strategien dem ›gemeinen Mann‹ nahebrachte, entstammten ganz überwiegend der ersten Jahrhunderthälfte. Die innerprotestantischen Großgruppen, die sich in der zweiten Jahrhunderthälfte zu eigenen Konfessionen verfestigten und sich als konkurrierende Kirchentümer gegenüberstanden – die Lutheraner und die Reformierten, in gewissem Sinne auch die römischen Katholiken –, waren in der ersten Jahrhunderthälfte, in der Reformationszeit, entstanden. Die Rechtsformen, die den politischen und juristischen Rahmen für das Zusammenleben der Konfessionen im späten 16. und im frühen 17. Jahrhundert bilden sollten, waren in der ersten Jahrhunderthälfte vorläufig erprobt worden oder umkämpft gewesen, ehe sie sich als auf Dauer gestellte Interimslösung in der zweiten Jahrhunderthälfte mehr oder weniger überzeugend bewähren konnten. Die Gesichtspunkte ließen sich vermehren – allenthalben griffen Reformation und Konfessionalisierung ineinander, gab es die eine nicht ohne die andere. Das läßt es berechtigt erscheinen, die Konfessionalisierung als zweite, der Reformation folgende Etappe innerhalb der Epoche der Frühen Neuzeit zu verstehen.

Reformation und Spätmittelalter – Kontinuitäten

In der Reformationszeit lebte freilich vieles dessen fort, was dem späten Mittelalter sein spezifisches Gepräge gegeben hatte. Einige wesentliche Aspekte und Erscheinungsformen der Reformation sind ohne die religiösen, mentalen, sozialen und politischen Voraussetzungen des späten 15. Jahrhunderts nicht zu verstehen. Ohne das deutlich vor der Reformation einsetzende Interesse an volkssprachlichen Bibeln in Deutschland etwa (s. ‌u. S. ‌90) bliebe unverständlich, warum die in der Reformation erhobene Forderung nach der Bibellektüre der Laien und der normativen Vorrangstellung der Heiligen Schrift gegenüber jeder anderen Wahrheitsinstanz so rasante Verbreitung finden und so zündende Plausibilität entfalten konnte.14 Ohne das deutlich gewachsene Interesse an volkssprachlicher Predigt und ihre Konzentration auf Fragen der Buße und Rechtfertigung,15 ohne die explosionsartige Zunahme in der Produktion von primär für städtische Leser aus dem Laienstand bestimmte Frömmigkeits- und Erbauungsliteratur16 und ohne die Etablierung städtischer Prädikaturen für überdurchschnittlich gebildete Prediger, die die Kanzelrede in einer den gewachsenen Bildungsbedürfnissen des städtischen Bürgertums entsprechenden Form zu praktizieren vermochten, wären die raschen Erfolge reformatorischer Predigt und Publizistik kaum verständlich. Ohne die gezielte agitatorische Aufnahme vorreformatorischer antirömischer und antipäpstlicher Kirchenkritik und die Aneignung konziliaristischer Theorien und Konzepte durch reformatorische Akteure wäre die Durchschlagskraft, die Luther etwa mit seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation (1520; s. ‌u. S. ‌271-274) erreichte, kaum nachvollziehbar. Ohne die bereits im 15. Jahrhundert zum Teil weit fortgeschrittenen Versuche deutscher Territorialfürsten, das Kirchenwesen in ihren Herrschaftsgebieten unter ihre Kontrolle zu bringen und ein ›landesherrliches Kirchenregiment‹ aufzurichten,17 oder der städtischen Magistrate, die Einflüsse der bischöflichen Ordinarien und ihrer Fiskale, das heißt ihrer Rechtsvertreter, zurückzudrängen, deren Gerichtsbarkeit zu domestizieren und ihrer kommunalen Sozialgemeinschaft zu integrieren,18 blieben die zügig einsetzenden territorialen Reformationsprozesse weitestgehend unverständlich. In bezug auf die massenmedialen Kommunikationsmittel in Gestalt von Druckschriften, Flugblättern, didaktischen Bildmedien usw. konnten die Akteure der frühreformatorischen Publizistik an logistische, infrastrukturelle und künstlerische Erfahrungen und Strategien anknüpfen oder sich diese zunutze machen, ohne die die enorme Medienmaschinerie, die die frühe Reformationsbewegung begleitete und auch ermöglichte, nicht denkbar gewesen wäre. Nicht zuletzt in bezug auf die theologische Deutung und religionspraktische Behandlung der jüdischen wie der ›türkischen‹ Religion lassen sich gezielte Rückgriffe reformatorischer Autoren auf vorreformatorische Deutungstraditionen und Revitalisierungen mittelalterlicher Textbestände nachweisen.19

So lebte die Reformation von – und entstand unter – Voraussetzungen, die sie nicht selber geschaffen hatte. Dies dürfte nicht zuletzt von den religiösen Dispositionen gelten; ohne die Heilsfragen, -sehnsüchte und -ängste, ohne die eingeprägten religiösen Praktiken des Bußinstituts, des Stiftungswesens, der geistlichen Spiele, der Wallfahrten, des lebensregulierenden Ethos, der Sterbefürsorge usw. wären die Antworten, Anfragen und Angriffe der Reformatoren unverständlich und wirkungslos geblieben. Läßt es die hier nur angedeutete, im weiteren Fortgang der Darstellung (siehe Teil I, Kapitel 1) gründlich aufzuweisende rückwärtige Bezogenheit der Reformation auf das Spätmittelalter nicht geraten erscheinen, die Kontinuitätslinien deutlich herauszustreichen und gegenüber den Vorstellungen eines Umbruchs oder eines ›Systembruchs‹,20 einer historischen ›Wetterscheide‹ zwischen Spätmittelalter und Reformation also, zurückhaltend zu sein oder sie gar zurückzuweisen?

Reformation und Spätmittelalter – Diskontinuitäten

Diese Frage kann nur behutsam abwägend beantwortet werden. Auch wer die Kontinuitätslinien akzentuiert, wird die Momente der Diskontinuität nicht bestreiten können – und umgekehrt. Für die in diesem Buch vorgenommene Gewichtung zugunsten der Diskontinuität – sie allein rechtfertigt es, den historiographischen Begriff der Reformation auch weiterhin zu verwenden und das mit ihr Bezeichnete nicht einer spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Ära der Reform zuzuschreiben! – sind nicht allein Bindungen des evangelischen Kirchenhistorikers an die historiographischen Traditionen seines Faches und der Umstand, daß ›die Reformation‹ nun einmal ein ›Erinnerungsort‹ der deutschen Geschichte ist,21 verantwortlich, obschon dies zu leugnen töricht oder unaufrichtig wäre. Für die Diskontinuitätsperspektive spricht meines Erachtens ganz entschieden, daß sowohl die Protagonisten der Reformation als auch ihre altgläubigen Gegner, die Agenten der ›Gegenreformation‹,22 darin übereinstimmten, daß die Trennung zwischen der ›Papst-‹ und der ›Ketzerkirche‹ in ihrer Wahrnehmung von einer Tiefe und Abgründigkeit und die wechselseitigen Verwerfungen von einer Unversöhnlichkeit waren, daß sie eine einheitliche Geschichte der einen lateineuropäischen Kirche an ihr vorläufiges oder endgültiges Ende gekommen sahen. Zwar hatte es auch in der böhmischen ›Reformation‹ die Verselbständigung eines nationalen partikularen Kirchentums gegeben, dessen man sich seitens der Reformatoren erinnerte und das wohl sogar zeitweilig als Vorbild für eigene programmatische Vorstellungen einer deutschen Nationalkirche fungiert hatte. Doch das quantitative Ausmaß der Abweichung von Rom, die Entschiedenheit und die Konsistenz des theologischen Widerspruchs und die Stabilität des politischen Rückhaltes, der die deutsche Reformation kennzeichnete, schließlich die Intensität der europäischen Ausstrahlung wiesen über alle Verselbständigungstendenzen der vorangehenden abendländischen Ketzergeschichte hinaus. Mit der Reformation gingen weite europäische Landschaften in papstfreie, von der Bindungskraft des kanonischen Rechts und der römischen Rechtsprechung unabhängige Kirchentümer über. Einen vergleichbaren institutions-, organisations- und kirchenrechtsgeschichtlichen Auflösungsprozeß hatte die lateineuropäische christianitas bisher nicht gekannt.

Auch noch andere Aspekte lassen es gerechtfertigt erscheinen, die Diskontinuität der Reformation gegenüber dem späten Mittelalter, das ›Nicht-mehr-Mittelalterliche‹ der Reformation, zu betonen. Mit und durch die Reformation kamen eine Theologie und eine mit dieser korrespondierende Frömmigkeitspraxis zur Vorherrschaft, die das Heil des Menschen auf das persönliche Gottesverhältnis, auf den Glauben, gründete. Auch wenn diese Position ihre Wurzeln in Tendenzen spätmittelalterlicher Frömmigkeitstheologie gehabt haben mag – die Radikalität, die Allgemeinheit und die Ausschließlichkeit, mit der sie in der Reformation in den Vordergrund trat, veränderten das Verhältnis des frommen Menschen zur Kirche grundlegend. Die Kirche diente nicht mehr als institutionelles Unterpfand des Heilserwerbs, sondern als Raum der persönlichen Begegnung mit dem Wort Gottes und der Gemeinschaft der Glaubenden. In der Reformationszeit vollzog sich sodann ein durch die Druckproduktion des späten Mittelalters mannigfach vorbereiteter, doch erst seit 1519/20 in seinen Möglichkeiten und seiner Brisanz schlagartig hervortretender kommunikationsgeschichtlicher Umbruch, der in der Forschung mit Formeln wie der von der »Entstehung der reformatorischen Öffentlichkeit«, dem reformatorischen »Kommunikationsprozeß« oder dem »Medienereignis« Reformation bezeichnet worden ist.23 Niemals zuvor jedenfalls waren in so kurzer Zeit so viele verschiedene Schriften geschrieben und gedruckt, so unterschiedliche Autoren, bald auch aus dem Laienstand, zur Parteinahme für die ›Sache Luthers‹ und seiner Anhänger mobilisiert und in so rascher Zeit relativ homogene Meinungen und Überzeugungen über so weit gestreute Regionen vor allem des deutschen Sprachgebietes transportiert worden wie in der frühen Reformationszeit.

Mit der theologischen Bestreitung der für die ältere Kirchengeschichte in rechtlicher, sozialer und mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht grundlegenden Unterscheidung zweier genera christianorum,24 zweier »Arten von Christen«, der Kleriker und der Laien, ging schließlich seit der Frühzeit der Reformation ein historisch analogieloser Aktivitätsschub der Laien einher, der in unterschiedlichen Zusammenhängen zu einem wichtigen Faktor der kirchlichen Veränderungsprozesse wurde. Dadurch, daß die Laien aufgrund des Priestertums aller Gläubigen zu eigener theologischer Urteilsbildung ermächtigt und mittels volkssprachlicher Bibelausgaben befähigt wurden oder doch werden sollten, wuchs ihnen prinzipiell ein Maß an kirchlicher Mitgestaltung zu, wie es vor der Reformation weithin undenkbar gewesen war. Freilich divergierten die Partizipationsmöglichkeiten der Laien faktisch zwischen den verschiedenen Ständen erheblich, ja wurden nach dem Bauernkrieg auch von den protestantischen Obrigkeiten eingeschränkt oder doch mit Argwohn betrachtet. Damit aber, daß den politisch führenden Laien, den städtischen Magistraten und den Reichsfürsten, im Zuge der Reformation das Recht zufiel, als »hervorragende Glieder der Kirche« (praecipua membra ecclesiae) selbst über die Lehre zu urteilen und zu entscheiden, schuf die Reformation reguläre, rechtlich verbürgte laikale Einflußmöglichkeiten, die die mittelalterliche Kirche nicht gekannt hatte.

Die drastische Reduktion des geistlichen Personals, die mit der Abschaffung des Mönchtums, der Auflösung des Stiftungswesens und des damit zusammenhängenden Pfründensystems verbunden war, und die Einrichtung des vollständig in die bürgerliche Lebenswelt integrierten Pfarramtes als des einzigen geistlichen Amtes stellen gleichfalls einen sozial- und mentalitätsgeschichtlich tiefgreifenden Umbruch dar. Der verheiratete evangelische Pfarrer übte ein funktional definiertes Gemeindeamt aus und verfügte als Person über keinen theologisch definierten und durch die Priesterweihe verbürgten sakralen Status mehr. Seine Amtsbeziehung zur Gemeinde war primär über Schriftauslegung und Sakramentsverwaltung vermittelt und sollte stärker lehrhafte Züge tragen als die seines vorreformatorischen Vorgängers. Auch wenn aus der Sicht der Gläubigen die Unterschiede vielfach als weniger gravierend empfunden worden sein mögen, da in nicht wenigen Fällen die schon vorhandenen Priester in ihrem Amt verblieben – freilich häufig, nachdem sie geheiratet beziehungsweise ihre Konkubinate nun legitimiert hatten –: Aus der Sicht der Theologen war der ordinierte evangelische Pastor etwas ganz anderes als ein geweihter Priester.

Auch in bezug auf den religiös-haptischen Umgang mit sakralen Gegenständen, etwa Reliquien, Hostien, Bildern, Amuletten usw., markierte die Reformation einen mehr oder weniger vollständigen Bruch mit dem Herkommen. Wallfahrten, heilige Stätten und auratische Objekte im traditionellen Sinne, auch die so unendlich wichtig gewordenen Heiligen, kannte sie nicht mehr und löste insofern einen immensen Entsakralisierungs-, vielleicht gar Rationalisierungsschub aus. Die Zentrierung reformatorischer Theologie und Frömmigkeit auf die Bibel, das in ihr und in der Predigt begegnende Wort und auf den versöhnenden Christus, der nun seine Mutter Maria gänzlich überstrahlte und ihrer Verehrung klare Grenzen setzte, bedeutete doch einen so tiefen Einschnitt, daß die Rückverweise auf einzelne parallele Phänomene und Vorformen oder vergleichbare Tendenzen der Frömmigkeit des späten Mittelalters demgegenüber nicht wirklich ins Gewicht fallen. Mit einer Schärfe, Brutalität und Selbstverständlichkeit, wie es in der Reformation üblich wurde, waren jedenfalls bisher weder der Heiligenhimmel gestürmt und geplündert noch Maria degradiert oder die heiligen Objekte entsakralisiert worden. Da, wo die Reformation siegreich wurde, starben wesentliche Elemente und Erscheinungsweisen mittelalterlicher Frömmigkeitskultur und Kirchlichkeit mehr oder weniger zügig ab, und was in bescheidenen Überbleibseln als volksfrommes Brauchtum oder evangelisches Klosterwesen25 überlebte, war weniger als der Hauch ehemaligen Sinns. Wo die Reformation vordrang, kam die Kirchengeschichte des Mittelalters in wesentlichen ihrer Erscheinungen an ein Ende.

Die Reformation als deutsches und europäisches Ereignis

Seit Leopold von Ranke ist die Reformationsgeschichte ein klassisches Thema der nationalen deutschen Geschichtsschreibung. Die tiefe Verwurzelung in nationalen Selbstbeschreibungen geht freilich bereits in die Geschichte des frühneuzeitlichen Luthertums zurück, wie überhaupt der nationale Diskurs in Deutschland zunächst ganz wesentlich von protestantischen Autoren bestimmt worden ist.26 Die ideologischen Instrumentalisierungen der Reformation im Kontext nationalprotestantischer Geschichtspolitik sind in ihrer Fragwürdigkeit so evident,27 daß jede nationalistische Emphase bei der Beschreibung eines ›deutschen Ereignisses‹ Reformation problematisch erscheinen muß. Wäre es deshalb nicht geradezu überfällig, ja zwingend, die Sicht auf das Phänomen Reformation konsequent zu europäisieren und damit jedem deutschen Provinzialismus den im Horizont postnationaler und postkolonialer Historiographie geschichtspolitisch korrekten ›Laufpaß‹ zu geben?

Die vorliegende Darstellung wird in der Tat immer dann, aber auch nur dann, wenn die europäischen Bezüge zum Verständnis der historischen Zusammenhänge unverzichtbar sind, auf diese eingehen. Angesichts dessen, daß das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation in den entscheidenden Phasen der Reformationsgeschichte, Kaiser Karl V. (reg. 1520-56), ein Monarch von europäischem, ja weltpolitischem Format war und außenpolitische Belange auf seine Religionspolitik im Reich notorisch einwirkten, sind die internationalen Zusammenhänge selbstverständlich von zentraler Bedeutung. Auch die vielen direkten oder indirekten Kontakte, die die führenden Reformatoren des deutschsprachigen Raums zu Gelehrten und zu religiösen Gruppen der europäischen Nachbarländer unterhielten, wirkten zeitweilig bestimmend auf die Reformationsprozesse im Alten Reich und in der Eidgenossenschaft ein. Gleichwohl ist es meines Erachtens sachgerecht, die Reformationsgeschichte Deutschlands ins Zentrum einer eigenen Darstellung zu rücken, zum einen, weil die Reformation hier begann, unter den spezifischen politischen und verfassungsrechtlichen Gegebenheiten des Alten Reichs ein spezifisches Profil erhielt und einen gegenüber anderen europäischen Ländern charakteristisch verschiedenen Verlauf nahm, und zum anderen, weil sie nicht zuletzt aufgrund der zentralen Rolle der volkssprachlichen Publizistik einen spezifischen kulturellen Zusammenhang bildete und einige der führenden Protagonisten der Reformation der Kirche im politischen und kulturellen Raum der ›deutschen Nation‹ eine besondere, jedenfalls eine prioritäre Bedeutung beimaßen.

Manche gegenüber bisherigen Gesamtdarstellungen der Reformationsgeschichte Deutschlands eigenwillig anmutende Gewichtung ergibt sich aus meinem Interesse an geschichtlichen Akteuren, Individuen, kleineren und größeren, öffentlichen und heimlichen Gruppen und politischen Ordnungsmächten. Was bedeutete ihnen, wie deuteten sie die christliche Religion im Kontext ihrer sozialen und mentalen Welt? Wie verhielten sich reflexive Interpretationsgestalten der Religion – also Theologien – zur kulturellen und politischen Praxis? Wo immer es möglich und mit Rücksicht auf ein Gesamtbild vertretbar oder gar unverzichtbar schien, wurde der Nähe zu den Quellen gegenüber makrohistorischen Perspektiven der Vorzug gegeben.

Freilich hat die Darstellung selbst plausibel zu machen, inwiefern dieser Weg sinnvoll ist. Auch wenn sich die Reformansprüche und kirchenkritischen Impulse der Reformatoren auf die universale Kirche Roms bezogen und insofern an der Katholizität jenes Kirchentums, gegen das sie sich wandten, partizipierten – ihre historisch primäre Verwirklichung fand die Reformation in einzelnen Städten oder Territorien des Alten Reichs, denen es gelang, ihre Eingriffe in das bestehende Kirchentum politisch hinreichend abzusichern. Die Reformation gibt es insofern nur als den Zusammenhang diverser städtischer und territorialer Reformationen. Als diesen aber gibt es sie.