Oma, hast du Strapse?

18 Kurzgeschichten für LeserInnen im besten Alter

 

 


Impressum

Copyright © 2016 by arp

Herausgeber by arp, Ledererstraße 12, 83224 Grassau, Deutschland

Ausgabe September 2016

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt und darf auch auszugsweise nur mit Genehmigung des Herausgebers wiedergegeben werden.

Covergestaltung by arp

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Don Juan mit grauen Schläfen

Ein neues Glück

Oma hast du Strapse?

Mildreds Eskapaden

Nur gegen Liebe ist kein Kraut gewachsen

Der Nebenbuhler

Vierhändig

Der Glückstreffer

Dann schon lieber einen Hund

Das schönste Geschenk

Besuch am Muttertag

Liebe ist mehr als nur ein Wort

Eine Nacht in deinen Armen

Der schöne Schwarzhaarige

Der Schlüssel zu deinem Herzen

Verrückt nach Hannes

Weiße Weihnacht

Kleine Lügen, große Liebe


Don Juan mit grauen Schläfen

Annette war mit ihrer Freundin Wiebke zum Einkaufsbummel verabredet. Sie brauchte ein Kleid für die Hochzeit ihrer Nichte, und außerdem wollten sie beide endlich mal wieder nach Herzenslust klönen. Sie hatte bereits die Tür hinter sich zugezogen, als ihr das Jackett ihres Mannes einfiel. Sie wollte es schon seit Tagen mit zur Reinigung nehmen, und beinahe hätte sie es auch heute wieder vergessen. Sie ging zurück ins Schlafzimmer, nahm es aus dem Schrank und griff in die Taschen, um sie auszuleeren. Dort fand sie ein zerknülltes Taschentuch, ein Zündholzbriefchen, einen Essensbon und eine Heftklammer. Dabei schüttelte sie lächelnd den Kopf. In Stefans Taschen sah es aus wie in den Taschen ihres Sohnes, als er zehn Jahre alt gewesen war.

Annette legte alles auf seinen Nachttisch, griff in die andere Tasche und brachte einen Kuli, zwei Cent und ein zerknülltes Taschentuch zum Vorschein. Und dann hielt sie plötzlich dieses Schmuckstück in der Hand. Zuerst glaubte sie, es sei eine Brosche, aber als sie das Schmuckstück umdrehte erkannte sie, dass es eine Haarspange war. Feingearbeitete Silberornamente verwuchsen sich zu einer mit Granaten besetzten Rosette. Ein wertvolles Stück! Wahrscheinlich sogar antik, soviel war selbst ihr klar, die sich nie besonders für Schmuck interessiert hatte.

Annette drehte die Spange nachdenklich in den Händen. Wie kam sie in Stefans Jackett? Und weshalb hatte sie plötzlich so rasendes Herzklopfen? War sie etwa eifersüchtig, nur weil sie diese Haarspange in der Tasche ihres Mannes gefunden hatte?

Ach eifersüchtig, Unsinn! Sie hatte überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Stefan war kein Abenteurer, war er nie gewesen! Er hätte überhaupt nicht den Nerv, sich in irgendwelche Lügengebäude zu verstricken. Nicht ihr Stefan, der so gutmütig, zuverlässig, ehrlich, bequem, ein bisschen phlegmatisch und manchmal sogar ein wenig langweilig war. Sechsundzwanzig Jahre waren sie nun verheiratet - sie kannte ihn doch!

Sie schob die Spange in die Tasche zurück, auch die anderen Fundstücke, und hängte das Jackett in den Schrank. Dass sie mit Wiebke verabredet war, vergaß sie für den Moment, ging stattdessen in die Küche und begann planlos aufzuräumen. Das Geschirr aus der Maschine ins Regal, die Gefrieretiketten in die Schublade, die Handtücher in den Schrank. Und während sie das tat, dachte sie mit klopfendem Herzen: Langes Haar, so eine schwere Silberspange trägt man doch nur, wenn man langes, kräftiges Haar hat …

Plötzlich war ihr heiß. Am Spülbecken hielt sie die Hände unter kaltes Wasser, dabei ließ sie im Gedanken alle Frauen aus ihrem Bekanntenkreis Revue passieren. Aber keine hatte langes Haar. Oder ja doch! Die Tochter von Stefans Tennispartner, mit der er seit drei Wochen spielte, weil ihr Vater auf Asienreise war! Wie hieß sie doch noch? Karen oder Karina?

Annette erinnerte sich plötzlich wieder an Stefans Worte: „Hübsch ist die Kleine! Langes, braunes Haar, schöne lange Beine, dazu ist sie auch noch intelligent und charmant! So eine Tochter hätte man dem Karl-Heinz gar nicht zugetraut …“

Annette bekam plötzlich zittrige Knie, setzte sich und starrte vor sich hin. Stefan und ein achtzehnjähriges Mädchen? Sollte das der Grund für den neuen Haarschnitt sein? Nicht mehr ganz so kurz, oder wie Stefan sich ausgedrückt hatte: ‚Etwas gefälliger’. Und die neue Lederjacke, sportlich-schick, jugendlich im Schnitt! Und die plötzlich wiederentdeckte Angelleidenschaft, der er in jeder freien Minute frönte! Angeblich am Reifler See, und manchmal sogar übers Wochenende in der Eifel!

Aber vielleicht ging er ja gar nicht zum Angeln?!

Vielleicht hatte dieses Mädchen ja ganz neue Seiten in ihm zum Klingen gebracht? Vielleicht hatte er an ihrer Seite die Lust am Abenteuer entdeckt! Die Lust, etwas im Verborgenen zu tun, etwas Außergewöhnliches, um das ewige Einerlei des Alltags zu vertreiben!

Stefan verwegen und leidenschaftlich!!!

Stefan im zweiten Frühling?

Und das Einerlei des Alltags, das war dann wohl sie? Annette, die Frau, die seit sechsundzwanzig Jahren für ihn kochte und putzte, all seine Launen ertrug und seine blöden überfüllten Taschen leerte!

„O Gott!“ Sie rang nach Luft, ein seltsamer Jammerlaut drang aus ihrer Kehle. Dann brach sie in Tränen aus. „Und ich hatte immer geglaubt, mir könnte so etwas nie passieren!“, schluchzte sie.

Sie ging zum Telefon und rief Wiebke an, um ihr zu sagen, dass sie nicht kommen würde und was Stefan für ein gemeiner, herzloser Kerl war.

Bis zum Abend schleppten sich die Sekunden hin, als wären sie Stunden. Immer neue Liebesszenen zwischen Stefan und dieser Karen oder Karina malte sie sich aus, die immer gewagter wurden. Stefan, der dieses Mädchen mit Liebe, Zärtlichkeiten und Geschenken überhäufte! Wer weiß, vielleicht war ja auch diese teure Haarspange ein Geschenk von ihm? Allmählich wuchs sich ihr Mann in ihrer Phantasie zu einer Kreuzung zwischen Humphrey Bogart und Casanova aus. Schau mir in die Augen, Kleines - pa! Und bei ihr gab er sich immer so harmlos wie ein Unschuldsengel! Als ob er kein Wässerchen trüben könnte!

Immer mehr entflammte sie an ihrer Eifersucht. Immer leidenschaftlicher wurde ihr Zorn. Und immer kampfeslustiger fieberte sie dem Nachhausekommen ihres schamlosen, infamen Herrn Gatten entgegen. Sie knallte Türen und zerschmetterte sogar eine Tasse an der Wand. Zwar musste sie danach die Scherben aufräumen, aber trotzdem hatte es wahnsinnig gut getan, ihre Wut mal so richtige rauszulassen. Schließlich bekam sie nie so ein tolles Schmuckstück von Stefan! Schließlich sparte er bei ihr nicht nur mit Komplimenten sondern auch mit Küssen! Und mit allem anderen, was Spaß machte! Tanzen zum Beispiel! Ja, wann waren sie eigentlich zum letzten Mal beim Tanzen gewesen?

Aber als Stefan am Abend dann endlich vorfuhr und fröhlich pfeifend die Autotür zuknallte, hatte sie das schlimmste schon hinter sich. Ruhig und gefasst sah sie dem Rausschmiss aus dem ehelichen Paradies entgegen - denn dass einer von ihnen beiden gehen würde, war so klar wie das Amen in der Kirche.

Sie wartete auf der Terrasse und brachte sich in Positur. Setzte sich auf die Bank, schlug das rechte Bein übers linke und ließ es wippen.

Stefan kam zu ihr, küsste sie auf die Wange, ließ sich neben sie fallen und atmete ganz tief durch. „Hach, was für ein herrlicher Sommerabend!“, schwärmte er. „Ich finde, wir sollten nach dem Essen in den Biergarten gehen oder zum See radeln, oder mal wieder tanzen gehen, wenn du möchtest ...“

„Das hier hab ich in dem Jackett gefunden, das ich zur Reinigung bringen sollte“, unterbrach Annette ihn frostig und hielt ihm die Haarspange hin.

Er starrte einen Moment stirnrunzelnd auf das Schmuckstück, dann schlug er sich plötzlich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Mein Gott, die Haarspange! Die hätte ich ja längst beim Portier abgeben müssen!“ Er nahm sie und betrachtete sie. „Ich habe sie vor ein paar Tagen im Aufzug der Firma gefunden. Bestimmt ist sie sehr wertvoll, und wer immer sie verloren hat, wird sie verzweifelt suchen.“

„Ach ja - gefunden?“ Fast hätte Annette hysterisch gelacht.

Stefan runzelte die Stirn. Der aufreizende Ton, den seine Frau anschlug, ließ ihn aufhorchen.

„Ja, gefunden“, bestätigte er, und dann lächelte er amüsiert. „Sag mal, das klingt ja ganz so, als ob du eifersüchtig wärst? Du dachtest doch nicht etwa dass ich ...?“ Er brach bedeutungsvoll ab.

Für einen Moment war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Annette kaute auf ihren Lippen und sah ihm dabei in die Augen. In diese Augen, die noch nie lügen konnten! Aber von schlechtem Gewissen keine Spur. Mehr als ein belustigtes Blitzen war nicht zu entdecken. Schließlich hob sie abwehrend die Hände. „Aber nein, natürlich nicht! Niemals würde ich so etwas von dir denken!“, versicherte sie und umarmte ihn schnell, damit er nicht sah, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Denn als sie daran dachte was für haarsträubende Ausschweifungen sie ihm im Gedanken unterstellt hatte, trieb es ihr glatt die Schamröte ins Gesicht!

Wie war sie nur dazu gekommen, sich so kopflos in Eifersucht zu verrennen? Stefan war kein Abenteurer, war es nie gewesen! Er hätte überhaupt nicht den Nerv, sich in irgendwelche Lügengebäude zu verstricken. Nicht ihr Stefan - gutmütig, zuverlässig, ehrlich, bequem und ein wenig phlegmatisch. Seit sechsundzwanzig Jahre war sie mit ihm verheiratet - sie kannte ihn doch!

Annette betrachtete ihn zärtlich. Eigentlich sah er noch immer gut aus. Der kleine Bauchansatz fiel kaum auf, die grauen Schläfen passten zu ihm, und sein kantiges Gesicht wirkte ungemein männlich. Nur manchmal war er ein bisschen ... na ja, ein bisschen langweilig eben. Und ein Schuss Verwegenheit, der würde ihm gar nicht schlecht stehen …


Ein neues Glück

Seltsam, gerade hatte sie gedacht: „Wenn doch endlich etwas geschehen würde! Wenn jemand anrufen würde und mich aus diesem ewigen Gleichtrott reißen!“ Und im selben Moment hatte das Telefon geklingelt.

Jetzt beugte sich Ilona über den Stapel Bücher, die sie noch kennzeichnen musste, und griff zum Hörer.

„Hallo und wunderschönen guten Tag!“ gurrte eine männliche Stimme in den Apparat. Dann folgte ein Schweigen und Ilona spürte, dass der Mann hoffte sie würde erraten, zu wem die Stimmte gehörte. Tatsächlich kam sie ihr bekannt vor. Etwas regte sich in ihr. All ihre Sinne gingen auf Habachtstellung, doch sie kam nicht drauf ... Mensch, wer war das nur?

„Sie sind mit Ilona Lenz verbunden, was kann ich für Sie tun?“, sagte sie betont förmlich, um dem Schweigen ein Ende zu bereiten.

„Was kann ich für Sie tun! Jetzt bin ich aber enttäuscht! Ich dachte, bestimmt weiß sie sofort ...“

„Mein Gott, Viktor!“

Er lachte. „Na, endlich!“

„Viktor, Himmel, was treibt dich denn dazu, mich anzurufen?“

„Ich bin in der Stadt. Und da dachte ich, vielleicht könnten wir uns ja sehen. Ein bisschen nachquatschen.“

„Nachquatschen!“ Sie lachte. „Einfach so, nach mehr als zwanzig Jahren?“

„Warum nicht? Wir sind schließlich nicht nur zwanzig Jahre älter sondern auch so viele Jahre reifer geworden. Da sieht man manches anders. Es wäre doch schön, wenn wir ...“ er suchte nach Worten. „Wenn wir Frieden schließen könnten.“

Sie lachte. Es klang hell wie das Klingen einer Glocke. Und etwas zu glücklich dafür, dass er sie einmal so enttäuscht hatte. „Mein Gott - Frieden schließen! Wie sich das anhört. Wir hatten doch keinen Krieg.“

„Nein, sicher nicht, da hast du recht.“

Eine Weile schwiegen sie. Dann fragte Ilona: „Was heißt, du bist in der Stadt. Wo in der Stadt und warum?“

„Abgestiegen im Hotel Bärmütz. Ich war unterwegs von Hamburg nach Bozen und dachte, ich schau mir mal die alte Heimat an.“

„So, so, die alte Heimat.“ Ilona grinste. Na hoffentlich meinte er nicht sie damit ...

„Und weißt du, hier im Hotel gibt es heute einen brasilianischen Abend. Büffet mit Fisch und Meeresfrüchten, bunte Drinks, Rumbamusik ... könntest du kommen?“

„Um mit dir einen brasilianischen Abend zu erleben?“

„Ich kann mir schlechtere Möglichkeiten vorstellen, ein Wiedersehen zu feiern.“

„Da hast du allerdings Recht!“ Sie horchte in sich hinein, dann entschied sie: „Na gut, ich komme.“

„So gegen acht? Hast du ein Auto, oder soll ich dich abholen?“

„Unsinn, ich nehme mir ein Taxi.“

*

Brasilianischer Abend! Was sollte sie nur anziehen? Sie hielt sich das Blaue vor, aber nein, das wirkte zu streng. Das mit dem Spitzenoberteil? Zu romantisch! „Aber das hier, das würde gehen!“ Sie griff nach einem Kleid aus roter Seide. Es war elegant und schlicht, auf Figur geschnitten, hatte schmale Träger und drei Biesen am Saum.

„Genau richtig“, sagte sie laut, als sie sich später im Spiegel betrachtete. Ihr braunes Haar fiel ihr locker auf die Schultern, die rote Seide ließ ihre helle Haut glänzen, die Fingernägel hatte sie passend zum Kleid lackiert - ja, das war die Ilona, die Viktor einmal so geliebt hatte!

Im Aufzug ertappte sie sich dabei zu pfeifen. Das alte Lied von damals. Mein Gott, wann hatte sie zum letzten Mal gepfiffen? Was war nur los mit ihr? Da rief einer an, nach zwanzig Jahren, und sie tat, als hätte sie das große Los gezogen.

Das Taxi wartete bereits. Sie stieg hinten ein, wollte alleine sein mit ihren Gedanken, nicht mit einem Fremden reden müssen.

Bevor sie das Haus verlassen hatte, hatte sie noch das Fotoalbum herausgesucht, um im Gedanken die alten Zeiten aufzufrischen. Viktor und sie auf dem Uni-Ball. Viktor und sie beim Skifahren, in Italien, auf dem Rummelplatz. Und dann Viktor in Badehose auf der Segeljacht seines Schwagers. Seine braungebrannte Haut, sein schlanker muskulöser Körper, sein wunderbares Lachen! Und dann die schwarzen Augen, von der Mama geerbt, die aus Südtirol stammte.

Viktor war ein Traummann gewesen, um den sie viele beneidet hatten. Bis diese Ina aufkreuzte, die nicht so naiv wie Ilona sondern ziemlich gerissen war. Die nichts dem Zufall überließ, die genau wusste was sie wollte. Einen Mann wie Viktor, mit Stil, gutem Aussehen und guten Aussichten auf eine gute Karriere!

Er hielt ihren Verführungskünsten lange stand. Drei Monate hatte sie ihn umgarnt mit ihrer Traumfigur, ihrem Loreley-Sexappeal. Lockender Blick, langes blondes, seidenweiches Haar und eine Stimme wie das Gurgeln in einem Glas auf dem Grude eines Flusses - mein Gott! Tja, und dann war Ina schwanger, und er musste sie heiraten, darauf bestand schon die Mama aus Südtirol.

Und jetzt pfiff sie, Ilona, ein Lied von früher, bloß weil dieser Viktor, der sie verraten hatte, nach Ewigkeiten wieder anrief? Himmel, sie war doch wirklich ein ziemlich dummes Fleckvieh!

Aufgeschreckt sah sie nach draußen. Grünauer Straße. Sie war schon fast da. Das Hotel Bärmütz lag zwei Straßen weiter hinter dem Park. Vier Sterne, die erste Adresse in der Stadt.

Ilona überlegte, ob sie den Fahrer umkehren lassen sollte. In ihrer Vorstellung tauchte plötzlich ein Viktor auf, der gar nichts mehr mit dem Viktor auf den Fotos in ihren Alben gemein hatte. Viktor mit Bauchansatz, die Haare schüttern, vielleicht schon eine Glatze, die Haut fahl und unter den schönen schwarzen Augen dicke Tränensäcke. Wenn man über die Jahre miteinander aus der Form gerät, dann war das in Ordnung - „aber Erinnerungen sollte man nicht zerstören!“ Den letzten Satz ihrer Gedanken hatte sie laut ausgesprochen.

„Wie bitte?“ Der Taxichauffeur sah sie über den Spiegel an.

„Ach nichts. Bitte halten Sie an.“

„Ja natürlich - gleich.“ Er nahm den Fuß vom Gas und setzte den Blinker.

Erst da bemerkte Ilona, dass es zu spät war - sie waren bereits am Hotel angekommen.

Ein Mann in roter Livree riss den Wagenschlag auf.

„Nein, bitte, ich möchte wieder zurück in die Stadt.“

Der Chauffeur sah sie entgeistert an. Der Türsteher ebenfalls. Dann war da plötzlich Viktor. Er streckte seine Hand in den Wagen, um ihr herauszuhelfen. Er lachte. „Ich dachte, ich warte mal lieber hier draußen auf dich. Ich kenne dich doch! Am Ende kneifst du noch.“

„Das hast du wirklich gedacht?“

Er nickte. „Und, hatte ich recht?“

Sie schüttelte schnell den Kopf, starrte in seine schönen schwarzen Augen. Er hatte sich überhaupt nicht verändert! Er sah aus wie früher, nur die Haare waren mit Silberfäden durchzogen und die Lachfältchen um die Augen tiefer geworden. Er war einfach Viktor, so, als ob sie sich erst gestern zum letzten Mal gesehen hätten.

Die Zeit zerrann zwischen Meeresfrüchten und Ananas, als würde sie gar nicht existieren. Sie aßen, redeten und lachten, und zwei- oder dreimal tanzten sie auch.

„Ich bin seit zwei Jahren geschieden. Und du?“

„Ich auch. Nein. Seit drei Jahren.“

„Mein Sohn lebt bei seiner Mutter, ich sehe ihn leider nur selten. Hast du auch Kinder?“

Ilona schüttelte den Kopf.

„Ich habe dir geschrieben. Fünfundzwanzig mal.“

„Du lügst, ich habe nie einen Brief von dir bekommen!“

Viktor griff in seine Innentasche und zog einen Packen Briefe hervor. „Natürlich nicht, ich habe die Briefe ja auch nicht abgeschickt. Ich war doch verheiratet. Ich hatte Angst und wollte mich nicht unglücklich machen - noch unglücklicher machen als ich schon war. Und nach der Scheidung ... ich war einfach zu feige.“ Er schob die Briefe über den Tisch. „Sie gehören dir.“

Ilona legte ihre Hand auf das verschnürte Päckchen und schloss die Augen, um dem Klopfen ihres Herzens nachzufühlen. Einen Moment war sie versucht, die Schleife zu öffnen, aber dann dachte sie plötzlich: Das hältst du nicht aus! So viel alte Liebe muss verschnürt bleiben, sonst hat die neue keinen Platz!

Sie schob ihm die Briefe wieder hin. „Du musst sie behalten. Es ist dein Geheimnis. Ich habe meines.“

Sie lächelte.

Plötzlich war es viel zu laut um sie hin. Die Musik, das Lachen - zu laut und zu brasilianisch. Ein stiller Garten mit Grillengezirp und fernab das Rauschen des Meeres würden nun passender sein.

Sie verließen das Hotel, spazierten zum Fluss. Dabei hielten sie sich an den Händen wie damals, als sie zwanzig waren.

Aus Ilonas Erinnerungen tauchten Bilder auf, die sie all die Jahre weggesperrt hatte, weil es viel zu schmerzlich gewesen wäre, sie immer wieder anzusehen. Orangefarbene Kissen auf hellgelben Laken, dazwischen atemlos sie beide. Seine zärtlichen, bohrenden, fordernden Küsse. Seine Finger, die sie überall streichelten. Seine Zunge, die sie verwöhnte, bis sie ihn stöhnend anflehte, dass er mit seiner Folter aufhören sollte. Diese Lust damals, dieses wahn-sinnige Begehren! Er liebte sie mit seinem Körper, und mit seinem Herzen brachte er ihre Seele zum Schmelzen. Nichts war ihnen fremd gewesen, und nichts schien ihnen unmöglich. Und nie wieder gab es einen Mann, dem sie so nahe kommen konnte.

Plötzlich blieb er stehen, legte seine Hand in ihren Nacken und zog sie fest an sich. „Ich habe nie den Glauben daran verloren, dass du mir eines Tages verzeihen wirst und wir wieder zusammen sein können“, sagte er ernst.

Ilona schloss die Augen um zu spüren, wie seine Liebe warm durch sie hindurchfloss.

„Fühlst du es?“ fragte er.

„Ja“, sagte sie. „Ich liebe dich auch.“


Oma hast du Strapse?

Wie Carla diese lauen Spätnachmittage liebte! Die Haut duftete vom Sonnenbaden noch nach Nussöl, ein Drink in der Farbe des orangeroten Himmels stand vor ihr, der Abend war nicht mehr fern, und auf dem See silbriges Glitzern, als hätte eine Fee schon das Sternfunkeln der Nacht über ihm ausgegossen.

Dort wohnen, wo andere Urlaub machen!

So warb das ortsansässige Maklerbüro um Käufer für Objekte, bei denen der Blick teurer bezahlt werden musste als das Haus und das Grundstück, auf dem es stand.

Carla hatte Glück gehabt, sie war hier geboren, war hier aufgewachsen, hatte hier geheiratete und eine gute Ehe geführt. Doch nun war sie bereits seit mehr als fünf Jahren Witwe, und an so manchen schönen, lauen Spätnachmittagen wünschte sie sich wieder einen Mann an ihrer Seite. Sie war vierundfünfzig, noch lange nicht alt, da wäre eine neue Liebe doch etwas Wunderbares!

So träumte sie im Strandcafé vor sich hin, fast zärtlich umhüllt von der Dämmerung, die sich anschickte, den Tag zur Nacht zu machen. Da krähte plötzlich eine Stimme neben ihr: „Oma - hast du Strapse?!“ Die Stimme - sie gehörte zu Laura, ihrer Enkelin - war sehr laut und sehr durchdringend und bestimmt noch am anderen Seeufer zu hören.

Ein Mann, etwa in Carlas Alter, saß am Nebentisch. Er sah auf und sie neugierig an, suchte lächelnd in ihrem Gesicht nach einer Antwort auf die brennende Frage des Kindes.

Carla fühlte, wie das Blut in ihre Wangen schoss. „Wie kommst du denn jetzt auf so etwas?“

„Weil der Mann dort vorne“, Laura deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf einen etwa dreißigjährigen Blonden, „der hat zu der Frau gesagt, Strapse findet er sexy. Was sind denn eigentlich Strapse? Und was heißt denn eigentlich sexy?“

So viele Fragen, die auf Antwort pochten! Carla räusperte sich und griff in ihre Handtasche, aus der sie ihren Geldbeutel ans Tageslicht beförderte. „Willst du ein Eis?“

„Au ja!“ Laura nahm die zwei Euro, die Carla ihr gab, und düste davon.

Der Mann vom Nebentisch sah sie immer noch neugierig und mit einem Schmunzeln an. Schnell stand sie auf, nahm ihre Handtasche und verließ den Ort dieser Peinlichkeit.

Als sie am Abend im Bett lag, tauchte sein Gesicht vor ihrem inneren Auge wieder auf. „Und - haben Sie Strapse?“, fragte er in ihren Gedanken.

„Keine Ahnung!“, knurrte sie. Irgendwann hatte sie mal welche besessen, aber das, so schien es ihr, war Jahrhunderte her!

*

„Man trifft sich immer zweimal - und ich hoffe, es ist in unserem Fall noch lange nicht das letzte Mal!“

Carla fuhr herum und sah in das sympathische Lächeln des Mannes vom Strandcafé.

„Ach, Sie!“ Carla räusperte sich.

„Gestatten, mein Name ist Rolf Wassermann.“

Carla lachte. „Seltsamer Name.“

„Finden Sie? Ich kenne jemanden, der heißt Kalbskopf. Würden Sie trotzdem etwas mit mir trinken?“

„Ich heiße Carla Reith, und ja, ich hätte Lust auf einen Campari-Orange.“

Rolf nickte. „Den von gestern haben sie ja fast unberührt stehen gelassen. Warum sind Sie nur so überstürzt fortgelaufen?“

„Das wissen Sie genau!“ Mit bohrendem Blick sah sie ihn an. Dann lachte Sie. „Haben Sie auch Enkelkinder?“