Am 23. September 1926 erklimmt Paul Kammerer einen Hügel imSchneebergmassiv. Dann setzt er sich einen Revolver an die Schläfe und seinem Leben ein Ende. Kurz zuvor ist Kammerer, den man als größten Biologen seit Darwin feierte, die Fälschung seiner Experimente zur Vererbung erworbener Eigenschaften vorgeworfen worden. Der Fall erregt weltweit Aufsehen und ist bis heute ungeklärt. 90 Jahre später gilt Kammerer manchen als Vater der Epigenetik, für andere bleibt er ein Fälscher. Wer, wenn nicht er, hätte die Manipulation vornehmen sollen? Warum hätte sich Kammerer, der sich auch als Komponist, Freimaurer und Liebhaber von Alma Mahler einen Namen machte, sonst umgebracht?

Klaus Taschwer rollt Leben und Tod des »Krötenküssers« neu auf – und liefert die erste heiße Spur im »Cold Case Kammerer«, die zu einer antisemitischen Verschwörung führt. Ein wahrer Krimi, der das kreative Milieu Wiens um 1900 und die Krisen der Zwischenkriegszeit zu neuem Leben erweckt.

 

Hanser E-Book

 

Klaus Taschwer

 

Der Fall

Paul Kammerer

 

Das abenteuerliche Leben

des umstrittensten Biologen

seiner Zeit

 

 

Carl Hanser Verlag

 

ISBN 978-3-446-44941-1

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich

Foto Mikroskop: © plainpicture /Fancy/John Smith

Foto Paul Kammerer: Mit freundlicher Genehmigung

der Edinburgh University Library

Satz: Eva Kaltenbrunner-Dorfinger, Wien

 

 

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Kapitel 1    Ein Selbstmord und viele offene Fragen

Kapitel 2    Turbulentes Nachleben

Kapitel 3    Eine Jugend in Wien vor 1900

Kapitel 4    Als Lehrling am Institut der Zauberer

Kapitel 5    Eine Baronesse statt der Kaisertochter

Kapitel 6    Kometenhafter Karrierebeginn

Kapitel 7    Der Kuss der Femme fatale

Kapitel 8    Von der Zoologie zur Sozio-Biologie

Kapitel 9    Als Pazifist im Grosen Krieg

Kapitel 10  Kann das alles Zufall sein?

Kapitel 11  Krisenjahre eines Weltverbesserers

Kapitel 12  Medialer Ruhm und wissenschaftliche Kritik

Kapitel 13  Das verhangnisvolle Jahr 1926

Kapitel 14  So konnte es gewesen sein

Epilog        Ein Fall fur die Epigenetik?

 

Chronologie

Danksagung

Anmerkungen

Quellen

Verwendete Literatur Paul Kammerers

Bibliographie

Personenregister

 

 

Kapitel 1

 

Ein Selbstmord und viele offene Fragen

 

Es ist ein idyllischer Ort, an dem das kurze, aber turbulente Leben Paul Kammerers sein tragisches Ende findet. Am 22. September 1926 verlässt der 46-Jährige seine Heimatstadt Wien und fährt mit der Bahn nach Puchberg. Der noch heute beliebte Kurort am Fuße des Schneebergmassivs liegt rund 60 Kilometer südwestlich der Bundeshauptstadt und ist mit dem Zug in gut einer Stunde erreichbar. Nach seiner Ankunft am Bahnhof quartiert sich Kammerer im nahe gelegenen Hotel Rode ein, wo er schon oft zu Gast war. Das Wetter an diesem Mittwoch ist spätsommerlich. Am Morgen des nächsten Tages, der deutlich herbstlicher beginnt, macht sich der Biologe zu einer kleinen Wanderung auf, zwei Hunde des Hotels begleiten ihn.

Kammerer geht in Richtung Himberg, einem steilen Hügel am östlichen Ortsrand. Der Weg führt vom Hotel, das heute Schneeberghof heißt, zunächst über einen Bach und dann im Zickzack steil den Himberg hinauf. Nach rund einer halben Stunde Wanderung durch den Föhrenwald zweigt rechts ein abschüssiger Weg ab, der ein paar Minuten später am Theresienfelsen endet. Von dort hat man einen prächtigen Blick hinüber auf den Schneeberg, den östlichsten Zweitausender der Alpen, und hinunter auf Puchberg.

 

 

Paul Kammerers letzte Aussicht: Blick vom Theresienfelsen auf den Schneeberg und den Ort Puchberg. (Abb.: © Klaus Taschwer)

 

Gegen 14 Uhr hört der pensionierte Eisenbahner Johann Lechner ein lautes Hundebellen aus der Richtung des Theresienfelsens. Der Mann aus dem nahen Ort Neunkirchen ist am Himberg mit Wegausbesserungsarbeiten beschäftigt. Am Aussichtspunkt angekommen, entdeckt Lechner neben den Hunden einen Mann, der leblos an einem der Felsen lehnt. Der schockierte Pensionist eilt hinab ins Dorf, Gemeindearzt Dr. Kerbl und die Gendarmerie werden verständigt, die rund eine Stunde später am Tatort eintreffen.1 Angeblich bewachen die Hunde den toten Körper ihres Begleiters, und zumindest einer von den beiden lässt zunächst niemanden an den Leichnam herantreten.2 In seiner rechten Hand befindet sich ein Revolver. Der Tote hat sich allem Anschein nach links über dem Ohr in den Kopf geschossen, die Kugel ist an der rechten Kopfseite ausgetreten und hat auch einen Teil des Auges zerstört. Gerichtsmedizinisch betrachtet, ist das Szenario mit dem Revolver in der rechten Hand und der Einschussstelle links erklärungsbedürftig. Ein Mord ist dennoch auszuschließen, denn die Einsatzkräfte machen bei der Untersuchung des Leichnams einen Fund, der den Suizid eindeutig bestätigt und die schnelle Identifizierung des Toten ermöglicht – in einer der Rocktaschen befindet sich ein Abschiedsbrief, adressiert an »denjenigen, der meine Leiche findet«:

 

»Dr. Paul Kammerer ersucht, ihn nicht nach Hause zu überführen, da seiner Familie der Anblick erspart bleiben soll. Am einfachsten und wohlfeilsten wäre vielleicht die Verwertung im Seziersaal eines der akademischen Universitätsinstitute. Mir auch am sympathischesten, weil ich der Wissenschaft wenigstens auf solche Weise einen kleinen Dienst erweise. Vielleicht finden die werten Kollegen in meinem Gehirn eine Spur dessen, was sie an den lebendigen Äußerungen meiner geistigen Tätigkeit vermissten. Was immer mit dem Kadaver geschieht: Eingegraben, verbrannt oder seziert, sein Träger ist konfessionslos gewesen und wünscht, von religiösen Zeremonien verschont zu bleiben, die ihm wahrscheinlich ohnedies verweigert worden wären. Das ist keine Feindseligkeit gegen den individuellen Priester, der ebenso ein Mensch ist wie alle anderen, und oft ein guter und edler Mensch.«3

 

In einem Nachsatz bittet er seine Frau, weder schwarze Kleider noch sonst irgendwelche Zeichen der Trauer zu tragen.

Die Nachricht von Paul Kammerers Tod verbreitet sich in Windeseile. Das enorme Ausmaß der Berichterstattung lässt keinen Zweifel an der Bedeutung des Verstorbenen: Bereits am Morgen des darauffolgenden Tages berichtet die Neue Freie Presse, Österreichs einzige international angesehene Tageszeitung, vom überraschenden und rätselhaften Selbstmord des Wissenschaftlers:

 

»Eine erschütternde Nachricht kommt uns in später Abendstunde zu. Der hervorragende Biologe Dr. Paul Kammerer, dessen Bücher und Essays biologischen und soziologischen Inhaltes berechtigtes Aufsehen hervorgerufen haben, der in den Wiener Vortragssälen stets ein hundertköpfiges begeistertes Publikum um sich zu scharen verstand, hat durch Selbstmord geendet. […] Die Briefe, die er zurückgelassen hat, geben keinen vollständigen Aufschluss über die Gründe seines verhängnisvollen Entschlusses.«4

 

Ein ungenannter Wiener Biologe würdigt im Anschluss an diesen Artikel ausführlich die wissenschaftliche Bedeutung Paul Kammerers, die »nicht bloß in seinem geradezu erstaunlichen Wissen auf allen Gebieten der Naturwissenschaft, sondern auch in der Begabung bestand, sein Wissen in einer allgemein verständlichen Weise darzustellen«. An der Biologischen Versuchsanstalt (BVA), wo Kammerer seit deren Gründung im Jahr 1903 gearbeitet hat, sei »eine Reihe von aufsehenerregenden Arbeiten entstanden, die sich zumeist mit der Vererbung erworbener Eigenschaften beschäftigen und die seinen Namen mit einem Schlage in der ganzen wissenschaftlichen Welt bekannt machten«. Es habe ihm nicht an Freunden, aber auch nicht an Feinden gemangelt. Seine Sehnsucht, in Wien einen offiziellen Lehrstuhl zu erhalten, sei zu seinem großen Schmerz nicht in Erfüllung gegangen. Dafür habe er aber erst vor wenigen Monaten eine Professur in der Sowjetunion erhalten.

 

»In wenigen Tagen hätte er die Reise nach Moskau antreten sollen, um am 1. Oktober seine Lehrtätigkeit zu beginnen. Umso größer war das Erstaunen und der Schmerz aller seiner Freunde, als gestern Abend die Nachricht nach Wien kam, er hätte sich im Schneeberggebiet erschossen.«5

 

Ein Abschiedsbrief Kammerers sei an die Adresse der Wiener Sowjetvertretung gerichtet gewesen, ein anderes Schreiben an die Gattin:

 

»In dem Briefe an seine Frau spricht er davon, dass er außerstande sei, der Berufung nach Moskau zu folgen. Er fühle sich zu stark an Wien gebunden, und in diesem Widerstreite der Pflichten bleibe ihm nichts anderes übrig, als sich das Leben zu nehmen.«6

 

In die Abendausgabe an diesem Freitag schafft es die Nachricht vom spektakulären Selbstmord sogar als großer Aufmacher auf der Titelseite der Tageszeitung, für die Kammerer selbst etliche Essays verfasst hat: Unter dem Titel »Das österreichische Elend« spekuliert der Kommentator über mögliche Hintergründe der Tat und vermutet, dass Kammerers furchtbarer Entschluss nicht gereift wäre, wenn ihm die Heimat eine Arbeitsmöglichkeit geboten hätte:

 

»Dr. Kammerer ist in wissenschaftlichen Kreisen eine vielumstrittene Persönlichkeit gewesen, aber die Tatsache ist doch nicht zu leugnen, dass er ein Mann von solchem Wert und von solchen Fähigkeiten war, dass sich die Mühe wohl gelohnt hätte, ihn in Wien zu halten.«

 

Das sei jedoch nicht geschehen und Kammerer »förmlich in die Fremde gedrängt worden«. Aber er habe sich fern der Heimat nicht wohl gefühlt, »und so ergab sich in ihm die Stimmung, aus der heraus sich schließlich die Tragödie von Puchberg erklärt«.7

Doch nicht nur allen großen österreichischen Zeitungen ist der Selbstmord Kammerers umfangreiche Berichte wert.8 Auch die New York Times, die Kammerer rund drei Jahre zuvor gleich in mehreren Artikeln als »zweiten Darwin« und »Darwins Nachfolger« gewürdigt hat,9 widmet ihm bereits am zweiten Tag nach seinem Freitod einen längeren Nachruf. Der Forscher habe einer unorthodoxen Schule der Wissenschaften angehört, hieß es da, die

 

»orthodoxen wissenschaftlichen Kreise haben seine Theorien nicht akzeptiert, seinen Sozialismus missbilligend betrachtet, seine Bemühungen bekämpft, wissenschaftliches Wissen zu popularisieren, und verhinderten aus diesen Gründen die Erfüllung seines Traums, Professor in Wien zu werden«.10

 

Das Rätselraten über die Motive, die den Biologen in den Selbstmord getrieben haben, geht in den nächsten Tagen weiter und beschäftigt etliche Journalisten vor allem in Österreich. Die für gewöhnlich gut informierte Neue Freie Presse wartet mit einigen Mitteilungen aus dem Freundeskreis des Biologen auf, die Licht in die Affäre bringen sollen: »Für den unseligen Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, dürfte das Moment, dass eine seinem Herzen nahe stehende Wiener Künstlerin sich nicht entschließen konnte, mit ihm nach Moskau zu übersiedeln, maßgebend gewesen sein.«11 Der Name der Künstlerin – es ist Grete Wiesenthal, die berühmteste Tänzerin Wiens zu jener Zeit – wird zwar nicht erwähnt, das turbulente Privatleben Kammerers jedoch angedeutet:

 

»Er liebte die Musik und liebte die Frauen. Seine erste Frau, welche durch ihre Schönheit hervorragte […], gab ihn verständnisvoll frei, als er eine andere interessante Frau zu seiner Gattin machen wollte. Sie blieb ihm aber die treue Freundin, bei der er seine Mahlzeiten einnahm und mit welcher er seine Pläne besprach.«

 

Bereits tags zuvor hat die Zeitung erwähnt, dass Kammerer zweimal verheiratet war, beide Ehen sind aber geschieden worden. Seine erste Frau, die Tochter des Politikers und Abgeordneten im alten Reichsrat Dr. von Wiedersperg, habe er aus einer aussichtsreichen Schauspielerkarriere herausgeheiratet, seine zweite Frau sei eine bekannte und erfolgreiche Malerin.

War der Selbstmord also tatsächlich privaten Beziehungsproblemen geschuldet? Einer von Kammerers früheren Schülern, der Journalist und Biologe Walter Finkler, weist in der Tageszeitung Neues Wiener Journal die Spekulationen über das Privatleben Kammerers noch am selben Tag zurück: »Lasst die intimen Alkovengeheimnisse, sie waren nicht das Motiv seines Selbstmordes, höchstens wichtiger Anlass. Der Konflikt war tiefer und hehrer, er starb einen Heldentod im vergeblichen Kampf gegen Schutt, Barrikaden und Traditionsungeist.« Kammerers Tierversuche hätten »wie ein Blitz in das Druckerschwärzegebäude theoretisierender Abstammungslehre« eingeschlagen.

Ihm sei nämlich der Nachweis gelungen, »dass die äußeren Faktoren Instinkte und Gestaltung der Lebewesen nachhaltig beeinflussen, dass sich diese neuerworbenen Eigenschaften auch auf die unbeeinflussten Nachkommen vererben«: Blinde Grottenolme hätten dank Kammerers Experimenten sehfähige Augen bekommen, Feuersalamander zusätzliche Flecken und Streifen und die Geburtshelferkröten – wissenschaftlich Alytes obstetricans – sogenannte Brunft- oder Brunstschwielen, die sie sonst nicht besitzen würden. Aus diesen wissenschaftlichen Versuchen Kammerers sei über Nacht ein Politikum geworden, da sie »die Lehre von der Unveränderlichkeit der Rassenmerkmale, von dem absoluten Wert der Rasse, von der Allmacht der Auslese, die These von der Notwendigkeit des Völkermords als Selektionsfaktor« gefährdeten.12 Hatte der Selbstmord Kammerers also womöglich sogar einen politischen Hintergrund?

 

 

Nachruffoto Paul Kammerers:

Nach dem Suizid wird tagelang über die Motive spekuliert.

(Abb.: Monistische Monatshefte, November 1926)

 

Ein weiterer Freund Kammerers meldet sich mit einem Text im Neuen Wiener Tagblatt zu Wort: Der Dichter Peter Sturmbusch – hinter dem Pseudonym verbarg sich der aus Prag stammende Schauspieler und Regisseur Štefan Lux – gedenkt in persönlichen Worten des Verstorbenen und kommt auf Kammerers gescheiterte Karriere an der Universität Wien zu sprechen:

 

»Paul Kammerer war der freieste Gelehrte in diesen Landen; aber was sollte er mit seiner Freiheit im Krähwinkel anfangen? Unsere Alma mater, die sonst so nachsichtige, wollte von ihrem besten Sohne nichts wissen, der anders geartet war als die anderen, zahmeren Söhne. Es ist eine weise Mutter, die ihr Kind kennt und erkennt. Unsere Alma mater war so weise nicht!«

 

Allerdings sei Kammerer bei aller Liebe zur Wissenschaft und zur Forschung auch ein spielendes, törichtes Kind gewesen, so Sturmbusch. Doch: »Was kann das Herz eines großen Menschen und Künstlers Schöneres, als töricht sein!« Zwischen dem Text ist ein Gedicht abgedruckt, das Sturmbusch seinem Freund schon ein paar Monate zuvor gewidmet hat:

 

In diesem Lande genial zu sein,

Ist von der Kirche und dem Staat verboten.

Such’ deinem Geist ein anderes Vaterland,

Denn hier verjüngst du doch nur Idioten.

 

Man hat den »Professor« dir abgelehnt,

Mit höflichen Worten begleitend;

»Sie taugen nicht für unser Kollegium,

Sie sind uns viel zu bedeutend!«

 

In deinen Werken bebt ein Menschenherz

Und durch dein Denken huscht manchmal ein Liebchen …

Und die Natur fühlt, dass du sie erkennst,

Und stellt dir heimlich Blumen in dein Stübchen.13

 

Kammerer hat das eine oder andere Gedicht von Sturmbusch vertont, der zehn Jahre später übrigens durch einen noch spektakuläreren, aber heute weitgehend vergessenen Selbstmord aus dem Leben scheiden wird: Er tötet sich am 3. Juli 1936 in Genf während einer Generalversammlung des Völkerbunds vor versammeltem Plenum, um auf die Judenverfolgungen der Nationalsozialisten im Deutschen Reich aufmerksam zu machen.14

Am Sonntag, dem 26. September 1926, um vier Uhr nachmittags wird die Leiche von Paul Kammerer – entgegen den letzten Wünschen des Verstorbenen – von der Totenkammer auf den Friedhof von Puchberg am Schneeberg überstellt. Die Beisetzung findet ohne jeden Prunk statt. Kammerers Grab liegt gleich in der ersten Reihe, rechts vom Eingang, in der Ecke für die Selbstmörder. Außer den Angehörigen haben sich, wie es in einem Bericht heißt, noch eine Reihe von Abordnungen der Wiener Universität, verschiedener wissenschaftlicher Institute und höherer Lehranstalten sowie zahlreiche Freunde des Dahingeschiedenen zum Begräbnis eingefunden. Auch eine sowjetische Delegation erscheint, mit der Kammerers erste Frau Felicitas einige Worte auf Russisch wechselt.15 Am Grab halten die Vertreter der Wiener Universität und mehrere Freunde kurze Nachrufe.16 Einer der Redner ist Kammerers Mentor, der Biologe Hans Przibram, der verspricht, dass die wahre Wissenschaft Kammerers Verdienste stets lebendig halten werde.17

Doch auch mit dem Begräbnis ist die öffentliche Diskussion um Paul Kammerers Selbstmord noch lange nicht beendet – sie geht jetzt vielmehr erst so richtig los: Knapp zwei Wochen später wird nämlich eine überraschende Nachricht aus Moskau übermittelt, die den Suizid plötzlich in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt. Die Prawda druckt jenen Abschiedsbrief ab, den Kammerer an das Präsidium der Kommunistischen Akademie geschickt hat. Das Schriftstück wird für so bedeutsam befunden, dass es als Agenturmeldung des Central News Service bzw. der Internationalen Pressekorrespondenz eine Welle von Berichten selbst in australischen, US-amerikanischen und britischen Zeitungen und Zeitschriften nach sich zieht. In diesem Brief, den Kammerer am Tag vor seinem Freitod für seine Kollegen in Moskau verfasst hat, heißt es:

 

»Sie alle haben vermutlich Kenntnis von dem Angriff, den Professor Noble in der Nature London vom 7. August 1926 gegen mich gerichtet hat. Der Angriff beruht auf einer Untersuchung meines Belegexemplars von Alytes mit Brunstschwiele, die Dr. Noble in der Wiener biologischen Versuchsanstalt mit Professor Przibrams und meiner Bewilligung ausgeführt hat. Das Hauptmoment dabei ist eine künstliche, wahrscheinlich Tusche-Färbung, wodurch die schwarze Hautverfärbung der schwielentragenden Region vorgetäuscht worden sein sollte. Es würde sich also um eine Fälschung handeln, die vermutlich mir zur Last gelegt werden wird.

Ich fand die Angabe Dr. Nobles vollkommen bestätigt; ja, es fanden sich noch andere Objekte (geschwärzte Salamander), bei denen meine Ergebnisse postmortal offenbar mit Tusche ›verbessert‹ worden sind. Wer außer mir ein Interesse daran hatte, solche Fälschungen vorzunehmen, kann nur ganz entfernt vermutet werden; gewiss ist jedoch, dass so gut wie meine gesamte Lebensarbeit dadurch in Zweifel steht.

Aufgrund dieses Tatbestandes darf ich mich, obwohl ich selbst an diesen Fälschungen meines Belegexemplares unbeteiligt bin, nicht mehr als den geeigneten Mann ansehen, Ihre Berufung anzunehmen. Ich sehe mich aber auch außerstande, diese Vereitelung meiner Lebensarbeit zu ertragen, und hoffentlich werde ich Mut und Kraft aufbringen, meinem verfehlten Leben morgen ein Ende zu bereiten.«18

 

Die im Gange befindliche Verpackung seines Übersiedlungsgutes wollte er nicht aufhalten: denn erstens »würde dadurch mein Benehmen meiner Familie auffällig werden, die doch von meiner Absicht nichts ahnen darf«; zweitens wünschte er, dass die Kommunistische Akademie in Moskau seine Bibliothek in Empfang nehme »und dadurch schadlos gehalten wird für meine Leistungen, die sie an mich verschwendet hat«.

Aufgrund dieses Briefes beginnen sich die öffentlichen, aber auch die wissenschaftlichen Diskussionen um die Ursachen des Selbstmords von Kammerer plötzlich zu drehen, obwohl das Schreiben keinerlei Schuldbekenntnis enthält oder auch nur Andeutungen in diese Richtung. Dennoch steht Kammerer plötzlich nicht mehr als Opfer von privaten Beziehungsproblemen oder der Missachtung der Wiener Universität da, sondern im Verdacht, ein Fälscher zu sein, der durch seinen Selbstmord seine Schuld eingestand. In US-amerikanischen Boulevardmedien wird der Fall sogar zu effekthascherischen Aufmachern ausgewalzt.19 Ihr Grundtenor: Kammerer muss die Manipulationen selbst durchgeführt haben und hat nach deren Aufdeckung die Konsequenzen gezogen.

In den österreichischen Zeitungen schwankt man. Im Neuen Wiener Tagblatt werden seine von den Manipulationen betroffenen Experimente mit der Geburtshelferkröte sehr wohl zum Selbstmordmotiv. Aus Gründen der Anschaulichkeit rekapituliert man diese Versuche: Kammerer habe die Tiere, die als eine der wenigen Krötenarten sich nicht im Wasser, sondern an Land fortpflanzen, ins Wasser gezwungen. Dadurch hätten sich bei den Männchen Brunftschwielen ausgebildet, wie sie bei anderen Froscharten üblich sind. Diese Schwielen dienen dazu, dass die Männchen die glitschigen Weibchen im Wasser festhalten können und nicht abrutschen. Kammerer habe behauptet, dass ihm nicht nur die Hervorbringung dieser Brunftschwielen gelungen sei, sondern dass diese auch vererbt würden. Um diesen Nachweis der Vererbung erworbener Eigenschaften habe sich ein wissenschaftlicher Streit entsponnen, der schon viele Jahre zurückgeht.

 

»Namentlich die englischen Biologen leugneten die Richtigkeit der Angaben Kammerers. Bereits ein Jahr vor dem Kriege erschien in einer Nummer der Londoner Nature ein Artikel, in dem behauptet wurde, die von Kammerer angeführten Schwielen seien bloß ein schwarzer Fleck und gewiss keine Brunftschwielen. […] Dass der jetzt gelungene Nachweis, dass es sich hier um eine ganz große Fälschung handle, ihn aufs äußerste zu deprimieren vermochte, ist daher wohl begreiflich.«20

 

Der Duktus des Artikels legt nahe, dass es Kammerer selbst war, der die Manipulationen vorgenommen hat. Aber es gibt noch ganz andere Hypothesen. So vermutet die Neue Freie Presse »einen geheimnisvollen Fälscher in der Wiener Versuchsanstalt«. Hans Przibram, Leiter der Biologischen Versuchsanstalt und der wohl beste Kenner der Forschungen seines ehemaligen Mitarbeiters, macht gegenüber einem Reporter der Zeitung folgende Andeutungen:

 

»Es wäre ein krasses Missverständnis, aus dem Abschiedsbriefe Paul Kammerers eine Selbstbeschuldigung herauszulesen. […] Was die von Professor Noble festgestellte künstliche Färbung der Brunstschwielen der Geburtshelferkröte betrifft, so ist es mir vollkommen rätselhaft, wer daran schuldtragend sein könnte. Da die diesbezüglichen Experimente Kammerers um viele Jahre zurückliegen, ist es heute fast unmöglich, den damaligen Schuldtragenden zu eruieren. Da Kammerer einsah, dass die Angelegenheit wahrscheinlich niemals aufgeklärt werden wird, hat er, offenbar der vielen unverdienten Anfeindungen müde, seinem Leben ein Ende gemacht.«21

 

Wenig später nehmen sich dann auch noch die beiden heute wohl bekanntesten deutschsprachigen Journalisten dieser Zeit des Falls an. Ihre Nachrufe fassen noch einmal jene beiden Positionen zusammen, die zunächst die Diskussion bestimmten – ehe sich im Laufe der Zeit auf eigentümliche Weise der Verdacht festsetzte, dass Kammerer der Fälscher und sein Selbstmord das offensichtliche Schuldeingeständnis war.

Einen Beitrag dazu liefert der rasende Star-Reporter Egon Erwin Kisch in der Berliner Montagspost. Unter dem Titel »Fälschung des wissenschaftlichen Beweises – Der Fall Kammerer« fasst er den Wissensstand um die Affäre der manipulierten Geburtshelferkröte erstaunlich schlampig zusammen und verbreitet dann auch noch eine völlig falsche Information: Kammerer habe erklärt, »diese Tuschfärbung könne nur während des Krieges von einem Assistenten gemacht worden sein, damit das Resultat der Versuche deutlicher hervorgehoben werde. Da jedoch auf ihn, Kammerer, der Schatten eines Verdachts falle, scheide er aus dem Leben.«22 Dass die Tuschfärbung während des Kriegs von einem Assistenten vorgenommen wurde, hat sich freilich einzig und allein Kisch ausgedacht, der diesen erfundenen Angaben überdies nur bedingt Glauben schenkt und Kammerer als Fälscher denunziert:

 

»Es handelt sich also um eine Tragödie des wissenschaftlichen Ehrgeizes, der sich vielleicht durch Misserfolg und Zweifel ins Verbrecherische gesteigert hatte. Kammerer, ohne Zweifel ein hochbedeutender Biologe, litt darunter, dass er wegen der auch populärwissenschaftlichen Wirkungen seiner Forschungen in Wien nicht Professor werden konnte, wie es auch dem Psychoanalytiker Sigmund Freud, dem Historiker Ludo Hartmann, dem Individualpsychologen Alfred Adler und vielen anderen in Wien ergangen war oder ergeht. Kammerers Schuld: Er hatte eine synthetisch erkannte Theorie empirisch beweisen wollen, und da dies nicht glückte, als Stimmen des Widerspruchs laut wurden, sein Forschername gefährdet war, half er nach – durch Fälschung.«23

 

Weitere Zeitungsartikel schlagen in eine ähnliche Kerbe, so etwa auch ein Text im angesehenen Prager Tagblatt mit dem Titel »Verführung durch das Experiment«, in dem ebenfalls darüber spekuliert wird, wie Kammerer zum Fälscher wurde:

 

»So lässt sich auch das Experiment durch den Wunsch des Forschers leise ins Unexakte, aber Gewünschte leiten, ohne dass es der Forscher selbst merkt. Aber auch die Versuchung zur bewussten Fälschung ist beim Experiment groß. Eine kleine Änderung der Zahlen einer Analyse, eine kleine Umzeichnung des mikroskopischen Bildes – mit einem Schlage ist die Qual des Forschens beseitigt, Ruhm, Macht gewonnen.«24

 

Schließlich kann auch der Wiener Publizist Karl Kraus in seiner Zeitschrift Die Fackel nicht umhin, sich dem Selbstmord Kammerers zu widmen, der sich zu einem unlösbaren Kriminalfall ausgewachsen hat. In einem verrätselten Text gibt Kraus – und damit sind wir wieder am Anfang der Geschichte – dem akademischen Establishment eine Mitschuld am Tod Kammerers:

 

»Für die Philosophie genügt das Lessingsche Wort ›Der Jude wird verbrannt‹, für die Jurisprudenz das Recht der Inquisition […]. Die Kammerer sterben nicht allein an den Absperrungsvorrichtungen der Nachteulen der Gelehrsamkeit, sondern auch an der Gleichgültigkeit der Taghellen, welche die Uhus den Adlern vorziehen […]. Die zünftige Wissenschaft verachtet Leute wie Kammerer, weil sie zu rasch sind, weil sie vor einem Wunder davonlaufen müssen, ehe sie dieses noch bis zum letzten Zipfelchen bewiesen haben. Diese Wissenschaft versteht nicht, dass die Besten ihrer Söhne heißes Brot essen müssen, dass sie nicht warten können, bis es alt-gebacken wird, dass sie ihre Zähne brauchen, um sie vor Wut zusammenzubeißen, aber nicht, um sie an bejahrten Erkenntnissen auszubrechen.«25

 

Mit der zweiten Flut an Zeitungsberichten im In- und Ausland ist der Selbstmord Kammerers endgültig zum internationalen Thema geworden. Doch die Stimmung hat sich eindeutig gegen ihn gewendet – wenngleich fast alle Fragen offen bleiben.

Der vielleicht größte bis heute ungelöste Wissenschaftsskandal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte aber nicht nur zeitgenössische Journalisten und Forscherkollegen beschäftigen, sondern auch noch einen viel mächtigeren Mann: den sowjetischen Volkskommissar für Aufklärung, Anatoli Lunatscharski, der Kammerer im Frühjahr 1926 persönlich in Moskau getroffen und ihn zum Professor ernannt hatte. Der Kulturpolitiker, der seit 1919 unter Lenin für die Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsagenden des größten Landes der Erde mitverantwortlich ist, findet Kammerers Selbstmord wichtig genug, um sogleich ein Theaterstück darüber zu verfassen.

Bereits sieben Wochen nach Kammerers Freitod hat Lunatscharski – als ob ein sowjetischer Volkskommissar nichts anderes und Besseres zu tun hätte – die buchstäbliche Dramatisierung des Falls abgeschlossen, wie die Tageszeitung Neue Freie Presse am 11. November 1926 vermeldet: In dem Stück mit dem Titel Der Salamander verfolge Lunatscharski »die Tendenz, die angeblich reaktionäre Geistesverfassung der europäischen Gelehrten nachzuweisen, die Kammerer in den Tod getrieben hätten«.26 Tatsächlich wird der Wiener Biologe in diesem recht komplexen Machwerk als Opfer einer großangelegten politisch-religiösen Verschwörung dargestellt. Der Grund dafür liegt für den mächtigen sowjetischen Kulturpolitiker und Intellektuellen auf der Hand: Kammerers experimentelle Beweise der Vererbung erworbener Eigenschaften hätten auch die Richtigkeit des dialektischen Materialismus gezeigt und damit der kommunistischen Ideologie vom »neuen Menschen« gleichsam eine biologische Grundlage gegeben: Allein dadurch, dass man die Lebensbedingungen zum Wohle der Menschen verändert, kann man ganze Gesellschaften »verbessern« und die überkommene Herrschaft des Adels und der Kirche endgültig hinter sich lassen.27

Lunatscharski arbeitet sein siebenaktiges Drama in der Folge zu einem Drehbuch um, das in einer aufwendigen deutsch-sowjetischen Koproduktion 1928 unter dem Titel Salamandra vor allem an deutschen Schauplätzen verfilmt wird.28 Paul Kammerer, dargestellt vom damaligen deutschen Stummfilmstar Bernhard Goetzke, der ihm auch recht ähnlich sieht, heißt im Film Karl Zange und ist Zoologie-Professor an einer Universität in einer nicht genannten mittelalterlich-faschistischen Stadt, die aus den Drehorten Berlin, München, Leipzig und Erfurt zusammengesetzt ist. Lunatscharski hat in der umstrittenen Produktion einen Kurzauftritt und spielt sich dabei selbst. Seine Frau, die Schauspielerin Natalja Rosenel, verkörpert Felicia, die unglückliche Gattin von Zange.

Der Inhalt in aller Kürze: Karl Zange ist ein bei seinen Studenten beliebter Professor, sein Rivale ist der Zoologie-Professor und Pater Brzeschinski, der ihn zu einer öffentlichen Disputation herausfordert. Parallel dazu wollen ihn Baron Petixius, ein Bankier und Geograph, sowie Prinz Ruprecht Karlstein mundtot machen, da sie in Zanges experimentellen Beweisen für die Vererbung erworbener Eigenschaften letztlich eine Gefährdung der Religion und der Vormachtstellung des Adels erkennen.

Die Handlung des Stummfilms hat einiges an Dramatik zu bieten. So wird etwa eine der Nebenfiguren vom Bankier mit einem Messer getötet, in das ein Hakenkreuz eingraviert ist. Zudem gibt es Geldfälschungen in großem Stil. Die Manipulationen an den Amphibien-Exponaten werden in Lunatscharskis Version von Prinz Karlstein vorgenommen, der sich als Zanges Assistent andient und ihm danach sogar noch Felicia ausspannt. Und als wäre das noch nicht genug, wird der Biologe öffentlich als Kinderschänder denunziert und aufgrund der angeblichen Fälschungen entlassen. Völlig verarmt und von seiner Frau verstoßen kämpft er ums Überleben und die Fortführung seines Salamander-Experiments, während ausgerechnet der Priester-Zoologe Brzeschinski Felicia vergiftet, die, wie die echte Felicitas, dem Katholizismus doch eigentlich zugeneigt ist.

Schließlich kommt es zum dramatischen Showdown, der für den Biologen ein Happy End vorsieht: Bevor Zange in die Enge getrieben wird und letztlich als Opfer einer katholisch-kapitalistisch-adeligen Verschwörung sich mit der Pistole in der Hand selbst richtet, rettet ihn in letzter Sekunde eine sowjetische Delegation im Auftrag Lunatscharskis. Die angereisten Forscher erleben zusammen mit dem durch einen Schuss verwundeten Biologen, wie Salamander, die dieser mit letzter Anstrengung durchgebracht hat, schwarz gefärbten Nachwuchs auf die Welt bringen und damit seine Theorie bestätigen. In den finalen Einstellungen des Films sitzt Professor Karl Zange alias Paul Kammerer in einem Zug nach Moskau, wo man seine »schöpferischen Ideen zu schätzen weiß«.

Ein solches Happy End blieb dem echten Paul Kammerer verwehrt. Für ihn war die Reise in das fremde Moskau, wie auch die Zeitungsberichte nach seinem Selbstmord nahelegen, eher ein Grund, sich das Leben zu nehmen. Und zur Klärung des Kriminalfalls, der bis heute ungelöst ist, können Lunatscharskis allzu phantasievolle Verschwörungstheorien keinen plausiblen Beitrag leisten. Doch wenn es tatsächlich nicht Kammerer gewesen sein sollte, der die Kröte manipuliert hat, wer könnte es dann gewesen sein? Und warum hat diese Person diese Tat begangen?

 

 

Karl Zange alias Paul Kammerer beim dramatischen Showdown des Films Salamandra. (Abb.: Still aus dem Film Salamandra, 1929; https://www.youtube.com/watch?v=6Au0lh7BuK4)