Max Buchner

Reise durch den Stillen Ozean

e-artnow, 2016
Kontakt: info@e-artnow.org
ISBN 978-80-268-6861-3
 

Inhaltsverzeichnis

I. Ausfahrt
II. Im Nördlichen Atlantischen Ozean
III. Im Südlichen Atlantischen Ozean
IV. Im Indischen Ozean
V. Ankunft in Neuseeland und Quarantäne
VI. Wellington
VII. Von Wellington Nach Ohinemutu
VIII. Ohinemutu und Rotomahana
IX. Von Ohinemutu Nach Auckland
X. Auckland und Thames Goldfields
XI. Von Auckland Nach Kandavu
XII. Wailevu
XIII. Gavatina und Sanima
XIV. Besuch in Waidule
XV. Besteigung des Bukelevu
XVI. Letzte Tage auf Kandavu
XVII. Von Kandavu Nach Honolulu
XVIII. Honolulu
XIX. Von Honolulu Nach Hilo
XX. Besteigung des Kilauea
XXI. Von Hilo Nach Honolulu
XXII. Letzte Tage in Honolulu
XXIII. Von Honolulu Nach San Francisco
XXIV. San Francisco
XXV. Von San Francisco Nach Salt Lake City
XXVI. Von Salt Lake City Nach New York
XXVII. Heimkehr

I. Ausfahrt

Inhaltsverzeichnis

Einschiffung und Abschied. Die Elbe hinab. Zänkereien und trübe Auspizien. Gefahr einer Kollision. Sturm und Orkan. Todesangst im Zwischendeck. Alles kaput geschlagen. Hannes, der seekranke Kajütsjunge. Gefahr zu scheitern. Der Nordsee glücklich entronnen.

Aus Reiselust war ich Schiffsarzt geworden. Der Drang in die Ferne hatte mich veranlasst, auf Postdampfern siebenmal zwischen Europa und Amerika hin und her zu fahren. Derselbe Drang hatte mich in die emporkeimende deutsche Marine getrieben, von dieser jedoch mir nur die ganze Misere eines anderthalbjährigen Aufenthalts in jenem traurigsten Erdenwinkel, so Jadegebiet heisst, und die Freuden und Leiden eines dreimonatlichen Uebungsgeschwaders zu Theil werden lassen.

Ich konnte allerdings gewiss sein, mit meinen Seereisen manchem Binnenländer, der Zeit seines Lebens von einer Spritztour nach Helgoland bramarbasirt, imponiren zu können, ich war aber noch nicht befriedigt und verlangte nach mehr.

Es gereichte mir somit zur grössten Freude, als sich Gelegenheit bot, auf einem Segelschiff mit Auswanderern nach Neuseeland zu gehen. Viele meiner Freunde erschraken zwar vor dem Wort Segelschiff, in welchem sich ihnen nicht ganz unrichtig der Inbegriff von Widerwärtigkeiten und Lebensgefahren, von Seemannsrohheit und Passagiergesindel, von Zwieback und Salzfleisch konzentrirte. Mir war es jedoch gerade darum zu thun, einmal eine richtige Reise übers Meer zu unternehmen, nur den Winden als fortbewegenden Kräften mich anvertrauend, und ohne das lästige Gepolter der Dampfmaschinen von schwellenden Segeln gezogen dahin zu schweben.

Am Morgen eines 15. Novembers bestieg ich zu Hamburg die Euphrosyne, ein grosses und schweres Vollschiff von über 1000 Registertonnen. Nachmittags kamen die 397 Passagiere an Bord, und in der Nacht sollten wir mit Eintritt des Hochwassers die Elbe hinabgehen.

Das ganze bunte Tohuwabohu des Einschiffungsprozesses von Auswanderern zog wieder an mir vorüber. Mächtige Kisten und Bündel von Bettzeug, Proviantmassen und klapperndes Blechgeschirr, schreiende Männer und kreischende Weiber, ungezogene Jungen und winselnde Säuglinge füllten das mit herbstlichem Strassenschmutz überzogene Deck. Unter dem unerlässlichen heulenden Gesang der Matrosen, auf den diese ungraziöse Menschensorte um so stolzer ist, je abscheulicher er klingt, flog das Gepäck hinab in den Lastraum, Befehle brüllende Offiziere und die Plätze vertheilende Agenten rannten hin und her. Takler arbeiteten noch eifrig in den Wanten und auf den Raaen an der Vollendung des Tauwerks, ein Brahm lag längsseits und pumpte geschäftig Wasser in die im Bauch des Schiffes ruhenden Wasserfässer.

Nachdem ich mich vorschriftsmässig überzeugt, dass keine Krankheiten eingeschmuggelt worden waren, eilte ich, diesem unerquicklichen Durcheinander zu entrinnen und flüchtete an Land, zum letzten mal für lange Zeit feste Erde zu treten, meine Freunde nochmal zu sehen und von ihnen Abschied zu nehmen. Erst spät kehrte ich an Bord zurück, wo mittlerweile eine wohlthätige Stille eingetreten war. Friedliche Schnarchtöne drangen durch die offenen Lucken des Zwischendecks herauf, und nur der schwere Tritt des wachehabenden Matrosen unterbrach störend die nächtliche Ruhe. Gott Morpheus umfing mich, und als ich erwachte, glitten wir, von einem kleinen vorgespannten Dampfer gezogen, die Elbe hinab.

Düstere graue Nebelmassen verhüllten die alte Hansestadt hinter uns und liessen kaum die Umrisse der Thürme erkennen, ein feiner Regen bedeckte die Landschaft und erleichterte nicht unwesentlich die Trennung von den auch bei schönerem Wetter nur bescheidenen Ansprüchen genügenden Ufern des Vaterlandes. Uebernächtige Gestalten trieben sich missmuthig und sehnsüchtig den Morgenkaffe erwartend auf dem nassen und schmutzigen Deck umher. Hinten auf der Kajüte stand der Lootse, griesgrämig den steuernden Matrosen scheltend, vorne spie der kleine Dampfer übellaunig schwarzen Kohlenqualm aus dem Schornstein und über das Schiff, welches er schleppen musste. So gings langsam dahin an ankernden Schiffen und Fischerkähnen vorbei. Möven zankten sich auf dem Wasser um den von der Ebbe weggeführten Schmutz des Hamburger Hafens, und vom flachen Gestade her blökte ärgerlich hie und da ein gelangweiltes Schaf.

Wir hatten, wie schon erwähnt, 397 Passagiere an Bord, welche in drei gesonderten Abtheilungen, nämlich die der einzelnen Männer, die der Familien und die der einzelnen Mädchen untergebracht waren. Unsere ganze Expedition ging auf Kosten des jungen Kolonialstaates Neuseeland, der seinen Einwanderern freie Ueberfahrt gewährt, wenn sie ausser Leumunds- und Gesundheitsattesten den Nachweis zu führen im Stande sind, dass sie Acker- oder Bergbau getrieben haben. Deutsche und Polen, Dänen, Norweger und Schweden bildeten die Mehrzahl. Die Mannigfaltigkeit der Idiome zu erhöhen, waren auch einige Böhmen und Italiener vorhanden. Ich war nicht nur Arzt – »Surgeon« dieser anmuthigen europamüden Schaar, sondern noch viel mehr – »Surgeon Superintendent.« Nicht nur die Krankenpflege war meine Aufgabe, sondern auch die Last der Regierung unserer Miniaturrepublik ruhte zum grössten Theil auf meinen verantwortlichen Schultern. Die Rechtspflege theilte ich mit dem Kapitän, die Sanitätspolizei, die Ueberwachung der Proviantvertheilung und die Ernennung von Subalternorganen gehörten zu meinen Obliegenheiten. Ein Schulmeister für die schulpflichtige Jugend, eine Matrone zur Beaufsichtigung der einzelnen Mädchen, vier Konstabler, welche bei den einzelnen Männern und bei den Familien für Ordnung und Reinlichkeit zu sorgen hatten, sämmtlich aus den Reihen der Passagiere gewählt und mit Bezahlung angestellt, waren die Werkzeuge meines Amtes. Die Passagiere auf den Auswandererschiffen nicht nur Neuseelands, sondern sämmtlicher sieben australischen Kolonien stehen hauptsächlich unter der Aufsicht der Aerzte, welche, von den Regierungen angestellt, die Interessen dieser und ihrer neuen Bürger gegen jene der Rheder und der Kapitäne, die manchmal nicht übereinstimmen, zu vertreten haben.

Das erste Ereigniss, welches mich in Anspruch nahm, war, dass die unverheiratheten Frauenzimmer sich in die Haare geriethen. Nationale Gegensätze, hie Dänemark, hie Deutschland nebst Annexen, bildeten die prädisponirenden Ursachen und die Vertheilung, respektive Aneignung der Lebensmittel das auslösende Moment des Kampfes. Dänemark, zwar in der Minderzahl aber desto resoluter vertreten, glaubte das empfangene Mittagsmahl, welches für alle zwanzig jungen Damen berechnet war, für sich allein behaupten zu dürfen, Deutschland, Böhmen und die Polakei remonstrirten dagegen, das kleine starrköpfige Dänemark blieb Sieger, Deutschland weinte, Böhmen und die Polakei kreischten.

So standen die Dinge, als ich um Intervention angegangen wurde. Mein Vermittlungsversuch hatte keinen Erfolg und fand nirgends Anklang. Die Däninnen verstanden mich nicht, und ich verstand jene nicht, die Deutschen aber ärgerten sich, dass ich nur mit Worten und nicht mit der Peitsche einschreiten wollte. Ich musste den Proviantmeister requiriren, welcher ein kurzes Ende machte, indem er Fleisch und Brot wegnahm, auseinander schnitt und beiden Parteien einzeln verabreichte. Dieser Modus blieb für die Folge beibehalten, und es kam im Jungfernzwinger – so heisst in der rauhen Seemannssprache für gewöhnlich das betreffende Kompartment – selten mehr zu ernsteren Konflikten wegen des Essens, wenn auch die Däninnen fortfuhren, über die anderen Völkerschaften die Nase zu rümpfen, die Deutschen noch oft weinten und die Polakinnen noch öfter kreischten.

Von allen Seiten kamen unaufhörlich Klagen an jenem ersten Tage der Reise. Es herrschte noch lange nicht die wünschenswerthe Ordnung, überall fehlte noch etwas, und Missverständnisse in Folge des Sprachen- und Dialektgewirres führten zu endlosen Streitigkeiten.

Ich konnte es dem Kapitän wahrlich nicht verdenken, dass er sehr schlecht aufgelegt war und schliesslich die Geduld verlierend jeden Passagier, der sich an ihn wandte, im Besonderen und die ganze Gesellschaft im Allgemeinen zu tausend Teufeln fluchte. Er hatte wichtigere Dinge im Kopf als die Unzufriedenheit des Familienvaters Krapülinski, welcher zu wenig Sauerkraut erhalten zu haben glaubte, oder die Wuth der schönen Amanda Christensen, die in Kopenhagen Modistin und eine sehr feine Dame gewesen war und jetzt mit einer ehemaligen Tändstickorfabrikarbeiterin in derselben Koje zusammenschlafen sollte. Er wusste nur zu gut, in welch unfertigem Zustand das Schiff in See ging. Man hatte zu spät mit der Ausrüstung desselben begonnen, und die Arbeiten waren in Folge dessen übereilt worden und unsolide ausgefallen.

Das Chronometer war zwar zur richtigen Zeit an Bord gekommen, aber der Uhrmacher hatte vergessen, die Gangkorrektion desselben mitzuschicken, eine Nachlässigkeit, die erst in Kuxhaven durch Telegramme gutgemacht werden konnte. Das Schiff musste zur bestimmten Zeit Hamburg verlassen. Denn jeder Tag des Aufschubs kostete dem Expedienten den Unterhalt der Passagiere. Die durch die Sparsamkeit des Rheders äusserst knapp bemessene, nur zwanzig Köpfe zählende Mannschaft war erst seit wenigen Tagen angemustert, aber schon jetzt zeigte sich, dass genug faule Subjekte sich in ihr befanden. Der Steuermann debutirte mit einem kolossalen Rausch, unter dessen Einfluss er so viel dummes Zeug beging, dass der Kapitän genöthigt war, ihn bis zur Wiederkehr der Nüchternheit einzusperren. Zwei Matrosen versuchten Krankheit zu schwindeln, einer war in Folge von Verletzung beim Ankerhieven wirklich arbeitsunfähig, und die meisten anderen arbeiteten so träge, dass man sich ärgern musste, wenn man ihnen zusah.

Solcher Art waren die Auspizien, welche den Beginn einer langen, gefährlichen und verantwortungsschweren Reise bezeichneten, der ersten, die der Kapitän selbständig unternahm, nachdem er bis vor Kurzem Steuermann der Euphrosyne gewesen war. Alles hing für ihn von einer glücklichen und schnellen Fahrt ab. Passirte ein Unglück, dauerte die Reise zu lang, oder kostete er seinem Rheder mehr Geld, als dieser wünschte, so war ihm nach der Rückkunft in Hamburg die Entlassung gewiss, und er selbst mit Weib und Kindern dem Elend preisgegeben, ein Schicksal, dem in der gegenwärtigen traurigen Zeit des Stillstandes von Handel und Verkehr und bei dem herrschenden grossen Missverhältniss zwischen Angebot und Nachfrage so viele unserer tüchtigsten Seeleute anheimgefallen sind.

Als wir die Nacht über bei Kuxhaven vor Anker gelegen und die telegraphisch requirirte Chronometerkorrektion erhalten hatten, gingen wir am Morgen des 17. Novembers endlich in See. Der kleine Dampfer schleppte uns noch bis zum inneren Feuerschiff. Dann aber riss er sich los, um nach Hamburg zurückzukehren. Die Segel wurden entfaltet, und von einem sanften Südwind leicht gebläht, begannen sie, uns leise nordwestwärts zu führen. Bald erschien das äussere Feuerschiff, und hier verliess, mit den letzten Abschiedsgrüssen an die Zuhausegebliebenen reichlich beladen, der Lootse die Euphrosyne, die nun gänzlich auf sich selbst angewiesen war.

Nordsee – Mordsee, unwirsches, tückisches Gewässer, von dessen Launen ich schon gar manche Probe erfahren, wieder lag sie vor mir und that so sanft und unschuldig, als ob sie keinem Menschen böse sein könnte. Kaum dass sich die grüne Fläche des Wassers kräuselte und mit kleinen plätschernden Wellen den Bug des Schiffes umspielte. Die Luft des Horizonts war trübe, aber nur dünnes Gewölk verschleierte die Sonne und gestattete ihr, mit einem hellen, kalten, unheimlichen Schimmer den weitgedehnten Rücken der Salzfluth zu übergiessen. Die Jahreszeit war ungünstig, und das Barometer fiel langsam und stetig. Man musste sich auf einen Sturm gefasst machen. Es galt jetzt, so viel als möglich See zu gewinnen und so weit als möglich vom Lande sich fern zu halten.

Die grauen Umrisse der beiden Thürme auf Neuwerk, das letzte Stückchen Deutschland, verschwanden hinter uns unter den Horizont, und vor uns tauchte der einsame Thonfelsen von Helgoland empor. Als es Abend wurde, blinkte sein Feuer zu unserer Rechten, wich zurück und war nach einigen Stunden ausser Sicht. Die See begann höher zu gehen, dünende Wogen hoben und senkten das Schiff. Die Jammertöne der Seekrankheit regten sich im Zwischendeck, das Volk der Passagiere, bisher ausgelassen lustig und lärmend, wurde still und in sich gekehrt.

Der folgende Tag brachte uns flauen Wind und die Gefahr einer Kollision. Eine Bark, welche kurz vor uns von Kuxhaven abgegangen war, lag in Lee unfern auf dem Wasser, ebenso wie wir mit schlaff an den Raaen herabhängenden, klappernden Segeln. Nur hie und da versuchte ein sanfter Zephyr die Leinwand zu blähen, jedesmal frohe Hoffnung erweckend, aber nur um nach einigen Minuten höhnisch wieder abzulassen und sich schadenfroh an unserer Hilflosigkeit zu weiden.

So lange wir guten Wind von hinten hatten, waren wir mit jener Bark um die Wette gesegelt. Sie war tief geladen, die Euphrosyne jedoch, nur Ballast und wenig Ladung sowie Passagiere, die leichteste Waare, tragend, ragte mit ihrem Körper weit aus dem Wasser und segelte deshalb vor dem Winde um so besser und um so schlechter beim Winde. Gerade als unser Gegner eingeholt und wir in gleicher Höhe mit ihm waren, sprang der Wind nach der Seite um, wurde flauer und hörte endlich ganz auf. Immer näher rückten einander die beiden Schiffe. Wir konnten bereits deutlich mit blossem Auge den Namen und Heimathshafen der Bark »Alartus Hamburg« an ihrem Heck lesen, und noch immer kein Wind, der uns aus der drohenden Lage befreite. Die kleinen Lüftchen, die sich zuweilen regten, genügten vielleicht, den Alartus, wenn er von seinem Kurse abfiel, wegzutreiben, während wir keinen Raum zu vergeben hatten. Auf dem Alartus aber schien man sich wenig um unsere Nachbarschaft zu kümmern. Umsonst flehte unser Kapitän wiederholt durch das Sprachrohr hinüber, auf die Gefahr zu achten, es erfolgte keine Antwort.

Dieser Zustand währte den ganzen Nachmittag und bis in die Nacht hinein. Ich war vollauf beschäftigt, in meiner Kammer und in den Hospitälern Alles seeklar zu richten, zu ordnen und für den erwarteten Sturm festzustauen. Die schwebende Angelegenheit draussen machte mir nicht den Eindruck der grossen Wichtigkeit, die sie in der That hatte, und das beständige Hin- und Herrennen und Schreien der Offiziere beunruhigte mich nicht mehr, nachdem es bereits mehrere Stunden ohne greifbaren Grund gedauert.

Plötzlich jedoch stieg der Lärm auf eine ängstigende Höhe, und ich eilte nach dem Achterdeck. Die Nacht war so dunkel, dass ich nichts sogleich unterscheiden konnte. Die Matrosen heulten mit doppelter Kraft, indem sie an den ächzenden Tauen rissen. Ich bemerkte allmälig, dass die Raaen back gebrasst wurden, und dass leichte Windstösse in die Vorderflächen der Segel fielen, die Euphrosyne rückwärts treibend, und endlich draussen auf dem Wasser dicht zu unserer Rechten ein schwarzes Ungeheuer, der Alartus. Wir hatten jetzt raumen Wind, die Gefahr war vorüber.

Nur mühsam brachte ich aus dem wuthschnaubenden Kapitän heraus, was eigentlich vorgefallen. Erst musste der Alartus mit allem was darauf war nach allen Dimensionen verflucht werden, und ich bin fest überzeugt, dass in jenem kritischen Augenblick der Führer desselben sofort erwürgt worden wäre, falls er die Unvorsichtigkeit begangen hätte, in unserer Kajüte zu erscheinen. Die beiden Schiffe waren so nahe an einander vorbeigeglitten, dass man von unserem Klüverbaum auf des anderen Achterdeck hätte hinabklettern können, und nur durch den glücklichen Zufall einer aufspringenden Brise und das geschickte Manöver, schnell rückwärts zu gehen, war der Zusammenstoss vermieden worden, welcher beiden Schiffen wenn nicht den Untergang so doch sicher schwere Beschädigung gebracht haben würde. Abermals mein kostbares Leben gerettet, dachte ich, und ging befriedigt zu Bett.

Das Toben des Sturmes weckte mich, als der Morgen eben trübe heraufdämmerte. Es war mir keine angenehme Erfahrung, die ich bei dieser Gelegenheit zum ersten mal machte, dass die Euphrosyne, durchaus abweichend von der Ruhe und Gelassenheit, die sich für ein so starkes und breites Vollschiff eigentlich geziemte, die Neigung besass, sich von jeder Welle hoch emporwerfen zu lassen und in jedes Wellenthal ebenso tief ihre Nase hineinzustecken, und dass sie fast schlimmer rollte, als ein scharfgebauter Postdampfer. »Arbeiten« nennt der Seemann euphemistisch dieses Hin- und Herfackeln, welches bei der Euphrosyne noch mit einem so widerlichen Stöhnen und Aechzen, Knarren und Winseln sämmtlicher Balken und Bälkchen, Bretter und Brettchen komplizirt war, wie ich es nie zuvor auf einem Fahrzeuge weder Seiner Majestät noch zivilen Besitzthums kennen gelernt hatte. In dieses haarsträubende Konzert mischte sich noch zu allem Ueberfluss das beständige Auf- und Zuschlagen von mehr als einem Dutzend Thüren im Bereich meiner Ohren, welche entweder kein Schloss oder ein unbrauchbares besassen und bei welchen man in der Eile der Ausrüstung vergessen hatte, Haken zum Befestigen im geöffneten Zustande anzubringen.

Solchem Unfug ein Ende zu machen war meine erste Thätigkeit, und ich schickte mich an, einen dieser rebellischen Gegenstände nach dem anderen festzunageln oder festzubinden oder auszuhängen. Nur Derjenige, der selbst erfahren hat, welche Schwierigkeiten das beständige Hin- und Hergeworfenwerden, das ewige Auf- und Niederklettern im Innern eines heftig arbeitenden Schiffes bereitet, und das Gefühl der Betäubung kennt, welches das Tosen der Winde und der Wogen und der unaufhörliche Lärm der sich aneinander reibenden Holztheile hervorbringt, und in welchem man schliesslich nicht mehr weiss, was oben und unten, was horizontal und was vertikal ist, nur Derjenige wird die Grösse meines Unternehmens zu würdigen verstehen. Ich war allein und ohne Beihilfe. Denn Jan Maat, dessen Gehörorgane übrigens auch hocherhaben sind über Kleinigkeiten wie Lärm auf- und zuschlagender Thüren, hatte draussen zu thun, und fast alle Anderen waren seekrank oder mit seekranken Weibern und Kindern beschäftigt.

Der Tag ging langsam vorüber wie alle Sturmtage. Man versucht sich zu beschäftigen, steht aber bald wieder davon ab, man nimmt etwas Nahrung zu sich und ist froh, wenn dies ohne sonderlichen Unfall gelungen. Man klettert auf Deck und klettert nach wenigen Minuten, von See- und Regenwasser durchnässt, wieder in die Kajüte hinab, man sieht sehr oft nach dem Barometer und sehnt sich nach besserem Wetter. Die Passagiere waren heute äusserst artig. Keine Klagen über das Essen kamen, keiner hatte Appetit. Friedlich und einträchtig lagen sie neben einander in ihren Kojen und leisteten Neptun wetteifernd die üblichen Opfer.

Wind und See kamen von Norden, wir lagen mit kleinen Segeln bei und steuerten Westnordwest, so dass wir rechnen konnten, nach West oder Südwest in der Richtung von Dover abzutreiben und somit nichts zu verlieren. Gegen Abend klarte der Himmel auf, und der Sturm legte sich etwas, es wurden mehr Segel gesetzt und Kurs gesteuert.

Eben hatte uns der seekranke, bleiche und knieschlotternde Kajütsjunge, den der Proviantmeister durch die bei Seeleuten so beliebte Prügelkur zu heilen beflissen war, den Thee kredenzt, als der wachehabende Bootsmann eintrat und den Kapitän frug, ob er nicht die Untersegel festmachen dürfe, da der Wind wieder stärker zu blasen anfing, und noch war der Bescheid darauf nicht gegeben, als ein Pfeifen und Heulen, ein Brüllen und Tosen durch das Takelwerk schwirrte, wie wenn ein Heer Dämonen plötzlich losgelassen wäre auf unser armes Schiff, welches in seinen Grundfesten erbebte und sich jäh auf die Seite legte. Bootsmann und Kapitän eilten zur Thüre hinaus, und ich folgte ihnen.

Der Athem versagte mir, als ich, mich anklammernd, draussen stand. Noch nie hatte ich die Gewalt eines ähnlichen Orkanes empfunden. Es war, als ob Haare, Nase und Ohren weggeweht werden sollten. Gegen die Windrichtung zu blicken war unmöglich, fliegender Wasserstaub verletzte stechend Gesicht und Augen. Nur mit Hilfe der Hände konnte man sich gegen die heranstürzenden Luftmassen vorwärtsziehen.

Vergebens schrie der Kapitän mit der vollen Kraft seiner höchst respektablen Lungen, dass alle Segel festgemacht werden sollten. Fünf Schritte von ihm entfernt war seine Stimme nicht mehr zu hören, und die Segel zerrissen in Fetzen, donnernd gegen die Masten und Riggen schlagend, oder flogen mit einem Krach hinaus in die See, platt wie eine Wand, ohne im Flug ihre gespannte Form zu verlieren. Alle Matrosen, der Steuermann, der Bootsmann, der Proviantmeister und der Koch gingen nach oben, aber jeder hatte genug zu thun, sich zu halten und nicht wegschleudern zu lassen. Ich selbst stellte mich unter das Kommando eines Passagiers, der früher Seemann gewesen, und zog mit ihm und einigen anderen jungen Männern, welche die Angst zur Arbeit antrieb, an den Brassen, um die Raaen der Richtung des Windes parallel zu drehen. Trotz aller Anstrengungen blieben die Fetzen der Segel lose und peitschten donnernd weiter.

Erschüttert stand ich hinten, betrachtete schaudernd den wüthenden Kampf der Elemente und überlegte die Möglichkeit des Ertrinkens. Ich hatte schon oft versucht, meine Phantasie mit diesem Gedanken zu üben. Bei schönem Wetter und während des Tages war es mir nie gelungen, ihn schreckhaft zu finden. Jetzt aber, im Geheule des nächtlichen Sturmes, bei dem ringsum herrschenden Dunkel, in welchem die hoch sich thürmenden schäumenden Wogen gespenstig leuchtend auf und nieder gaukelten, erfüllte mich die Vorstellung, über Bord zu fallen und von dem kochenden Gischt verschlungen zu werden, mit Entsetzen. Wenn jetzt ein anderes Schiff uns entgegenkam, unter der Gewalt des Orkanes ebenso wenig freier Herr seiner Bewegungen wie wir, keine Möglichkeit auszuweichen, es wäre unser Aller Ende gewesen. Ein dröhnender Krach, ein vielhundertstimmiger Todesschrei, und die tosenden Wogen schlugen über uns zusammen, wie über so viele andere vor uns.

Der so plötzlich und unvorhergesehen hereingebrochene Orkan schien womöglich noch heftiger werden zu wollen und nicht eben so rasch wie er gekommen vorüberzugehen. Die See stieg immer höher, und die Euphrosyne bäumte sich in einer Besorgniss erregenden Weise. Die neu eingesetzten Masten fielen, durch die schlechtgespannten Wanten und Pardunen nur locker gehalten, von einer Seite zur anderen, und man konnte deutlich sehen, wie jene Riggen abwechselnd rechts und links sich strammten und erschlafften. Dass wir die Masten behielten, dass sie nicht brachen, war nicht das Verdienst der liederlichen Arbeit der Takler, sondern ein reines Glück.

Zwei Mann standen am Steuerrad und konnten es kaum bändigen. Mehr als einmal wurde der eine von ihnen in die Höhe gehoben und war in Gefahr kopfüber wegzufliegen, vielleicht über das niedrige Geländer in die See hinab, was schon oft genug geschehen ist.

Sowohl Neugierde als auch die Absicht Trost zu spenden führten mich ins Familienkompartment des Zwischendecks hinab. Vorsichtig durch die Finsterniss den heftigen Bewegungen des nassen, schlüpfrigen Bodens entgegen von einem Stützpunkt zum anderen springend gewann ich die nächste Lücke, um hinabzusteigen. Aber die Treppe fehlte, sie lag in Trümmern unten und kollerte im Verein mit sämmtlichen theils noch ganzen theils zerschlagenen Koffern und Kisten dem Rollen des Schiffes entsprechend hin und her. Mit Hilfe eines Taues, welches mich pendelförmig von einer Seite zur anderen schleuderte, gelang es mir, mein Ziel zu erreichen.

Was ich hier unten sah und hörte, liess Alles hinter sich, was ich bisher in zahlreichen Sturmnächten auf Postdampfern gesehen und gehört. Nur wenige Laternen brannten noch, weil die meisten zerschellt waren. Das Knarren der Balken und der Lärm der hin- und hergeworfenen Gepäckstücke, das Rauschen der hin- und herfliessenden und zerspritzenden Wasserbäche, die durch die Lucken heruntergossen, die Gebete und Flüche, das Gejammer und Gewimmer der Menschen, jedesmal so oft eine grössere Sturzsee brüllend gegen das Schiff anprallte und auf das Deck schlug, zu einem grässlichen gemeinsamen Aufschrei sich steigernd, übertäubten den draussen wüthenden Kampf der Elemente. Sie glaubten hier alle, dass die Euphrosyne untergehen müsse, und dass das letzte Stündlein geschlagen habe. Die Schrecken des Todes hatten den Stumpfsinn der Seekrankheit durchbrochen, und statt der allgemeinen Gedrücktheit des vorhergegangenen Nachmittags herrschte wahnsinnige Aufregung. »Vater unser, der du bist« – »Oschdschje nasch ktury jeschtem w Niebie« – »Heilige Maria, bitt für uns« – »Fader vor, du, som er i Himmelen« – »denn Dein ist das Reich und die Herrlichkeit« tönte es in sinnverrückendem Chaos aus den höhlenartigen Familienkojen, in welchen Männer, Weiber und Kinder jeglichen Alters kreuz und quer durcheinander lagen und sich krampfhaft an einander festkrallten, ohne ein beständiges Auf- und Niederrutschen vermeiden zu können. Einige waren herausgepurzelt, krümmten sich weinend auf dem Boden, mit Beinen und Armen die sie attakirenden Kisten abwehrend, und wagten nicht, wieder aufzustehen.

Da verfluchte laut ein Vater sich und die Auswanderungsagenten, das Schiff und Neuseeland, und was sonst noch mit der Seereise zusammenhing und betheuerte wiederholt, dass er gerne sterben würde, weil er es verdient, wenn nur seine Frau und seine drei Mädchen nicht wären, und sicher würde er auch die Haare sich ausgerauft haben, wenn er die Hände freigehabt hätte, mit denen er die Hüften der Gattin umklammert hielt. Dort schalt und schlug ein Anderer seinen zitternden Jungen, weil er die unaufhörlichen Vaterunser nicht schnell genug losliess und voller Verwirrung in das weniger wirksame »Ich glaube an Gott den Vater« gerieth. Erdfahl und entstellt tauchte ein langes Gesicht aus seiner Höhle bei meiner Annäherung und schien mich fragen zu wollen. Die Lippen bewegten sich, aber ich vernahm keine Stimme. Ein krampfhaftes Würgen und Schluchzen, ein Brecherguss, und die nächste anprallende Woge schleuderte das Gespenst in die Dunkelheit zurück.

Eines der Familienhäupter machte mir den Eindruck, ganz besonders tröstenden Zuspruchs zu bedürfen, aber meine theilnehmenden Worte wurden keiner Antwort gewürdigt. Er hatte nicht Zeit, sich mit irdischen Reden zu befassen und unterbrach nicht eine Sekunde den Fluss der Thränen und der Ave Marias, welche er rastlos immer wieder von vorne begann und mit einer Zungenfertigkeit von sich stiess, dass seine sechs Kinder ihm nur nothdürftig folgen konnten und über ein Wort nach dem anderen stolperten.

Die Anzahl der ruhigen und besonnenen Passagiere war eine sehr geringe. Am ernstesten und vernünftigsten betrugen sich die Dänen, am wahnsinnigsten und verzweifeltsten geberdeten sich die Polen. Erst nach längerem Suchen fand ich einige Männer, welche mir zu helfen fähig waren, die aus den Kojen Gefallenen aufzurichten und in Sicherheit zu bringen. Die Kisten festzumachen war unmöglich und musste bis zum Tageslicht verschoben werden.

Bei den unverheiratheten Frauenzimmern sah es etwas besser aus als im Familienkompartment. Die Treppe nach dieser Abtheilung war noch erhalten, das nicht so zahlreiche Gepäck an seiner Stelle geblieben. Nur die Lampen waren in Stücke gegangen, und bis auf die trübe schimmernden Spalten der Bretterwand, jenseits welcher die Familien hausten, herrschte Dunkelheit in dem Raum. Gleich beim ersten Schritt vorwärts stiess mein Fuss auf ein weiches Hinderniss. Die Blendlaterne zeigte mir ein weibliches Gewand, dann ein Paar Beine und in entgegengesetzter Richtung ein bleiches Antlitz, und zwar das der schönen Amanda aus Kopenhagen. Der ganzen Länge nach lag sie hingestreckt auf dem Boden und umklammerte einen Stützbalken. Ich versuchte sie aufzuheben, aber eine schwere Last an ihren Füssen zog sie immer wieder zurück. Ich beleuchtete nun auch diese Gegend und fand die verhasste Bettgenossin der eleganten Modistin, welche sich beharrlich weigerte, die jener gehörenden Knöchel loszulassen. Auch einige andere Mädchen waren aus ihren Doppelbetten gefallen und schrieen laut als ich sie beleuchtete, vielleicht aus wahnsinniger Angst, vielleicht um mein Mitleid zu erregen.

Die aufsichtführende Matrone streikte, sie lag seekrank in ihrer Koje und stöhnte. Ich konnte deshalb trotz der sittenstrengen englischen Bestimmungen, die keinem Mann der Besatzung den Zutritt in den Jungfernzwinger gestatten, nicht anders als einen gerade disponiblen Matrosen zum Aufräumen hier unten zu requiriren.

Ich kletterte wieder nach der Kajüte zurück, in welcher mittlerweile unter dem Einfluss des immer fürchterlicher werdenden Stampfens und Rollens fast alle Gegenstände sich losgerissen hatten. Tische, Stühle und Ofenschirm, Gläser, Teller und Seekarten, sowie die grosse Medizinkiste flogen von einer Wand zur anderen. Der kleine Köter des Kapitäns kroch mir ängstlich winselnd zwischen die Beine und machte mich straucheln. Ich trat ihm so unglücklich auf eine Pfote, dass er heulend nach der anderen Ecke entfloh, wo ihm sofort der Ofenschirm auf den Rücken purzelte, während mir meine Thür auf- und zuschlagend den Finger zerquetschte.

Nirgends war Ruhe zu finden, und ermüdet und schläfrig wanderte ich beständig hin und her. Zuweilen dachte ich wohl selbst in jener Nacht, dass wir den Morgen nicht mehr erleben würden.

Kapitän und Mannschaft blieben auf Deck. Es war jetzt nichts zu thun. Wir trieben ohne Steuerung auf den Wogen, einem gnädigen Schicksal vertrauend. Von den Segeln peitschten nur mehr etliche kleinere Lappen an den Raaen. Der Orkan hatte das Uebrige weggeweht und dadurch viel Mühe und Arbeit erspart.

Doch verging auch diese schreckliche Nacht, zwar langsam und qualvoll, aber sie verging doch. Endlich, endlich dämmerte der Himmel, und der Morgen stieg herauf. Je heller es wurde, um so deutlicher zeigten sich die angerichteten Verwüstungen. Das Deck des Schiffes bot einen tragikomischen Anblick. Es sah aus wie ein Krautacker, in dem eine Heerde Wildschweine und ein unwirscher Herbstwind gehaust haben. Der ganze Vorrath an frischen Kohlköpfen war aus seinem Behälter unter den umgestürzt auf der Kajüte festgezurrten Rettungsböten entwichen und kollerte oder klebte, von dem heftigen Rollen und Stampfen hin- und hergeschleudert und an allen Ecken und Kanten zersplitternd, in kaum mehr verwendbaren Fetzen herum. Die beiden grossen Wasserfässer auf Deck waren zertrümmert. Sie hatten sich losgerissen und waren erst, als sie bereits genug Zerstörung angerichtet, selber in Stücke gegangen. Die Kappen der Zwischendeckslucken, ein Stützpfosten der Böte, die Thür zum Hospital, das Salzfleischfass, ein paar Bänke und ein Häuschen zu unaussprechlichen Zwecken waren ihnen zum Opfer geworden.

Es war kein Raum im ganzen Schiff, in dem sich nicht Gegenstände losgerissen und im Hin- und Herfallen Unfug verübt hätten. In der Kajüte purzelten noch immer ohne Unterlass der grosse und der kleine Tisch, einige Klappstühle, der eiserne Ofenschirm und der Ofen, die zerschellte Medizinkiste, Salben und Mixturen, überall Theilchen klebrigen Stoffes zurücklassend, zerbrochene Weinflaschen, einige Löffel und Gabeln sowie das Thermometer klappernd und klirrend hin und her, und kläglich winselnd suchte der kleine Ami vergeblich nach einem Winkel, in welchen er sich vor der Verfolgung durch jene oft sehr unsanften Gegenstände flüchten konnte. Ganz besonders der Ofenschirm schien es auf ihn abgesehen zu haben, und Ami zuckt seit jener Schreckensnacht jedesmal nervös zusammen, so oft man mit dem Fuss an Eisenblech stösst. Auch in der Küche war Alles kaput geschlagen. Der aus Backsteinen gebaute Heerd für die Passagiere hatte einige Löcher bekommen und wackelte morsch hin und her. Nur für die Kinder und Kranken konnte heute gekocht werden. Die Uebrigen mussten kalt essen, sofern sie überhaupt Appetit hatten.

Es gab jetzt vollauf zu thun, aufzuräumen und zusammenzunageln. Eine Menge Wunden und Quetschungen kamen, geflickt und verbunden zu werden. Wunderbarer Weise war keine schwere Verletzung darunter. Einer der Polen hatte sich den Arm luxirt, und ein kleiner dänischer Junge einen Schädelbruch erlitten, an dem man das Gehirn deutlich pulsiren sah, der aber ganz überraschend günstig verlief und heilte. Ich musste allein und ohne Assistenz arbeiten. Besass ich auch einen förmlichen Stab dienstbarer Geister, die ich im Namen der Neuseeländischen Regierung aus den Reihen der Emigranten ernannt hatte, sie waren alle seekrank und unbrauchbar. Nicht um Millionen wären sie zu bewegen gewesen, mir beizustehen.

Anders war es mit den Neulingen unter der Mannschaft. Für diese gab es weder Rast noch Ruhe, ob sie gleich zu sterben vermeinten. Unser Kajütsjunge Hannes zum Beispiel war das reinste Bild des Jammers. Er machte seine erste Reise. Bis vor wenigen Tagen noch bei der Mutter zu Hause, hatte er keine Ahnung gehabt, wie es zuginge auf dem Salzwasser. Und jetzt, kaum dass wir draussen waren, gleich dieser scheussliche Sturm voller Schrecken und Todesangst, das ganze Weh der Seekrankheit im Inneren wühlend, und trotzdem keine Schonung, die rohe Faust eines Seemanns beständig auf dem Nacken, jeden Augenblick Püffe, Fusstritte und Ohrenkniffe. Der arme Junge dauerte mich. Bleich, verstört und ungekämmt, die Augen stier geöffnet, mit bebenden Lippen, wankte er halbtodt, hin- und hergestossen von den Bewegungen des Schiffes, zwischen Kajüte und Pantry und zwischen Pantry und Kajüte auf und ab, ohne zu wissen, was er that, und häufig rann ihm eine Thräne über die fahlen Wangen.

Hinter der Thür der Pantry stand der Proviantmeister, ein griesgrämiger Tyrann, wie die meisten alten Seeleute, die es zu nichts gebracht haben, und zählte die zerbrochenen Teller, Gläser und Schüsseln, und für jeden Scherben, den er fand, gab er dem Jungen einen neuen Fusstritt. Was nützte es, wenn ich intervenirte und um Mässigung bat. Solches war alte angestammte rechtmässige Seemannsart. Auch der Proviantmeister hatte einst seine Fusstritte und Püffe erhalten. Jetzt war für ihn die Zeit der Vergeltung gekommen, er rächte sich an der jüngeren Generation. Und konnte ich den Jungen immer beschützen, musste er nicht, sobald ich den Rücken drehte, doppelt leiden? In der Kajüte herrschte ihn der Kapitän an und zerrte ihn an den Ohren. Hier sollte er aufwischen, dort sollte er Glasscherben zusammensuchen. An seiner Hose hingen Butter und Salbenreste, der Aermel war mit Rhabarbertinktur getränkt, seine Hände bluteten aus Glasschnitten, und Blut war im Gesicht herumgeschmiert. In seinen Schuhen quatschte das Wasser. Er war die ganze Nacht nicht zur Ruhe gewesen, so krank und elend er sich auch fühlte.

Ein anderer, ein Decksjunge hatte es schlauer gemacht. Er war gleich beim ersten Beginn des Sturmes verschwunden, um nicht zur Arbeit gezwungen oder gar nach oben auf die Raaen geschickt zu werden. Wir glaubten zuerst, er sei über Bord gespült worden. Am nächsten Abend jedoch, als wir bereits Dover uns näherten, tauchte er plötzlich aus seinem Versteck, dem Proviantraum, in den er sich zurückgezogen hatte, um mit seiner Seekrankheit allein zu sein. Er fiel sofort den Erziehungskünsten des Bootsmanns anheim. Die Hiebe klatschten, der Junge heulte. Aber noch oft versteckte er sich, wenn die Wellen höher zu gehen begannen.

Das Barometer stieg ein wenig, und wir athmeten erleichtert auf. Der Sturm legte sich und erlaubte wieder, ein paar neue Segel zu setzen und Kurs zu steuern. Die schlecht befestigten Masten hatten jetzt unter dem Druck der Leinwand mehr Halt, wodurch unsere Hauptgefahr, sie zu verlieren, wenn nicht vorüber, so doch gemildert war. Was jedoch den grössten Trost gewährte, die unheimliche schwarze Nacht, die alle Schrecken verdoppelte, war hinter uns, man durfte wieder frei um sich schauen.

Winzig kleine Fischerböte erschienen und gaukelten so waghalsig und so malerisch mit ihren rothbraunen Segeln auf und nieder über die hellgrünen Wogen der Nordsee, hinter denen sie jeden Augenblick verschwanden, als ob sie von ihnen verschlungen wären. Schiffstrümmer, gebrochene Masten mit Segeln und Takelage daran trieben vorüber. Gar mancher mochte innerhalb der letzten zwölf Stunden sein nasses Grab gefunden haben. Die Luft war so durchsichtig, und die Farben blinkten alle so lebhaft und frisch, dass man meilenweit jeden schwimmenden Balken erkannte. Nur der Himmel über uns war noch düster und dunkel.

Das Barometer stieg langsam und stetig. Auch die See nahm ab, und die Wolkendecke wurde dünner und gleichmässiger. Am Nachmittag fühlten wir uns ausser Gefahr, und gegen Abend konnten wir Dover in Sicht bekommen. Wir hatten allerdings keine Observation und wussten nicht genau, wo wir waren.

Aber so ganz glatt sollten wir dennoch nicht der tückischen Nordsee entrinnen. Es dunkelte bereits, als vorne ein Licht gemeldet wurde. Es rückte näher und nahm einen grünlichen Schimmer an. Ein grünes, stehendes, sich nicht veränderndes Licht, das ist Goodwins Sand, eine Sandbank, welche schon viele Schiffe auf dem Gewissen hat. Wir waren also noch nicht so nahe dem Kanal, als wir dachten, und der Kapitän liess nach Süden steuern. Eine Stunde lang steuerten wir Süd, und eine Reihe von vier gewöhnlichen gelben Lichtern tauchte vor uns auf. »Das sind Fischerböte« sagte mir der Kapitän, als ich ihn darüber frug, ich merkte aber wohl, dass er dieser Behauptung nicht sicher war. Für Fischerböte standen die Lichter zu ruhig und waren auffallend gross und hell. Fischerböte mussten bei solcher See auf und nieder schwanken.

Der Kapitän wurde unruhig und nervös. Unten in der Kajüte lag die Karte ausgebreitet auf dem Tisch, hastig mass und visirte er mit Zirkel und Lineal herum, stürzte auf Deck hinaus und sah mit dem Fernglas nach den immer näher kommenden Lichtern, stürzte wieder hinab und mass und visirte. Er murmelte Flüche, und der Schweiss tropfte ihm von der Stirn auf die Karte. Wir waren abermals in einer schlimmen Lage. Auf der einen Seite ein Licht wie von Goodwins Sand, auf der anderen mehrere Lichter, die der Küste des Kontinents angehören mussten, ringsum Riffe und Bänke auf der Karte verzeichnet. Jeden Augenblick konnten wir auffahren und scheitern.

Wir kehrten wieder um und steuerten dahin, woher wir gekommen. Ein grosses Glück, dass wir raumen Wind hatten. Das Räthsel löste sich endlich. Das grüne Licht spaltete sich in zwei, es waren die beiden Lichter von Dover, die wir in einer Linie, eines vom anderen verdeckt, gesehen hatten. Jetzt wussten wir wieder, wo wir waren.

Welcher schwere Stein fiel dem Kapitän vom Herzen. Er hatte seine Pflicht gethan und keinen Fehler begangen, der ihm zur Last gelegt werden durfte. Nur der Mangel einer Observation und die entschuldbare Verwechselung der beiden grünen Feuer hatte uns irregeführt. Wir brauchten uns nicht mehr vor Goodwins Sand zu fürchten und steuerten geradewegs auf Dover zu. Die vier Lichter waren die französische Küste bei Calais gewesen.

Niemals betrachtete ich Dover mit seinen zwei elektrischen grünen Feuern oben auf dem Felsen und der Gasbeleuchtung unten am Hafen und in den amphitheatralisch ansteigenden Strassen mit grösserem Wohlgefallen, als in jener Nacht, da wir langsam vorübersegelten, in den Kanal und in den freundlicheren Atlantischen Ozean hinaus, hinter uns die verhasste, unwirsche Nordsee.

Das Wasser war so nahe dem Land glatt geworden, und das Schiff rollte kaum merklich. Die seekranken Passagiere krochen genesen aus ihren Kojen und auf Deck. Sie sahen wieder festes Land vor Augen und begrüssten es freudig und hoffnungsvoll. Die Aermsten waren in einem gewaltigen Irrthum befangen. Sie glaubten nämlich alle, dass wir anlegen würden, und dann wären sie alle schleunigst davon gelaufen, bereits vollkommen satt der Reise nach Neuseeland. So lange wir an der englischen Küste hinfuhren und hie und da ein vorspringender Hügel zum Vorschein kam, lebten sie in diesem glücklichen Wahn. Und als wir immer und immer nicht anlegten und das letzte Stückchen Land verschwunden war, und sie endlich doch meiner Versicherung Glauben schenken mussten, dass wir gar nicht daran dächten, anzulegen, welches Wehklagen und welche Verwünschungen. Mit aufgehobenen Händen baten sie mich, ich möchte den Kapitän veranlassen, sie auszusetzen. In allen Sprachen schworen sie, sie würden die Seereise niemals überstehen, sie wären jetzt schon halb todt von dem einzigen Sturm, das Schiff könnte unmöglich mehr zusammenhalten, es sei schon ganz lose gerüttelt. Und wenn sie auf den Knieen nach Hause rutschen müssten mit allen ihren Kindern und zeitlebens betteln gehn, sie wollten nie und nimmermehr an Neuseeland denken. Alles umsonst.

Unserer Fahrt stellte sich kein Hinderniss mehr in den Weg. Wir schlängelten uns langsam und sicher durch die Menge der kreuzenden Dampfer, Segelschiffe und Böte, und nach drei Tagen waren wir im Atlantischen Ozean. Ein schöner Nordostwind blähte die vierkant gestellten Segel, die Zahl der in Sicht befindlichen Fahrzeuge verringerte sich, die Sonne schien mild und warm auf uns herab. Am 26. November zeigten sich die ersten Quallen im Wasser, wir waren auf der Höhe von Biscaya.

Von jetzt ab hatten wir bis Neuseeland kein nennenswerthes Unwetter mehr zu bestehen. Wir waren sehr glücklich gewesen, so rasch wenn auch etwas stürmisch und rauh aus der Nordsee zu kommen. Wir konnten eben so gut vier Wochen darin herumkreuzen.

II. Im Nördlichen Atlantischen Ozean

Inhaltsverzeichnis

Ungünstige Winde und Windstille. An Madera und an den Kapverden vorbei. Schiffsleben und Zänkereien. Nationale Gegensätze. Kindstaufen, Geburtshilfe auf See und ein zärtlicher Gatte. Die Polakei in Aufruhr. Das gestohlene Salzfleisch. Zoologische Belustigungen. Schleppnetzbeute. Fliegende Fische. Vergebliches Harpuniren. Haifischfang. Korrespondenz mit anderen Schiffen. Besuch auf einem Portugiesen. Unsicherheit in der Nautik.

Am 27. November warfen wir den Ofen aus der Kajüte. Es war bereits warm genug, um während des Tages ohne Ueberzieher auf Deck zu sitzen.

Das Wasser begann wieder unruhig zu werden, und die bekannten langen, hohen Wogen des Ozeans, höher als in der Nordsee, aber auch viel angenehmer weil länger, hoben und senkten das Schiff. Das Barometer fiel, der Wind wurde flau. Die Segel klapperten an den Raaen, wir machten keinen Fortgang, doch rollten wir unter dem Einfluss der zunehmenden hohlen See und des Haltes der Segel entbehrend wie noch nie. Schwerfällig beugte sich die Euphrosyne nach rechts und nach links, und bei jeder Neigung stöhnten und krachten die Balken und Bretter, eigenthümlich die sonstige feierliche Ruhe unterbrechend. Der Kapitän hatte die guten Tage benutzt, um die Riggen der Masten fester anzuziehen. Auch im Innern war Alles festgenagelt und festgestaut worden. Wir waren jetzt vollkommen seetüchtig und konnten es mit jeglichem Wetter aufnehmen.

Ein kleiner Sturm aus Südwest trieb uns zwei Tage rückwärts. Dann kam abermals flauer Wind, der in einen kleinen Nordsturm umsprang, mit dessen Hilfe wir rasch nach Madera hinuntergelangten, welches wir ausser Sichtweite am 2. Dezember passirten.

Wir hofften jetzt alle Tage auf den Nordostpassat, aber leider vergeblich. Ganz unvorschriftsmässige West- und Südwestwinde wechselten statt dessen mit einander, und die Folge davon war, dass wir immer näher gegen Afrika zu trieben und, beständig mit halbem oder viertels Wind segelnd, knapp zwischen den Kapverdischen Inseln und Senegambien hindurch fahren mussten. Kaum hatten wir diese passirt, so sprang der Wind nach Süden um, und wir steuerten Südsüdwest gegen Brasilien zu. Nur hie und da wehte es auf kurze Zeit in einer uns günstigeren Richtung, aus Norden oder aus Nordost, und der Kapitän verfehlte dann nie, mich auf die geballten Passatwolken rings am Horizont aufmerksam zu machen und sanguinisch eine anhaltende Besserung unserer Reise in Aussicht zu stellen. Doch immer von Neuem wurde sein Vertrauen getäuscht, und hatten wir vierundzwanzig Stunden eine gute Brise von hinten mit sechs Knoten per Stunde gehabt, so schlief sie regelmässig wieder ein, die Segel begannen wieder zu klappern, und ein Gegenwind erhob sich.

Oder, was noch schlimmer war, die Stille wollte nicht mehr weichen, drei, vier Tage lagen wir regungslos auf dem Wasser, der Abfall des Schiffes trennte sich nicht mehr von unserer Nähe, und was wir des Morgens über Bord geworfen hatten, konnten wir am Abend noch immer draussen herumschwimmen sehen. Die Sonne brannte glühend herab, und eine träumerische Stimmung lag über dem Deck, auf dem die Passagiere in hellen Gruppen faul herumlungerten. Selbstverständlich war unter solchen Umständen die Laune des Kapitäns nicht die rosenfarbigste. Tag und Nacht wurde geschimpft und geflucht, am Barometer geklopft, ob es nicht ein bischen fallen möchte, der Kajütsjunge in die Ohren gekniffen, zwecklos und nur vielleicht zur Aufmunterung für den Wind Leesegel gesetzt und wieder weggenommen.

Für mich waren solche Zeiten der Windstille im Anfang nicht ohne Reiz. Es herrschte, namentlich Nachts, eine wohlthätige Ruhe. Allerdings hörte das Schiff fast niemals auf, langweilig hin und her zu schaukeln, und das Holzwerk, ebenso langweilig zu knarren. Dies war aber auch meistens das einzige vernehmbare Geräusch, und ich konnte relativ ungestört mich meinen Lieblingsbeschäftigungen hingeben.

Unsere Tagesordnung ging ihren stetigen Gang. Wir lebten zu dritt in der Kajüte zusammen, nämlich ein Kajütspassagier, der Kapitän und ich – grösstentheils einträchtig, wir beide letzteren hie und da in gespanntem Verhältniss.

Der Kajütspassagier, ein harmloser, junger Mann des Handelsstandes, Mister Ross genannt, besass glücklich genug nicht die geringste Anlage zur Grimmigkeit, und schimpfte der Kapitän auch Tage lang unausstehlich, oder versuchte er gar in guter Laune Witze zu machen, was noch viel unausstehlicher war, Mister Ross blieb ungerührt. Er spielte gehorsam Tag für Tag seine Partie Sechsundsechzig mit ihm, wenn er dazu kommandirt wurde, liess ihn pflichtschuldigst gewinnen, kam pünktlich zu Tisch, legte sich pünktlich zweimal täglich zu Bett, und lungerte die übrige Zeit, wenn es schön Wetter war, auf Deck herum, friedlich seine Thonpfeife rauchend. Ich selbst huldigte dem Prinzip vollkommenster Neutralität und Isolirtheit, und meine Bücher und die Thiere des Meeres waren mir viel interessanter als Alles, was der Kapitän und Mister Ross zu sagen wussten.

Die Verpflegung, welche wir genossen, unterschied sich vortheilhaft von jener auf Postdampfern nach Amerika üblichen dadurch, dass man nie in Versuchung kam, aus Mangel besserer Beschäftigung den Magen zu überladen. Von der Ablösung der ersten Wache des Morgens um 4 Uhr an war schwarzer Kaffe zu haben. Um 8 Uhr wurde das Frühstück, Kaffe mit kondensirter Milch nebst Zwieback und Butter sowie die kalten Fleischüberreste des vorigen Tages servirt. Um 1 Uhr folgte, nachdem die Mittagsobservation genommen und der Ort des Schiffes berechnet war, das Dinner. Salzfleisch und Büchsenfleisch, Reis und Kartoffel, Erbsen und Bohnen, Pflaumen und Sauerkraut waren die wechselnden Hauptfaktoren desselben. Um 3 Uhr gabs abermals Kaffe, manchmal mit einem frischgebackenen Kuchen von sehr zweifelhafter Qualität, und um 7 Uhr den Abendthee, einschliesslich Butter und Salz- oder Büchsenfleisch. Dazu wurde jedesmal harter Zwieback geknabbert, nachdem der Vorrath an heimischem Schwarzbrot in den ersten vierzehn Tagen aufgezehrt war. Ein schmieriger Wachstuchüberzug bedeckte den Tisch, schmierig waren Gabel und Messer und schmierig der vielgeprüfte Kajütsjunge Hannes, der uns bediente.