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Was ist Musik? Bedeutungslose Unterhaltung oder eine chiffrierte Sprache, die Hieroglyphe eines Mysteriums? Ist ihr Zauber Betrug oder Grundlage einer Weisheit? Das sind die tiefen Fragen, denen der bedeutende französische Philosoph Vladimir Jankélévitch in seinem musikphilosophischen Meisterwerk auf den Grund geht. Erstmals 1961 in Frankreich erschienen, ist es nun endlich in deutscher Übersetzung zu entdecken.

 In der Musik gibt es für Jankélévitch eine doppelte Komplikation, die metaphysische und moralische Probleme bewirkt: Musik ist zugleich ausdrucksvoll und ausdruckslos, tiefgründig und oberflächlich, sie hat einen Sinn und doch auch keinen. Wie das Leben wird sie in die Zukunft gelebt beziehungsweise gehört, aber in die Vergangenheit hinein verstanden. Jede neue Erfahrung, jeder neue Ton kann das Vorherige in seiner Bedeutung verändern. Mit einer Reflexion über Musik und Schweigen endet dieses hochpoetische Buch, das heute als die bedeutendste musikphilosophische Schrift französischer Sprache des 20. Jahrhunderts gilt und unter anderem Emmanuel Lévinas und Roland Barthes beeinflusst hat.

 

Vladimir Jankélévitch (1903-1985) war ein französischer Philosoph, Musiker und Musikwissenschaftler. Aufgrund seiner jüdischen Abstammung wurde ihm während des Zweiten Weltkriegs die Staatsangehörigkeit entzogen. 1941 trat er der Résistance bei. Nach dem Krieg unterrichtete er von 1951 bis 1979 auf dem Lehrstuhl für Moralphilosophie an der Sorbonne in Paris. Sein umfangreiches Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt.

 

Zuletzt erschienen:

Die Ironie (2012)

Der Tod (2005)

Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie (stw 1731)

 

 

Vladimir Jankélévitch

Die Musik und das Unaussprechliche

Aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Mit einem Nachwort von Andreas Vejvar

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien zuerst 1961 unter dem Titel La musique et l'ineffable bei Éditions Armand Collin.

 

Übersetzt mit Unterstützung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien und des Wilhelm-Weischedel-Fonds der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2016

Erste Auflage 2016

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Éditions du Seuil, 1983

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Ralph Gibson

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74818-3

www.suhrkamp.de

Inhalt

 

 

Die Musik und das Unaussprechliche

 

 

Erstes Kapitel

Die »Ethik« und die »Metaphysik« der Musik

 

1. Orpheus oder die Sirenen?

2. Der Groll gegen die Musik

3. Musik und Ontologie

 

 

Zweites Kapitel

Das ausdruckslose »Espressivo«

 

1. Das Trugbild der Entwicklung. Das Noch-einmal-Gesagte

2. Das Trugbild des Ausdrucks

3. Impressionismus

4. Das Ausdruckslose und die Objektivität

5. Gewalt

6. Nichts ausdrücken: vorgespielte Gleichgültigkeit

7. Das Gegenteil, etwas anderes, weniger: Humor, Anspielung und Litotes

8. Beschreiben, evozieren, in großen Zügen erzählen

9. Nachträglich suggerieren

10. Das Unausdrückbare bis ins Unendliche ausdrücken

11. Ernst und leichtfertig, tiefgründig und oberflächlich. Die musikalische Ambiguität

12. Das Unsagbare und das Unaussprechliche. Der Sinn des Sinns

 

 

Drittes Kapitel

Zauber und Alibi

 

1. Der poetische Vorgang

2. Fewronia oder die Unschuld

3. Das räumliche Trugbild

4. Zeitlichkeit und Nocturne

5. Die göttliche Unbeständigkeit. Das unsichtbare Kitesch

6. Der Zauber der Bergamasques. Melodie und Harmonie

7. Allegretto bergamasque. Pianissimo sonoro, Forte con sordina

8. Weisheit und Musik

9. »Laetitiae comes«

 

 

Viertes Kapitel [1]

Musik und Schweigen

 

Andreas Vejvar, Nachwort

 

Namenregister

Verzeichnis der Notenbeispiele



[1] |Sowohl in der Ausgabe 1961 als auch in der Ausgabe 1983 wird im Inhaltsverzeichnis das vierte Kapitel nicht eigens als solches ausgewiesen (nur: »Musique et silence«); beide Male jedoch findet sich im Text gestalterisch und beziffert ein Hinweis auf das neue Kapitel.|





Für Béatrice Berlowitz

Die Musik und das Unaussprechliche

 

»Was ist Musik?«, fragt sich Gabriel Fauré,[1] als er nach dem »unübersetzbaren Punkt« sucht, nach der höchst unwirklichen Schimäre, die uns »über das, was ist …« erhebt. Damals entwirft Fauré gerade den zweiten Satz seines ersten Quintetts, und er weiß nicht, was Musik ist, ja nicht einmal, ob sie etwas ist! In der Musik gibt es eine doppelte Komplikation, die metaphysische und moralische Probleme bewirkt und wie geschaffen ist, um unsere Ratlosigkeit zu bestärken. Zum einen ist die Musik zugleich ausdrucksvoll und ausdruckslos, ernsthaft und leichtfertig, tiefgründig und oberflächlich; sie hat einen Sinn und hat keinen Sinn. Ist Musik eine bedeutungslose Unterhaltung? Oder ist sie eine chiffrierte Sprache und gleichsam die Hieroglyphe eines Mysteriums? Oder vielleicht beides zusammen? Doch diese wesenhafte Doppelsinnigkeit hat auch einen moralischen Aspekt: Es gibt einen verwirrenden Gegensatz, ein ironisches und Anstoß erregendes Missverhältnis zwischen der beschwörenden Macht der Musik und der grundsätzlichen Inevidenz des musikalischen Schönen. Hin und wieder gibt es eine erhabene und erschütternde Evidenz; Liszts Psalm 13, Dvořáks Sinfonie in F-Dur, op. 76, Faurés zweites Quartett, die Düfte der Nacht, Kitesch und Boris Godunow scheinen diese Doppelsinnigkeit endgültig aufzuheben … Aber der lächerliche, zwischen den Mächten der Musik und der Zwiespältigkeit der Musik unlösbare Widerspruch erwacht aufs Neue! Ist der Zauber, den die Musik bewirkt, ein Betrug oder die Grundlage einer Weisheit? Wir haben zu untersuchen, ob die Lösung dieser Widersprüche nicht gerade im ungreifbaren Wirken des Zaubers und in der Unschuld eines poetischen Aktes besteht, der die Zeit als einzige Dimension hat.



[1] Gabriel Fauré, Lettres intimes, hg. von Philippe Fauré-Fremiet, [Paris 1951,] S. 78 (29. August 1903).

Erstes Kapitel

 

Die »Ethik« und die »Metaphysik« der Musik

 

Musik wirkt auf den Menschen, auf das Nervensystem des Menschen und sogar auf seine Lebensfunktionen. Liszt hatte für Singstimme und Klavier Die Macht der Musik geschrieben.[1] Ist dies nicht eine Huldigung, welche die Musik selbst ihrer eigenen Macht darbringt? Diese Macht, die Farben und Gedichte zuweilen indirekt besitzen, ist bei der Musik besonders unmittelbar, drastisch und indiskret: »Sie dringt in das Innere der Seele ein«, sagt Platon,[2] »und prägt sich ihr auf das Kräftigste ein«, καταδύεται εἰς τὸ ἐντὸς τῆς ψυχῆς ὅ τε ῥυδμὸς καὶ ἁρμονία, καὶ ἐρρωμενέστατα ἄπτεται αὐτῆς; und Schopenhauer gibt in diesem Punkt die Ansicht Platons wieder. Da die Musik machtvoll in unser Inneres eindringt, setzt sie sich fest und scheint dort ihren Wohnsitz zu nehmen: Der Mensch, den dieser Eindringling bewohnt und beherrscht, der seiner selbst beraubte Mensch ist nicht mehr er selbst; er ist ganz und gar vibrierende Saite und klingende Orgelpfeife, außer sich, erschauert er unter dem Geigenbogen oder den Fingern des Instrumentalisten; und wie Apollon die Brust der Pythia erfüllt, so bemächtigen sich die kraftvolle Stimme der Orgel und die sanften Klänge der Harfe des Zuhörers. Dieser irrationale und sogar nicht einzugestehende Vorgang vollzieht sich am Rande der Wahrheit: Daher hat sie mehr von Magie[3] als von beweisender Wissenschaft; wer uns nicht mit Gründen überzeugen, sondern mit Gesängen überwältigen will, setzt eine emotionale Kunst des Gefallens ins Werk, das heißt eine Kunst, den Zuhörer durch Suggestion zu unterjochen und durch die trügerische und gauklerische Macht der Melodie zu unterwerfen, ihn durch die Blendwerke der Harmonie und die Faszination der Rhythmen zu erschüttern: Deshalb wendet er sich nicht an den logistischen und leitenden Teil des Geistes, sondern an dessen gesamtes psychosomatisches Wesen; wenn der mathematische Diskurs ein Denken ist, das sich einem anderen Denken verständlich machen will, indem es ihm gegenüber transparent wird, ist die musikalische Modulation ein Akt, der ein Sein beeinflussen will; und unter »Einfluss« muss man wie in der Astrologie oder der Hexerei eine unzulässige Kausalität, gesetzwidrige Ränke und schwarze Praktiken verstehen. Der Gesetzgeber Solon ist ein Weiser, der bezaubernde Orpheus aber ein Magier. Eine Vokalise ist kein Grund, ein Duft ist kein Argument. Darum empört sich der ins vernünftige Alter gelangte Mann gegen dieses unberechtigte Streben nach Beifall; er will nicht mehr der Bezauberung nachgeben, das heißt, sich nicht mehr dem zuwenden, wozu ihn die Gesänge verleiten; die bezaubernde Verleitung wird für ihn zur Verführung und folglich zur Täuschung; der Erwachsene lehnt es ab, gefesselt zu werden, und er widersteht den Glaubensvorstellungen, die ihm die Auletik suggeriert. Die Frau, die allein durch den Duft ihrer Gegenwart, das heißt durch die magische Ausströmung ihres Seins, überwältigt, die Nacht, die uns behext, die Musik, die allein durch den Zauber eines Trillers oder eines Arpeggios unsere Zustimmung gewinnt, werden nun mit tiefem Misstrauen angesehen. Es ist eines vernünftigen Mannes unwürdig, bezaubert zu werden. Und da sich ein männlicher Wille angeblich aus Vernunftgründen entscheidet und niemals eine emotionale Vorliebe zugibt, gibt eine männliche Vernunft auch niemals zu, für Verführungen empfänglich zu sein. Ist es nicht Aufgabe der Wissenschaft, uns dem Taumeln der Nacht und den Versuchungen des bezaubernden Scheins zu entziehen? Die Musik, ein klingendes Phantasma, ist das haltloseste Scheinbild, und der Schein, der sein verblendetes Opfer ohne Beweiskraft oder einsichtigen Determinismus überwältigt, ist gewissermaßen die Objektivierung unserer Schwäche. Der ernüchterte, entmystifizierte Mann ist auf sich selbst böse, dass er früher einmal auf die trügerischen Mächte hereingefallen war; der nüchterne, aus seinem nächtlichen Rausch erwachte Mann errötet, weil er der schwarzen Kausalität nachgegeben hatte: Wenn es wieder Morgen ist, verleugnet er zusammen mit der Kunst zu gefallen die gefälligen Künste selbst! Das Vorurteil der starken und ernsthaften, prosaischen und positiven Geister gegenüber der Musik ist vielleicht aus dieser Ernüchterung entstanden … Angesichts der bedenklichen Macht, welche die Musik besitzt, sind mehrere Haltungen möglich. Unterscheiden wir hier den richtigen Gebrauch, das leidenschaftliche Ressentiment und die schlichte und einfache Ablehnung.

1. Orpheus oder die Sirenen?

Platon meint, man dürfe diese Macht, die Gaffer zu betören, nicht irgendeinem Flötenspieler überlassen; wie der Redner spiele der Musiker mit gefährlichen Verzauberungskünsten, und der Staat müsse im Rahmen einer gesunden Orthopädie den Gebrauch des musikalischen Einflusses reglementieren. Musikalisch sei nicht die Stimme der Sirenen, sondern der Gesang des Orpheus. Die Meeressirenen, die Feindinnen der Musen, haben nur ein Ziel: Sie wollen die Heimkehr des Odysseus ablenken, in die Irre führen und hinauszögern. Mit anderen Worten: Sie lassen die Dialektik des geraden Weges entgleisen, die unseren Geist zur Pflicht und zur Wahrheit zurückführt. So kommt es, dass bei Michail Lermontow die bezaubernden Lieder der heimtückischen Tamara den Reisenden in den Tod führen. Was kann man, um nicht verführt zu werden, anderes tun, als sich bei jeder Melodie taub zu stellen und zusammen mit der Versuchung die Empfindung selbst zu beseitigen? Tatsächlich machen uns die Komponisten, welche die Russalkas und die Sirenen des Nichts singen lassen – so etwa Debussy, Balakirew oder Rimski-Korsakow –, eher die Stimme des Orpheus vernehmbar: Denn wahre Musik humanisiert und zivilisiert. Musik ist nicht nur eine fesselnde und verfängliche List, um gewaltlos zu unterwerfen, um durch ihre bezaubernde Wirkung gefangen zu nehmen, sie ist auch noch etwas Sanftes, das besänftigt: Da sie selbst sanft ist, macht sie jene sanfter, die sie hören, denn in jedem von uns befriedet sie die Ungeheuer des Instinkts und zähmt die Raubtiere der Leidenschaft. Franz Liszt zeigt uns im Vorwort zu seiner Sinfonischen Dichtung Orpheus den »Vater der Gesänge«, ἀοιδᾶν πατήρ,[4] wie Pindar sagt, der die Steine erweicht und die wilden Tiere verzückt, die Vögel und die Wasserfälle verstummen lässt und der ganzen Natur den übernatürlichen Segen der Kunst bringt: Denn dies ist für Liszt und den Theosophen Fabre d'Olivet[5] die Botschaft einer orphischen Kultur. Wie der Wagenführer des Phaidros das störrische Ross zähmt, um es gehorsam (εὐπειθής)[6] zu machen, so spannt Orpheus Löwen vor seinen Pflug, damit sie das Brachland bearbeiten, und die Panther vor die Kutschen, damit sie die Familien spazieren fahren; er kanalisiert die ungezügelten Wildbäche, und die gehorsam gewordenen Bäche drehen die Mühlräder. Alle Wesen der Schöpfung scharen sich aufmerksam um den Dirigenten der Löwen; die Nachtigallen halten ihre Arpeggien und die Wasserfälle ihr Geplätscher zurück. Jener, der die wütenden Fluten unter dem Schiff der Argonauten beruhigt, den fürchterlichen Drachen der Kolchis einschläfert, die Tiere, die Pflanzen und selbst den unerbittlichen Aides rührt, jener könnte wie Jesus, der einen anderen Sturm bezwang, sagen: πραός εἰμι, »Ich bin sanftmütig«;[7] der inspirierte Sänger zähmt die kimmerischen Ungeheuer nicht mit der Peitsche, sondern überwältigt sie mit der Lyra; seine persönliche Waffe ist nicht die Keule, sondern ein Musikinstrument; Michelet würde gewiss sagen, das Werk des Orpheus ergänze die gute Arbeit des Herkules, sie seien alle beide die Helden der Kultur und der Übernatur: Denn wie der Athlet gewaltsam kolonisiert und urbar macht, so humanisiert der Zauberer das Unmenschliche durch die harmonische und melodiöse Anmut der Kunst; jener rottet das Böse aus, während dieser, der Architekt und Kitharöde, es zum Menschlichen bekehrt. In der Bible de l'humanité [»Bibel der Menschheit«][8] kommentiert Michelet in großartigen Worten den Widerstreit der Lyra und der Flöte, von dem Aristoteles in der Politik spricht: Der dionysischen Flöte, dem Instrument des Satyrs Marsyas, der Flöte der Orgien und der unwürdigen Trinkgelage stellen sich die Phorminx des Orpheus und die Kithara Apollons entgegen; und während die rattenfängerische und Schlangen beschwörende Flöte das verdächtige, schmachtende und schamlose Instrument der Thyrsosträger ist, verkörpert der dem Barbarischen feindliche Orpheus die Kultur der Lyra. Die Geburt dieser wahrhaft apollinischen Lyra erzählt uns Albert Roussel in einer schlichten Oper; dem Lichtgott, dem Musenführer, widmet Strawinsky Apollon Musagète [»Apollon, Führer der Musen«]; zu Ehren desjenigen, der den abscheulichen Drachen durchbohrte, harmonisiert Fauré den Hymne à Apollon [»Hymnus an Apollon«] … Der weichliche Zitherspieler, den Kierkegaard, den Phaidros des Gastmahls anführend, in Furcht und Zittern verunglimpft, ist kein wahrer Orpheus![9] Orpheus stirbt als Opfer der thrakischen Bacchantinnen: Die trunkenen Mänaden, das heißt die Furien der Leidenschaften, zerreißen ihn; Orpheus, der Feind des bacchischen und Flöte spielenden Gottes, begrüßt das Morgenrot und verehrt Helios, den maßvollen und sittsamen Lichtgott. – Cave carmen! Hüte dich vor dem Zauber … Aber dies bedeutet durchaus nicht: Lehne es ganz allgemein ab, bezaubert zu werden! Dazu gehört, dass man zwischen Beschwörung und Bezauberung unterscheiden kann; es gibt eine missbräuchliche Musik, die wie die Rhetorik bloße Scharlatanerie ist und dem Zuhörer schmeichelt, um ihn zu unterwerfen – denn die Oden des Marsyas »bezaubern« uns so, wie uns die Reden des Gorgias indoktrinieren; doch es gibt auch ein Melos, das nicht dem Logos widerspricht und dessen einzige Bestimmung es ist, wie in diesem Album von Federico Mompou,[10] unser Sein zu heilen, zu besänftigen und zu preisen. Um die Seelen zu durchdringen! Um die Liebe zu rufen! Um das Leid einzuschläfern! Um Freude zu erwecken![11] Die Musik des Musenführers ist wahrheitsgemäß, denn sie zwingt dem wilden Tumult der Appetition das mathematische Gesetz der Zahl auf, das Harmonie ist, und der Unordnung des maßlosen Chaos das Gesetz des Metrums, das Metronomie ist, der ungleichen, abwechselnd schmachtenden und konvulsivischen, langweiligen und sich überstürzenden Zeit des Alltagslebens die rhythmische, abgemessene, stilisierte Zeit der Festzüge und der Zeremonien. Erkennen Alain, Strawinsky[12] und Roland-Manuel nicht übereinstimmend in der Musik so etwas wie eine Metretik der Zeit?

Die Musik ist also verdächtig, doch sie ist nicht schlicht und einfach zu verleugnen. Platon, dem es vor allem auf sittliche Erziehung und Mäßigkeit ankommt, schließt nur die »karische Muse«[13] aus, die der Klageweiber und des weichlichen Schluchzens: Darum behält das dritte Buch des Staates all seine strengen Kritiken den pathetischen und schlaffen Tonarten des Ostens vor, der ionischen und lydischen Tonart und ihren kläglichen Harmonien, θρηνώδεις ἁρμονίαι.[14] Was entsittlichend wirkt, sind nämlich das Lamento und das Appassionato! Die unanständige Trunkenheit (μέθη) muss die Wächter der Stadt zwangsläufig verweichlichen. Offenbar findet die Musik umso weniger Gnade bei Platon, je mehr sie im modernen Wortsinn musikalisch, das heißt melodisch ist und je freier sie auf der Tonleiter hoch- und hinuntersteigt. Die Gesetze verurteilen deshalb die ἑτεροφωνία [Heterophonie] und der Staat die πολυχορδία παναρμόνιος[15] – denn Instrumente mit vielen Saiten begünstigen polyphone Komplikationen und schmeicheln der Vorliebe für rhythmische Vielfalt und instrumentales Kolorit. Die schnellen Einfälle der Flöte, die Gaukelei der Virtuosen, die Triller, Vokalisen, Rouladen und Koloraturen der Tenöre stehen gewiss in irgendeiner Beziehung zu dieser schmeichelnden Kunst, die der Geometer als Rhetorik verunglimpfte. Im Gegensatz zu den nicht einzugestehenden Reizen und den betörenden Rezitativen der süßlichen Muse, γλυκεία μούση, jener, die zu lieblich und zu schmeichlerisch ist, als dass sie wahrhaftig sein könnte, so dass sie eher Sirene als Muse ist, scheint Platon seine ganze Gunst den am wenigsten musikalischen und am wenigsten modulierenden Tonarten, der schmucklosen dorischen und phrygischen Monodie vorzubehalten; er schätzt sie gewiss wegen ihres sittlichen, sowohl irenischen als auch polemischen Werts: Im Krieg rühmen sie den Mut, im Frieden dienen sie den Gebeten und Hymnen an die Götter oder auch der sittlichen Belehrung der Jugend. Demnach ist die Musik eher sittlich als musikalisch, eher didaktisch als überwältigend; ihre Funktion ist also ganz objektiv. Die Schönheit der Sitten, εὐηθεία, bedingt den rhythmischen und harmonischen Zauber, εὐαρμοστία und εὐρυθμία. Die strenge und ernste Muse will uns nicht durch Gesänge bezaubern, sondern die Tugend in uns einführen.

2. Der Groll gegen die Musik

Manchmal wird uns die Verleugnung der karischen Muse (wie sie im siebenten Buch der Gesetze und von Clemens von Alexandria[16] genannt wird) nicht von pädagogischen Anliegen, sondern von musikfeindlicher Leidenschaft und vom Ressentiment eingegeben. Gewiss hat Nietzsche sehr geliebt, was er verleugnet, gewiss ist er noch insgeheim in die Blumenmädchen seiner Bezauberung verliebt; wie alle Renegaten hat jener, der Wagners Romantik und Schopenhauers Pessimismus verleugnete und selbst gegen den Moralismus des Sokrates lästerte, jener also hat noch an seiner eigenen Vergangenheit festgehalten und ein gewisses Vergnügen empfunden, sich selbst wehzutun … Deshalb gibt es in Nietzsches Groll auf das musikalische Ewig-Weibliche etwas von einer emotionalen Ambivalenz, von Hassliebe und sogar von Masochismus! Denn wie der Immoralismus oft das Alibi für einen leidenschaftlichen Moralismus und der Liebesverdruss das Alibi für den Rigorismus ist, ebenso erklärt die Melomanie in manchen Fällen die erbitterte Melophobie. Im Grunde galt dies für Tolstoi. Paul Boyer berichtet uns, wie er sich gegen die erschütternde Macht der vierten Ballade Chopins wehrte.[17] Sergei Lwowitsch Tolstoi bestätigt in dieser Hinsicht die außerordentliche Sensibilität seines Vaters für die romantische Musik.[18] Tatsächlich ist Tolstois Groll der eines Moralisten und Nietzsches Groll der eines Immoralisten … In diesem Sinne würde Tolstoi in größerer Nähe zu Platon stehen! Und doch: Äußert sich Nietzsche nicht als enttäuschter Pädagoge, als Wortführer einer unmöglichen Tugend? Die Vorrede zu Der Wanderer und sein Schatten[19] erzählt uns beinahe in der Sprache Platons[20] von den vagen, zwiespältigen, verweichlichenden Sehnsüchten, welche das Eisen einer Mannesseele abstumpfen: Nietzsche ist über Tristans Zaubertrank ergrimmt, über die betörenden Elixiere, die ihn berauscht haben, über die Giftpilze der Romantik, von denen es in jenen Sümpfen wimmelt, wo Fieber und Erschlaffung umherschweifen. Vielleicht hat Nietzsche die ganze Distanz empfunden, welche die von der Musik bewirkte Verwirrung und die sokratische Aporie trennt: Das Melos ist verwirrend, aber es ist nicht fruchtbar; es ist keine erregende Bedrängnis oder gnostische Ratlosigkeit, sondern ein steriles Unbehagen, welches das Bewusstsein reizt und bezaubert, es einschläfert, wenn es ein Wiegenlied ist, und es rührt, wenn es elegisch ist. Ja noch mehr:[21] Nietzsche sieht in der Musik ganz allgemein das Ausdrucksmittel der adialektischen Bewusstseinsformen und der unpolitischen Völker; jene sind in halbdunkle Träumereien, schwärmerische und unaussprechliche Gedanken verliebt und versinken wonnevoll in der Einsamkeit; diese sind von der Autokratie zu Untätigkeit und Langeweile verdammt und suchen deshalb Zuflucht in den Tröstungen und harmlosen Kompensationen der Musik: Die Musik, eine Kunst der Dekadenz, ist das schlechte Gewissen der introvertierten Völker, die in instrumentalen und vokalen Kompositionen ein Ablenkungsmittel für ihren staatsbürgerlichen Tatendrang finden; die ihrem Wesen entsprechend gesellige athenische Demokratie hingegen verzichtet auf die lyrischen Zaubermittel zugunsten der Spiele des Gymnasiums, der Kämpfe der Palästra und der Diskussionen der Agora. Denn Athletik setzt wenigstens eine Anspannung der Muskeln und eine wirkliche Anstrengung voraus, um ein Hindernis zu entfernen oder einen Gegenstand durch einen Kraftaufwand, der dem Gewicht dieses Gegenstandes angemessen ist, hochzuheben … Nietzsche will gewiss dies sagen: Musik ist für den Dialog ungeeignet, denn dieser beruht auf dem Austausch, der Analyse der Ideen, der freundschaftlichen Zusammenarbeit auf gegenseitiger und gleichberechtigter Grundlage; Musik lässt keine diskursive und wechselseitige Kommunikation des Sinns, vielmehr die unmittelbare und unaussprechliche Kommunion zu; diese Kommunion vollzieht sich nur im Halbdunkel einer unbestimmten Wehmut, und dieser Vorgang erfolgt nur in einer Richtung und einseitig, vom Hypnotiseur zum Hypnotisierten. Wie sollte Platon, der Philosoph des Logos, des Dialogs und der Dialektik, wie sollte er, der so streng gegenüber zusammenhängenden Diskursen war, nicht den Gesangskünsten der Tenöre und dem Solo der Flötenspieler misstrauen? Das ist im Grunde die Meinung Tolstois. Eines Tages, als ihm |Alexander Borissowitsch| Goldenweiser einige Chopin-Stücke vorgespielt hatte, stellt Lew Nikolajewitsch fest: »Wo man Sklaven haben will, braucht man so viel Musik wie möglich.«[22] Lew Nikolajewitsch vertraute nur den Melodien der Volksmusik. Und von Nietzsche weiß man, wie sehr er in der Musik Bizets ein Entgiftungsmittel gesehen hat, das dem Geist seine Freude, Klarheit und Männlichkeit zurückgeben kann: Nietzsche beginnt seine Reinigungs-, Ernüchterungs- und Desillusionskur nicht mehr wie Platon mit den prosaischen Gymnopädien, sondern mit der Saltatio und im Licht; Albéniz und Darius Milhaud wären für sein großes Erwachen gewiss die wirksamste Katharsis gewesen.

3. Musik und Ontologie

Um der Musik eine sittliche Funktion zu übertragen, muss man ihr somit alles nehmen, was in ihr pathetisch, berauschend und orgiastisch ist, und schließlich auf die poetische Trunkenheit selbst verzichten: Denn die Musik bringt uns nicht immer die Gemütsruhe der Weisheit, vielmehr verwirrt und erregt sie jene, die ihr zuhören. Also ist Musik unvernünftig und ungesund. So trägt in einem tugendbesessenen und einigermaßen frauenfeindlichen Roman Tolstois eine Sonate zu einem unerlaubten Liebesverhältnis bei … Proudhon, ein aus Neigung ernster und moralistischer Geist, beschuldigt die L'art-pour-l'art-Befürworter und die Ästhetik des Spiels ebenfalls der Entartung.[23] Ach! Das erbitterte Wüten gegen die Versuchung ist nicht weniger verdächtig als die Versuchung selbst … Der puritanische Groll gegen die Musik, die Verfolgung des Vergnügens, der Hass auf Gefälliges und Verführerisches, die antihedonistische Obsession sind schließlich Komplexe, wie die Frauenfeindschaft selbst ein Komplex ist! Unter diesen Bedingungen wird man zu der Frage veranlasst, ob die Musik nicht etwa eher eine metaphysische Bedeutung als eine ethische Funktion hat. Zu allen Zeiten hat der von Allegorien begeisterte Mensch die Bedeutung der Musik anderswo als in der Klangerscheinung gesucht: ἁρμονίη ἀφανὴς φανερῆς κρείττων … [Heraklit].[24] Denn es gibt eine unsichtbare und unhörbare, übersinnliche und über das Hörbare hinausgehende Harmonie, die der wahre »Schlüssel der Gesänge« ist; für Clemens von Alexandria und für Augustinus sowie für den englischen Mystiker Richard Rolle[25] ist der für die körperlichen Ohren wahrnehmbare Gesang die exoterische Hülle einer unaussprechlichen und lieblichen Himmelsmelodie. Plotin sagt, dass die sinnlich wahrnehmbare Musik von einer dem sinnlich Wahrnehmbaren vorhergehenden Musik geschaffen werde![26] Die Musik gehört zu einer anderen Welt … Wenn man Fabre d'Olivet glaubt, ist die Musik nicht im Instrument und auch nicht in den physikalischen Erscheinungen; darum interessierte sich Fabre d'Olivet[27] für die pythagoreische Arithmologie und zusammen damit für die hebräische Sprache und so etwas wie Musikosophie, eine dem Stein der Weisen gleichende Musik, welche die Seelen verwandeln sollte. Richard Rolle und Antonio de Rojas[28] haben die Musik der Engel vernommen … Gewiss sind die Konzerte unserer Orchester nur ein blasser Ersatz für die himmlischen Konzerte! So offenbart die unsichtbare Stadt bei Rimski-Korsakow den esoterischen Sinn Kiteschs. Dennoch vibrieren die Glocken und die Jubelgesänge, die im unsichtbaren Kitesch erklingen, auf materielle Weise für die Menschen der Erde; die Stadt ist unsichtbar, doch ihre erhabenen Musiken sind nicht unhörbar: Denn Rimski-Korsakow ist schließlich ein Musiker und kein neuplatonischer Mystiker. Der Metaphysiker und nicht der Musiker diskreditiert die physikalische Harmonie zugunsten der transzendenten Paradigmen und der übernatürlichen Musiken. Und wenn Roland-Manuel, der selbst Musiker ist, annimmt, dass die Musik »ein Echo der Weltordnung«[29] sei, glaubt er auch an ihre Autonomie. Im sinnlich Wahrnehmbaren irgendeine kryptische Botschaft zu entschlüsseln, im Gesang und hinter ihm etwas anderes zu vernehmen, in den Liedern eine Anspielung auf etwas anderes zu erkennen, das Gehörte als Allegorie eines unerhörten und geheimen Sinns zu deuten – dies sind die ständigen Wesenszüge jeder Hermeneutik, und sie werden zuerst auf die Deutung der Sprache angewandt: Jene Sprache, die zwischen den Zeilen liest oder nach dem kleinsten Hinweis zu verstehen glaubt, will auch die Hintergedanken und die verborgenen Absichten ergründen. Alkibiades vergleicht Sokrates mit einem Flötenspieler, der ohne Flöte oder Syrinx, ἄνευ ὀργάνων, φιλοῖς λόγοις [»ohne Instrumente, nur mit Worten«], bei seinen Zuhörern das Delirium der Korybanten erzeugt, und Alkibiades behandelt den großen Ironiker wie einen Silen, das heißt wie eine Maske, hinter der Göttergestalten verborgen sind.[30] Gleichwohl bedeuten die Wörter für sich selbst schon etwas: Ihre natürlichen Präferenzen und ihre Traditionen widersetzen sich der Willkür und beschränken unsere Interpretationsfreiheit; die Sprache des Hermetikers, der sich in verhüllenden Worten äußert, besitzt schon einen wörtlichen Sinn … Aber die Musik? Unmittelbar und an sich bedeutet die Musik nichts, außer durch Assoziation oder Konvention; die Musik bedeutet nichts, also bedeutet sie alles … Man kann die Noten sagen lassen, was man will, ihnen irgendwelche anagogischen Kräfte zuschreiben: Sie werden nicht protestieren! Man ist umso mehr versucht, dem musikalischen Diskurs eine metaphysische Bedeutung zuzuschreiben, als die Musik, die ja keinen kommunizierbaren Sinn ausdrückt, sich für die komplexesten und dialektischsten Interpretationen eignet; man neigt umso mehr dazu, ihr eine Tiefendimension zu verleihen, als sie vielleicht ein oberflächlicherer äußerer Schein ist. Die Musik hat einen breiten Rücken! Hier ist alles plausibel, die fantastischsten Ideologien, die unergründlichsten Hermeneutiken … Wer wird uns jemals widerlegen? Die Musik »erschafft die Welt«,[31] sagt der große russische Dichter Alexander Blok: Sie ist deren |»|spiritueller Körper oder Gedankenfluss|«| … Es stimmt, dass Blok selbst ein Dichter ist und dass Dichter das Recht haben, alles zu sagen! Man hat Schopenhauers »Metaphysik der Musik«[32] oft kritisiert, wobei man sich manchmal der Gefahr aussetzte, deren originelle und tiefgründige Intuitionen zu verkennen. Allerdings muss man sagen, dass jede solcherart romanhaft vorgetragene Metamusik zugleich willkürlich und metaphorisch ist. Zunächst einmal willkürlich – denn es ist nicht zu erkennen, was die privilegierte Förderung, die man der Klangwelt zukommen lässt, rechtfertigt. Warum sollte allein unter allen Sinnen das Gehör dieses Vorrecht haben, uns einen Zugang zum Ding an sich zu eröffnen und so die äußerste Grenze unserer Endlichkeit zu überschreiten? Aufgrund welchen Monopols sollen manche Wahrnehmungen, jene, die man als auditive bezeichnet, die Einzigen sein, die in die Welt der Noumena einmünden? Muss man dann wie vorzeiten zwischen primären und sekundären Qualitäten unterscheiden? Und warum bitte sollte man auf seine kritischen Fähigkeiten, die uns in der Welt der Erscheinungen zurückhalten, allein zugunsten der Klangempfindungen verzichten, wo diese doch mehr als die anderen der Zeitform unterworfen sind? Man würde diese Begünstigung verstehen, wenn die Zeit das Wesen des Seins und die allerrealste Realität wäre: Genau das sagt Bergson, aber Schopenhauer sagt es keineswegs; und außerdem, selbst wenn dies der Fall wäre, würde der Mensch, der ganz ein im Werden begriffenes Wesen ist, die Musik nicht benötigen, um »in medias res« einzudringen; das zeitliche Wesen würde wie ein Fisch im Wasser in den Noumena schwimmen. Genügt es andererseits, dass die Anordnung der musikalischen Wahrnehmungen von der Kunst geregelt wird, um ontologische Tragweite zu erhalten? In diesem Fall lässt sich wieder nicht erkennen, warum die Metaphysik der Dichtung nicht das gleiche Vorrecht wie die Metaphysik der Musik genießen sollte, und auch nicht, warum die Ansprüche der metaphysischen Dichter nicht ebenso gerechtfertigt wären wie die Träumereien der Metaphysiker über Musik und Musiker. Um alles zu sagen: Was noch zu rechtfertigen bleibt, ist der musikalische »Realismus«, in diesem Fall das Vorrecht einer mehr-als-phänomenalen Musik, welche die unmittelbare Objektivierung des »Wollens« wäre und deren Entwicklungen die schmerzlichen Erscheinungsformen dieses Wollens rekapitulieren würden.

Andererseits lässt sich die Metaphysik der Musik nur gestalten, indem man viele Analogien und metaphorische Übertragungen zu Hilfe nimmt: eine Entsprechung zwischen dem musikalischen Diskurs und dem subjektiven Leben, ebenfalls eine Entsprechung zwischen den angenommenen Strukturen des Seins und dem musikalischen Diskurs sowie eine Entsprechung zwischen den Strukturen des Seins und dem subjektiven Leben durch die Vermittlung des musikalischen Diskurses. Zur ersten Analogie: Die Polarität zwischen Dur und Moll entspricht jener der zwei großen ethischen Haltungen der subjektiven Stimmungen, Gemütsruhe und Niedergeschlagenheit; die über Kadenzen und Appogiaturen zur Konsonanz strebende Dissonanz, die aufs Neue durch die Dissonanz gestörte Konsonanz allegorisiert die menschliche Unruhe und das menschliche Verlangen, die endlos zwischen Wunsch und Ermattung schwanken. Daher beschränkt sich die Philosophie der Musik teilweise auf eine metaphorische Psychologie des Verlangens. Außerdem entspricht die Überlagerung von Gesang und Bässen, von Melodie und Harmonie der kosmologischen Stufenleiter der Wesen, mit dem Bewusstsein an der Spitze und der anorganischen Materie am Boden. So wird Musik zu Psychologie, doch verfällt Schopenhauer deshalb nicht in Psychologismus, denn die Musik ist so zu Metaphysik geworden, wie die Metaphysik gewissermaßen musikalisch geworden ist. Schließlich rekapituliert das psychologische Drama des Individuums die Odyssee des spezifischen Willens, sofern die metaphysische Odyssee nicht selbst die Weiterführung eines psychologischen Dramas und einer Reihe privilegierter Seelenzustände ist. Die grafische und räumliche Umsetzung der Klangfolge[33] erleichtert diese Erweiterung sehr: Die melodische Linie steigt und sinkt … auf dem linierten Papier, jedoch nicht in einer Klangwelt, die kein Oben und Unten hat; das Liniensystem ist also eine räumliche Projektion der Unterscheidung zwischen hohen und tiefen Tönen, Bass und Sopran; die simultanen Stimmen der Polyphonie erscheinen »höher« oder »tiefer«, wie es dem geologischen Modell übereinanderliegender Schichten entspricht – und das Gleiche gilt für die »Schichtungen« des Bewusstseins. Die Welt der übersinnlichen Musik selbst erscheint schließlich infolge einer doppelten Illusion so, als läge sie »über« den allerhöchsten Regionen der hörbaren Musik; das Ultraphysikalische und das Metamusikalische erhalten dann eine naiv topografische Bedeutung. Bergson hat jene visuellen Mythen und Metaphern, die dem Zeitlichen die drei Dimensionen der optischen und kinästhetischen Welt verleihen, endgültig widerlegt. Dennoch macht gerade die Übertragung der Dauer in Volumenbegriffe jene Spekulationen, die sich auf eine musikalische Transzendenz beziehen, so illusorisch. Raum und Zeit sind untereinander nicht symmetrischer als Vergangenheit und Zukunft in der Zeit selbst: Diese völlig abgesonderte Art der musikalischen Zeitlichkeit macht aus jeder architektonischen Philosophie, die auf ihrer Grundlage errichtet wird, ein Hirngespinst und Trugbild. Die »Metaphysik der Musik« übersieht wie Magie oder Arithmologie die Funktion der Metaphern und die symbolische Relativität der Symbole. Eine Sonate ist wie eine kurze Zusammenfassung des zwischen Tod und Geburt begrenzten menschlichen Abenteuers – aber sie ist nicht selbst dieses Abenteuer. Das Allegro maestoso und das Adagio – Schopenhauer will deren metaphysische Psychologie aufschreiben – sind gleichsam eine Stilisierung der zwei Tempi der erlebten Zeit, doch sie selbst sind nicht diese Zeit selbst. Sonate, Sinfonie und Streichquartett sind andererseits gleichsam eine dreißigminütige Rekapitulation des metaphysischen und noumenalen Schicksals des Willens, doch sie selbst sind keineswegs dieses Schicksal! Alles hängt davon ab, dass man sich über den Sinn des Verbs sein und des Adverbs gleichsam verständigt; und ebenso wie die Sophismen und Wortspiele unversehens, das heißt, indem sie sich über die Diskontinuität hinwegsetzen, von der einseitigen Zuschreibung zur ontologischen Identität hinüberwechseln, ebenso wechseln die metaphysisch-metaphorischen Analogien insgeheim vom bildlichen Sinn zum eigentlichen und wörtlichen Sinn hinüber; ebenso vernachlässigen die anthropomorphischen und anthroposophischen Verallgemeinerungen ganz schamlos die einschränkende Bestimmung der Bilder und nehmen Vergleiche für bare Münze: Das An-sich-Sein selbst steigt die fünf Linien des Notensystems hoch und hinunter; die ontologische Existenzunlust und nicht mehr lediglich der Pessimismus Tschaikowskys äußert sich in der e-Moll-Tonart. Allgemeiner gesagt: Der musikalische Mikrokosmos reproduziert im Kleinen die Hierarchien des Kosmos. Und es genügt nicht, wenn man sagt, der musikalische Diskurs »spiele« die Wechselfälle des Willens, wenn man solchen Entsprechungen einen magischen Wert zuschreiben möchte. Aus praktischen Gründen zwingt sich uns gewiss zuweilen die Sprache der visuellen Metaphern auf, und selbst Bergson unterscheidet ohne Zögern zwischen dem »oberflächlichen« Ich und dem »tiefen« Ich; doch allein das Bewusstsein, dass eine Ausdrucksweise einfach eine Ausdrucksweise ist, kann uns bei der Wahrheit bleiben lassen. Die Metaphysik der Musik, die behauptet, uns Botschaften aus der Anderswelt zu übermitteln, verdoppelt also die beschwörende Wirkung der Bezauberung auf den Bezauberten durch eine unzulässige Übertragung des Diesseits auf das Jenseits; sie führt den Taschenspielertrick mit einem Betrug weiter, und folglich ist sie doppelt unzulässig. Stellen wir zum Abschluss fest, dass die Musik nicht über den Gesetzen steht und auch nicht von den Beschränkungen und Zwängen frei ist, wie sie dem Menschsein inhärent sind, und wenn die Musikethik ein verbales Trugbild ist, nähert sich die Musikmetaphysik weitgehend einer rhetorischen Figur.



[1] Nach einem Gedicht der Herzogin Hélène d'Orléans (1849) |Helene Luise Elisabeth zu Mecklenburg-Schwerin|.

[2] |Platon,| Der Staat III 401 d |»[…] vorzüglich in das Innere der Seele eindringen und sich ihr auf das kräftigste einprägen […]«; Werke 4, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1977 u. ‌ö.|

[3] J|ules| Combarieu, La musique et la magie. |Étude sur les origines populaires de l'art musical; son influence et sa fonction dans les sociétés, Paris 1909; Reprint: Genf 1978.|

[4] |Pindar,| 4. Pyth. 5, 176 |[…] »der Gesänge Vater«; Siegeslieder (Sammlung Tusculum), hg. u. übers. v. Dieter Bremer, München 1992, S. 155|.

[5] |Antoine Fabre d'Olivet,| La Musique |expliquée comme science et comme art: et considérée dans ses rapports analogiques avec les mystères religieux, la mythologie et l'histoire de la terre, œuvre posthume; publ. par les soins de René Philipon,| Neuauflage, Paris 1928.

[6] |Platon,| Phaidros 253 e |»gehorchend«; Werke 5, hg. v. Gunther Eigler|.

[7] |Matthäus 11, 29.|

[8] |Jules Michelet, Bible de l'humanité.| P|aris 1864|, S. 218f. Vgl. |Platon,| Staat III 399 ‌e.

[9] |Sören Kierkegaard, Furcht und Zittern. Dialektische Lyrik von Johannes de Silentio, Hamburg 52004 (Problemata / Vorläufige Expectoration), S. 23: Die Götter »betrogen ihn, weil er verwöhnt war, aber nicht mutig, weil er ein Zitherspieler war, aber kein Mann«.|

[10] Charmes (1925).

[11] |Anspielung auf die Titel 4, 2, 3, 1 und 6 aus Mompous Charmes: »Pour endormir la souffrance« (1); »Pour pénétrer les âmes (2); »Pour inspirer l'amour« (3); »Pour les guérisons« (4); »Pour évoquer l'image du passé« (5); »Pour appeler la joie« (6).|

[12] |Igor Strawinsky,| Poétique musicale, |Paris| 1945, S. 44: eine »Chrononomie« |Musikalische Poetik, übers. v. Heinrich Strobel, Mainz 1949, S. 24 (sic: »Chronomonie«)|. Vgl. |I. Strawinsky,| Chroniques de ma vie, [Paris 1935,] Band I, S. 117. |Hinweis auf Alain, Préliminaires à l'esthétique, Paris 1939, mehrere Passagen möglich, bspw. S. 8f. (»Cris chantés«), S. 47-49 (»L'ésprit des cloches«), S. 90-92 (»L'homme en tambour«), S. 224-226 (»Réveillon«), S. 271-274 (»Les Djinns«) etc.; bzw. auf Roland-Manuel, Sonate que me veux-tu? Réflexions sur les fins et les moyens de l'art musical, Lausanne 1957, S. 108-113.|

[13] |Platon,| Gesetze VII 800e |»mit einer gewissen karischen Musik«; Werke 8, hg. v. Gunther Eigler|.

[14] |Platon,| Staat III 398 d-e |»kläglichen Tonarten«; Werke 4, hg. v. Gunther Eigler|.

[15] |Platon,| Staat III 399 ‌c, d |»Also […] werden wir keiner vielsaitigen Instrumente und keines auf allerlei Tonarten eingerichteten bedürfen zu unseren Gesängen und Liedern«; Werke 4, hg. v. Gunther Eigler|. Gesetze VII 812 d: »die Vielzahl der Saiten, womit sich alle Harmonien vortragen lassen« |bzw. »die Töne der Saiten mit den Tönen des Gesangs zusammenklingen lassen«; Werke 8, hg. v. Gunther Eigler|.

[16] |Clemens von Alexandria, Der Erzieher, II. Buch, 4. Kap., 41 / 3, in: Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften, aus dem Griechischen übers. von Otto Stählin (Des Clemens von Alexandreia ausgewählte Schriften 2; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Band 8), München 1934, S. 52.|

[17] |Paul Boyer in Le Temps, 2. Nov. 1902; nach Romain Rolland, La Vie de Tolstoï, Paris 1921 u. ‌ö.|

[18] |Sergej Lwowitsch Tolstoj, Die Musik im Leben Tolstojs, in: Der unbekannte Tolstoj. Die offizielle Ausgabe der Familie Tolstoj, hg. v. René Fülöp-Miller, Zürich-Leipzig-Wien 1927, S. 333-364.|

[19] |Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I und II (Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2), München 1988, S. 369-377 (eigentlich Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches II).|

[20] |Platon,| Staat III 411 b: [ὥσπερ] σίδηρον ἐμάλαξεν (»wie Eisen schmeidigen«|; Werke 4, hg. v. Gunther Eigler|).

[21] |Friedrich Nietzsche,| Der Wanderer und sein Schatten, II, 167. |Menschliches, Allzumenschliches I und II, S. 621.|

[22] Angeführt von Maxim Gorki, Trois Russes, übers. von Dumesnil de Gramont [Paris 1935], S. 12. Vgl. Paul Boyer, Chez Tolstoï, Entretiens à Iasnaïa Poliana, Bibliothèque russe de l'Institut d'Études slaves, 1950, S. 53. Über das Verhältnis Tolstois zur Musik: Romain Rolland, Vie de Tolstoï, [Paris 1928,] S. 140-146 |deutsche Übersetzung von O. ‌R. Sylvester, revidiert von W. Herzog, Basel 1949, S. 142-146|.

[23] |Pierre-Joseph Proudhon, Du principe de l'art et de sa destination sociale, Paris 1875.|

[24] |Die Fragmente der Vorsokratiker, hg. v. Diels-Kranz, 22 B 54: »Unsichtbare Fügung stärker als sichtbare.«|

[25] |Hier bezieht sich Jankélévitch wohl auf Richard Rolle, Le Feu d'amour (»Incendium Amoris« bzw. »Fire of Love«) in der Übersetzung von D. ‌M. Noetinger, Tours 1928. Hinweise darauf finden sich in seinem Traité des vertus 2, Paris 1986, S. 276 und 353, in Gabriel Fauré, ses mélodies, son esthétique, Paris 1951, S. 305 und 334, bzw. in Fauré et l'inexprimable (De la musique au silence 1), Paris 1974, S. 333, in L'Irréversible et la nostalgie, Paris 1974, S. 99, und in Liszt et la Rhapsodie. Essai sur la virtuosité (De la musique au silence 5), Paris 1979, S. 135.|

[26] |Plotin,| Enneaden V 8, 1 |Plotins Schriften, hg. u. übers. von Richard Harder (Philosophische Bibliothek 213, Hamburg 1964), III 31.|

[27] |Zum Beispiel: Fabre d'Olivet, La Musique, S. 17-19.|

[28] |Bezieht sich vermutlich auf ein Zitat von Antonio de Rojas bei Henri Bremond, Prière et poésie [Gebet und Dichtung], Paris 1926, S. 119: »Dieu vous donne une musique céleste, non dans la rue, mais dans le Palais Royal de votre âme« [»Gott gibt euch eine Himmelsmusik, nicht auf der Straße, sondern im Königspalast eurer Seele«]; als Quelle angegeben: La vie de l'esprit pour s'avancer en l'exercice de l'oraison et pour avoir une grande union avec Dieu, composé en espagnol par le docteur Antoine de Rojas [Das Leben des Geistes, um sich weiter im Gebet zu üben und um eine enge Vereinigung mit Gott zu erreichen, auf Spanisch verfasst von Doktor Antonio de Rojas], Lyon 1663, S. 332-341, hier S. 339. Vgl. Henri Bremond, Mystik und Poesie, übers. v. Ernst Ferdinand Baron Neufforge, Freiburg i. Br. 1929, S. 136.|

[29] |Roland-Manuel, Sonate que me veux-tu?, S. 110.|

[30] |Platon, Symposion 215 ‌a-e: »ohne Instrumente, durch bloße Worte«; Werke 3, hg. v. Gunther Eigler.|

[31] |Zitat und Referenz bei Sophie Laffitte, »Le symbolisme occidental et Alexandre Blok«, in: Revue des études slaves 34, 1-4 (1957), S. 88-94, hier S. 92: A. Blok, Carnets, 29. ‌6. ‌1909, S. 123.|

[32] |Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Teilband, 3. Buch, § 52 bzw. 2. Teilband, 3. Buch, Kap. 39 (»Zur Metaphysik der Musik«).|

[33] Siehe hierzu die wichtige Arbeit von Gisèle Brelet, Le temps musical, Paris 1949, Band 1.