Sophienlust 109 – Wann kann ich wieder lachen?

Sophienlust –109–

Wann kann ich wieder lachen?

Roman von Aliza Korten

Das kleine Mädchen stand am Fenster, hatte das Kinn in eine Hand gestützt und schaute ernst und ein wenig traurig in den trüben Tag hinaus.

»Sibylle!«

»Hm.« Das Kind mit den großen verträumten Augen wandte den Kopf nicht, als die rundliche Haushälterin das Zimmer betrat.

»Tante Anita hat geschrieben, Sibylle. Es ist ein langer Brief mit einer ­schönen bunten Marke aus dem Ausland.«

»Was schreibt sie denn, Barb?« Sibylle schien nicht besonders daran interessiert, den Inhalt des Briefes zu erfahren.

Barbara, seit mehr als dreißig Jahren unumschränkte Herrscherin in der großen, ein wenig altmodischen Villa der Familie Germersheim, unterdrückte einen Seufzer. »Das will ich gerade mit dir besprechen, Billchen.«

Langsam wandte sich Sibylle Germersheim um und schaute Barb müde an. »Ist es wichtig?«

»Ich finde ja. Es gefällt Tante Anita nämlich so gut auf der großen Reise, dass sie länger fortbleiben will.«

»Das ist mir egal«, warf Sibylle hin. »Wenn sie nicht da ist, kann ich wenigstens machen, was ich will.«

»Deine Tante hat dich lieb und meint es gut mit dir, Billchen«, versuchte Barbara zu begütigen. Doch es klang nicht überzeugend.

Dass Sibylle der Haushälterin keinen Glauben schenkte, konnte man von ihrem Gesicht ablesen.

»Hör mal zu«, fuhr Barb mit erzwungener Munterkeit fort. »Hier schreibt sie: Ich möchte verhindern, dass Sibylle dadurch einen Nachteil hat.«

»Wodurch denn?«, schaltete das Kind unwillig ein.

Barbara räusperte sich. »Nun, ­dadurch, dass Tante Anita so lange fort bleibt. Du bist ganz allein hier …«

»Du bist ja bei mir, Barb.«

»Ich kann mich nicht viel um dich kümmern, Billchen. Deshalb hat Tante Anita gedacht, dass du eine Zeitlang in ein Kinderheim gehen sollst.«

Endlich war es heraus. Die arme Barbara hatte sich schon seit einer ­halben Stunde damit herumgequält. Den wahren Grund für diesen völlig überraschenden Entschluss Anita ­Germersheims durfte Sibylle allerdings unter keinen Umständen erfahren.

»Ein Kinderheim?«, wiederholte die Kleine erschrocken. »Was soll ich denn dort?«

»Sicher ist es ein sehr schönes Heim. Es heißt Sophienlust. Tante Anita hat die Adresse früher mal von einer Bekannten bekommen. Damals hatte sie auch schon daran gedacht, dich dort unterzubringen.«

»Warum denn?«, fragte Sibylle mit krauser Stirn.

»Ich weiß nicht recht. Sie dachte wohl, dass du mit anderen Kindern zusammenkommen solltest.« Barb wusste genau, dass die Überlegungen von Billchens Tante in Wirklichkeit gänzlich anderer Art gewesen waren. »Jedenfalls hat sie schon an die Dame geschrieben, die das Heim leitet. Ich soll mich telefonisch mit ihr in Verbindung setzen und dich möglichst noch in dieser Woche hinbringen.«

Sibylle wurde blass. »So schnell?« Ihr Stimmchen schwankte. »Müssen wir, Barb?«, fügte sie unsicher und bettelnd hinzu.

Barbara drückte das einsame Kind mütterlich an sich. »Tante Anita ist dein Vormund, Billchen. Sie hat über dich zu bestimmen.«

»Komisch, dass ihr das ausgerechnet auf der Reise eingefallen ist«, meinte Sibylle betrübt.

»Vielleicht hat sie unterwegs über dich nachgedacht, Billchen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es dir in dem Kinderheim gefallen wird.« Die Haushälterin bemühte sich, ihre Worte fröhlich und zuversichtlich klingen zu lassen. Sibylle sollte nicht merken, dass ihr das Herz blutete.

»Tante Anita mag mich nicht«, erklärte Sibylle leise. »Das weißt du genauso wie ich. Deshalb schickt sie mich fort. Aber es ist mir ganz egal.« Die großen Augen füllten sich mit Tränen, die das Kind Lügen straften.

»Sie meint es gut«, widersprach Barbara, weil sie das für ihre Pflicht hielt. »Soll ich dir vorlesen, was sie noch geschrieben hat?«

»Nein, ich will’s gar nicht hören.«

»Ich kann es dir auch erzählen. Du bekommst neue Sachen für das Kinderheim. Ich werde mich erkundigen, was man braucht. Das Heim ist auf dem Lande.«

»In einem Dorf? Das finde ich langweilig. Wie wird es denn mit der Schule? Wenn die Ferien vorbei sind, muss ich wieder hier sein.«

»Ich glaube, es gibt dort eine Schule«, äußerte Barbara vorsichtig, denn in Anitas Brief stand unmissverständlich, dass sie Sibylle in der hiesigen Schule abmelden solle, damit sie die für das Kinderheim Sophienlust zuständige Schule besuchen könne.

Sibylle schob die Unterlippe vor. »Ich mag nicht, Barb«, stieß sie hervor. »Aber ich weiß schon, dass ich trotzdem fort muss. Es wird bei uns immer das gemacht, was Tante Anita bestimmt.«

Die Haushälterin strich über das glatt gescheitelte halblange Haar des Kindes. »Ich werde jetzt bei der Auskunft anrufen, um die Telefonnummer von Sophienlust zu erfahren. Dann sehen wir weiter.«

»Vielleicht haben sie gar kein Telefon, wenn’s nur ein Dorf ist«, äußerte Sibylle hoffnungsvoll.

»Ich glaube doch, Billchen. Außerdem könnte man sonst einen Brief schreiben.«

Das kleine Mädchen wandte sich wieder dem Fenster zu. Es stützte das Kinn in die Hand und schaute so ernst zum Fenster hinaus wie zuvor. Sibylle Germersheim hatte sich bereits so sehr daran gewöhnt, sich dem Willen ihrer Tante unterzuordnen, dass sie gar nicht erst auf den Gedanken kam, sich gegen diese neueste Entscheidung aufzulehnen.

Barbara verließ das große Zimmer und begab sich an den Schreibtisch der Hausherrin, um zu telefonieren. Anitas Schreibtisch war ein wertvolles, antikes Stück und stand in einem im selben Stil eingerichteten Raum, von dessen Wänden einige Vorfahren der Familie, in Öl gemalt und in schwere Goldrahmen eingefasst, steif und vornehm herabblickten.

Steif und vornehm gab sich auch die dreißigjährige Anita Germersheim. Seit dem Tod ihrer Schwester Carola hatte sie mit Barbara und dem Kind sehr zurückgezogen in der riesigen Villa gelebt. Doch in diesem Jahr hatte sie sich ganz plötzlich entschlossen, eine Weltreise zu unternehmen. Nun schien dieser Entschluss für sie zum Schicksal geworden zu sein.

Die Haushälterin las den Brief noch einmal durch.

Liebe Barbara,

diese Zeilen schreibe ich mitten in der Nacht in meinem schönen Hotelzimmer. Draußen ist es warm, und vom Himmel funkeln südliche Sterne. Ich hätte nie gedacht, dass die Welt so wunderbar ist. Jetzt erst weiß ich, was ich in den vergangenen sechs Jahren versäumt habe. Es war ein großer Fehler, dass ich Carolas Tochter im Haus behielt und dadurch praktisch von allen gesellschaftlichen Ereignissen in unserer Stadt abgeschnitten war.

Du hast mich immer verstanden, Barb. Deshalb schreibe ich Dir ganz offen, dass ich auf dem Schiff einen Mann kennengelernt habe, der mir alles bedeutet. Frederik liebt mich, und ich liebe ihn. Wir wollen heiraten. Auf dieses große Glück hatte ich eigentlich schon verzichtet. Wie töricht und leichtfertig von mir! Durch das Kind ist mir alles verschlossen geblieben. Jetzt werde ich endgültig einen Strich unter die Vergangenheit setzen, an der ich wahrhaftig keine Schuld trage. Doch ich möchte verhindern, dass Sibylle einen Nachteil davon hat. Sie soll eine gute Erziehung genießen. Deshalb bin ich fest entschlossen, sie sofort in das Heim zu geben, das mir damals bei Carolas Tod empfohlen wurde. Glücklicherweise habe ich mein Adressenheft bei mir. Der Brief an Frau von Schoenecker, die Sophienlust leitet, ist schon fertig und geht mit der gleichen Post wie dieser Brief an Dich auf die Reise nach Deutschland. Erkundige Dich nach der Telefonnummer und setze Dich mit der Dame in Verbindung. Ich gebe Dir völlig freie Hand und bitte Dich, eine entsprechende Ausstattung für Sibylle einzukaufen. Melde das Kind auch in der Schule ab. Ich füge eine entsprechende Vollmacht bei. Sibylle soll vom Kinderheim aus die Schule besuchen. Ich will, dass Carolas Kind endgültig aus meinem Leben verschwindet. Frederik darf nichts von Sibylles Existenz erfahren. Er erblickt in mir ein Mädchen aus guter Familie mit einwandfreier Vergangenheit. Das bin ich ja auch. Was Carola getan hat, geht mich nichts an. Sibylle wird kein Unrecht geschehen, denn sie verfügt über ihr mütterliches Erbe und kann später jeden Beruf erlernen, den sie sich wünscht.

Auf Deine Verschwiegenheit, liebe alte Barb, kann ich rechnen. Da brauche ich gar nicht erst zu fragen. Du wirst mich verstehen, sobald Du Frederik kennenlernen wirst. Habe ich nicht auch ein Recht auf Glück und Liebe wie jeder andere Mensch?

Ich werde meinen Aufenthalt hier auf den Bahamas um eine oder zwei Wochen verlängern. Das gibt Dir genügend Zeit, Sibylle auszustatten und in das Heim zu bringen. Ich hoffe nur, dass ein Platz verfügbar ist. Eine Absage von Frau von Schoenecker würde mich in Schwierigkeiten bringen, denn eine andere Adresse kenne ich leider nicht und kann sie auch von hier aus nicht ausfindig machen. Du musst der Dame am Telefon auseinandersetzen, dass es sich um einen dringenden Fall handelt. Ich habe ihr das auch schon geschrieben. Für mich steht jetzt alles auf dem Spiel. Schicke mir ein Telegramm an die Adresse des Hotels, die auf dem Briefbogen steht, damit ich sicher sein kann, dass Sibylle aus dem Haus ist, wenn ich mit Frederik Mintow ankomme.

Es grüßt Dich herzlich Deine Anita, die das ganz große Glück gefunden hat.

Am unteren Rand des hellblauen Luftpostbogens war mit Blockbuchstaben die genaue Anschrift des Kinderheims Sophienlust angegeben.

Barbara seufzte. Da war nichts mehr zu machen. Einmal hatte sie sich gegen Anita durchgesetzt und ihr klargemacht, dass Sibylle in dieses Haus gehöre, genau wie Anita selbst. Doch jetzt musste sie sich fügen.

Barb bekam die Telefonnummer ohne Schwierigkeit und rief sofort in Sophienlust an. Eine halbe Stunde später war Sibylles Schicksal besiegelt. In genau einer Woche sollte sie in Sophienlust Einzug halten.

*

Frederik Mintow machte im weißen Smoking eine recht gute Figur. Er stand unter einer Palme auf der Hotelterrasse, rauchte eine Zigarette und wartete auf Anita Germersheim.

Ein Holländer, dem die Hitze zu schaffen machte, sprach ihn an. »Auf die Dauer ist das faule Leben nichts für mich, Herr Mintow. Allmählich sehne ich mich wieder nach meinem Kontor in Amsterdam.«

Frederik hob die kräftigen Schultern. »Ab und zu braucht man Urlaub, Herr van Dongen. Wer das ganze Jahr über hart arbeitet, hat ein Recht auf Erholung, meine ich.«

»Stimmt. Bin ich recht unterrichtet, dass Sie Juwelen nach Deutschland importieren? Irgendjemand sagte mir so etwas …«

Frederik nickte. »Ganz recht. Hätten Sie ein Angebot? Ich weiß, dass man in Holland gute Diamanten bekommt.«

Van Dongen lächelte. »Ich bin Juwelier. Also wäre ich allenfalls daran interessiert, ein paar Steine von Ihnen zu bekommen. Aber ich nehme an, dass Sie im Urlaub nicht vom Geschäft reden möchten. Vielleicht darf ich mich später an Sie wenden, wenn Sie wieder in Deutschland sind?«

»Warum nicht, Herr van Dongen. Es würde sich möglicherweise machen lassen, Ihnen eine Sendung direkt zu schicken. Der Umweg über Deutschland kostet doppelten Zoll. Geben Sie mir Ihre Karte, damit ich Ihnen später schreiben kann.«

Van Dongen versprach, dass er seine Adresse vor der Abreise hinterlassen wollte.

Nun erschien Anita Germersheim. Sie war überschlank und trug das hellbraune Haar in einer halblangen modischen Frisur, die ihr der Hotelfriseur empfohlen hatte. Dazu wirkte das bodenlange Abendkleid mit dem tiefen Rückenausschnitt besonders gut.

Die jäh erwachte Freude am Leben hatte aus der schon ein wenig verblühenden Anita eine schöne, begehrenswerte Frau gemacht. Man sah ihr ihre dreißig Jahre nicht mehr an. Sie selbst fühlte sich so jung und beschwingt wie nie zuvor.

Die beiden Herren begrüßten Anita. Der Holländer, der Junggeselle war und allein reiste, bat darum, sich dem Paar anschließen zu dürfen.

Anita zögerte ein wenig, denn sie wäre mit Frederik lieber allein geblieben. Andererseits schmeichelte es ihr, dass sie nun zwei Begleiter hatte.

»Wir freuen uns«, sagte sie freundlich. »Es soll ja heute so eine Art Gala-Abend werden, weil die amerikanische Touristengruppe morgen früh abfliegt.«

Es war so gut wie jeden Abend etwas Besonderes los. Die Tage verbrachte man am Strand bei den verschiedensten Sportarten und Vergnügungen, oder man faulenzte unter großen Sonnenschutzdächern der nächsten amüsanten Abwechslung entgegen.

An diesem Tag wurde Anita noch einmal bewusst, was sie in den letzten sechs Jahren versäumt und unbewusst entbehrt hatte. Dunkelhäutige Kellner servierten ein erstklassiges Diner. Eine Kapelle spielte gedämpft im Hintergrund. In den Gläsern ließ teurer Wein aus Europa tausend Lichter funkeln.

Später wechselte die Band. Es wurde nun getanzt. Anita hatte die neuen schwungvollen Rhythmen sehr schnell erlernt. Sie fühlte sich wunschlos glücklich, und ihre Augen leuchteten.

Als der Juwelier aus Holland sich verabschiedete, war es ein Uhr nachts.

»Ein sympathischer Herr«, meinte Frederik und streifte Anitas Wange leicht mit seinen Lippen. »Er hat mir geschäftliche Zusammenarbeit angeboten. Aber ich muss mich erst erkundigen, ob er auch seriös ist. Zu den ganz Großen in seinem Geschäft gehört er nicht. Sonst müsste ich seinen Namen kennen.«

»Aber du gehörst zu den Großen, nicht wahr, Frederik?«, fragte Anita zärtlich.

Er hob die Schultern. »Weiß ich nicht so genau. Jeder will bekanntlich der Größte sein. Ich mache mir da­r­über keine Gedanken, solange ich genug verdiene.«

Frederik zog Anita an sich und küsste sie. Sie hatten sich bequeme Sessel an die Brüstung der Terrasse tragen lassen und schauten über das Meer, das um diese Stunde fast still war. Nur ab und zu klatschte leise eine Welle.

Hinter ihnen nahm der Festabend geräuschvoll seinen Fortgang. Inzwischen hatten die meisten Leute etwas zu viel getrunken. Anita war froh, dass Frederik nur wenig Alkohol zu sich nahm. Er hatte gesagt, er verabscheue es, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.

»Es ist wunderbar hier«, flüsterte Anita verträumt.

»Wenn man glücklich ist, findet man es überall herrlich, Anita«, gab er zurück.

»Bist du wirklich glücklich, Frederik?«, fragte sie scheu. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mich liebst. Es waren weit attraktivere Frauen als ich auf dem Schiff. Und hier wimmelt es nur so von rassigen Erscheinungen. Ich komme mir daneben wie ein Mauerblümchen vor.«

Frederik strich ihr über das Haar. »Jetzt müsste ich böse mit dir werden, Anita. Warum glaubst du mir nicht? Ich bin noch nie einer Frau begegnet, die so war wie du. Du musst mir vertrauen, denn wir wollen eine gemeinsame Zukunft aufbauen – du und ich. Ich möchte dich verwöhnen und dir die ganze Welt zeigen. Du wirst herrliche Schmuckstücke tragen, und viele andere Frauen werden dich beneiden.«

Sie legte den Kopf an seine Schulter. »Verzeih mir, Frederik. Seit dem Tod meiner Schwester Carola habe ich recht einsam und zurückgezogen in unserem großen Haus gelebt. Erst in diesem Jahr wurde mir bewusst, dass ich etwas versäumt habe. Deshalb buchte ich auch diese Reise. Ich wollte endlich heraus aus meinem goldenen Gefängnis.«

»Glücklicherweise war es noch nicht zu spät«, erwiderte Frederik lächelnd. »Allerdings werde ich meinen süßen Schmetterling einfangen und nicht mehr fortfliegen lassen. Das musst du dir schon gefallen lassen.«

»Viel zu gern, Frederik. Ich könnte mir ein Leben ohne dich nicht mehr vorstellen.«

Einer der farbigen Diener kam heran und überreichte Anita auf einem Silberteller ein Überseetelegramm. »Es ist eben angekommen«, sagte er.

»Danke.« Anita nahm das Telegramm an sich und gab dem Boy ein gutes Trinkgeld.

»Etwas Wichtiges?«, fragte Frederik.