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Traurigkeit ist für mich die glücklichste Zeit, wenn sich aus den Ruinen meines trunkenen Geistes eine strahlende Stadt erhebt.

In jenen Zeiten, wenn ich schweigsam und ruhig bin wie die Erde, ist der Widerhall meines Rufens im ganzen Universum zu hören.

Mevlana Jalaluddin Rumi

 

 

Beim Nachmittag! Der Mensch erleidet bestimmt Verlust, außer denjenigen, die glauben und die guten Werke tun, und einander die Wahrheit nahe legen und die Geduld nahe legen.

Der Koran, Sure 103,1–3

Vorwort

Im Herbst 2000, beinahe ein Jahrzehnt nachdem ich meine Arbeit als Anwältin aufgenommen und damit begonnen hatte, vor den Gerichten des Irans Gewaltopfer zu verteidigen, durchlebte ich die zehn quälendsten Tage meines gesamten Berufslebens. Die Fälle, mit denen ich es normalerweise zu tun hatte – misshandelte Kinder, missbrauchte Ehefrauen, politische Gefangene –, führten mir täglich menschliche Grausamkeit vor Augen, doch bei dem Fall, um den es nun ging, hatte ich es mit einer Bedrohung ganz anderer Art zu tun.

Die Regierung hatte vor kurzem eine Mittäterschaft bei den Ende der Neunzigerjahre vorsätzlich verübten Morden an Dutzenden von Intellektuellen eingestanden. Einige waren erdrosselt worden, während sie Besorgungen machten, andere waren in ihren Häusern erschlagen worden. Ich vertrat die Familien von zweien der Opfer und hatte dringend darauf gewartet, die Akten der richterlichen Ermittlungen einsehen zu können.

Der vorsitzende Richter hatte den Anwälten der Opfer nur zehn Tage Zeit gegeben, die gesamte Akte zu lesen – nur zehn Tage, in denen wir Zugang zu den Ermittlungsergebnissen haben würden – und die unsere einzige Chance waren, Beweismaterial zusammenzutragen. Das Durcheinander der Ermittlungen, die Versuche, die Beteiligung des Staates zu verschleiern, der mysteriöse Selbstmord eines Hauptverdächtigen im Gefängnis, machten es uns noch schwerer, zu rekonstruieren, was tatsächlich geschehen war, von den fatwas, religiösen Edikten, die die Morde anordneten, bis zur Hinrichtung der Betroffenen. Es hätte nicht mehr auf dem Spiel stehen können.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Islamischen Republik hatte der Staat zugegeben, seine Kritiker ermordet zu haben, und zum ersten Mal sollte ein Prozess stattfinden, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Regierung selbst hatte zugegeben, dass eine Gruppe eigenmächtig handelnder Mitarbeiter des Informationsministeriums für die Morde verantwortlich sei, doch der Fall war bislang noch nicht vor Gericht gekommen. Als es schließlich so weit war, trafen wir nahezu bebend vor Entschlossenheit im Gerichtsgebäude ein.

Nachdem wir den Umfang der Akten gesehen hatten – mannshohe Berge –, war uns klar, dass wir sie gleichzeitig würden lesen müssen und nur einer von uns sich an die chronologische Reihenfolge halten konnte. Diesen Part überließ man mir.

Die Sonne schien durch die schmutzige Fensterscheibe und ihre Strahlen schienen viel zu schnell durch den Raum zu wandern, während wir schweigend Schulter an Schulter über den kleinen Tisch gebeugt saßen und nur das Geraschel von Papier und gelegentlich das dumpfe Schaben der Stuhlbeine auf dem Fußboden zu hören war.

Die entscheidenden Passagen in den Akten, die Abschriften der Verhöre mit den des Mordes Angeklagten, waren überall verstreut, vergraben zwischen Seiten voller bürokratischer Worthülsen. Diese Abschriften enthielten Beschreibungen der brutalen Morde, Absätze, in denen der Mörder anscheinend mit Vergnügen davon berichtet, bei jedem Stoß, als düstere Hommage an die Tochter des Propheten Mohammed, »Ya Zahra« ausgerufen zu haben.

Im Raum nebenan saßen die Anwälte der Angeklagten und lasen andere Teile des Dossiers, und durch die Wand hindurch spürten wir beständig die Anwesenheit dieser Männer, die jene verteidigten, die im Namen Gottes gemordet hatten. Die meisten der von ihnen Vertretenen waren Funktionäre des Informationsministeriums von niederem Rang, Handlanger, die die Todeslisten auf Geheiß ranghöherer Beamter unterzeichnet hatten.

Um die Mittagszeit ließ unsere Energie nach, und einer der Anwälte bat den jungen Soldaten im Gang, uns Tee zu bringen. Sobald uns das Teetablett gebracht worden war, beugten wir die Köpfe wieder über die Akten. Ich war bei einer Seite angelangt, auf der die Dinge detaillierter und flüssiger geschildert wurden als in anderen Passagen, und las deshalb langsamer und konzentrierter. Es war die Abschrift einer Unterhaltung zwischen einem Regierungsminister und einem Mitglied des Todeskommandos. Als mein Blick auf den Satz fiel, der mich viele Jahre lang verfolgen sollte, glaubte ich, mich verlesen zu haben. Ich blinzelte einmal, doch der Satz stand noch immer da: »Die nächste Person, die getötet werden soll, ist Shirin Ebadi.« Ich.

Mein Hals war plötzlich wie ausgetrocknet. Ich las diese Zeile immer und immer wieder. Die gedruckten Wörter verschwammen vor meinen Augen. Die einzige weitere Frau im Raum, Parastou Forouhar, deren Eltern zu den Ersten gehört hatten, die in ihrem Teheraner Haus mitten in der Nacht getötet – erstochen und verstümmelt – worden waren, saß neben mir. Ich fasste sie am Arm und deutete mit dem Kopf auf die vor mir liegende Seite. Sie neigte ihr verschleiertes Haupt herüber und ließ die Augen über den Text wandern. »Hast du das gelesen? Hast du das gelesen?«, flüsterte sie immer wieder. Wir lasen gemeinsam weiter, lasen, wie der Mann, der mein Mörder werden wollte, zum Informationsminister ging und um die Erlaubnis bat, mich ermorden zu dürfen. Nicht im Fastenmonat Ramadan (im persischen Ramazan), hatte der Minister geantwortet, aber jederzeit danach. Aber sie fasten doch sowieso nicht, hatte der Söldner argumentiert, diese Leute haben sich von Gott abgewandt. Dieses Argument – dass die Intellektuellen, dass ich, mich von Gott abgewandt hätte –, diente ihnen dazu, die Morde als ihre religiöse Pflicht zu rechtfertigen. In der grausigen Terminologie derjenigen, die den Islam als eine Religion interpretieren, die Gewalt duldet, war es halal, von Gott gestattet, unser Blut zu vergießen.

In diesem Moment öffnete sich knarrend die Tür. Wir bekamen noch einmal Tee, der zwar nach nichts schmeckte, uns aber wach hielt. Ich lenkte mich damit ab, die vor mir liegenden Papiere neu zu ordnen, völlig benommen von dem, was ich gelesen hatte. Ich hatte keine Angst, wirklich nicht, und ich war auch nicht wütend. Ich erinnere mich vor allem an das überwältigende Gefühl, es nicht glauben zu können. Warum hassen sie mich so sehr?, fragte ich mich. Was habe ich getan, um einen solchen Hass auszulösen? Wie ist es möglich, dass ich mir Feinde gemacht habe, die so begierig darauf sind, mein Blut zu vergießen, dass sie nicht einmal bis zum Ende des Ramadan warten können?

Wir sprachen damals nicht sofort darüber. Wir hatten keine Zeit für Pausen oder mitfühlende Worte, etwa: »Wie schrecklich, dass du die Nächste auf der Liste warst.« Wir konnten es uns nicht erlauben, die begrenzte, kostbare Zeit, die uns für das Studium der Akten zur Verfügung stand, zu vergeuden. Ich nippte an meinem Tee und las weiter, obwohl meine Finger wie gelähmt waren und ich nur mit Mühe die Seiten umblättern konnte. Gegen zwei Uhr hörten wir auf, und erst dann, während wir über den Hof nach draußen gingen, erzählte ich es den anderen Anwälten. Sie schüttelten den Kopf und murmelten Alhamdulellah, Gott sei Dank, dass ich im Unterschied zu den Opfern der Familien, die wir vertraten, dem Tod entkommen war.

Als ich auf die Straße hinaustrat, empfing mich die willkommene Kakophonie des Teheraner Verkehrs. Zu dieser Tageszeit waren die breiten, von niedrigen Häusern gesäumten Straßen der Stadt überfüllt von schnaufenden alten Autos. Ich nahm ein Taxi und ließ mich vom Rütteln des staubigen Wagens einlullen, bis wir mein Haus erreichten. Ich rannte hinein, zog mich aus und blieb eine Stunde lang unter der Dusche, ließ das kalte Wasser an mir herabströmen, damit es den Schmutz dieser Akten wegwusch, der sich in meinem Kopf und unter meinen Fingernägeln eingenistet hatte. Erst nach dem Abendessen, nachdem meine Töchter ins Bett gegangen waren, erzählte ich es meinem Mann.

Heute ist mir bei der Arbeit etwas Interessantes passiert, begann ich.

Eine Jugend in Teheran

Meine nachsichtige, liebevolle Großmutter, von der wir Kinder nie auch nur ein einziges böses Wort hörten, schimpfte uns am 19. August 1953 zum ersten Mal richtig aus. Wir spielten in einer Ecke des dämmrigen, von Laternenlicht beleuchteten Wohnzimmers, als sie uns mit angespanntem Gesichtsausdruck anfuhr, ruhig zu sein. Es war das Jahr, bevor ich in die Grundschule kam, und meine Familie verbrachte den Sommer im geräumigen Landhaus meines Vaters, das im Randgebiet der westlichen Provinz Hamadan lag, in der meine Eltern aufgewachsen waren. Meine Großmutter besaß ganz in der Nähe ebenfalls ein Haus, und ihre Enkel kamen dort jeden Sommer zusammen, spielten Verstecken in den Obsthainen und kehrten bei Sonnenuntergang zurück, um sich mit den Erwachsenen um das Radio zu setzen. Ich erinnere mich noch lebhaft an jenen Abend, an dem wir mit klebrigen Fingern und von Beerensaft verschmierten Kleidern ins Haus kamen und die Erwachsenen in einer düsteren Stimmung vorfanden. Diesmal beachteten sie unseren Aufzug gar nicht. Sie saßen völlig gebannt und enger zusammengedrängt als sonst um das Radio und hatten die Kupferschalen mit Datteln und Pistazien nicht angerührt. Eine zittrige Stimme in dem batteriebetriebenen Radio verkündete, dass Ministerpräsident Mohammed Mossadegh vier Tage nach den Unruhen in Teheran durch einen Staatsstreich gestürzt worden sei. Wir Kinder kicherten über die niedergeschlagenen Blicke und die ernsten Gesichter der Erwachsenen und huschten aus dem Wohnzimmer, in dem eine Stimmung herrschte wie bei einem Begräbnis.

Die Anhänger des Schahs, die den staatlichen Rundfunk unter ihre Kontrolle gebracht hatten, verkündeten, das iranische Volk habe mit dem Sturz Mossadeghs einen Sieg errungen. Außer denen, die für die Mitwirkung an diesem Staatsstreich bezahlt worden waren, teilten nur wenige diese Einschätzung. Für die Iraner, ob religiös oder nicht, arm oder reich, war Mossadegh weit mehr als ein beliebter Staatsmann. Für sie war er ein geliebter Nationalheld, eine Persönlichkeit, die ihrer begeisterten Verehrung würdig war, ein fähiger Führer an der Spitze ihrer großen Zivilisation mit ihrer über 2500 Jahre alten Geschichte. Zwei Jahre zuvor, 1951, hatte der Ministerpräsident die iranische Ölindustrie verstaatlicht, die bis dahin von westlichen Ölkonsortien kontrolliert worden war. Diese hatten gemäß Verträgen, die für den Iran nur eine geringe Gewinnbeteiligung vorsahen, große Mengen des iranischen Öls gefördert und exportiert. Dieser mutige Schritt, der die Gewinnerwartungen des Westens im ölreichen Mittleren Osten durcheinander brachte, trug Mossadegh die ewige Bewunderung der Iraner ein, die in ihm die Vaterfigur der iranischen Unabhängigkeit sahen, so wie Mahatma Gandhi in Indien dafür verehrt wurde, seine Nation von der britischen Kolonialherrschaft befreit zu haben.

Die Popularität des 1951 durch eine überwältigende Mehrheit demokratisch an die Macht gewählten Mossadegh ging über die Anziehungskraft seines Nationalbewusstseins hinaus. Seine offene Forderung nach Pressefreiheit, sein Hang, die diplomatischen Angelegenheiten von seinem Bett aus zu leiten, sein Studium in der Schweiz und seine iranische Cleverness bezauberten die Menschen, die in ihm einen brillanten, geschickten Führer sahen, der nicht nur ihre Hoffnungen verkörperte, sondern auch ihr kompliziertes Selbstbild – wie sie steckte er voll scheinbarer Widersprüche, vereinte aristokratische Wurzeln und populistische Ambitionen mit einer Empfänglichkeit für die weltlichen Dinge, die jedoch niemals Bündnisse mit mächtigen Geistlichen ausschloss.

Die iranische Verfassung von 1906, die die moderne konstitutionelle Monarchie begründete, verlieh der Monarchie lediglich symbolische Macht. Unter Resa Schah, einem weisen Diktator, der mit Hilfe einer gewissen Unterstützung des Volkes die absolute Macht übernahm, war das Land von 1926 bis 1941 von der Monarchie geprägt. Nachdem jedoch während des Zweiten Weltkrieges britische und russische Truppen den Iran besetzt hatten, war Resa Schah 1941 gezwungen, zugunsten seines Sohnes abzudanken. Der junge Schah leitete eine Periode relativer politischer Offenheit ein, die durch eine größere Pressefreiheit gekennzeichnet war und in der sich das Gleichgewicht der Macht wieder zugunsten der gewählten Regierung verschob; das Parlament und sein Ministerpräsident übernahmen wie in der Verfassung vorgesehen die Kontrolle über die Angelegenheiten des Landes. Während der Ära von Ministerpräsident Mossadegh verlor der Schah an Einfluss, und bis zum Staatsstreich von 1953 wurde das iranische Volk eigentlich erfolgreich von seinen gewählten Vertretern regiert.

1951 wirkte der ungeliebte 32-jährige Schah, der Erbe einer noch sehr jungen, unpopulären, von einem persischen Kosakenoffizier gegründeten Dynastie, neben dem Ministerpräsidenten wie ein nicht eben viel versprechender Grünschnabel. Der Schah, Mohammed Resa Pahlewi, beobachtete besorgt Mossadeghs Aufstieg. Die große Unterstützung, die der Ministerpräsident durch das Volk erfuhr, machte seine eigene Verletzbarkeit als ungeliebter Monarch, der nur seine Generäle, die Vereinigten Staaten und Großbritannien hinter sich hatte, umso deutlicher. Die Verstaatlichung des iranischen Öls durch Mossadegh erzürnte die beiden Westmächte, doch ließen sie sich mit einer Antwort Zeit. 1953 hielten sie die Umstände für günstig, Mossadegh zu stürzen. Kermit Roosevelt, der Enkel von Teddy Roosevelt, kam nach Teheran, um den nervösen Schah zu beruhigen und den Staatsstreich zu lenken. Ihm standen fast eine Million Dollar zur Verfügung, um die Massen im ärmlichen Süden Teherans für organisierte Protestmärsche zu bezahlen und die Herausgeber von Zeitungen zu bestechen, mit falschen Schlagzeilen die zunehmende Unzufriedenheit mit Mossadegh zu propagieren.

Innerhalb von vier Tagen, in denen sich der kränkelnde, angebetete Ministerpräsident in einem Keller versteckte, wurde der käufliche, junge Schah wieder an die Macht gebracht, wofür er Kermit Roosevelt mit den berühmt gewordenen Worten dankte: »Ich verdanke meinen Thron Gott, meinem Volk, meiner Armee und Ihnen.« Es war ein zutiefst demütigender Moment für die Iraner, die zusehen mussten, wie die Vereinigten Staaten in ihre Politik eingriffen, so als ob ihr Land irgendein annektiertes rückständiges Nest sei, dessen Führer ganz nach Laune eines amerikanischen Präsidenten und seiner CIA-Berater ein- oder abgesetzt werden konnten.

Der Schah ordnete einen Militärprozess für Mossadegh an, und die Zeitungen brachten auf ihren Titelseiten Fotos, die den gestürzten Ministerpräsidenten beim Betreten des überfüllten Gerichtssaales zeigten, seine hagere Gestalt und seine Adlernase eindrucksvoller denn je. Der Richter fällte ein Todesurteil, sagte jedoch, er würde die Strafe auf drei Jahre Gefängnis herabmildern, um der unendlichen Gnade des Schahs Tribut zu zollen. Drei Jahre lang ließ man Mossadegh in einem Gefängnis im Zentrum Teherans dahinsiechen. Anschließend zog er sich in sein Dorf in Ahmadabad zurück und verbrachte seinen Ruhestand damit, Briefe seiner erschütterten, treuen Anhänger zu beantworten. In späteren Jahren hingen seine Antworten, geschrieben in seiner feinen, klaren Handschrift, eingerahmt in den Büros führender iranischer Oppositioneller, die den Schah ein Vierteljahrhundert später während der Revolution von 1979 entmachten sollten.

Zwölf Jahre vor dem Staatsstreich, der eine Zäsur in der iranischen Geschichte und im Leben der Menschen darstellte, lernten meine Eltern sich kennen. Sie heirateten, wie es für Iraner ihrer Generation typisch war, gemäß dem traditionellen, als khastegari bekannten Werbungsritual. An einem strahlenden Frühlingsnachmittag im Jahr 1945, an dem von den Bergen her eine kühle Brise über die alte Stadt Hamadan strich, hielt mein Vater im Haus der Familie meiner Mutter um ihre Hand an. Mein Vater und meine Mutter waren entfernte Verwandte und hatten sich einige Monate zuvor im Haus eines Cousins zweiten Grades zum ersten Mal gesehen. Die Familie empfing meinen Vater in ihrem Besucherwohnzimmer, und meine Mutter servierte Tee und shirini (das Wort bedeutet Süßigkeiten und hat den gleichen Ursprung wie mein Name). Während sie vorsichtig und auf anmutige, für genau diesen Anlass einstudierte Weise den mit Kardamom gewürzten Tee eingoss, betrachtete sie das schöne Profil meines Vaters. Für meinen Vater war es Liebe auf den ersten Blick, und bis heute ist mir noch kein Mann begegnet, der seine Frau hingebungsvoller anbetet. Während ihres langen gemeinsamen Lebens sprach er sie ehrfürchtig mit Minu khanum an. Damit fügte er ihrem Namen das formelle persische Wort für »Dame« hinzu, als fürchtete er, die Vertrautheit würde seine Achtung mindern. Sie nannte ihn Mohammad-Ali Khan.

Als meine Mutter heranwuchs, träumte sie davon, Medizin zu studieren und Ärztin zu werden. Doch schon vor dem Tag des khastegari hatte ihre Familie diese Möglichkeit aus Gründen, auf die meine Mutter kaum Einfluss hatte, verworfen. Als sie in die Pubertät kam, entging es niemandem, dass sie sich zu einer auffälligen Schönheit entwickelte. Wäre sie eine Generation früher zur Welt gekommen, als Frauen noch nicht das College besuchten, hätte ihre strahlende, hellhäutige und schlanke Gestalt ihr auf dem Heirats-bazaar sicher einen Vorteil verschafft. Doch für eine junge Frau, die Ende der Zwanzigerjahre geboren worden war, zu einer Zeit, als das Patriarchat langsam seine Kontrolle über die iranische Gesellschaft verlor und einige wenige Frauen an Universitäten aufgenommen wurden, war ihr gutes Aussehen für alle über die Ehe hinausgehenden Pläne eher hinderlich.

Den Schleier trug sie nicht, denn ihre Familie war nicht so traditionsverhaftet, darauf zu bestehen, dass Mädchen ihr Haar bedeckten. Aber sie erlebte das hejab-Verbot als Teil der Modernisierungskampagne, die Resa Schah, der sich 1926 selbst zum Kaiser des Irans krönte, initiierte.

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Shirin Ebadis Mutter

Ein riesiges Land von Dörfern und Kleinbauern über Nacht in einen zentralisierten Staat mit Eisenbahnlinien und einem Rechtssystem zu verwandeln, war allerdings eine schwierige Aufgabe. Resa Schah glaubte, dass dies ohne die Beteiligung der Frauen des Landes nicht möglich sei, und machte sich daran, ihre Emanzipation voranzutreiben, indem er den Schleier, das Symbol des Jochs der Tradition, verbot. Resa Schah war der erste, aber nicht der letzte iranische Herrscher, der ein politisches Programm – Säkularisierung und Modernisierung des Landes, Einschränkung des Einflusses der Geistlichkeit – an der Front der Frauenkörper austrug.

Die Umstände und der Zeitgeist hielten meine Mutter davon ab, die Universität zu besuchen, aber zumindest heiratete sie einen Mann, der so wenig dem Bild eines Patriarchen entsprach, wie es zu seiner Zeit nur möglich war. Mein Vater war ein heiterer Mensch, der sich, auch wenn er wütend war, immer unter Kontrolle hatte und den niemand je dazu bringen konnte, seine Stimme zu heben. Wenn er verärgert oder gereizt war, ging er, die Hände auf dem Rücken, im Haus auf und ab, oder rollte sich sorgfältig eine Zigarre, wobei er vorsichtig Tabak aus einer Silberdose nahm. Er nutzte diese Zeit, um sich zu beruhigen, und hob erst wieder den Kopf, wenn ihm das vollständig gelungen war.

Mein Vater wurde in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Sein Vater, ein Grundbesitzer, diente in den letzten Tagen der Kadjaren-Dynastie, die der Monarchie Resa Schahs vorausging, als Oberst beim Militär. Mein Großvater heiratete eine Kadjaren-Prinzessin, die er sehr liebte. Doch sie konnte ihm keine Kinder schenken. Nach schmerzlichen Jahren gab er schließlich dem Drängen seiner Brüder nach und nahm sich, mit Zustimmung seiner Frau, eine zweite Ehefrau, Shahrbanu, die meinen Vater und meinen Onkel zur Welt brachte. Mein Großvater starb, als mein Vater sieben Jahre alt war, und ließ Shahrbanu mit ihren zwei Kindern alleine zurück. Die Verwandten stritten sich über das Testament meines Großvaters und nahmen der verwitweten Shahrbanu einen Großteil des reichen Besitzes. Entrüstet beschloss sie, sich zur Wehr zu setzen. In der Hoffnung, Geistliche zu finden, die ihr dabei helfen würden, das Sorgerecht für ihre Kinder und den ihr gebliebenen Besitz zu sichern, reiste sie nach Qom, eine der heiligsten Städte des Irans und Sitz der theologischen Schulen des Landes. Mit Hilfe der Geistlichen gelang es ihr, nicht nur ihre beiden Söhne, sondern auch genug Vermögen zu behalten, dass sie ihre Familie ernähren konnte. Damals waren Frauen sich ihrer Rechte nur insoweit bewusst, als sie intuitiv spürten, was richtig und was falsch war. Es war unvorstellbar, dass sie vor Gericht gingen, um zu ihrem Recht zu kommen. Stattdessen baten sie einflussreiche Männer der Gesellschaft – oftmals Geistliche –, ihre Angelegenheiten für sie zu regeln.

Ich wurde am 21. Juni 1947 geboren. Es war der Sommer, bevor wir von Hamadan nach Teheran zogen. Im Mittelpunkt meiner Kindheitserinnerungen steht unser Haus in der Hauptstadt, das in der damaligen Schah-Straße lag (die nach der islamischen Revolution wie die meisten Straßen der Stadt umbenannt wurde). Das sehr große, zweistöckige Haus mit seinen zahlreichen Zimmern war für meine Geschwister und mich ein wahres Spielparadies. Im Stil alter iranischer Häuser war es um einen Hofgarten voller Rosen und weißer Lilien gebaut. In der Mitte gab es einen Teich, in dem ein paar silbrige Fische schwammen, und an Sommerabenden wurden unsere Betten hinausgetragen, damit wir unter den Sternen einschlafen konnten, während die Luft erfüllt war vom Duft der Blumen und die Stille der Nacht vom Zirpen der Grillen. Meine Mutter hielt das Haus blitzsauber – sie konnte keine Unordnung ertragen – und wurde dabei von unseren Hausangestellten unterstützt. Viele der Landarbeiter, die in Hamadan für meinen Vater gearbeitet hatten, waren uns nach Teheran gefolgt. Meine Mutter übertrug jedem Diener eine bestimmte Aufgabe: Einer erledigte die Einkäufe, ein anderer kochte, ein dritter putzte und ein vierter servierte den Gästen die Mahlzeiten und den Tee.

Meine Mutter schien meinen Vater wirklich zu lieben, obwohl ihre Ehe arrangiert worden war und sie davon abgehalten hatte, das College zu besuchen. Sie konnte es kaum erwarten, seine tiefe, volltönende Stimme am Ende des Tages im Hof zu hören. Allerdings wurde sie während ihrer Ehe immer ängstlicher. Wenn wir auch nur fünf Minuten zu spät nach Hause kamen, fanden wir sie in der Gasse vor unserem Haus, außer sich vor Angst, es könnte uns jemand entführt oder überfahren haben. Diese Unruhe wirkte sich auch auf ihren Gesundheitszustand aus. Sie war oft krank und immer wieder in ärztlicher Behandlung. Doch keinem der Ärzte gelang es, die Ursache für ihren ständigen inneren Aufruhr zu finden. Es gab keinen nachvollziehbaren Grund dafür, denn sie hatte großes Glück gehabt: Sie wurde von einem idealen, liebenden Ehemann versorgt, war die Mutter gehorsamer, gesunder Kinder und lebte in guten sozialen und finanziellen Verhältnissen. Das hätte ausgereicht, um die meisten iranischen Frauen ihrer Zeit zufrieden zu stellen. Aber ich kann mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem meine Mutter wirklich glücklich zu sein schien.

Als ich älter wurde, legte meine Mutter noch immer größten Wert auf ein gepflegtes Äußeres und lächelte ruhig, wenn sie in der schattigsten Ecke unseres blitzsauberen Hauses saß und strickte, aber in ihrem Inneren tobte doch immer die Angst, und ihr Körper reagierte darauf mit einer Krankheit nach der anderen. Die dauernde Beschäftigung mit ihrer nachlassenden Gesundheit steigerte ihre Nervosität noch zusätzlich. Eine Weile lang hatte sie Asthma, ging im Haus auf und ab und hatte das Gefühl, zu ersticken. Als ich vierzehn war, heiratete meine ältere Schwester und zog wieder nach Hamadan. Nun war ich das älteste Kind im Haus. Der schlechte Gesundheitszustand meiner Mutter bestimmte unser Leben, und ich hatte ständig Angst, dass sie sterben würde. Nachts lag ich wach, starrte durch das Moskitonetz an die Decke und machte mir Sorgen um meine Geschwister. Was würde aus ihnen werden, wenn unsere Mutter starb? Nacht für Nacht flehte ich Gott an, sie leben zu lassen, bis mein kleiner Bruder und meine kleine Schwester erwachsen wären. Damals dachte ich, ich würde von der Schule gehen und ihre Pflichten im Haus übernehmen müssen, wenn sie starb.

In jenem Jahr schlich ich mich eines Tages auf den Dachboden, um Gottes Hilfe zu erflehen. Bitte, bitte, lass meine Mutter leben, betete ich, damit ich weiter zur Schule gehen kann. Plötzlich überkam mich ein unbeschreibliches Gefühl, das sich von meinem Magen bis in die Fingerspitzen ausbreitete. Innerlich aufgewühlt erschien es mir, als würde Gott mir antworten. Meine Traurigkeit fiel ganz von mir ab, und ich wurde von einer seltsamen Euphorie erfasst. Seit jenem Augenblick ist mein Glaube an Gott unerschütterlich. Zuvor hatte ich meine Gebete nur auswendig dahergesagt, weil man es mir beigebracht hatte, zu beten, so wie man es mir auch beigebracht hatte, mir vor dem Zu-Bett-Gehen das Gesicht zu waschen. Doch von nun an betete ich aus tiefstem Herzen. Es ist schwer, jemandem, der noch nie verliebt war, das Verliebtsein zu erklären, und ebenso schwer ist es, das Erwachen der Spiritualität zu beschreiben. Das Erlebnis auf dem Dachboden erinnert mich an eine Zeile aus einem persischen Gedicht: »Oh du, der du schwer geprüft bist, die Liebe kommt von selbst zu dir, du kannst sie nicht erlernen.«

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Auf der Highschool

Während meiner Kindheit fiel es mir natürlich noch nicht auf, dass unser Haushalt etwas Besonderes war. Für mich war es nichts Ungewöhnliches, dass meine Eltern uns Mädchen genauso behandelten wie meinen Bruder. Es schien völlig normal zu sein, und ich ging davon aus, dass es in jeder anderen Familie so üblich sei. Doch das war zweifellos nicht der Fall. In den meisten iranischen Familien hatten männliche Kinder eine Sonderstellung. Sie wurden von einer Schar von Tanten und weiblichen Verwandten gehätschelt und verwöhnt. Oft fühlten sie sich als Mittelpunkt der Familie. Ihr Ungehorsam blieb unbeachtet oder wurde sogar gelobt, und ihre kulinarischen Vorlieben wurden zur Hauptsorge der Köche. Mit zunehmendem Alter erhielten die Jungen immer mehr Privilegien – sie durften sich zum Beispiel frei in ihrem Viertel bewegen und mit Freunden treffen –, während das Leben der Mädchen immer eingeschränkter wurde, um sicherzustellen, dass sie najeeb blieben, ehrenhaft und wohlerzogen. In der iranischen Kultur galt es als natürlich, dass Väter ihre Söhne mehr liebten. In die Söhne setzten sie all ihre Hoffnungen; Zuneigung zu einem Sohn war eine Investition in die Zukunft.

Meine Eltern behandelten uns alle mit der gleichen Aufmerksamkeit, Zuneigung und Strenge. Ich hatte nie das Gefühl, dass mein Vater sich mehr um Jafar kümmerte, nur weil er ein Junge war, oder dass Jafar etwas Besonderes war. Bis zur Highschool mussten wir alle über unser Kommen und Gehen Rechenschaft ablegen, und von uns allen wurde absolute Pünktlichkeit verlangt. Erst nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte, durfte ich mit meinen Freunden ins Kino oder zu einer Party gehen, das Gleiche galt für meinen Bruder.

Manchmal verwirrte es unsere Hausangestellten, dass mein Vater uns alle auf die gleiche Weise behandelte. Die Diener betrachteten meinen Bruder als ihren zukünftigen Boss, und sie erwarteten, dass er von klein auf das Sagen über das andere Geschlecht hatte. Natürlich hatten sie, die traditionell erzogen worden waren, gelernt, dass Jungen eine besondere Unabhängigkeit und Freiheit verdienten und dazu erzogen werden sollten, als Männer ihre Autorität geltend zu machen. Da ich fünf Jahre älter war als mein Bruder, hatte ich bei Streitereien normalerweise die Oberhand. Meine Eltern bestraften mich nie und machten mir auch keine Vorwürfe. Stattdessen vermittelten sie freundlich zwischen uns, als ginge es um wichtige Friedensverhandlungen unter Erwachsenen. Entsetzt über eine derartige Auflösung der sozialen Ordnung, beklagten sich unsere Angestellten lautstark. »Warum erlauben Sie einem Mädchen, Jafar Khan zu schlagen?«, fragten sie meinen Vater. Er lächelte nur und antwortete: »Es sind Kinder, sie werden sich schon wieder vertragen.«

Erst als ich viel älter war, wurde mir klar, dass die Gleichheit der Geschlechter etwas war, das ich zuerst und vor allem zu Hause erfahren hatte. Erst als ich aus der Perspektive einer Erwachsenen über meinen Platz in der Gesellschaft nachdachte, verstand ich, dass meine Erziehung mich vor dem geringen Selbstbewusstsein und der anerzogenen Abhängigkeit bewahrt hatte, die ich bei Frauen aus traditionelleren Familien beobachtete. Die Tatsache, dass mein Vater meine Unabhängigkeit gefördert hatte – vom Spielplatz bis zu meiner späteren Entscheidung, Richterin zu werden –, hatte mir ein Selbstvertrauen verliehen, das ich nie bewusst wahrnahm, später jedoch als mein wertvollstes Erbe betrachtete.

Wenn ich an diese frühen Jahre zurückdenke, geht es in meinen Erinnerungen meistens um Hamadan und Teheran. Doch abgesehen von meinem religiösen Erwachen auf dem Dachboden ist mir nichts derart präzise im Gedächtnis geblieben wie der Tag, an dem Mossadegh gestürzt wurde. Der Tag, an dem der erste demokratisch gewählte Führer in einem von der CIA und ihrer Marionette organisierten Staatsstreich entmachtet wurde. Ich kann mich zwar kaum daran erinnern, was diesem Ereignis vorausging, und habe auch nur vage Erinnerungen an das Danach. Doch obwohl mir damals die schicksalhafte Bedeutung dieses Tages nicht klar war, erinnere ich mich genau an die Gesichter der Erwachsenen, den Ton, in dem meine Großmutter mit uns sprach und sogar an das Schimmern des hölzernen Radios.

Erst über ein Vierteljahrhundert später, als die islamische Revolution den Sturz des Schahs herbeiführte und Radikale die amerikanische Botschaft besetzten, wurde mir bewusst, welchen Einfluss der Staatsstreich auf die Geschichte des Irans im 20. Jahrhundert hatte. Doch als Kind spürte ich die Auswirkungen von Mossadeghs Sturz zuerst zu Hause. Mein Vater, ein langjähriger Anhänger des abgesetzten Ministerpräsidenten, verlor seinen Posten. Vor dem Staatsstreich war er zum stellvertretenden Landwirtschaftsminister aufgestiegen. Danach bekleidete er jahrelang niedrigere Posten und wurde nie wieder mit einem hochrangigen Amt betraut. Nachdem mein Vater ins Abseits gedrängt worden war, wurde unser Haus zu einer politikfreien Zone. Eine Zeit lang war er ständig zu Hause und schritt nicht nur abends, sondern auch am Tag die Flure auf und ab. Er erklärte uns Kindern nie, was geschehen war, warum er nun den ganzen Tag zu Hause blieb, nachdenklich und ruhig. Wenn etwas Schreckliches passiert, versuchen die Iraner instinktiv, es vor ihren Kindern geheim zu halten. Kinder merken jedoch sofort, dass etwas nicht in Ordnung ist, und müssen nun neben ihrer Unruhe auch noch mit ihrer Unwissenheit fertig werden. Damals beschloss ich, es anders zu machen und mit meinen eigenen Kindern offen über Probleme zu sprechen.

Der Staatsstreich überzeugte viele Iraner davon, dass Politik ein schmutziges Geschäft war, ein kompliziertes Spiel aus in Hinterzimmern eingefädelten Deals und verschleierten Interessen, in dem der kleine Mann lediglich eine Schachfigur war. Der Staatsstreich nährte das Gefühl, dass wir unser Schicksal nicht in der Hand hatten, und verstärkte die Neigung der Menschen zu glauben, dass die Regierung alle Ereignisse für ihre Zwecke ausnutzte. Nach jenem Tag weigerte mein Vater sich, zu Hause über Politik zu diskutieren, denn er wollte verhindern, dass seine Kinder ein Interesse an Prozessen entwickelten, auf die sie keinen Einfluss nehmen konnten. Überzeugt davon, dass eine zerstörte Karriere pro Familie genug sei, bestand er darauf, dass wir hervorragende Universitäten besuchen und dem Land als Technokraten dienen sollten. Deswegen war meine Jugend auch noch in anderer Hinsicht sehr ungewöhnlich: Ich bekam, abgesehen von jenem Abend im Jahr 1953, nichts von Politik mit.

Die Entdeckung der Gerechtigkeit

Das Jahr 1965, in dem ich mein Jurastudium aufnahm, markierte für mich einen Wendepunkt. Die Atmosphäre auf dem Campus der Universität Teheran war nachhaltig geprägt worden von der zunehmend aufgeheizten Politik des Landes, Veränderungen, die ich – in der uns von meinem Vater auferlegten politikfreien Zone – kaum registrierte. Ich hätte nie gedacht, dass sich Jurastudenten derart mit der Politik des Landes auseinander setzen würden, als ich mich zu diesem Studium entschloss. In jenem Jahr kam ich zum ersten Mal mit dem Universitätsleben in Berührung, denn die juristische Fakultät zu besuchen ging im Iran einher mit einem erweiterten Bachelor-Abschluss. Ich hatte zunächst erwogen, Politologie zu studieren, und sah mich gelegentlich als Botschafterin. Doch ehrlich gesagt wusste ich genau, dass ich eine bessere Chance hatte, den concours, die schwierige Aufnahmeprüfung fürs College, in Jura zu bestehen, weil dieses Fach meinen Stärken entgegenkam. Im iranischen Rechtssystem braucht ein Richter nicht zunächst als Anwalt zu praktizieren, und ich nahm mein Studium in der Absicht auf, Richterin zu werden. Mein Kurs war voller Studenten, die Rechtsgelehrte oder wie ich Richter werden wollten. Zwar brüteten wir stundenlang in der Bibliothek über Texten des Strafrechts und versuchten, aktuelle Fälle zu konstruieren, doch konzentrierten sich die meisten meiner Studienkollegen gleichermaßen, wenn nicht sogar noch stärker, auf die sich abzeichnenden politischen Entwicklungen.

Ich erinnere mich an einen Nachmittag, als eine große Schar von Studenten sich vor der Universität Teheran versammelt hatte und alles herausschrie, was nicht sofort zu ihrer Festnahme führen würde. Sie schrien, die Studiengebühren seien zu hoch. Sie schrien, die Universitätsverwaltung sei dafür verantwortlich. Als ich mitten unter den Demonstranten stand, zwischen all den Frauen in Miniröcken und mit kunstvoll toupierten Hochfrisuren sowie den jungen Männern in kurzärmligen Hemden und mit ernsten Gesichtern, spürte ich, dass ihre Energie auf mich übersprang. Proteste zogen mich an wie ein Magnet. Was genau die Studenten skandierten, spielte kaum eine Rolle. Die meisten von ihnen demonstrierten gegen die Studiengebühren, aber selbst wenn sie gegen den in die Höhe schnellenden Teepreis protestiert hätten, hätte ich wahrscheinlich mitgemacht. Irgendetwas an Konfrontationen reizte mich – vielleicht das Adrenalin, der Funke einer Idee, das flüchtige Gefühl, etwas zu bewirken –, und ich nahm regelmäßig an den Demonstrationen teil. Da es Ende der Sechzigerjahre war und die Studenten fast jeden zweiten Tag demonstrierten, kam ich ganz auf meine Kosten.

Die Demonstrationen beunruhigten den Savak, die Geheimpolizei des Schahs, die den Campus durchkämmte, so wie sie auch die Straßen der meisten iranischen Städte durchkämmte und iranische Studentengruppen in den USA und Europa unter die Lupe nahm, um Dissidenten aufzuspüren, deren politische Aktivitäten über die in Mode gekommene Teilnahme an Demonstrationen hinausging. Denn welcher junge Mensch im Iran – ob religiös oder nicht, intellektuell oder Angehöriger der oberen Zehntausend, ernsthaft oder nur neugierig – ging nicht gelegentlich zu Demonstrationen? Es bedurfte der Energie und der Ressourcen eines massiven politischen Apparates, um herauszufinden, wer tatsächlich das Schahregime zu untergraben plante und wer einfach nur wissen wollte, worum es bei diesem ganzen Spektakel ging. Um nicht in die Klauen des Savak zu geraten, gaben die Studenten vor, gegen die Studiengebühren zu protestieren. Dabei wollten sie eigentlich Dinge rufen wie: »Hör auf, unsere Öleinkünfte für amerikanische Kampfflugzeuge zu verschwenden!« oder »Komm aus St. Moritz zurück und kümmere dich gefälligst um die Armut in den Städten!«.

An jenem Tag hielt ich Ausschau nach meinen Freundinnen und ließ den Blick über die Grünflächen und die schlichten, aber eleganten Gebäude schweifen, die zum riesigen Campus einer der wenigen guten Universitäten eines Landes gehörten, das sich angesichts seiner Öleinkünfte viele weitere dieser Art hätte leisten sollen. Wie die meisten meiner Freundinnen, die an jenem Tag hier und da in der Menge zu finden waren, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass diese Demonstrationen den Beginn einer neuen Ära einläuteten. Ich hätte nie gedacht, dass sie eines Tages unser Leben verändern, die Welt erschüttern und die letzte große Revolution des 20. Jahrhunderts hervorbringen würden. Sie gehörten zu unserem Leben an der Universität, ein nachmittäglicher Adrenalinstoß, bevor wir nach Vorlesungsschluss hinüber zu dem in Uninähe gelegenen Kaffeehaus gingen, um Eiskaffee zu trinken.

An jenem Tag gingen wir jedoch nicht ins Kaffeehaus, denn an der Straße parkte der klobige weiße Paykan einer meiner Freundinnen. Wir quetschten uns zu sechst in den Wagen und fuhren Richtung Norden nach Darband, denn dort, in den Ausläufern des Elbursgebirges, das den nördlichsten Rand der Stadt säumt, gab es unzählige Cafés und Restaurants. Man könnte meinen, dass wir, da wir gerade von einer Protestkundgebung kamen, uns zumindest am Rande über ernsthafte Dinge unterhalten hätten. Aber so war es nicht. Wir plauderten über Kommilitoninnen, Filme, das Ziel unseres nächsten Ausflugs, allerlei Dinge, über die junge Studentinnen reden. Damals war es an der Uni groß in Mode, sich einen intellektuellen Anstrich zu geben und in einer Unterhaltung geschickt die Mängel des Schahregimes zu sezieren, doch ehrlich gesagt kümmerten uns solche Fragen nicht sonderlich.

Als wir im Schneckentempo nach Norden fuhren – der Verkehr rauschte in der entgegengesetzten Richtung an uns vorbei –, war überall die Verwandlung Teherans von der von Obstplantagen umgebenen Hauptstadt in eine wild wuchernde urbane Metropole zu erkennen. An jeder zweiten Straßenecke standen Baugerüste, Lastwagen mit Zementsäcken und Holzbrettern durchquerten die Stadt wie Ameisenarbeiterinnen, Kino-Reklametafeln mit Bildern von europäischen Filmstars ragten über geschäftige Plätze, und Kioske boten Magazine mit amerikanischen Filmsternchen im Bikini feil. Es war schon jetzt eine andere Stadt als das Teheran meiner Jugend – mehr Slums, mehr Restaurants, mehr Kinos, mehr junge Männer aus der Provinz in staubigen Kleidern und mit von Schlamm bedeckten Schuhen, auf dem Weg zu oder von ihrer Arbeit.

Neugierig darauf, mit eigenen Augen die für ihre Eleganz berühmten französischen Restaurants in Darband zu sehen, hatten wir uns in Erwartung eines fantastischen Mittagessens tagelang Geld vom Munde abgespart. Wir wählten ein Restaurant, von dessen geschmackvoll gedeckten Tischen aus ein kleines Flüsschen zu sehen war, das sich durch die Ausläufer des Elburs hinabschlängelte. Ein adrett gekleideter Kellner reichte uns die Speisekarten. Erschreckt ließen wir die Augen über die unverschämten Preise wandern. Wir würden uns auf keinen Fall mehr als ein Getränk auf der Speisekarte leisten können. Um uns aus dieser misslichen Lage zu befreien, beschlossen wir, nach dem Gericht zu fragen, das sie, wie wir wussten, nicht servieren würden: kabab-kubideh, einen einfachen Spieß mit Rinderhackfleisch, der unter den Gratins und den Coq-au-Vin-Spezialitäten, die die Speisekarte dominierten, nichts zu suchen hatte. Der Kellner schüttelte den Kopf, und wir standen auf und gaben vor, zutiefst enttäuscht zu sein.

Von jenem Tag an ignorierten wir die Erzählungen über die feineren Vergnügungen Teherans, über das griechische Restaurant, in dem man die Teller kaputtschlug, oder die Terrassencafés, in denen fein gekleidete Paare den Four Tops lauschten, während sie an ihrem Wodka-Tonic nippten. Wir beschränkten unsere Ausflüge auf bescheidenere Restaurants in Shemiran – das sowohl geografisch als auch im übertragenen Sinn die Grenze zum Norden Teherans markiert –, wo man immerhin zu dritt sein Geld zusammenlegen und sich einen Eisbecher teilen konnte.

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Auf dem College. Shirin Ebadi in der Mitte

Wir verkehrten in gemischten Gruppen von Frauen und Männern und hielten uns dabei an bestimmte Regeln. Ja, es war die Ära des Minirocks, und in der Universität und überall in der Stadt entblößten modebewusste junge Frauen als Hommage an Twiggy, die Modeikone jener Zeit, ihre Beine. Doch die Nachahmung der westlichen Mode war kaum mehr als ein Trend. Die Studenten der Universität Teheran kamen aus der Mittelschicht oder der Arbeiterklasse und betrachteten ihr gesellschaftliches Leben nicht als Experimentierfeld. Wir trugen zwar keine Schleier – tatsächlich fielen die drei Frauen an unserer Universität, die dies taten, auf –, aber wir hatten auch keinen Freund im westlichen Sinn des Wortes. Wir trafen uns auf einen Kaffee oder zu Wochenendausflügen in gemischten Gruppen, und obwohl Männer und Frauen zusammen in der Bibliothek studierten, saßen die Frauen während der Vorlesungen noch immer in den vorderen Reihen, die Männer in den hinteren.

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Mit Freunden aus dem College. Shirin Ebadi in der Mitte

In den Augen konservativer Geistlicher war die Universität eine Lasterhöhle, ein verderbter Ort, an dem Männer und Frauen unter dem Vorwand, gemeinsam zu lernen, sündigten. In den der Tradition verhafteten Schichten hatte der Vater das Sagen, der seine Töchter lieber im heimischen Hof eingeschlossen sah, wo sie Kräuter für das Abendessen hackten, statt sie zur Schule zu schicken. In diesen Kreisen wurde der Minirock zum Symbol für die Invasion der westlichen Kultur, ja, zur perfekten Ausrede, um schon allein den Gedanken an ein Universitätsstudium zu verwerfen.

Gegen Ende der Sechzigerjahre wurde die politische Atmosphäre im Land immer aufgeheizter. 1964, in dem Jahr bevor ich mein Jurastudium aufnahm, hatte der Schah den bis dahin wenig bekannten, missmutigen Geistlichen Ayatollah Ruhollah Khomeini wegen seiner feurigen Predigten, in denen er auf clevere Weise die Regierung angriff, nach Najaf im Irak vertrieben. Doch außer dem nun abwesenden Ayatollah waren noch keine Ideologie und kein Führer aufgetaucht, die die Unzufriedenheit der Einzelnen zu einer Anti-Schah-Bewegung hätten zusammenführen können. Das machte es leicht, gegen den Schah zu opponieren, denn die meisten Leute, die nicht direkt mit der Hofelite in Verbindung standen, hatten irgendetwas an ihm auszusetzen, und ein kritischer Standpunkt brachte einen nicht unmittelbar mit einem bestimmten gegnerischen Lager in Verbindung. Ein Schah-Gegner zu sein, hieß in jenen Tagen nicht automatisch, für Ayatollah Khomeini zu sein. Wenn ich in den Korridoren Bruchstücke politischer Unterhaltungen hörte, hatte ich oft den Eindruck, dass die Studenten immer schahfeindlicher wurden, ohne zu wissen, warum, so als sei dies, wie etwa die Lektüre der Werke von Simone de Beauvoir, ein Zeichen für ihren intellektuellen Status.

Eines Morgens kam einer der Jurastudenten aus dem 4. Semester, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, zu spät zu unserem Französischunterricht. Wir nahmen an, einer seiner Verwandten sei gestorben, und fragten behutsam nach. »Ich trauere um Mossadegh«, verkündete er. Wir dachten, er meine unseren Studienkollegen Hamid Mossadegh, einen beliebten jungen Dichter, mit dem wir uns gelegentlich zum Tee in der Cafeteria trafen. »So jung! Wie schrecklich! War er krank?«, stießen wir hervor und ließen uns bestürzt darüber aus, wie ungerecht es sei, so früh sterben zu müssen. »Ich meine Dr. Mossadegh«, unterbrach uns der schwarz gekleidete junge Mann. »Ach der, er war doch sowieso schon ziemlich alt!«, sagten wir und seufzten erleichtert. Der Student starrte uns völlig entgeistert an, machte auf dem Absatz kehrt und redete eine Woche lang nicht mehr mit uns.

Als die Zeitungen von Mossadeghs Tod berichteten und ich zu Hause miterlebte, wie mein Vater darauf reagierte, schämte ich mich meiner Ignoranz. Der ehemalige Ministerpräsident, Mohammed Mossadegh, war nicht einfach ein gestürzter Staatsmann, sondern einer der größten Führer unserer Geschichte, der unser Land während des nach vielen Jahrhunderten ersten Aufflackerns der Demokratie regiert hatte. Selbst in seinen letzten Jahren – bevor er an Krebs erkrankte und in einem Teheraner Krankenhaus starb – war der Nachhall seiner abrupt beendeten politischen Laufbahn überall im Iran spürbar. Mossadeghs Sturz hatte einen dauerhaften Groll gegen den Westen, insbesondere die USA, hervorgerufen, der mit der Zeit noch bitterer wurde. Der alte Ministerpräsident starb zwar eines natürlichen Todes, wurde jedoch wie ein großer Held und Märtyrer betrauert, der in einer epischen Schlacht gefallen war. Die Intensität der Trauer junger Iraner spiegelte auch ihre wachsende Entfremdung vom Schah-Regime wider, die mit jedem Tag zunahm und eine immer klarere Richtung bekam.

Im März 1970 wurde ich im Alter von dreiundzwanzig Jahren Richterin. Das iranische Rechtssystem sah kein Mindestalter für diese Position vor. Zusammen mit meinen rund zwanzig Studienkolleginnen hatte ich die letzten beiden Jahre des Jurastudiums damit verbracht, in den verschiedenen Abteilungen des Justizministeriums ein Praktikum zu absolvieren. In vielen Fällen gestatteten uns die Bezirksrichter, sobald sie unsere Gesetzeskenntnisse für ausreichend hielten, den Vorsitz im Gerichtssaal zu führen. Nachdem wir unseren Hochschulabschluss gemacht und zwei Jahre lang als Praktikantinnen Erfahrungen gesammelt hatten, waren wir berechtigt, Richterin zu werden.

Bei der Vereidigungszeremonie, der der Justizminister, hochrangige Richter und Juraprofessoren beiwohnten, mussten die beiden besten Studenten des Jahrgangs einen riesigen Koran zum Podium tragen. Ich war sehr klein und der andere Student besonders groß. Während wir über die Bühne stolperten, schwang der Koran hin und her und neigte sich zu einer Seite. »Halt ihn tiefer«, zischte ich meinem Mitträger zu, und kämpfte darum, das Gleichgewicht zu halten. »Halt ihn höher«, flüsterte er ärgerlich zurück. Schließlich schafften wir es, das schwere heilige Buch zu seinem Bestimmungsort zu schleppen, und ich hielt mit lauter, kristallklarer Stimme meine Rede. Ich las den Eid vor, die anderen Studenten sprachen ihn mir nach, und wir verließen die Bühne. Von nun an, so war unsere feste Überzeugung, würden wir uns für den Rest unseres Lebens in den Dienst der Gerechtigkeit stellen.

Der Beginn meines Berufslebens fiel in eine Zeit, in der es noch möglich war, für eine Institution einer unpopulären Regierung zu arbeiten, ohne das Gefühl zu haben, Partei ergreifen zu müssen. Die meisten Iraner regten sich über die Exzesse und die Repressionen der Schahregierung auf, doch diese Unzufriedenheit führte nicht zu einer unüberwindbaren Kluft zwischen der Bevölkerung und dem Regime oder dazu, auch einzelnen Zweigen der Regierung wie der Judikative zu misstrauen. Obwohl sie schon beim bloßen Gedanken an den Savak zitterten, vertrauten die Menschen noch immer dem Rechtssystem und glaubten fest daran, dass die Gesetze ihre Rechte schützen würden.

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Abschluss des Jura-Studiums mit 22 Jahren