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Zeitschrift für Ideengeschichte
Heft VII/4 Winter 2013

Die spinnen

Herausgegeben von
Ulrike Gleixner & Christian Heitzmann

 

ZUM THEMA

Ulrike Gleixner, Christian Heitzmann: Zum Thema

DIE SPINNEN

Anthony Grafton: Subtile Jagden. Die Gelehrtenrepublik
in den amerikanischen Kolonien

Stefan Laube: Tückische Transparenz.
Überlegungen vor und hinter dem Netz

Ina Schabert: Fadenwerk mit Löchern.
Weibliche Netze in der Frühen Neuzeit

Andrea Rapp/Michael Bender: Die Memex-Idee.
Vannevar Bush und die maschinelle Erweiterung
des Denkens

GESPRÄCH

Bruno Latour: Existenzweisen der Moderne.
Ein Gespräch mit John Tresch

ESSAY

Günter Figal: Gibt es noch Philosophie?

DENKBILD

Yannis Hadjinicolaou: Blick durch zerstörte Dächer.
Demetros Anastasatos’ konservative Ästhetik

ARCHIV

Martin Mulsow: Politische Bukolik.
Hermann von der Hardts Geheimbotschaften

KONZEPT & KRITIK

Warren Breckman: Derrida im Kontext

Marcel Lepper: Das Politische der Philologie

Philipp Müller: Das Spinnennetz der Geschichte

Die Autorinnen und Autoren

   
 

Im nächsten Heft: Apokalypse. Mit Beiträgen von Egon Flaig, Margarete Pratschke und einem Essay von Roberto Zapperi

 

 

Zum Thema

 

 

Ein Titel, der mit diesen Worten beginnt, kann nur mit den Römern enden, denn die spinnen, die Römer, das haben wir gelesen. Deren kriegerische Aufrüstung schafft keine Verbindungen, keine Netze – ihre hoffnungsvolle Anstrengung ist vergeblich. Zerstörerisches Handeln hat nicht das Netze-Spinnen im Sinn. Und ohne Mühe sind wir schon inmitten der frühneuzeitlichen Assoziationskultur eingetroffen.

Gedankliche Verknüpfungen und intertextuelle Verbindungen beschreiben die Praxis des belesenen Polyhistors. Gelehrsame Praxis heißt lesen, kompilieren, Verknüpfungen erstellen, indexieren, den beständigen Sprachenwechsel einbegriffen. Geschrieben wird für die männlichen und weiblichen Bewohner der Gelehrtenrepublik, für Schüler und Kollegen. Das Interesse gilt dem Weltwissen, den anderen Sprachen, Kulturen und schließlich der moralischen und religiösen Reflexion, die aus den Wissensverknüpfungen abgeleitet wird.

Die Vormoderne ist geprägt von Gruppenkulturen mit ihren jeweiligen Verflechtungen von Regeln, Normen und Werten. In der Republik der gelehrten Frauen und Männer ist der Brief das Medium, durch den sich die Schreibenden verbinden, ihre Ideen transferieren und ihre Befindlichkeiten mitteilen. Überall sind Netze, und über Kontinente hinweg werden diese gesponnen. Soziale Netzwerke entwickeln sich jenseits staatlicher Institutionen mit einer ständetranszendierenden Dynamik. Anti-Sklavereibewegung und Philanthropismus praktizierten wie auch die Frauenbewegung die Internationalisierung reformorientierter Netzwerke.

Aber selbst der beste Netzarbeiter hat nicht alle Fäden in der Hand. Neugier, der Drang nach Austausch und Wissen wecken das Bedürfnis, allseits Verbindungen einzugehen. Doch nicht immer ist das dem gewünschten Gegenüber willkommen. Netze können auch fernhalten und ausgrenzen – und sie können kontrolliert werden. Wie seit Jahrhunderten sind Geschlecht, Glaube, Bildung und Wohlstand Kriterien der Ungleichheit, an der die Teilhabe am gemeinsamen Weiterspinnen scheitern kann. Der Drang ins Netz, wo Gedanken, Ideen und Wissen verknüpft werden, verlangt seit jeher Einsatz und Fantasie.

Versteht man Vernetzung als eine Verbindung von Entitäten, die neue Ordnungen, Sinnzusammenhänge und Handlungsdynamiken hervorbringt, so lässt sich für die Vormoderne eine Fülle von Vernetzungsprozessen beobachten. Politik und Religion werden in epochenspezifischer Weise verflochten. Lokale Ökonomien und Märkte werden durch Expansion neu strukturiert und vernetzt. Ein Transfer von Experten, Ideen und Gegenständen erfolgt über transkontinentale Distanzen. Städte, Klöster und Höfe bilden als vernetzende Knoten zentrale Orte. Als Raster für Kunst und Architektur der Renaissance ermöglicht das Netz eine Raumordnung. Selbst im Grundlagentext des Christentums ist dessen Verbreitungsmission mit dem Fischernetz versinnbildlicht. Als Jesus die Brüder Petrus und Andreas ihre Netze ins Meer werfen sieht, will er sie zu Menschenfischern machen (Mt 4,18–19).

Die Lesezeit hat sich nicht vermehrt, und die Wissensberge sind zu Gebirgen geworden. Eine phantastische digitale Bibliothek und ein gigantisches Textarchiv stehen zur Verfügung, und die Geschwindigkeit der Verknüpfungsoption hat rasant zugenommen. Das scheint im Kern die Innovation des digitalen Netzes zu sein. Die Techniken der Wissensproduktion aber sind alt. Gejagte sind wir, atemlos ist die kursorische Lektüre, und rasch weiter hüpfend nehmen wir die angebotenen Verknüpfungen flüchtig zur Kenntnis. Wozu die Aufgeregtheit? Das Tagging ersetzt das Denken nicht, hier bleibt man für sich – ein Glück!

 

Ulrike Gleixner
Christian Heitzmann

Die spinnen

ANTHONY GRAFTON

Subtile Jagden

Die Gelehrtenrepublik in den amerikanischen Kolonien

 

 

In unseren Tagen zieht die Gelehrtenrepublik Historiker an wie ein Laib Brot die Hungrigen.[1] Das war nicht immer so. In den 1930er Jahren interessierten sich nur wenige Geschichtswissenschaftler für diese untergegangene imaginäre Gemeinschaft von Gelehrten, vor allem Idealisten wie Paul Hazard. In den folgenden zwei Jahrzehnten waren es zumal antikommunistische Internationalisten wie Hugh Trevor-Roper, die ihr Andenken in Ehren hielten. Seit den 1990er Jahren jedoch hat sie sich in ein blühendes Feld historischer Forschung verwandelt: Wie die Stanforder Historikerin Caroline Winterer unlängst feststellte, war die Gelehrtenrepublik in den vergangenen zwanzig Jahren Gegenstand von 24 Büchern und sieben Dissertationen.[2] Der Grund dafür ist einigermaßen offensichtlich. In einer Zeit, in der Airport-Englisch zur Lingua franca der Wissenschaft geworden ist, fasziniert uns eine ältere Welt, in der erst Latein und dann Französisch demselben Zweck dienten, ebenso durch ihre Ähnlichkeit, wie sie uns durch ihre klaren Unterschiede herausfordert. Und in einer Zeit, in der Forscherinnen und Forscher weltweit per Email, Facebook und Twitter miteinander kommunizieren, fasziniert uns eine ältere Welt, in der Diskursgemeinschaften durch Tausende und Abertausende von Briefen zusammengehalten wurden, erst recht, insofern Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit ersichtlich miteinander verschmelzen.

Das wachsende Interesse führte zu einem stark erhöhten Diskussionsbedarf. Einige Forscher argumentieren, die Gelehrtenrepublik habe sich – in einigen bestimmten Fällen – aus einer Reihe von Gleichheits- und Toleranzidealen in eine reale, wenn auch flüchtige Gemeinschaft verwandelt. Wenigstens einige ihrer Mitglieder hätten versucht, sich in der Praxis an ihren regulativen Ideen zu orientieren und Beziehungen über konfessionelle und politische Gräben hinweg zu knüpfen. Andere Wissenschaftler behaupten, diese Republik habe nie wirklich existiert – außer vielleicht als polemische Krücke, die einer ihrer vermeintlichen Angehörigen drohend erhob, wenn ein anderer sich seiner Meinung nach danebenbenommen hatte. Wieder andere Stimmen sagen, dass die Gelehrtenrepublik eine von vielen Erscheinungsformen ganz normaler gesellschaftlicher Ideale wie Höflichkeit und Gastlichkeit war – Ideale, die wie üblich vor allem jenen gegenüber galten, mit denen man ein Glaubensbekenntnis und oft auch einen Monarchen oder eine Stadt teilte. Einige jüngere Ansätze betonen den integrativen Charakter einer Gesellschaft, die Frauen wie Männer umfasste, und beziehen die Gelehrten des konfuzianischen China in den imaginären Kollegenkreis ein; andere betonen den repressiven Charakter einer Gesellschaft, die manche ihrer wagemutigsten Mitglieder gerade in dem Moment unbarmherzig ausschloss, als ihre Ideale nach Toleranz und Billigung zu verlangen schienen. Dies alles ist eine günstige Situation für Doktoranden, die nach neuen Themen suchen – und eine traurige für Leser, die auf einen Konsens hoffen.[3]

Im Großteil ihres Aufsatzes wirft Winterer wichtige Fragen nach der Präsenz der Gelehrtenrepublik in Britisch-Amerika auf. Sie erörtert deren Verhältnis zur atlantischen Welt – das einen großen Stellenwert in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung einnimmt. Sie verweist auf das Übergewicht an Protestanten in der geistigen Welt Britisch-Amerikas, die relative Abwesenheit von Geistlichen und die zentrale Bedeutung Londons. In den katholischen Ländern des Südens war die Situation grundverschieden, wie die Verfasserin feststellt: Dort webten Mitglieder des Jesuitenordens jenes Netz an Korrespondenzen, welches Athanasius Kircher mit Priestern in Neuspanien in Kontakt brachte und dazu beitrug, dass die Dichterin Sor Juana mit seinem Werk in Berührung kam – und von ihm in Bann geschlagen wurde. Am interessantesten für meine Zwecke hier ist aber, dass sie auf eine brillante aktuelle Biographie des Alchemisten und Gouverneurs von Connecticut, John Winthrop, Jr., aufmerksam macht. Wie Walter Woodwards Buch über Winthrop, Prospero’s America, zeigt, gelang es Winthrop ein Jahrhundert vor Franklin, inmitten der rauen Welt der neugegründeten amerikanischen Kolonien ein Leben zu führen, das einem ganz bestimmten Typus von europäischem Gelehrten angemessen gewesen wäre. Als sprachgewandter Latinist, der mit Kollegen in ganz Europa in Verbindung stand, war Winthrop von älteren Traditionen wie zeitgenössischen innovativen Perspektiven gleichermaßen fasziniert.[4]

Winthrop war nicht allein – und einige seiner Kollegen in der amerikanischen Provinz der Gelehrtenrepublik ähnelten ihren europäischen Pendants noch stärker. Nehmen wir zum Beispiel Francis Daniel Pastorius (1651 bis 1719).[5] Latein war nicht nur seine bevorzugte Sprache für die Dichtung, sondern auch sein vorrangiges Instrument zum Knüpfen von Netzwerken. Auf dem Schiff, das ihn in die Neue Welt brachte, lernte Pastorius William Penn und Thomas Lloyd kennen. Mit Lloyd knüpfte er eine lebenslange Freundschaft an – Pastorius wurde zum Mentor von Lloyds Kindern und Enkelkindern –, während sie auf Latein miteinander plauderten (mit Penn sprach er Französisch). Was Penns Zuneigung für Pastorius weckte, war indes die etwas vollmundige Inschrift, die der Deutsche über der Eingangstür seines ersten kleinen Hauses in Pennsylvania angebracht hatte: «Parva domus sed amica bonis, procul este prophani» – Es ist ein kleines Haus, guten Menschen aber wohlgesonnen: Gottlose, haltet euch fern.[6] Der zweite Teil dieser Inschrift war ein Zitat aus Vergils Aeneis. Im sechsten Gesang des Epos kommt Aeneas mit den Trojanern nach Cumae, wo ihm die Sibylle erklärt, wie er in die Unterwelt hinabsteigen kann. Während den unterweltlichen Göttern Pluto und Proserpina auf Geheiß der Sibylle Opfer gebracht werden, ruft sie: «procul, o procul este, profani […] totoque absistite luco.» (Haltet euch ferne, ihr nicht geweihten Gemeinen […], wartet abseits des heiligen Haines!) (Aeneis, 6.258f.) Die Inkongruenz des hochgestochenen Satzes über der niedrigen Tür eines schlichten Heims scheint Penn entzückt zu haben. Der Überlieferung zufolge lachte er sogar, als er das sah – das eine von zwei Malen, die er überhaupt je lachte –, und zwischen ihm und Pastorius waren Bande geknüpft.[7] Selbst für die Gründung des von ihm erhofften kleinen Utopia, in dem die Bibel regieren sollte, bediente sich Pastorius der Klassiker, um seine eigenen Lebensumstände zu erhellen – und ironisch zu umspielen.

Als Sohn einer wohlhabenden lutheranischen Familie im fränkischen Sommerhausen geboren, studierte Pastorius Jura in Altdorf, Straßburg und Jena. Von dem Pietisten Philipp Jakob Spener angeregt, kam er im Juni 1683 auf der Suche nach einem einfacheren und frommeren Leben nach Amerika. Die Einfachheit erwies sich freilich als trügerisch. Pastorius verbrachte sein Leben in dem Land, aus dem das heutige Pennsylvania hervorging. Er arbeitete hart in seinen verschiedenen Berufen und versuchte, einer Flut von Informationen Herr zu werden. Seine juristische und politische Tätigkeit als Abgesandter der Frankfurter-Land-Kompagnie sowie als Friedensrichter, Regionalpolitiker, Kreisverwalter und Bürgermeister von Germantown erforderten es, dass er die Gesetze von Pennsylvania beherrschte.[8] Seine leidenschaftlichen religiösen Überzeugungen veranlassten ihn dazu, jeden Quäkertext aufzutreiben und in sich aufzusaugen, den er in die Finger bekommen konnte – vor allem in seinen frühen amerikanischen Jahren, in denen englischsprachige Werke der Quäker leichter zugänglich waren als andere Bücher.[9] Pastorius’ Notizen und Schriften dienten dabei überwiegend unmittelbar praktischen Zwecken. Seine Young Country Clerk’s Collection fasste die Rechtspraxis in Pennsylvania, die er aus erster Hand kannte, in allen Details zusammen. Ein von ihm verfasstes Lehrbuch spiegelte seine Erfahrungen als Lehrer in Germantown und Philadelphia wider.

Pastorius’ Geist aber – oder zumindest seine Bücher – schwirrten vor Poesie und Prosa, Sprichwörtern und biblischen Versen, essbaren Hülsenfrüchten und Regeln der Landvermessung, Bibliographien und Geschichten über Autoren. Er speicherte dieses ganze Material zur späteren Verwendung durch sich selbst und seine Söhne in Form von Randnotizen in seiner Büchersammlung sowie in großartigen Informationsspeichern, von denen das beeindruckendste sein Bee-Hive ist – ein gewaltiges Kollektaneenbuch und zugleich eines der Prunkstücke der Van Pelt Library an der Universität von Pennsylvania.[10] Pastorius’ Anmerkungen in seinen Büchern und Notizbüchern sind verwirrend. Ihre Lektüre gleicht dem Besuch eines Spiegelkabinetts, in dem Texte aller Art – Exzerpte und Geschichten, Witze und Nachdenkliches, Geschichte und Alchemie, Anekdoten über Pferde und Hunde – den Platz der Zerrspiegel einnehmen. Gegenstände und Sprachen gehen in beständiger Metamorphose ineinander über. Assoziationen hatten für Pastorius so ziemlich dieselbe Funktion wie für uns heute Weblinks, insofern sie dazu verführten und es ermöglichten, von einem Text oder Thema zum nächsten zu springen. Noch das kleinste Schlagwort eines großen Textes löste bei ihm Assoziationen aus, die ihn anspornten, sich Passagen aus anderen Texten in Erinnerung zu rufen und sie festzuhalten.

In diesem Zusammenhang wie in so vielen anderen zehrte Pastorius von Praktiken, die in Europa gängig waren. Seit Generationen hatten Europas gelehrte Humanisten die Titelseiten ihrer Bücher mit allem Möglichen geschmückt, von Signaturen, mit denen sie ihren Besitzanspruch anmeldeten, bis zu Motti in gelehrten Sprachen – ganz zu schweigen von anspielungsreichen Kommentaren zu den folgenden Texten. Selbst breite Seitenränder waren nicht breit genug, um all das aufzunehmen, was die Kommentatoren festhalten wollten – lebten sie doch in einem Zeitalter, in dem Bücher die wichtigsten Quellen von Wissen über das Leben, das Universum und überhaupt alles waren. Ihrem Wesen nach ließen sich Randbemerkungen nur schwer überblicken und per Register erschließen.[11] Ausführlichere Notizen und Exzerpte fanden ihren Weg in Schreibhefte, wo ihre Besitzer sie festhielten, während sie lasen oder exzerpierten und ihr Material unter thematischen Überschriften organisierten, um es später wiederzufinden.

Die Gelehrtenrepublikaner verwandelten die Lektüre in ein regelrechtes Handwerk und praktizierten sie auf explizit reflektierte Weise. Viele von ihnen gaben vorab die Spielregeln des Interpretierens und Notierens an, bevor sie damit begannen, einen Text zu annotieren. Manche dokumentierten auch ihr eigenes Leben in und mit Büchern in höchst lesbarer Form, wobei sie mit sturer Entschlossenheit eine gewaltige Anstrengung in Sachen persönlicher und physischer Selbstdisziplin auf sich nahmen. Denn sie alle verstanden das Lesen als eine zutiefst ernste Angelegenheit: unverzichtbar für die praktischen Dinge des täglichen Lebens und für die Formung einer religiösen Identität, für das Anhäufen von kulturellem Kapital und für das Knüpfen von Verbindungen zu anderen leidenschaftlichen Lesern. Jeder wusste – und sagte –, dass er mehr tat, als scheinbar flüchtigen Eindrücken ein Denkmal zu setzen. Nein, diese Gelehrten gruben sich ihre persönlichen Nischen in einer humanistischen Tradition. Diese Männer dramatisierten die Lektüre als einen Akt, der in einem Zustand gebannter Aufmerksamkeit vollzogen werden musste, der rituell eingeleitet wurde und von kunstreichem Zubehör begleitet war. Casaubon legte Wert darauf, nur mit frisch gekämmtem Haar in sein Arbeitszimmer hinaufzusteigen, um sich dort mit den Alten zu besprechen.[12]

Pastorius’ kostbare Exemplare mehrerer Werke des Leidener Universalhistorikers Georg Horn, die sich heute im Besitz der Library Company of Philadephia befinden, zeigen, wie eng er sich an diese Traditionen anlehnte. Diese Bücher enthalten jedes denkbare Anzeichen einer engagierten Lektüre im Bravourstil der späthumanistischen Gelehrtenrepublik – ein Stil, der Randnotizen mit dem Sammeln von Lesefrüchten in einem einzigen komplizierten System des Speicherns und Wiederauffindens von Informationen verband. Pastorius schrieb regelmäßig lateinische Motti, wie sie einem auf sein Wissen stolzen studentischen Leser gut zu Gesicht gestanden hätten, auf die Titelblätter seiner Bücher. Neben das Bild eines Schiffes unter vollen Segeln am Beginn des Orbis imperans schrieb er: «Quo me Fata trahunt: retrahuntque» – wohin auch immer die Parzen mich verschleppen, und dann schleppen sie mich zurück; diesen Spruch dürfte er höchstwahrscheinlich in einer früheren Sammlung gefunden haben.[13] Er gab auch Orientierungshilfen zu ihrem Inhalt – wie in der Notiz, in der er die göttliche Naturgeschichte zusammenfasste, die Horns Arca Mosis zugrunde lag.[14]

Vor allem führte Pastorius einen aktiven Dialog mit seinen Büchern. Manchmal nahmen seine Kommentare die bescheidene Form lateinischer Witze und Wortspiele an. Als Horn die Reform des Reichskammergerichts durch Karl V. erwähnt, der das Gericht in Speyer (lat. Spira) ansiedelte, notiert Pastorius: «in qua plurimae lites spirant, sed non expirant» – wo viele Prozesse Atem schöpfen, aber nie ihren letzten Atem aushauchen.[15] Manchmal reagierte er direkt auf den Text – etwa als er im Orbis politicus auf eine Passage stieß, die Quäker, Shaker und Quintomonarchisten (Fifth Monarchy Men) im Wesentlichen als Sektierer ein und derselben Sorte beschrieb. Pastorius strich diese Passage durch und schrieb darunter: «haec ultima falsa» – dies letztere ist falsch.[16] Hier stellte er sich in eine Tradition, die bis auf Petrarca zurückreichte: Dieser erörterte seine Ansichten regelmäßig mit den antiken Autoren, die er las, und richtete sogar förmliche Briefe an Cicero und Vergil, um Ersteren für sein politisches Engagement zu tadeln und Letzterem sein Bedauern darüber auszudrücken, dass er zu früh gelebt habe, um von Jesus erlöst zu werden.[17]

Pastorius’ Verfahrensweise als Leser verband ihn so sehr mit anderen wie seine Kultivierung des Lateinischen. Zu seinem Freundeskreis gehörte James Logan, der skrupellose Händler und unglaublich belesene Gelehrte, der trotz erheblicher praktischer Hindernisse die größte Bibliothek in den englischen Kolonien aufbaute – sie war doppelt so groß wie die des Harvard College.[18] Logan war überglücklich, wenn es ihm gelang, seltene Bücher aufzutreiben, etwa jenen frühen Ptolemäus-Druck, den ihm ein deutscher Freund schickte; im Gegenzug ließ er seinem Wohltäter ein Gewand aus Büffelleder zukommen.[19] Es bereitete ihm Vergnügen, dass einige seiner Bücher direkt oder indirekt von Pastorius stammten, und er hielt dies genau fest. Auf das Vorsatzblatt einer seiner Erwerbungen schrieb Logan: «Ich habe dieses Buch Phillip Monckton abgekauft, der es vom Sohn meines großen Freundes Francis Daniel Pastorius aus Germantown gekauft hatte, 15. November 1720.»[20] Pastorius seinerseits scheint sich gern Bücher von Logan ausgeliehen zu haben – zumindest wenn man von dem lateinisch-englischen Epigramm ausgeht, das er an Logan richtete, als er ihm dessen Exemplar des politischen Emblembuchs von Diego de Saavedra Fajardo mit seiner eindrucksvollen Vision eines christlichen Prinzen zurückgab.[21] Gut möglich, dass Pastorius mit Vergnügen an eine Zeit nach seinem Tod gedacht hat, in der seine Freunde und spätere Gelehrte seine Bücher sammeln und untersuchen würden; auf diese Weise würden sie sich an ihn und diese Tauschvorgänge erinnern.

Nicht jede dieser Tauschaktionen war kommerzieller Natur. Indem man ein Buch weggab oder verlieh, aber natürlich auch indem man sich eines borgte, erkannte man den Bürgerstatus des Gegenübers in der Gelehrtenrepublik an. Pastorius gestaltete seine Freundschaften bewusst so, dass nur die Menschen, die sein Vertrauen verdienten, diesen Weg beschreiten konnten.[22] Dies bedeutete nicht, dass er nur Beziehungen zu anderen Männern einging. Wie eine Reihe seiner Zeitgenossen hielt er Frauen in hohem Maße für befähigt, Bürgerinnen der Republik zu werden.[23] Er machte dies deutlich, als er auf Latein an seinen jüngeren Freund Lloyd Zachary schrieb, um sich dafür zu entschuldigen, dass er das Exemplar von Band 4 des Spectator einer Freundin viel zu spät zurückgab: «Ich bitte untertänigst um die Nachsicht der Besitzerin, die ganz zu Recht verärgert ist, und hoffe, deine Fürsprache wird sie daran hindern, mir Band 5 zu versagen.»[24] Offensichtlich gehörten Pastorius, sein Briefpartner und die Eigentümerin des Buches alle einer Welt gebildeter, skeptischer Leser an, die einander dabei halfen, mit den Neuerscheinungen aus London Schritt zu halten.

Mit seiner ausschweifend polyglotten Gelehrsamkeit und manisch assoziativen Geistesart sticht Pastorius aus der englischsprachigen Welt um 1700 als Kompilator heraus. Wer sich den Deliciae hortenses (Gartengelüsten) resp. Voluptates Apianae (Freuden des Bienenzüchters) hingibt, einer Sammlung von Sprichwörtern und Gedichten, die Pastorius in seinen späten Jahren zusammenstellte, wird von seiner Virtuosität überwältigt. Als versierter Jäger, Sammler und Bewahrer der Sätze anderer war er nicht minder geschickt darin, zahlreiche Veränderungen an seinen Fundstücken vorzunehmen. Aus einem Schlagwort konnte er gereimte oder rhythmische Wendungen in verschiedenen Sprachen ableiten, die ihm sämtlich Stoff zum Nachsinnen über Gottes Wege in der Natur boten. Ein einziger Gedanke – «nur Bienen sammeln Honig» – konnte sieben Sprachen durchqueren, während Pastorius auf die Maxime hinarbeitete, dass Gottes Wort sogar noch süßer sei als Honig:

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Sola Apis mellificat. Die Bien allein trägt Honig ein.

Het honigh komt alleen Van Biekens by een,

Solamente le Pecchie fanno Mele. Seulement les Abeilles font du miel.

The Bees alone bring home Honey and honey-Comb.

The Bee is little among such as flie, but her Fruit is the Chief of sweet things.

Syrac. 11:3.

Qu. What is sweeter than Honey? Judg. 14:18.

Answ: God’s Word. Psal. 119:103. etc.[25]

Marc Shell und Werner Sollors übertrieben nicht, als sie Pastorius als Amerikas ersten mehrsprachigen Autor kanonisierten.[26] Sammlungen wie seine mit ihren komplex verspielten Variationen und ihrer Suche nach Symbolen und Botschaften scheinen den Kolonien so fremd wie viele der Texte, die er zitierte – und bilden eine Art Gelehrtenrepublik auf Papier.

Pastorius brachte seine Gewohnheiten von Europa nach Pennsylvania mit. Sie entstammen den deutschen Schulen und Universitäten, an denen er unterrichtet wurde, seine Kultur ausbildete und seine besonderen Leidenschaften entwickelte. Pastorius wuchs in Windsheim auf, wo er auf das örtliche Gymnasium ging. Ab 1668 studierte er an einer Reihe deutscher Universitäten, bevor er 1676 in Altdorf sein juristisches Examen ablegte. Mit anderen Worten: Wie so viele deutsche Männer aus dem städtischen Patriziat schloss er sich dem Gelehrtenstand an. Dies setzte die Kenntnis einer fremden Sprache und Kultur voraus, da sich die Gelehrten in ihren akademischen Übungen und Veröffentlichungen vor allem des Lateinischen bedienten.[27] «In Windsheim», erinnert sich Pastorius in seinem autobiographischen Bericht im Bee-Hive, «wurde ich gut unterrichtet und hatte zumeist zwanzig oder mehr Kinder junger Grafen, Ritter und Adliger als Schulkameraden, wobei es damals einen ausgezeichneten Rektor des Gymnasiums namens Tobias Schumberg gab, der als gebürtiger Ungar kaum Deutsch konnte, sodass es nicht erlaubt war, sich irgendeiner anderen Sprache zu bedienen als Latein.»[28] Die Barockdichter jenes Deutschlands, das Pastorius als junger Mann kannte, hatten das Lateinische ebenfalls aufgesogen. Sie kultivierten jedoch gleichzeitig noch viele andere Sprachen und verfertigten Verse nach vorgeschriebenen Mustern auf Italienisch, Französisch und in anderen Sprachen, zumal in jungen Jahren, wenn ihre Dichtkunst als Eintrittskarte für Akademien oder Höfe dienen konnte.[29]

Pastorius konzentrierte sich besonders auf das Englische, die Sprache seiner neuen Gemeinschaft, in der seine Söhne leben würden, und er füllte seine anderen Sprachen gleichsam in diese um. Dies machte er deutlich, als er seinen kolossalen – und mehrsprachigen – Bee-Hive als seinen «englischen Bienenstock» beschrieb, das «umfangreichste und beste Manuskript, das ich aus den ausgezeichnetsten Autoren zusammentrug», und das er seinen Söhnen als kostbaren Besitz vermachte.[30] Wie die klar denkenden späthumanistischen Pädagogen, die von Erasmus inspiriert und geprägt worden waren, aber ihre eigenen Ansprüche herunterschraubten, bot Pastorius den jungen Juristen in der Neuen Welt keine direkte Kopie der reichen humanistischen und juristischen Ausbildung, die er in Deutschland genossen hatte. Er vermittelte ihnen vielmehr etwas Praktischeres, das für seine neue Welt entworfen war: Musterbriefe und -verträge, die sie kopieren und ihren eigenen Zwecken anpassen konnten, sowie eine Unmenge an Schlagwörtern und Anekdoten, Rezepten sowie Heil- und Rechtsmitteln in englischer Sprache, die sowohl ihren praktischen als auch etwaigen literarischen Bedürfnissen zu dienen vermochten. Seine Vorliebe für polyglotte Wortspiele gab er jedoch nie auf. Und dies verhilft uns – wie die Formen des literarischen Sammelns, Jagens und Aufbewahrens, deren er sich bediente – zu einem ersten Hinweis darauf, wer die Gelehrten waren, die Pastorius zum Vorbild dienten.

Die tonangebenden Figuren in der intellektuellen Welt des Heiligen Römischen Reiches, die Pastorius aus erster Hand kannte, wirken heute wie gelehrte Dinosaurier. Dies gilt zumal, wenn man sie mit gewiefteren Zeitgenossen wie René Descartes vergleicht, dessen Ideen die Zukunft gehörte, wie wir aus heutiger Sicht wissen. All diese Polyhistoren, wie man sie zu ihrer Zeit nannte, erkoren sich das Wissen zu ihrem Tätigkeitsgebiet: Vergangenheit und Zukunft, Natur und Kultur, Geschichte und Astronomie. Athanasius Kircher beispielsweise verfolgte die Geschichte der Völker der Welt von vor der Sintflut bis zu seiner eigenen Zeit; er entzifferte die ägyptischen Hieroglyphen, stieg in den Krater des Vesuv hinab, um den Mechanismus eines Vulkanausbruchs zu untersuchen, hing dem kopernikanischen System zu einer Zeit an, als Katholiken das verboten war, und spielte Fußball gegen die Dominikaner. Und er präsentierte seine Entdeckungen nicht nur in einer stattlichen Reihe lateinischer Folianten, sondern auch in der großartigen materiellen Form des Museums, das sich in seinen Räumen im jesuitischen Collegio Romano befand.[31]

Andere deutsche Gelehrte spezialisierten sich auf Bibliographien, statt unmittelbar Textsammlungen zu kompilieren. Die Art und Weise, wie sie ihr Material sammelten, bearbeiteten und präsentierten, hat eine unübersehbare Verwandtschaft mit Pastorius’ Methoden. In Deutschland, das nach dem Dreißigjährigen Krieg verarmt war, konnten sich nur wenige Studenten viele Bücher leisten.[32]Die Professoren hielten, formal gesehen, Kurse über «Literaturgeschichte» ab. Zu diesem Zweck druckten sie die Bestandsliste einer wichtigen Bibliothek oder eine Liste von Autoren nach, verteilten sie unter ihren Studenten und diktieren dann ihre Kommentare dazu. Diese Seminare – ein barockes Pendant zu Pierre Bayards Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat – boten eine reiche Mischung aus grundlegenden bibliographischen Angaben, kritischen Urteilen und literarischem Klatsch, vieles davon unzuverlässig. Der einflussreiche Wittenberger Professor Conrad Samuel Schurzfleisch etwa berichtete seinen Studenten von dem Gerücht, der große Philologe Joseph Scaliger sei von seinem eigenen Vater kastriert worden, damit er nicht heiraten und dem Ruf seiner erlauchten Familie schaden könne. Es gibt keinen weiteren Hinweis in irgendeiner Quelle, der diese Geschichte erhärten würde.[33]

Die Studenten schrieben auf, was ihre Lehrer ihnen sagten. Manchmal recycelten die Lehrer dann die Mitschriften ihrer Studenten zu gedruckten Lehrbüchern, die andere Lehrkräfte wiederum zum Gegenstand ihrer Vorlesungen machten. Kompilieren und Exzerpieren, Neukompilieren und Kommentieren folgten in einem scheinbar endlosen Kreislauf aufeinander.[34] Der Textbestand dieser Kompilationen wuchs so langsam und unaufhörlich wie ein Gletscher, wobei eine dünne Kruste textuellen Eises eine tiefreichende Felsmasse von Fußnoten bedeckte. In seinem Bee-Hive erinnert sich Francis Daniel Pastorius daran, von dem «renommierten Dr. Boeckler in Straßburg» einige Grundsätze des öffentlichen Rechts gelernt zu haben.[35] Wahrscheinlich lernte Pastorius ein wenig Jura bei dem älteren Juristen Johann Heinrich Boecler (1611–1672). Noch wahrscheinlicher aber ist, dass er eine Menge über das Kompilieren und Verwalten von Informationen von ihm lernte. Boecler war nicht nur ein renommierter Anwalt von hoher Reputation, sondern auch ein meisterhafter Vertreter der Literaturgeschichte – ein Experte in der Handhabung der Informationsmaschinen des Rokoko, in die man Namen und Titel, Anekdoten und Maximen einspeiste und die daraufhin Lehrbücher und Vorlesungen ausspuckten. Auf Wunsch von Leibniz’ Gönner Johann Christian von Boineburg verfertigte Boecler einen erfrischend knappen Leitfaden zur Geschichte der Literatur – von der Schöpfung bis zur Gegenwart, für Studenten. Dieser trug den bescheidenen Titel Merkwürdige historisch-politisch-philologische Bibliographie, die die Vorzüge und Mängel jedes Autors aufzeigt.[36]x Deutlich länger – wenngleich unter 1000 Seiten – war die Kritische Bibliographie der Autoren Sämtlicher Künste und Wissenschaften, die Boecler ebenfalls zusammenstellte und die auch nach seinem Tod noch nachgedruckt wurde.[37] Wenn Pastorius Themen auflistete, Exzerpte abschrieb und Indizes erstellte und dabei das Kompilieren als einen zentralen und wertvollen Teil der Gelehrtentätigkeit behandelte, dann übte er sich in Fertigkeiten, die er in seiner Jugend kennen- und in den langen Jahren seiner Universitätsausbildung beherrschen gelernt hatte.

Pastorius wandte nicht nur die Techniken der Polyhistoren an, er teilte auch ihren Geschmack. Wie Kircher interessierte sich der Jesuit Michael Pexenfelder, dessen sonderbare kleine Enzyklopädie der Künste und Wissenschaften Pastorius besaß, für Chiffren und andere Formen des Schreibens, die dem Zweck dienten, die eigenen Botschaften vor neugierigen Lesern zu verbergen.[38394041