Epilog


Vor genau neun Wochen habe ich meinen Wohnwagen auf den Campingplatz von Thalkirchen gezogen. Die meisten Camper verlassen den Campingplatz am Ende ihres Urlaubs, um anschließend wieder zu arbeiten; bei mir ist es umgekehrt. Nun, nach Aufgabe meines Wohnsitzes im Rivercamp, steht ein zweiwöchiger Sommerurlaub zusammen mit Andrea in den Berchtesgadener Bergen an. Ich freue mich auf die nächsten beiden Wochen, endlich ist unsere kleine Familie wieder vollständig, das gemeinsame Leben nicht auf die tägliche Kommunikation, bestehend aus einem kurzen morgendlichen und einem etwas längeren abendlichen Telefongespräch, beschränkt.

Der Aufenthalt im Rivercamp war für mich weder mit körperlichen noch mit psychischen Strapazen verbunden. Davon werde ich mich also nicht erholen müssen. Anstrengender waren für mich sicher die vielen Reisen und die oftmals sehr kurzen Nachtpausen. Nun steht einigen ausgiebigen Ausschlafrunden nichts mehr entgegen. Und vielleicht hört die tägliche Dauerberegnung auch endlich auf.

Die außergewöhnlich schlechten Wetterbedingungen empfand ich tatsächlich als die größte Störung meines Rivercamp-Aufenthaltes. Dauerregen, Hochwasser und sommerliche Kälte hatte ich nicht erwartet. Die von mir in Erwägung gezogene Zelt-Variante hätte sich möglicherweise zu einer Wohlbefindens-Katastrophe entwickelt. In meinem Camper war ich dagegen immer wasserdicht und warm untergebracht. Das hatte ich richtig entschieden. Glück gehabt.

War die Camping-Lösung nun tatsächlich besser als ein Aufenthalt im Hotel? Hat mich das Rivercamp glücklicher gemacht? Habe ich mich verändert? Hat mich das Campingleben verändert? Welche meiner Vorsätze konnte ich umsetzen, welche nicht? Habe ich meine Entscheidung je bereut? Was habe ich vermisst, was hätte ich besser machen können? Auf was hätte ich verzichten können? Hat es wirklich Spaß gemacht? Würde ich wieder auf einen Campingplatz ziehen?

Ich habe dazugelernt. Meine Augen sind größer geworden, meine Ohren auch. Ich bin tatsächlich aufmerksamer geworden, vor allem gegenüber den kleinen Dingen des Lebens. Das hat sicher ganz wesentlich auch damit zu tun, dass ich meine Erlebnisse in einem Tagebuch festgehalten habe und dass ich in einem fast täglichen Mail-Kontakt mit meinem und Andreas Freundeskreis gestanden habe. Vermisst habe ich Andrea, sonst tatsächlich nichts. Ich weiß aber auch, dass meine Erlebnisse als Camping-Einsiedler sicher anderer Art waren, als wir sie zu zweit erfahren hätten.

Wohnanhänger auf der Autobahn sehe ich seit dem Einzug in meinen Rivercamper mit ganz anderen Augen. Früher habe ich immer über sie und ihre Besitzer gelächelt, jetzt lächle ich mit ihnen. Ich freue mich mit ihnen, über das Stück Freiheit, dem sie entgegenfahren, und denke an meine Zeit in meiner Villa am Fluss. So ganz nebenbei bin ich außerdem zum Spezialisten in Sachen Wohnanhänger geworden. Von Weitem erkenne ich bereits den Hersteller, ich kenne die verschiedenen Größen, die Grundriss- und Ausstattungsvarianten. Ist das nicht bewundernswert?

Ich kann (immer noch) über mich lachen. Wenn ich mich auch über ein Missgeschick geärgert habe (was der Norm entspricht) – wenig später empfand ich die Situation als belustigend, und ich erkannte darin den Kern für eine neue Geschichte. Ich bin überzeugt, dass das Lachen über sich selbst das allgemeine Wohlbefinden ganz erheblich steigert. Körper und Geist ist uns für unsere Lebenszeit geliehen, von wem auch immer. Was wir damit und daraus machen, unterliegt nur zum Teil unserem Einfluss. Warum also alles so ernst nehmen? Freuen wir uns jeden Tag aufs Neue, auch über uns selbst. So war es auch im Rivercamp.

Außer dem Wetter haben mich die Sanitäranlagen besonders gestört. Das betraf sowohl das prinzipielle Konzept als auch den Reinigungszustand. Zehn Toiletten, zwölf Duschen und zwanzig Waschbecken unter einem Dach, nur teilweise durch Sichtschutz voneinander getrennt, Reinigung nur einmal täglich, das verlangt einen hohen Grad an Unempfindlichkeit. Für mich war dieser Zustand nur unter Auferlegung der höchsten Humorstufe hinnehmbar. Ich empfand es als äußerst störend, wenn sich ein Waschhausmitbenutzer am Nebenwaschbecken die Zähne putzte und dabei ganz selbstverständlich seinen Morgenfurz ausblies. Wobei mich der Furz an sich nicht störte; die Vorstellung jedoch, dass ich wenig später diese Körperabgase zumindest teilweise tatsächlich einatmete, löste bei mir unweigerlich die schrecklichsten Erstickungsanfälle aus.

Einige Vorhaben konnte ich trotz bester Motivation tatsächlich nicht umsetzen. Meine sparsam bemessenen Lebensmittelvorräte habe ich nicht aufgegessen, insbesondere das Chili-Glas konnte ich nicht leeren. Mehr als eine Currywurst konnte ich nicht essen, was an der Wurst lag. Das Surfen auf der direkt vor dem Rivercamp stehenden Isarwelle habe ich trotz heftigstem Verlangen noch nicht einmal ausprobiert. Um auf dieser Welle wenigstens einige Sekunden lang mit dem Surfbrett bestehen zu können, hätte ich sicher viele Stunden üben müssen. Diese Stunden hatte ich nicht, was unter anderem auch dem extrem schlechten Wetter zuzuschreiben war.

Von den vielen ganz sicher angekündigten Freunden hat mich fast niemand besucht. Vielleicht waren meine Berichte schon so erschöpfend oder abschreckend, dass eine darüber hinausgehende Neugierde gegen Null tendierte. Vielleicht war auch das Wetter schuld, oder meine häufige Abwesenheit.

Ich hatte umfangreiche Kontakte mit Campingplatzbewohnern erwartet, tatsächlich waren die Kontakte nur auf einige Gespräche beschränkt. Gemeinsames Grillen oder nachbarschaftliches Biertrinken fand im Rivercamp kaum statt. Meinen spärlichen italienischen und spanischen Wortschatz konnte ich somit leider nicht erweitern. Wahrscheinlich war auch das ein Tribut an den Regen, der den Aufenthalt im Freien und damit die Kontaktmöglichkeiten erheblich einschränkte. Die geplanten Lauf- und Radkilometer habe ich bei Weitem nicht erreicht, die geplanten Boulder-Einheiten im Klettergarten unterhalb von Buchenhain musste ich wegen der andauernden Nässe komplett von meinem Plan streichen. In der Summe war ich, gemessen an den widrigen Verhältnissen, mit meinen sportlichen Aktivitäten trotzdem ganz zufrieden.

Gemessen an einer 200-Quadratmeter-Wohnung war mein Hausstand spärlich. Vermisst habe ich jedoch nichts, ich hatte sogar immer noch zu viel Kleidung und eine deutlich zu umfangreiche Küchenausstattung an Bord. Auf einen Fernseher hatte ich von Anfang an verzichtet; das eigens für meinen Campingaufenthalt erstandene Radio war bei meinem Auszug immer noch original verpackt. Es ist sehr erstaunlich, was man alles nicht braucht. Obwohl man doch meist anderer Meinung ist.

Für mein leibliches Wohl hatte ich immer ausreichend gesorgt. Außer meinem Currywurst-Versuch verzichtete ich allerdings, zum Wohle meiner Gesundheit, auf weitere Besuche des Campingplatz-Restaurants. Die bordeigene Getränkeversorgung war angemessen, das Weißbier meistens alkoholfrei. Mein Körper hat an Gewicht nicht zugenommen, aber auch nicht abgenommen.

Ganz bestimmt war ich zufriedener und glücklicher als in einem Fünf-Sterne-Hotel der Münchner Innenstadt. Die Einfahrt ins Rivercamp hat bei mir immer zu einer Ausschüttung von Endorphinen geführt. Erstaunt war ich über das hohe Maß an gegenseitiger Rücksichtnahme; außer im Sanitärbereich habe ich mich, von ganz wenig Ausnahmen abgesehen, nie von anderen Bewohnern gestört gefühlt. Offensichtlich gibt es unter Campern einige ungeschriebene Regeln, die das Zusammenleben ganz wesentlich erleichtern und zur Entspannung beitragen. Erstaunlich hoch empfand ich die Hilfsbereitschaft. Der Mensch ist gut, offensichtlich besonders dann, wenn er auf einem Campingplatz weilt.

Ganz klar, ich würde es wieder tun. Wahrscheinlich nicht gerade während eines verregneten Sommers auf dem Campingplatz in Thalkirchen, aber in und um München gibt es keine Alternativen. Schon lange träume ich von einem Sommer auf einer Almhütte, die nur zu Fuß erreichbar ist. Ohne Strom und ohne Duschmarken, dafür mir Kühen, Schafen und frischem Quellwasser vor der Hüttentüre. Vielleicht wird auch dieser Traum noch wahr.



Thalkirchen-Report

Drei Monate im Leben eines Managers


von Jörg Eschenbach




München, April 2010 

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Impressum

1. Auflage 2012

© 2012 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

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ISBN: 978-3-940873-73-6

Covergestaltung, Layout: Judith Wittmann // Ju2 Design

Lektorat: Scripta Literatur-Studio

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Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1 - Du brauchst viel Humor für dieses Leben

Kapitel 2 - Juni 2009

Kapitel 3 - Juli 2009

Kapitel 4 - August 2009

Bildteil

Epilog

Kapitel 1 - Du brauchst viel Humor für dieses Leben


Das ist doch Irrsinn


Du willst tatsächlich in einen Wohnwagen ziehen? Das ist nicht dein Ernst. Du machst Witze, Das tust du nicht!

Doch, Doro. Genau das tue ich , ob dus nun glaubst oder nicht. Ich miete mir für acht Wochen einen Wohnanhänger und beziehe Quartier in München auf dem Campingplatz Thalkirchen.

Jörg, das ist doch Irrsinn. Du kannst doch nicht während deiner Tätigkeit als Vorsitzender des Vorstands einer deutschen Aktiengesellschaft auf einen Campingplatz ziehen.

Wieso denn nicht? Die Zeiten ändern sich. Ich habe auch schon von Frankfurter Bankern gehört, die während der Arbeitswoche in ihrem Wohnmobil nächtigen. Außerdem ist unser Unternehmen nicht im DAX notiert; vor ein paar Jahren als Vorstand der Philipp Holzmann AG stand ich wesentlich mehr in der Öffentlichkeit.

So ein Quatsch! Da prallen doch unterschiedlichste Welten aufeinander. Wenn du da mal nichts durcheinanderbringst. Wie willst du denn das Freizeit-Ambiente eines Campingplatzes mit dem Ambiente einer Vorstandsetage verbinden. Deine Anzüge werden feucht und knittrig, das finden deine Geschäftspartner wahrscheinlich nicht so witzig.

Ernsthaft, ich kann da kein Problem erkennen. Meine Anzüge werden sicher nicht anfangen zu müffeln. Mir gefällt der Gegensatz, das finde ich spannend. Morgens klassisch-fein ins Büro und abends sportlich-lässig vorm Camper oder gemütlich im Biergarten. Das habe ich mir vorgenommen, und das werde ich durchziehen. Ich freue mich auch schon drauf.

Du spinnst. Du bist verrückt. Wirklich, wir sollten deinen Geisteszustand mal analysieren. Bist du dabei auszusteigen? Bereitest du deinen inneren Rückzug vor?

Wieso denn? Jetzt übertreib mal nicht. Okay, ich gebe zu, ein Wohnanhänger ist nicht gerade die übliche Lösung zur Überbrückung eines Wohnungsproblems. Aber das ist auch schon alles. Ich habe einfach keine Lust mehr auf Hotels oder auf Wohnungen, die von anderen Leuten möbliert wurden. Das zumindest könntest du doch verstehen. Diese Art von Luxus habe ich schon zu oft genießen müssen. Jetzt will ich mal was anderes. Thalkirchen ist außerdem ein wunderbarer Stadtteil an der Isar. Dort bieten sich jede Menge sportlicher Möglichkeiten, direkt vor der Campertür.

Und Andrea? Wo bleibt denn deine Frau?

Andrea zieht so lange in unser Haus in den Berchtesgadener Bergen. An den Wochenenden bin ich dann auch dort und werde bestimmt verwöhnt.

Und wer verwöhnt Andrea? Das ist wirklich eine schräge Idee. Hoffentlich bleiben dir wenigstens größere Wetterkatastrophen erspart. Ich sehe dich schon morgens mit deinen lederbesohlten Büroschuhen über die Pfützen hüpfen. Vielleicht sollte ich dir vorsorglich schon mal ein Paar Gummistiefel leihen.

Sie lacht. Ich auch.

Ich werde dir berichten, und ich nehme dich auf in meinen Fanklub. Ja, den gibt es inzwischen wirklich schon. Ich habe allen meinen Freunden versprochen, per Internet von meinen Erlebnissen auf dem Thalkirchner Campingplatz zu berichten. Ich halte dich auf dem Laufenden. So bist du fast immer live dabei.

Da bin ich echt gespannt. Und wann zieht ihr in München ein?

Ich hoffe, dass unsere neue Wohnung in Altperlach tatsächlich zum 1. September bezugsfertig ist. Ansonsten verlängert sich meine Wohnanhänger-Existenz. Das ist aber nicht geplant.

Wenigstens das. Ich besuch dich mal in Thalkirchen. Das ‚Elend’ will ich mir ansehen. Ich kann’s immer noch nicht glauben. Wir könnten dann miteinander essen gehen, natürlich nur, falls du überhaupt ein Date für mich freihast. Bestimmt kriegst du einen Haufen Einladungen. Männer werden immer eingeladen.

Das ist doch okay, ich lasse mich gern einladen. Wir werden schon ein Date finden. Und natürlich gehen wir dann essen. Kochen werde ich in meinem Camper bestimmt nicht, auch nicht für dich, meine Liebe.

Okay, erst besuch ich dich, dann gehen wir essen. Machs gut, bis bald. Liebe Grüße an Andrea.

Tschüüüss und vergiss nicht, mich einzuladen.

Tschüss.

Doro ist Diplom-Psychologin und lebt in München. Sie hat sich darauf spezialisiert, das Intelligenzpotenzial anderer Leute zu testen und zu analysieren. Außerdem sammelt sie Sarotti-Mohren, weil sie so gern Schokolade isst. Was ihre Hautfarbe angeht, gibt es da gewisse Ähnlichkeiten. Doro ist hochintelligent, immer unter Strom, immer auf Achse, scharfzüngig und unempfindlich gegen Kritik und gegen Scherze. Gute Stimmung garantiert. Ob sie mich wirklich besuchen wird?


Arbeitsplatzwechsel heißt Wohnungswechsel


Stuttgart, November 2008 – Die Entscheidung über meine berufliche Zukunft ist herbeigeführt, mein künftiger Arbeitsplatz wird nicht mehr in Stuttgart sein, sondern in München. Die von der STRABAG getätigte mehrheitliche Übernahme der Gesellschaftsanteile der F. Kirchhoff AG, die ich während der letzten Jahre als Vorstandsvorsitzender führte, hat umfangreiche organisatorische Veränderungen zur Folge. Das betrifft auch die sogenannte Führungsebene. Nichts Außergewöhnliches, nichts Unerwartetes. Anders als viele Manager in vergleichbaren Situationen habe ich zwar nicht meinen Arbeitsplatz verloren; Aufgaben, Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse haben sich jedoch entscheidend verändert. Bedingt durch die Abgabe der Verantwortung für wesentliche Unternehmensteile von Kirchhoff und durch die Übernahme übergeordneter Aufgaben innerhalb des STRABAG-Konzerns, in dem tatsächlich keine mir entsprechende Position zu vergeben ist, macht die Aufrechterhaltung des Arbeitsortes in Stuttgart keinen Sinn mehr. Der künftige Arbeitsplatz wird in München sein. Wenigstens das. In München fühle ich mich zu Hause, schließlich habe ich dort studiert und weitere zwanzig Jahre gearbeitet. Der Termin für den Wechsel ist noch nicht genau festgelegt, ich gehe vom nächsten Frühjahr aus.

Stuttgart, März 2009 – Rückgabe der renovierten Wohnung zum 30. Juni steht fest. Aber eine Entscheidung über die Münchner Wohnung noch nicht. Mieten oder Kaufen? Reihenhaus oder Etagenwohnung? Kein Erdgeschoss (zu einfach ist der Einstieg für Unerwünschte), kein Dachgeschoss (das hatten wir jetzt zehn Jahre lang und stießen uns bestimmt einmal pro Woche den Kopf an. Macht pro Kopf 520 Anstöße. Das halten selbst unsere stabilen Köpfe auf Dauer nicht aus). Westen oder Osten oder Süden? Solln oder Bogenhausen, Schwabing oder Lehel, Pasing, Laim oder Harlaching? Überall gibt es natürlich Vorteile und Nachteile, oft überwiegen die Nachteile.

Ohne Wohnung kein Einzug. Wo sollen wir bleiben, wenn ich in München arbeite? Für Andrea ist die Lösung schnell gefunden: unser Domizil in Oberbayern. Für mich ist das definitiv zu weit, ich will und kann nicht jeden Tag an- und abreisen. Wo werde ich wohnen? Möblierte oder unmöblierte Interims-Wohnung, Unterschlupf bei Freunden, Hotel oder Boarding House?

Ich bin mir sicher: diesmal keine möblierte Wohnung, kein Hotel. Diesmal eine andere, eine besondere Lösung. Ich werde auf einen Campingplatz ziehen. Andrea hält meine Campingplatz-Idee für einen blöden Aprilscherz. Als ich ihr glaubhaft versichere, dass ich es ernst meine, versucht sie mich zunächst wieder von meiner Idee abzubringen. „Du bist doch verrückt. Willst du tatsächlich morgens um sechs mit Anzug und Krawatte zwischen Zelten und Wohnwagen voller Urlauber über einen Campingplatz spazieren. Du machst dich ja lächerlich.“

Ich bleibe standhaft. Sie kann dieser Entscheidung absolut nichts Positives abgewinnen und droht mit Besuchsverweigerung, was ich nicht so ernst nehme, ich glaube schon, dass Andrea mich mal besuchen kommt.

Während einige unserer Freunde mit Andrea ins selbe Horn stoßen und meine Idee, auf einen Campingplatz zu ziehen, nach anfänglicher Ungläubigkeit für völlig absurd halten, sind andere total begeistert. Die Geschmäcker sind eben verschieden, das gilt wohl auch für Unterkünfte. In beiden „Lagern“ entsteht jedoch eine nicht unbedeutende Neugier.

„Hast du ein Wohnmobil oder ziehst du ins Zelt? Wo ist in München ein Campingplatz? Wird Andrea auch mit einziehen? Hast du schon die passende Campingplatz-Bekleidung? Hast du Adiletten? Hat dein Camper eine eigene Sanitärzelle? Wirst du kochen oder grillen? Was machst du, wenn es ständig regnet? Wirst du uns berichten?“

Und dann die imperative Steigerung: „Du musst uns unbedingt berichten! Wir wollen wissen wie‘s dir geht. Am besten täglich.“

Bei so viel freundschaftlichem Interesse antworte ich spontan: „Na klar, ich berichte euch. Ich schreibe ein Tagebuch. Dann kann ich euch vorlesen. Oder besser noch, ich halte euch via Internet auf dem Laufenden. Gebt mir eure E-Mail-Adresse, das ist am einfachsten.“

So habe ich binnen kürzester Zeit eine große Anzahl von Adressen, die ich unter der Datei „Rivercamp-Fanklub“ zusammenfasse. Das kann ja spaßig werden, und arbeitsintensiv. Aber versprochen ist versprochen. Plötzlich überfällt mich die Idee, aus dem Tagebuch ein Buch zu machen. Ein Buch! Genau! Das ist die angemessene Form, diesen Campingplatz-Lebensabschnitt zu dokumentieren. Eine spannende Aufgabe, eine echte Herausforderung. Das reizt mich, das macht mich neugierig, macht mich neugierig auf mich selbst, auf Eschenbach, über seine Rolle als Unternehmenssanierer und Über-den-Tisch-Gezogener hinaus. Reicht mein Durchhaltevermögen, reicht meine Zeit, reicht meine Fantasie? Werde ich wirklich etwas zu erzählen haben?

In Sachen Wohnung kommt es Ende März zur finalen Entscheidung. Wir mieten uns in ein denkmalgeschütztes Haus in Altperlach ein. Das Haus ist nach Totalentkernung noch im Bau. Einzug erst zum 1. September möglich. Das heißt, ich brauche für mindestens acht Wochen eine Übergangslösung plus zwei Wochen Urlaub. Das heißt acht Wochen Campingplatz in München.


Die Luxus-Lösung


Mein erster Gedanke. Ich miete mir ein Wohnmobil, richtig groß und komfortabel. Komplettausstattung. So könnte ich eventuell auch meinen Stellplatz bei Bedarf ohne großen Aufwand ändern. Oder vielleicht auch mal mit Andrea zu einem Wochenendausflug ausrücken.

Ich starte eine Recherche im Internet. Und siehe da, es gibt wirklich feine Teile, ausgestattet mit allem, was ein guter Hausstand zu bieten hat, zusätzlich jedoch hochflexibel. Bei einem Blick auf die Preise ist dieser Plan jedoch schnell verworfen. Unter der zu erwartenden schlechten Auslastung – nur eine Person, nicht an Wochenenden, häufige Dienstreisen – und unter Berücksichtigung zusätzlicher Stellplatzmieten ergibt sich ein nettes Euro-Sümmchen pro Nacht. Dafür könnte ich mich locker in ein First-Class-Hotel einquartieren. Also leider kein Wohnmobil.


Die Abenteuer-Lösung


Mein zweiter Gedanke. Ich ziehe in ein Zelt. Das ist Camping total. Rechteckig, klassisch, pur. Die echte Outdoor-Abenteurer-Expeditions-harte-Männer-Lösung. Wir haben noch ein Zwei-Mann-Leichtbauzelt mit reichlich Zubehör: Isoliermatten, Daunenschlafsäcke, Gaskocher, Gaslaterne, Alutöpfe, Plastikgeschirr, Aluboxen und noch allerlei vor zwanzig Jahren angeschafften Das-brauchst-du-unbedingt-auch-noch-Kram. Alles noch voll funktionsfähig. Dann stelle ich mir vor, wie ich in diesem Zelt zwei Monate leben könnte. Eine wahrlich harte, entbehrungsreiche Zeit stünde vor mir. Stehen im Zelt unmöglich. An- und Ausziehen nur halb im Liegen. Essen und Trinken bestenfalls im Schlafsack sitzend, nicht zu aufrecht. Kein Vorraum, keine Lagerfläche. Wohin mit meinen von Andrea so liebevoll gebügelten Hemden, meinen Boss-Anzügen, meinen Zegna-Krawatten? Abgesehen von der Gefahr möglicherweise nicht ausreichender Kleidungsqualität sehe ich gesundheitliche Gefährdungen auf mich zukommen: Rückenschmerzen, Blasenentzündung, Wundliegen und dann noch die Gefahr einer gestörten Wiedereingliederung. Das alles möchte ich wirklich vermeiden. Die Zeltausstattung aus den eigenen Beständen ist nicht nutzbar.

Ich starte eine Internet-Recherche. Und siehe da, es gibt wirklich feine Teile.

Traumhaft große Familienzelte mit moskitosicheren Fenstern, mit Stehhöhe, mehreren Abteilen, Vorraum, regendicht eingeschweißtem Fußboden, sturmsicher, für bis zu sechs Personen, inklusive Aufbauanleitung. Und dann gibt es noch die sogenannten Gruppenzelte, gut für eine ganze Pfadfindergruppe, leider alle ohne Boden, aber supergeräumig. Dazu die notwendigen Einrichtungsgegenstände: Feldbetten (zwei, vielleicht kommt Andrea doch mal auf Besuch), Kühlschrank, Kochstelle, Campingtisch und Stühle, Aluboxen zur Aufbewahrung von Wäsche, Aluboxen zur Aufbewahrung von Lebensmitteln, Aluboxen für alles, Beleuchtung, Geschirr und den unabdingbaren Das-brauchst-du-unbedingt-auch-noch-Kram. Ich sehe mich in meinem kuscheligen Schlafsack auf meinem neuen ultraschmalen Feldbett liegen, mein Einschlafbierchen auf der seitlich postierten Alubox stehend. Höre die englisch sprechenden Zeltnachbarn über ihre morgigen Besichtigungsziele in München diskutieren: Hofbräuhaus – Nymphenburg – Pinakothek. Ich denke an Regen.

Ich rechne mal alles zusammen, und wieder ergibt sich ein nettes Euro-Sümmchen. Und was mache ich mit dieser wunderbaren Fernreise-Camping-Komplettausrüstung nach zwei Monaten? ebay oder Aussteigen?


Die Jesolo-Lösung


Mein dritter Gedanke. Ich ziehe in einen Wohnwagen. Auch so was besitzen wir nicht, und die bisherigen Erfahrungen sind im Datenordner „Negativ, nicht empfehlenswert“ abgespeichert.

Vor vielen Jahren reisten Andrea und ich mit einem Pick-up durch Schottland. Im tiefsten Norden waren wir in der einsetzenden Dämmerung dringend auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ein Hinweisschild „Bed and Breakfast“ schien die Rettung. Wir folgten der Wegweisung und standen nach einigen Hundert Metern Feldweg vor einem kleinen Wohnhaus. Davor ein Wohnwagen. Nach Kontaktaufnahme mit der schrillen Landlady stellte sich heraus, dass der Wohnwagen das Gästezimmer war. Mangels Alternative und trotz erheblicher Bedenken und großem Unbehagen entschieden wir uns, zu bleiben. Zum ersten Mal in unserem Leben betraten wir dann einen Wohnwagen.

Wegen der ewigen schottischen Feuchtigkeit und möglicherweise auch aufgrund mangelnder Pflege hatte das Innere des Wagens einen grausigen Eigengeruch entwickelt. Glücklicherweise hatten wir an diesem Nachmittag in einer Destillerie eine schöne Flasche Single Malt erstanden. Aber trotz reichlich gefüllter und dann geleerter Gläser war es uns unmöglich, unsere müden, leicht betäubten Häupter in das bereitstehende Wohnwagenbett zu legen. Uns grauste ganz fürchterlich wegen des Gestanks. Schließlich kuschelten wir uns tief in die eigenen Schlafsäcke auf der schmalen Eckbank. Ob das Kopfweh am folgenden Morgen vom Malt oder von den Ausdünstungen des Schimmelpilzes herrührte, konnten wir nicht klären. Jedenfalls vermeiden wir seither jeden Kontakt mit Wohnwagen. Der Gedanke an Wohnwagen löst unmittelbar Kopfschmerzen aus.

Trotzdem starte ich eine Internet-Recherche. Und siehe da, es gibt wirklich feine Teile. Große, top ausgestattete Mobile Homes. Viele Meter lang. Mit moderner Kombüse, Heizung, Sanitärraum mit Dusche und Toilette, Wohnzimmer, mehreren Betten und reichlich Stauraum. Die ganz Großen erinnern mich – nein, nicht an Schottland – an die Wohnstätten der dauerhaft Nichtsesshaften, der Artisten und Dompteure von Zirkus Sansibar und Co. Schweiß- und Löwengeruch steigt mir in die Nase. Bei aller Sportlichkeit, das ist nicht meine Liga. Diese Größenklasse bleibt den Spezialisten vorbehalten. Auch wenn ich mir so ein Ding zulege, bin ich noch lange nicht geeignet auf dem Hochseil Salti zu schlagen oder den Löwen Respekt einzuflößen. Die Kleinen erinnern mich an die Behausungen der Wächter großer Schafherden. Ich höre es bereits vielstimmig blöken, und durchdringender Schafsgeruch steigt mir in die Nase. Ich könnte zum Hirten oder zum Wolf mutieren. Das ist auch nicht meine Liga. Aber da gibt es noch die Fünf-Meter-Klasse. Für den ungeübten Hängerzieher noch beherrschbar und auch komplett ausgestattet. Das könnte meine Liga sein.

Im Raum München finde ich einen Vermieter mit entsprechenden Wohnwagen: „Family Caravan.“ Der erste Anruf ist erfolgreich, die Chefin, Frau Gebert, gibt mir kurz und knackig alle gewünschten Auskünfte. Die von mir angepeilte Fünf-Meter-Klasse ist im vorgesehenen Zeitraum verfügbar, der Preis ist angemessen. Ich vereinbare einen Besichtigungstermin.


Besichtigungstour


Wenige Tage später bin ich auf dem Weg nach München. Mein Ziel ist der vereinbarte Treffpunkt in Gräfelfing bei München. In der angegebenen Straße kann ich jedoch weit und breit keine Wohnwagen erkennen. Nach erneuter telefonischer Rücksprache erwarte ich die Chefin auf dem Parkplatz eines nahe gelegenen Getränkemarktes. Nach einigen Minuten kommt sie auch schon zügig um die Ecke, in einem VW Caddy. Ich folge dem Fahrzeug. Ein großes Zufahrtstor wird per Funk geöffnet, dahinter ein unbefestigtes, kiesiges, biotopähnliches Gelände. Keine Wohnwagen zu sehen. Off Road geht es leicht bergab nach rechts um eine Buschreihe herum, und da stehen sie, die Objekte der Begierde, gut zehn nagelneue Wohnwagen. Um mit meinem Auto auch auf den letzten Metern der Zufahrt nicht aufzusitzen habe ich per Knopfdruck die Bodenfreiheit um einige Zentimeter erhöht. So erreiche ich die Wohnwagen-Abstellfläche, ohne Schaden zu nehmen, und steige aus. Die Chefin war schneller und wartet bereits. Mit unverhohlener Neugierde mustert Sie mich und fragt sofort nach.

„Sie wollen einen Camper für sich mieten? Und der soll für zwei Monate hier in München stehen? Auf welchen Platz wollen Sie denn gehen?“

„Ich will nach Thalkirchen, ich brauche das Teil von Mitte Juni bis Mitte August.“

„Für acht Wochen nach Thalkirchen? Von Thalkirchen habe ich nicht viel Gutes gehört, Durchgangsbahnhof, schlecht gepflegt. Es soll einige Diebstähle und Übergriffe gegeben haben. Passen Sie bloß auf.“

So leicht bin ich nicht zu erschrecken. Will sie ihren Camper nicht vermieten?

„Bis zur Wiesn bin ich ja wieder weg, Außerdem habe ich keine Alternative im Raum München entdeckt. Ich werde mir den Platz aber noch ansehen.“

Nächste kritische Nachfrage mit Blick auf meinen Achtzylinder:

„Haben Sie da eine Hängerkupplung dran, oder sollen wir Ihnen den Camper nach Thalkirchen ziehen?“

„Nein, das mache ich schon selbst.“

„Haben Sie schon mal einen Wohnwagen gehabt? Wollen Sie den eigentlich alleine nutzen?“

„Null-Komma-null Wohnwagenerfahrung, aber Sie werden mir bestimmt eine vollumfängliche Einweisung geben. Der Rest ist learning by doing. Und ich ziehe alleine ein.“

Um weiteren Fragen zu meinem Familienstatus zuvorzukommen, erläutere ich mein vorübergehendes Single-Dasein.

„Also haben Sie einen beruflichen Einsatz hier in München?“

Allmählich werde ich etwas ungeduldig, bin ich doch wegen einer Besichtigung hierhergekommen. Trotzdem beantworte ich auch diese Frage korrekt und freundlich; schließlich will ich, dass sie mir einen ihrer Wohnwagen vermietet.

Frau Gebert sieht mich noch mal genau an, wie ich hier im dunkelblauen Anzug vor meiner silbergrauen Limousine auf ihrem mit allerlei Kraut bewachsenen Kiesgrundstück stehe.

„Und warum gehen Sie dann nicht ins Hotel?“

Vorsicht, Eschenbach: Freundlich bleiben!

„Ich habe schon so viele Nächte im Hotel verbracht. Diesmal will ich eine andere Lösung. Diesmal ist Camping angesagt. Darf ich jetzt mal einen Blick in Ihre Wohnwagen werfen?“

Also kommen wir endlich zur Sache. Frau Gebert schließt einen der circa fünf Meter langen neuen Dethleffs-Camper auf. Innen alles perfekt, ist ja auch fabrikneu. Komplettausstattung, wie im Internet beschrieben. Zusätzlich liefert „Family Caravan“ noch die notwendige Ausstattung: Gläser, Geschirr, Besteck, Töpfe und sonstige Küchenutensilien.

„Ich werde bestimmt nicht kochen!“

„Wie Sie wollen; ich werde Ihnen vorsichtshalber trotzdem alles zur Verfügung stellen. Ist im Preis inbegriffen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch noch ein Vorzelt leihen. Falls es mal regnet, ist das sehr angenehm, dann stehen Sie, wenn Sie die Tür aufmachen, nicht gleich im Nassen. Und Sie können dort Campingtisch und Campingstühle aufstellen; kann ich Ihnen auch leihen.“

„Hört sich gut an; würde mich freuen, wenn Sie mir das auch noch zur Verfügung stellen könnten.“

Obwohl ich natürlich davon ausgehe, dass es nicht regnen wird (welch ein Irrtum). Wir sprechen noch über die genauen Daten, über Abholung, Einweisung und Rückgabe. Der Preis ist noch der Gleiche wie telefonisch mitgeteilt. Alles macht einen wohldurchdachten, professionellen Eindruck.

„Okay, einverstanden. Ich möchte ihn gern mieten.“

„Dann schicke ich Ihnen einen Mietvertrag zu und bitte Sie um kurzfristige Überweisung der Anzahlung.“

„Gut. Besten Dank. Machen wir so.“

Wir verabschieden uns. Ich entferne verschiedene an meinen dunkelblauen Hosenbeinen anhaftende Pflanzensamen, steige in mein Auto ein und verlasse den Camper-Parkplatz.


Campingplatz Thalkirchen