Gaslicht 30 – Erbe des Schreckens

Gaslicht –30–

Erbe des Schreckens

Roman von Gabriela Stein

Als Linda aufwachte, war es noch sehr früh. Die Sonne mochte gerade aufgegangen sein, irgendwo krähte ein Hahn. Sie lächelte. Ja, diese

Idylle hatte sie sich manchmal gewünscht, als sie noch in San Francisco gewesen war. Genau diese Ruhe und Zufriedenheit kannte sie von der Ranch ihrer Freundin. Sie hatte sich dort immer besonders wohl gefühlt, aber in der letzten Zeit war sie in San Francisco in ihrem Beruf so eingespannt gewesen, daß ihr wenig Zeit blieb, ihre Freundin zu besuchen. Sie stand auf, reckte sich behaglich und ging auf den Balkon hinaus. Wieder war ein eigenartiges knackendes Geräusch zu hören, und ehe sie sich versah, brach der Balkon unter ihr zusammen. Sie konnte sich gerade noch an der Eisenstange festhalten, dann brach auch der Rest der Steine unter ihr ab. Linda schrie verzweifelt um Hilfe…

Die meisten Passagiere schliefen. Trotz des Halbdunkels in der Maschine konnte Linda Krüger nicht schlafen, sie war aufgeregt und erwartungsvoll der Dinge, die sie in Berlin erwarten würden.

Sie wandte den Kopf und sah aus dem Fenster. Sie flogen jetzt in einer Höhe von elftausend Metern. Eine unendliche schwarze Nacht dehnte sich über ihnen aus. Sie flogen über den Wolken fast lautlos dahin. Linda Krüger stellte sich vor, daß tief unter ihnen Menschen lebten mit ihren Problemen und Sorgen. Es war fast unwirklich, eine Ahnung der Unendlichkeit.

Sie zog die Schultern zusammen, einen Augenblick lang kroch Angst in ihr hoch, sie fror plötzlich. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Wenn sie in Rom ankamen, würde die Sonne aufgegangen sein und sie würde Rom in den schönsten Stunden des Tages erleben.

Linda war auf dem Wege nach Berlin zu einem Notar, der ihr mitgeteilt hatte, daß ihr Erscheinen dringend erforderlich sei, da es sich um eine Erbschaft handelte, und sie die alleinige Erbin sei. Mehr stand nicht in dem Brief, der sie in helle Aufregung versetzt hatte. Sie konnte sich nicht denken, wen sie beerben würde, denn davon schrieb der Notar nichts. Zuerst hatte sie an eine Verwechslung geglaubt und in Berlin angerufen, aber es stellte sich heraus, daß alles seine Richtigkeit hatte. Sie, Linda Krüger, wurde erwartet.

Ihr Nachbar schlief friedlich. Sie beobachtete ihn nicht ohne Interesse. Er sah sehr gut aus, sein Anzug war von der Stange gekauft, aber der Ring, den er trug, war von erlesener Eleganz. Irgendwie paßte das nicht ganz zusammen. Das alles hatte sie blitzschnell erfaßt. Sie wunderte sich über das Interesse, das sie plötzlich an diesem Mann hatte. Was mochte ihn bewegen, nach Deutschland zu reisen? Sie hoffte, daß er bis Berlin flog. Irgendwie empfand sie seine Nähe als angenehm.

Der junge Mann mochte fühlen, daß er beobachtet wurde, und als er jetzt seine Lider hob, sah

er geradewegs in Lindas blaue Augen hinein. Er lächelte, während Linda sich errötend abwandte.

»Wir werden bald landen«, sagte er. »Ist Rom Ihr Reizeziel?«

»Nein, ich fliege weiter bis Berlin«, antwortete sie wahrheitsgetreu.

»Sie sind in San Francisco zu Hause?«

»Wieso, sieht man mir das an?« Sie mußten beide lachen, und das Eis war gebrochen.

»In Rom haben wir zwei Stunden Aufenthalt, was haben Sie vor?«

»Wenn ich schon mal in Rom bin, werde ich nicht in Warteräumen die Zeit vergeuden. Ich werde mir die Stadt ansehen, sofern man in zwei Stunden etwas sehen kann.«

»Darf ich mich Ihnen anschließen, ich kenne Rom ganz gut und könnte Sie an die interessantesten Stellen führen. Viel Zeit bleibt uns allerdings nicht. In zwei Stunden kann man leider nicht ganz Rom besichtigen, es wird sich aber trotzdem lohnen.«

»Ich nehme Ihr Angebot gerne an und bin froh, nicht alleine durch Rom zu laufen.«

»Ich heiße Steven«, er zögerte einen Moment »May.«

»Ich bin Linda Krüger. May? Auch ein deutscher Name!«

»In der Tat, mein Urur-Großvater war vor ewigen Zeiten nach Amerika ausgewandert. Der Name Krüger dürfte auch einen deutschen Vorfahren haben.«

»Mein Vater wurde als Ingenieur für einige Jahre nach Amerika berufen, Sie sehen, mit so langer Tradition kann ich nicht aufwarten.

»Ihre Eltern lassen Sie so ganz alleine über den Teich?«

»Meine Eltern sind tot«, sagte Linda, und plötzlich war sie wieder da, die Trauer, die sie nie hatte ganz überwinden können.

»Oh, Verzeihung, Miß Krüger, das tut mir leid, ich konnte ja nicht ahnen…«

»Sie starben bei einem Flugzeugabsturz vor fünf Jahren.«

»Warum sind Sie nicht zurückgegangen nach Deutschland?«

»Ich hatte niemanden dort und ich bin in Amerika zur Schule gegangen, hatte Freunde gefunden und fühlte mich in Frisco daheim.«

»Das kann ich verstehen.«

»Darf ich fragen, was Sie jetzt nach Berlin führt?«

»Eine Erbschaft.«

»Eine Erbschaft? Hoffentlich lohnt es sich.«

»Ich weiß wirklich nicht, wer mir etwas vererben sollte. Ich bin ja selbst gespannt, wer in dieser Weise an mich gedacht hat. «

»Irgend jemanden hat es demnach wohl doch noch in Deutschland gegeben. Ich hoffe für Sie, daß Sie mit dem Erbe etwas anfangen können.«

»Ich sagte schon, es ist mir absolut rätselhaft, wer mir etwas vererben will. Soviel ich weiß, habe ich keine Verwandten mehr. »Passen Sie nur auf, daß das Erbe kein Flop wird.«

»Wieso? Wie meinen Sie das?«

»Es hat schon mancher eine Erbschaft angenommen und dann die Schulden bezahlen müssen, die der Erblasser hinterlassen hat.«

Linda erschrak zutiefst. »Das ist möglich?«

»Ja, vergewissern Sie sich erst, ob alles seine Ordnung hat, bevor Sie das Erbe annehmen.«

»Da muß ich Ihnen ja dankbar sein, daß Sie mich gewarnt haben.«

»Es muß durchaus nicht so sein, aber sicher ist sicher.«

Steven May holte einen kleinen Koffer aus der Ablage über ihren Sitzen und entnahm ihm zwei Visitenkarten, eine aus Berlin mit nur einer Handy-Nummer, die andere aus San Francisco. »Wenn Sie mich brauchen, Miß Krüger, ein Anruf genügt und ich bin bei Ihnen.«

»Das kann ich doch gar nicht annehmen, Sie kennen mich ja nicht einmal.«

»Ich meine es ernst, Miß Krüger, denken Sie an meine Worte.«

»Danke.« Sie nahm die Karten und steckte sie in ihre Handtasche, sie war überzeugt davon, daß sie sie nicht gebrauchen würde. Trotzdem fühlte sie sich nicht mehr so allein in einem fremden Land, denn fremd war Deutschland für sie geworden. Sie sprach zwar die Sprache des Landes, dafür hatten ihre Eltern gesorgt, aber sie war mit den Jahren durch und durch Amerikanerin geworden.

»Bitte, stellen Sie das Rauchen ein und legen sie die Gurte an, wir landen in zehn Minuten in Rom!«

»Ich bin so aufgeregt«, gestand Linda. »Ich wollte schon immer mal nach Rom. Heißt das nicht vedere Roma a pui morire.«

»Es heißt Napoli.«

»Wie?«

»Es heißt Neapel sehen und sterben.«

»Ach ja, so ist es richtig«, Sie errötete.

Während der Landung sprachen sie nicht miteinander. Linda krampfte furchtsam ihre Hände zusammen. Ihr war plötzlich nicht sehr wohl in ihrer Haut. Bei einer Landung waren ihre Eltern abgestürzt, es hatte viele Tote gegeben, daran mußte sie jetzt denken.

Steven May blickte sie forschend an. »Fühlen Sie sich nicht gut, Miß Krüger?«

»Doch, warum?«

»Sie sehen so blaß aus.«

Sie lächelte gezwungen. »Es geht vorüber.«

Er legte seine Hand beruhigend auf die ihre, sie war warm und wohltuend.

Dann rollte der Jet auf der Rollbahn aus. Die Gefahr war vorüber, die Erde hatte sie wieder. Linda entspannte sich und zog ihre Hand errötend unter der seinen hervor.

R o m !

Für Linda lief alles wie in einem Film ab. Steven war ein guter Fremdenführer. Rom war faszinierend. Alles Leben schien sich auf der Straße abzuspielen. Die vielen Treppen, die sie rauf und runter gelaufen waren. Lindas Füße taten weh.

Auf der Via Vecchio tranken sie Kaffee und ruhten sich aus. Sie ließen die Passanten an sich vorüberziehen. Es schien, als wären alle Völker Europas und des Orients zusammengekommen, um auf dieser berühmten Straße zu flanieren.

Zwei Stunden sind schnell um, und so drängte Steven zum Aufbruch. Ein kurzer Zwischenstop in Milano, bei dem sie das Flugzeug allerdings nicht verlassen durften. Hier leerte sich die Maschine zur Hälfte. Milano, dachte Linda, auch eine faszinierende Stadt, die sie leider nicht besichtigen konnte.

Milano, Frankfurt, dann kam Berlin.

»Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Mr. May«, sagte Linda. »Sie haben mir die Angst vor dem Aufenthalt in Deutschland genommen, ich fühle mich nicht mehr so unendlich allein. Ich danke Ihnen für Rom und für das Gespräch und für Ihren guten Rat, den Sie mir gegeben haben. Es hat mir alles so gut gefallen.« Beinahe hätte sie gesagt, wie gut es an seiner Seite gewesen war und daß sie es bedaure, daß sie sich nun trennen mußte, aber sie sagte es nicht.

»Ich habe Ihnen zu danken, Miß Krüger.«

»Linda!« sagte sie. »Bitte, sagen Sie Linda!«

»Dann müssen Sie auch Steven zu mir sagen.«

»Herzlich gerne, Steven.«

*

Steven hatte sie noch bis zum Haus des Notars begleitet. Er hatte ihr alles Gute gewünscht, sich unten vor dem Haus von ihr verabschiedet, dann war er gegangen.

Linda bedauerte die Trennung zutiefst, denn sie hatten sich nicht mehr verabredet. Nun stieg sie in den Lift, der sie in die fünfte Etage brachte.

Ein Schild mit großen Lettern zeigte ihr Ziel an. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Was würde sie hinter dieser Tür erfahren? Dann betrat sie entschlossen einen großen Raum. Sie sah einige Schreibtische, auf denen jeweils Computer standen, junge Mädchen saßen davor und schrieben ohne aufzusehen. Sie fragte nach dem Notar und wurde auf einen Nebenraum verwiesen, in dem die Sekretärin von ihrer Arbeit aufsah, als sie eintrat.

»Sie wünschen?«

»Ich bin Linda Krüger, ich komme gerade aus San Francisco.«

Die Sekretärin erhob sich und kam um ihren Schreibtisch herum, sie reichte Linda die Hand. »Oh, Miß Krüger, herzlich willkommen. Wir hatten Sie schon vor einigen Tagen erwartet.« Die Sekretärin schien über ihr Anliegen unterrichtet zu sein.

»Ich wäre auch gerne gekommen, aber ich mußte erst einige Formalitäten erledigen, schließlich habe ich meine Arbeit in Frisco und konnte nicht auf der Stelle weg.«

»Verstehe.«

Linda hatte nicht das Gefühl, daß dieses Fräulein sie verstand, aber sie war freundlich.

»Kann ich Herrn Dr. Thomar sprechen?«

»Es tut mir leid, Miß Krüger, Dr. Thomar ist im Gericht. Wir hätten Sie gerne vom Flugplatz abgeholt, aber leider wußte niemand, wann Sie kommen würden.« Linda dachte an Steven und lächelte. Wenn sie abgeholt worden wäre, hätte sie nicht mehr die Stunde mit ihm genießen können.

»Sehr freundlich«, sagte sie. »Vielleicht hätte ich Ihnen ein Telegramm schicken sollen, ich muß gestehen, daß ich daran nicht gedacht habe. Es ging in Frisco alles so schnell. Wann ist Dr. Thomar zu sprechen? Sie werden verstehen, daß ich sobald als möglich zurückfliegen möchte.«

»Wenn Sie gegen drei Uhr noch einmal vorbeischauen würden, ich denke, dann wird er Sie empfangen können. Wir haben viel zu tun, wissen Sie, jede Stunde ist bei uns eingeplant.«

»Gewiß«, sagte Linda zurückhaltend, »ich bin auch nicht zu meinem Vergnügen hier.« Sie war ärgerlich, ärgerlich über sich selbst, daß sie nicht daran gedacht hatte, sich anzumelden. Nun mußte sie sich einen versteckten Rüffel gefallen lassen. Sie war selbst schuld daran. »Dann also bis fünfzehn Uhr.« Linda ging langsam die Treppen hinunter. Sie ärgerte sich, nun mußte sie sehen, wie sie die Zeit abbummelte, und sie kannte sich in Berlin überhaupt nicht aus.

›Ich bin überzeugt, das Gespräch wird zu Ihrer Zufriedenheit ausfallen, Miß Krüger‹, hatte die Sekretärin zum Abschied gesagt und geheimnisvoll gelächelt. Sie war jetzt überaus freundlich, wahrscheinlich kannte sie das Testament und wußte, was Linda erwartete. Die Zeit würde ihr lang werden und die Stunden würden sich bis zum Nachmittag endlos hinziehen. Berlin war eine große Stadt und womöglich verirrte sie sich und kam nicht rechtzeitig zurück. Das wollte sie unter gar keinen Umständen.

Als sie unentschlossen auf die Straße trat, sah sie Steven May an eine Säule gelehnt stehen. Einen Augenblick lang jubelte ihr Herz und tat ein paar schnelle Schläge. Sie war angenehm überrascht, daß er scheinbar auf sie wartete und flog ihm mehr als sie ging, entgegen.

»Oh, Steven, welch eine wunderbare Überraschung!« rief sie.

»Ich habe auf Sie gewartet, Linda«, sagte er. »Womöglich haben Sie noch etwas Zeit und ich kann Ihnen ein Stück von Berlin zeigen.«

»Wie haben Sie wissen können, daß ich gleich wieder unten bin?«