Mami 1846 – Aus Liebe zu diesem Kind

Mami –1846–

Aus Liebe zu diesem Kind

Roman von Eva-Maria Horn

»Ich überlege, ob du nicht besser das blaue Abendkleid anziehen solltest.« Harald legte den Finger an die Nase und betrachtete Pia gründlich.

»Nein, ich ziehe mich nicht noch einmal um.« Noch amüsierte Pia sich. »Du musterst mich wie ein Kunsthändler ein Bild, der sich nicht schlüssig ist, ob er es kaufen soll oder nicht.«

»Du nimmst die Sache einfach nicht ernst, Pia Bergmann.« Er musterte das Mädchen anklagend. »Ich muß dir doch nicht noch einmal erzählen, wie wichtig dieser Abend für mich ist. Du ahnst ja gar nicht, wie schwierig es für mich war, eine Einladung zu bekommen.«

Es sah aus, als wollte er mit allen fünf Fingern durch sein schwarzes Haar fahren. Er unterließ es dann aber, um seine Frisur nicht durcheinander zu bringen.

»Du brauchst es mir wirklich nicht noch einmal erzählen.« Pia drehte ihm den Rücken zu und musterte ihr Gesicht in dem kostbaren venezianischen Spiegel, der einmal über dem Kamin im Wohnzimmer ihrer Eltern hing. Das Getue um diesen Abend ging Pia schon längst auf die Nerven.

Harald sprach wie ein Schulmeister, der seiner begriffsstutzigen Schülerin Verhaltensmaßregel gab.

»Pia, heute abend treffe ich alle einflußreichen Leute, die für mich wichtig sind. Du kannst als Architekt enorm viel auf dem Kasten haben, das zählt nicht. Beziehungen zählen.«

Er holte tief Luft und reckte sich zu seiner ganzen Größe auf. Es klang wie ein Schwur: »Die Beziehungen knüpfe ich heute abend. Und du hilfst mir dabei. Deine Eltern waren in dieser Stadt bekannte Persönlichkeiten. Einige werden sich bestimmt an deinen Vater erinnern. Pia, sei ein braves Mädchen, hilf mir.«

Pa zupfte eine Locke in die Stirn. Wenn Harald wußte, daß sie nicht beim Friseur gewesen war, drehte er vermutlich durch. Das Haar machte Pia keine Mühe, mit dem Make-up war es leider schwieriger. Wenn Pia ihr Haar frisch gewaschen hatte und die Kamillenspülung nicht vergaß, mußte sogar Harald annehmen, daß diese perfekte Frisur das Werk eines Meisters war. Der silberblonde Schimmer betonte die natürliche Bräune ihres schmalen Gesichtes.

»Soll ich das Haar aufstecken?«

Er überlegte und schüttelte dann den Kopf. »Nein. Du siehst zwar mit dieser Frisur jünger aus, aber wenn es dir bis zu den Schultern fällt, bekommt dein Gesicht eine aparte Note.«

Er stand genau unter dem Bild ihrer Eltern, wippte mit den Füßen, hatte die Hände in den Hosentaschen. Der maßgeschneiderte Abendanzug machte ihn schlanker, als er in Wirklichkeit war. Das Geld für den Anzug hatte er sich von Pia borgen müssen.

»Pia«, bat er sie eindringlich, »ich flehe dich an. Halte dich in allem zurück. Du kennst dich ja, wenn jemand auf soziale Themen zu sprechen kommt und nicht deiner Meinung ist, flippst du aus. Bitte lach auch nicht so hemmungslos. Von mir aus kannst du das schüchterne junge Mädchen spielen…

»Das einfältig lächelt und keine eigene Meinung besitzt. Harald Denner, mach mich nicht verrückt.«

Harald kannte Pias Temperament und lenkte rasch ein.

Er zauberte ein verführerisches Lächeln in sein viel zu angespanntes Gesicht.

»Du hast ja recht, Liebste, ich übertreibe mal wieder. Es ist doch nur, weil sich endlich eine Tür für mich, für uns öffnet. An deiner Seite kann man mich einfach nicht übersehen. Wer ist denn der Mann neben der schönen Pia Bergmann? Das ist doch der junge vielversprechende Architekt, der sich in

der Römergasse niedergelassen hat?!

Die Stadt vergibt lohnende Arbeiten. Man muß nur dazwischen kommen. Und heut abend gelingt es mir, ich spüre es in den Fingerspitzen. Ich habe es satt, jeden Groschen dreimal umdrehen zu müssen. Ohne Beziehung kann das noch Jahre so weitergehen. Pia, meinst du nicht, du solltest zu diesem langen dunklen Samtrock die rote Bluse tragen? Versteh mich richtig, die gelbe Bluse steht dir ausgezeichnet, wirklich, aber sie ist viel zu hoch geschlossen, da kommt dein Schmuck ja überhaupt nicht zur Geltung.«

»Weißt du, was meine Mutter immer sagte? Jugend ist der beste Schmuck. Die rote Bluse ist viel zu auffällig. Für meine Begriffe auch zu weit ausgeschnitten. Ich bleibe so! Ich fühlte mich so wohl. Wollen wir gehen?«

Er seufzte und nickte. Wenn Pia und er verheiratet waren, würde er schon ihren Kopf zu beugen wissen. Er konnte es nicht ertragen, wenn er sich ihr unterlegen fühlte. War es seine Schuld, daß sein Vater nur Arbeiter gewesen war, der ihre aber ein höherer Beamter?

»Ich überlege, Pia, ob wir ein Taxi nehmen sollen!«

»Was ist mit deinem Auto? Hast du zu tanken vergessen? Wir können natürlich auch meinen Fridolin nehmen.«

Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und schloß umständlich die Tür auf. Pia wohnte im elterlichen Haus, das sie vermietet hatte. Die Mansarden hatte sie sich als Wohnung ausgebaut, bezaubernd war sie geworden.

»In deiner Blechbüchse?« wehrte er entsetzt ab, während er mit ihr die Treppe hinunterging. Die Wohnungstür öffnete sich. Frau Busse kam heraus und musterte Pia bewundernd.

»Zauberhaft sehen Sie aus, Fräulein Pia.« Für Harald hatte die Mieterin nur ein höfliches Kopfnicken. »Sie sollten im Theaterstück den Engel spielen, die Rolle ist Ihnen wie auf den Leib geschrieben.«

Pia lachte nur. »Haben Sie nicht einen kleinen Moment Zeit? Mein Mann würde sich freuen, wenn er Sie bewundern kann.«

Bevor Pia antworten konnte, erklärte Harald energisch: »Leider nicht. Wir haben uns sowieso schon verspätet.«

Er schob Pia die letzten Stufen hinunter.

»Ich ziehe es morgen früh an, Frau Busse. Dann komme ich zu Ihnen hinunter«, versprach Pia, bevor Harald sie durch die Haustür schob.

»Diese Frau geht mir auf die Nerven«, knurrte Harald und nahm nicht eben sanft ihren Arm. »Die mit ihrem Theaterfimmel.«

»Du bist ungerecht«, fuhr sie ihn wütend an. »Und zerr nicht an meinem Arm. Himmel, bist du nervös. Du solltest ein wenig Mitleid mit Frau Busse haben. Seitdem ihr Mann gelähmt ist, hat sie als einzige Abwechslung das Theater. Willst du wirklich zu Fuß gehen?«

»Ja.« Er ging jetzt langsamer, sie spürte, daß er verlegen war, sofort schwand ihr Ärger auf ihn.

»Sie werden alle tolle Autos fahren, Pia. Ich meine, die kurze Strecke können wir wirklich zu Fuß gehen. Es ist so ein schöner Abend. Wir gehen durch den Park, am See vorbei. Du liebst doch die Wege dort, oder kannst du in den Schuhen nicht laufen?«

»Doch. Mach dir keine Gedanken.«

Vermutlich hat er kein Geld für ein Taxi, überlegte sie. Er konnte sich doch nicht wirklich seines Autos schämen, so albern war ja niemand.

»Verzeih, Pia, wenn ich kein guter Begleiter bin«, entschuldigte er sich, während er zärtlich ihren Arm drückte, »aber ich bin aufgedreht.«

»Das kenne ich«, lachte sie liebevoll, »das ist, als hätte man ein Hornissennest im Bauch. Es wird alles gut werden, Harald, du wirst es sehen. Im übrigen kann man einen tüchtigen Architekten, der so gut aussieht wie du, einfach nicht übersehen. Du machst dir viel zuviel Gedanken.«

Abrupt blieb sie stehen und hob lauschend den Kopf.

»Hör’ mal, Harald, ruft da nicht jemand um Hilfe?«

Er hatte es längst gehört.

»Ach wo. Und was geht uns das an?« Energisch zog er sie weiter, das heißt, er wollte sie weiterziehen. Aber unsanft befreite sie sich von ihm und rannte über den Rasen zum See hinunter.

Ein alter Mann stand am Rand und fuchtelte verzweifelt mit den Armen durch die Luft.

»Da… ein Kind… ich kann doch nicht…«

Im verschwimmenden Licht sah Pia einen Arm, der aus dem Wasser schnellte, jetzt einen Kopf, und ein gellender Schrei:»Hilfe…«

»Pia, bist du verrückt… was soll das? Pia, komm sofort zurück… was geht uns das an…«

Harald stolperte über den Rasen, er starrte auf Pia und er hätte heulen können, so wütend war er.

Pia riß den Rock herunter, im Laufen streifte sie die Schuhe ab, sie flogen ins Gras, die Handtasche hatte sie längst fortgeworfen. Sie lag eben der eleganten Jacke, die in Haralds Augen viel zu teuer gewesen war. Jetzt würde sie voll Grasflecken sein, wie der Rock, der vor den Füßen des alten Mannes lag.

Aber das alles dachte Harald nur verschwommen. Er fühlte sich betrogen, er war ohnmächtig vor Wut.

Ein Ehepaar kam gelaufen, der alte Mann rief ihnen zu: »Schnell einen Krankenwagen… lieber Gott, hilf, daß das Fräulein es schafft…«

Harald drehte sich um und rannte fluchtartig davon. Das würde er Pia nie vergessen. Nie. So wichtig war er ihr! Was hatte das Kind um diese Zeit am See zu tun? Wenn es hineinfiel, war es nicht Pias Sache. Vermutlich kam das Gör aus den Siedlungen, die ohnehin ein Schandfleck waren.

Von alledem bemerkte Pia nichts. Sie kraulte mit kräftigen Zügen zu der Stelle, an der sie das Kind gesehen hatte. Jetzt. Jetzt… da war der Kopf… war im selben Augenblick wieder verschwunden.

Pia tauchte blitzschnell, ihre Gedanken waren ausgeschaltet, es war, als führte eine fremde Macht in ihrem Körper Regie. Sie spürte die kräftige Strömung, die dem Kind vermutlich zum Verhängnis geworden war, tauchte wieder auf, starrte angestrengt über das Wasser. Nichts.

Wieder tauchte sie, hielt weit die Augen auf… da… ein dunkler Schatten, der regungslos im Wasser trieb.

Als sie das Kind faßte, fest umklammert hielt, setzte ihr Verstand wieder ein.

Pia war eine ausgezeichnete Schwimmerin, die Rettung Ertrinkender hatte sie oft genug im Schwimmbad geübt.

Das hier war etwas anderes. Das Kind hing leblos in ihren Armen, war schwer wie Blei. Sie hielt seinen Kopf über Wasser, sie feuerte sich selbst an, schneller zu schwimmen. Es war, als wäre das Ufer meilenweit entfernt. Einmal wollten ihre Kräfte schwinden, aber sie schaffte es… sie schaffte es.

Pia spürte Grund unter den Füßen, sie wollte das Kind aufrichten, aber da wurde es ihr schon aus den Armen genommen. Sie hörte Stimmen, das Heulen des Rettungswagens.

In ihren Ohren sauste und dröhnte es, Nebel schwammen vor ihren Augen.

Sie sah undeutlich zwei Männer, die über den Rasen liefen, eine Trage zwischen sich. Sie sah das Kind auf dem Rasen liegen, jemand preßte ihm die Arme auf die Brust. Dünne weiße Ärmchen waren es.

»Hängen Sie sich Ihre Jacke über.« Pia zuckte bei der Berührung zusammen und sah flüchtig auf. Der alte Mann war es, Tränen liefen über seine Wangen. »Sie dürfen sich nicht erkälten. Hier sind Ihr Rock und Ihre Schuhe. Ihre Handtasche habe ich auch. Daß es so etwas noch gibt, so etwas Mutiges, Selbstloses.«

Pias Zähne klapperten, sie nahm den Rock, stieg blitzschnell hinein, mechanisch streift sie die Schuh über.

»Wo ist das Mädchen?« hörte sie jemanden rufen. Sie sagte nichts, blitzschnell trat sie hinter einen Baum, der dicke Stamm schützte sie vor den Blicken. Einmal hatten Harald und sie ihren Rücken an den alten Stamm gelegt und sich geküßt.

Wie lächerlich, jetzt daran zu denken.

Im Laufschritt trug man die Trage zum Wagen, der auf dem Weg stand.

»Das Mädchen sollte mitfahren«, hörte sie den Mann rufen.

»Man sucht Sie.« Der alte Mann trat neben sie. Sie würde dieses Bild nie vergessen, es grub sich nicht nur in ihren Kopf, es grub sich auch in ihr Herz hinein.

Er trug einen alten, verschlissenen Mantel, Schuhe, die ganz sicher nicht sehr wärmten, sie sah in sein faltiges, unrasiertes Gesicht… und fühlte sie angerührt von seinen Augen.

Sie wirkten so jung, so wissend…

»Ihr Begleiter ist davon gelaufen.« Seine Stimme war voller Groll, verächtlich setzte er hinzu: »Dem war alles andere wichtiger als das Kind, das Hilfe brauchte. Ich habe selten mein Alter so verflucht wie in den letzten Minuten.«

Ihre Blicke trafen sich. Das Licht der altmodischen Parklaterne fiel über sein Gesicht. Sie sah seine Armut… und sie spürte sein Mitfühlen.

Es waren nur wenigen Minuten, die sie beieinander waren. Aber Pia würde sie nie vergessen.

Ohne nachzudenken öffnete sie ihre Handtasche, holte einen großen Geldschein aus ihrer Börse.

Entsetzt wehrte er ab. »Nicht ich, sondern Sie haben eine Belohnung verdient.«

»Das ist für die Angst, die Sie um den fremden Jungen ausgestanden haben. Als Sie jünger waren, hätten Sie bestimmt so gehandelt wie ich.«

Sie stopfte das Geld in seine Hand und rennte davon. Den Rock mußte sie anheben. Es war gut, daß niemand zu sehen war. Wie Pia nach Hause gekommen war, hätte sie später nicht zu sagen gewußt. Aber als sie die Haustür hinter sich ins Schloß fallen ließ, überfiel sie heftiger Schüttelfrost. Es war ein Segen, daß Frau Busse und ihr Mann vor dem Fernsehapparat saßen und sie nicht hörten.

*

Pia fühlte sich ein wenig angeschlagen, aber sie hatte weder einen Schnupfen noch andere Beschwerden.

Sie frühstückte im Stehen und sah vom Fenster aus in den Garten hinunter. Die Sonne schien auf die Blumen, die Pias Mutter noch gepflanzt hatte. Aber daran dachte Pia jetzt nicht. Sie, die sonst voll Wehmut war und die Tränen zurückhalten mußte, wenn sie den Garten betrachtete, dachte jetzt an das Kind.

Ob es lebte? Ob es das Bad ohne Schaden überstanden hatte?