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Inhaltsverzeichnis

Über den Autor
Widmung
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Danksagung
Copyright

Danksagung

Ich danke allen Lesern der FEUER-Romane, dass sie sich in die Kriegerdrachen verliebt und ihren Enthusiasmus mit mir geteilt haben. Ich freue mich immer außerordentlich, von euch zu hören und all eure Fragen zu bearbeiten, auch wenn ich sie aus Furcht, zu viel zu verraten, nicht alle beantworten kann!

Abertausendmal danke ich Christine Witthohn, Eleni Caminis, Melody Guy, Nancy Berland und Kim Miller für ihre harte Arbeit, ihr unglaubliches Verständnis und ihre Unterstützung. Mit euch zu arbeiten ist eine Freude.

Ebenfalls danke ich dem gesamten Amazon Publishing Team, dessen Talent, Energie und Einsatzfreudigkeit grenzenlos ist.

Mein Dank und meine Liebe gehen an meine Familie (an diejenigen, mit denen ich verwandt bin, und an diejenigen, die ich adoptiert habe) und an all meine Schriftstellerfreunde.

Wie immer umarme und küsse ich meinen Ehemann. Nichts von alledem wäre möglich ohne dich.

Zu guter Letzt danke ich Kallie Lane  – dafür, dass du mir den Weg gezeigt hast.

Ich erhebe mein Glas auf euch alle!

DIE AUTORIN

Coreene Callahan arbeitete nach ihrem Psychologiestudium zunächst als Innenarchitektin, bevor sie beschloss, sich ausschließlich ihrer ersten großen Liebe zu widmen: dem Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Kanada.

 

Weitere Informationen zu Autorin und Werk erhalten Sie unter:

www.coreenecallahan.com

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www.twitter.com/HeyneFantasySF@HeyneFantasySF

www.heyne-magische-bestseller.de

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Mac hatte immer schon schlecht geschlafen. Egal ob tagsüber oder nachts, gesunde acht Stunden Tiefschlaf kannte er praktisch nicht. Er hatte alles ausprobiert: seine harte Matratze gegen eine weichere ausgetauscht, das Bett mit Seidenlaken bezogen und die besten Kissen gekauft, die man für Geld bekam. Er hatte es mit seinem bequemen Lehnsessel versucht und mit Hardcore-Sex vorm Schlafengehen. Nichts half. Was er auch anstellte, mehr als maximal drei Stunden schlief er nie durch.

Was viel erklärte.

Zum Beispiel, warum er allein in dem Fitnessraum war, den er mit den anderen Nightfury-Drachenkriegern teilte, statt sich warm eingemummelt im Bett die empfohlene Menge Schlaf reinzuziehen. Sieben Stockwerke unter der Erde befand sich ihr Hauptquartier Black Diamond, ihre Drachenhöhle, die mit dem Besten vom Besten ausgestattet war: mit erstklassigen Fitness-Geräten, einem Basketballplatz und einem Raum voller Werkzeuge zum Schärfen von Drachenkrallen. Die Tatsache, dass er allein war, sagte alles. Keiner seiner Waffenbrüder litt an Schlaflosigkeit. Zweifellos schliefen alle tief und fest unter ihren Daunendecken und träumten von einer heißen Superbraut. Was …

… Mac zum alleinigen Patienten in der Abteilung Schlafmangel Chez Nightfury machte.

Verdammt ärgerlich. Und heute war das Problem noch größer.

Mac versuchte, seinen Frust abzuschütteln und rollte seine Schultern, um locker zu werden. Er konnte es sich nicht leisten zu versagen. Oder seine neue Familie im Stich zu lassen. Nicht schon wieder. Die anderen Krieger zählten auf ihn. Vertrauten darauf, dass er lernen würde, die Zauberkraft zu beherrschen, über die er als männlicher Drachenkrieger verfügte, um ein vollwertiges Mitglied des Nightfury-Clans zu werden. Spielte es eine Rolle, dass er erst seit Kurzem wusste, dass er ein Halbdrache war? Dass die Magie in seiner DNA, die die Verwandlung in Gang gesetzt hatte  – die ihm ermöglichte, sich von einem Menschen in einen Drachen zu verwandeln und wieder zurück  –, erst vor knapp einem Monat eingesetzt hatte?

Nicht im Geringsten.

Zeit wartete auf niemanden und scherte sich einen Dreck um Fähigkeiten. Und ebenso wenig tat es Mac.

Um Seite an Seite mit seinen Brüdern zu kämpfen, musste er beweisen, dass er zu ihnen gehörte. Also, jawohl. Er musste es auf die Reihe kriegen … und zwar jetzt.

Zu dumm, dass die Durchführung seines Plans einem Katastrophenszenario glich.

Seine Drachenhälfte war nämlich absolut undiszipliniert und machte, was sie wollte: sie kam und ging nach Belieben, sprang ihm ins Gesicht, unterbrach seinen Bewegungsablauf, ließ sich einfach nicht von ihm kontrollieren. Alle Überredungskünste halfen nicht. Auch nicht, den Bastard wie ein Baby zu behandeln. Und ihr zu drohen? Verdammt, bei den wenigen Versuchen damit hatte ihn ein fieser Stromschlag getroffen. Was blieb ihm also?

Beten.

Mac atmete tief durch. Allein bei dem Gedanken konnte er rasend werden und nur kommt nicht infrage denken  – schließlich war der Bastard ein Teil von ihm, und nicht andersherum  –, aber verzweifelte Lagen verlangten verzweifelte Maßnahmen. Wenn er es weiterhin vermasselte, würde er nicht bekommen, was er wollte. Verdammt … sagen wir lieber ersehnte. Er brauchte die Zustimmung der Nightfury. Ohne sie würde er als Kämpfer im Krieg gegen die Razorback nicht akzeptiert werden, einer abtrünnigen Bande von Drachenkriegern, deren Ziel die Auslöschung der Menschheit war.

Wütend starrte er das nächstgelegene Krafttrainingsgerät an. Die Vibrationen, die er ausstrahlte, setzten das Gerät derartig in Schwingungen, dass die Nieten, mit denen es im Boden verankert war, anfingen zu knarren. Als das Quietschen zunehmend unrhythmischer wurde, fing das fluoreszierende Licht über seinem Kopf an zu flackern, und es knisterte in der Stille. Eine Sekunde, bevor die Glühbirnen explodierten, fuhr Mac seine überlastete Energie herunter. Himmel, er hatte sich noch nie so sehr selbst angekotzt.

Fitnessgeräte zu schrotten würde ihm nur noch mehr Aufmerksamkeit einbringen. Und zwar von der Sorte, die er null brauchte, von der oben immer noch schlafenden Mannschaft. Er schnaubte. Die Untertreibung des Jahrhunderts. Bastian, sein neuer Befehlshaber, würde ihm den Arsch aufreißen, wenn er diese Woche noch irgendetwas zerstörte. Besonders, nachdem er seine Faust unbedingt durch eine Wand stoßen musste.

Mac hob die Arme, umfasste mit beiden Händen seinen Hinterkopf und presste ihn nach unten, drückte sein Kinn in Richtung Brust. Seine angespannten Muskeln peinigten seinen Rücken. Während heftiger Schmerz ihn packte, starrte er den Fußboden unter seinen nackten Füßen an. Die Klettverschlüsse der nebeneinanderliegenden Turnmatten verbanden sie zu einem perfekten Ganzen, ließen keinen Millimeter Zwischenraum zu. An jedem anderen Tag hätte ihm die Präzision gefallen. Hätte er sich über die ordentlichen Ecken und sauberen Kanten gefreut. Heute machte ihn der Anblick einfach nur krank.

So passgenau. So auf derselben Wellenlänge. So perfekt in jeder Hinsicht.

So ganz anders als er. Er war eine totale verdammte Katastrophe. Der einzige Kerl im Black Diamond, der seinen Kram nicht auf die Reihe kriegte.

Macs Kopfschmerzen nahmen zu, seine Schläfen pochten heftig. Das Ganze war totaler Schrott. Das Versagen. Jede Niederlage. Die Tatsache, dass seine Magie nicht so wollte wie er. Und als sich Furcht und Unsicherheit meldeten, schüttelte er den Kopf. Es sollte doch nicht so schwierig sein. Er war immer und überall spitze gewesen  – in der Schule, beim Sport, beim Militär und in der Kampfkunst. Nichts hatte ihn jemals an seine Grenzen gebracht  – bis jetzt.

Warum hatte er so ein großes Problem? War es die Sache mit dem Wasser? Die meisten Drachen hassten Wasser und vermieden es ihr Leben lang. Aber nicht Mac. Getreu seiner Abstammung zog er es als Wasserdrache vor, sich im Ozean aufzuhalten. Je tiefer, desto besser, Hauptsache, es war irgendeine Art von Gewässer. Man gebe ihm einen See, einen Fluss oder einen Swimmingpool in Olympiagröße, und ab ging die Post. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen Nightfury erklärte allerdings nicht, warum seine Magie ihm nicht gehorchte.

Er runzelte die Stirn und dachte darüber nach, suchte nach Antworten. Fand keine. Keine kluge Erklärung. Kein Aha-Moment. Nur ein weiteres großes Informationsloch.

Mac atmete tief durch und machte weiter. Aufgeben gehörte nicht zu seinem Wortschatz, und während er den Atem anhielt und das Brennen genoss, hoffte er, dass er mit diesem letzten Mal den Zauber heraufbeschwören konnte. Er brauchte die Verbindung mit seiner Drachenseite so, wie er Beine brauchte, um stehen zu können. Er atmete aus, holte erneut tief Luft und atmete wieder aus.

Einatmen. Luft anhalten. Ausatmen.

Mac wiederholte diese Abfolge wieder und wieder, benutzte die Atemtechnik, die er bei der Navy gelernt hatte. Nach einer Weile verlangsamte sich sein Herzschlag. Sein Körper beruhigte sich. Als seine chaotischen Gedanken abebbten, erfassten ihn andere Gefühle, von denen er sich treiben und mitziehen ließ. Als er sich entspannte, spürte er die Magie in sich.

Mannomann, war das wundervoll.

Leibhaftige Macht und Magie ließen ihn von innen heraus aufleuchten.

»Komm schon, bleib bei mir«, murmelte er.

Seine Worte schwirrten durch die Stille, hallten wider im Fitnessraum, erinnerten ihn daran, dass er allein war. Was auch gut war. Er wollte nicht, dass irgendjemand Zeuge der Katastrophe wurde, sollte er wieder versagen. Nennen wir es Stolz. Nennen wir es Ego. Nennen wir es große Angst davor, sich lächerlich zu machen. Was auch immer. Es spielte keine Rolle, solange er den Zauber nicht zu fassen bekam und sich unsichtbar machen konnte. Und diese Fähigkeit war nicht optional. Wenn er den Tarnzauber nicht beherrschte  – schwarz und unsichtbar zu werden am Nachthimmel  –, konnte er nicht gemeinsam mit seinen Brüdern kämpfen. Und wenn er nicht mitwirken konnte als Krieger, war er den Platz nicht wert, den er belegte.

Tief in der Zone, schloss Mac die Augen. Er veränderte den mentalen Fokus, konzentrierte sich auf den dünnen Faden der Magie, als …

»Bist du immer noch dabei?«

Der starke schottische Akzent schreckte ihn auf, und Mac zuckte zusammen. Sein Drache zog sich zurück. Fluchend kämpfte Mac darum, ihn zu halten, klammerte sich an die fragile Verbindung und beschwor seinen Drachen, bei ihm zu bleiben. Die magische Fessel riss und löste sich auf, ließ ihn mit leeren Händen in der Dunkelheit zurück.

Mac öffnete die Augen, spähte hinüber zum Haupteingang und funkelte den Neuankömmling an.

Eine Schulter an den Türrahmen gelehnt sah Forge ihn fragend an: »Läuft’s nicht gut?«

»Du Mistkerl«, knirschte Mac mit zusammengebissenen Zähnen. Er ballte die Fäuste, bereit, Forge eine kräftige Abreibung zu verpassen, weil er ihn unterbrochen hatte. »Wonach sieht es denn aus?«

»Für mich sieht es aus, als bräuchtest du eine Pause.« Mit verschränkten Armen musterte Forge ihn ernst. »Und etwas Schlaf. Wann hast du das letzte Mal gegessen?«

Gute Frage. Mac hatte keine Antwort darauf. Was ihm aber auch egal war. »Verdammte Scheiße. Du hast es mir versaut. Ich war nur Sekunden davon entfernt, den …«

»Den Tarnzauber zu schaffen?«

»Ja, verdammt noch mal.«

»Du bist noch nicht soweit, Mac.«

Er warf seinem neuen Freund jede Menge Schimpfwörter an den Kopf.

»Ich will dich nicht sauer machen«, sagte Forge und klang dabei so aufrichtig, dass Mac ihm am liebsten den Kopf abgerissen hätte. »Du bist zu ungeduldig, treibst deine Magie in gefährliche Höhen. Ist einfach nicht sicher, Junge. Deine Verwandlung liegt noch nicht lange zurück. Du solltest auf keinen Fall einen Tarnzauber beschwören. Du hast noch jede Menge zu lernen, bevor wir dazu kommen. Dafür musst du verdammt viel stärker sein, weswegen du auch essen und schlafen solltest zwischen deinen Trainingseinheiten.«

Das »Wir« in dem Satz ärgerte Mac mächtig, auch wenn es nicht der Fall sein sollte. Jedem männlichen Drachenkrieger wurde ein Mentor zugeteilt, nachdem er durch die Verwandlung gegangen war  – ein vollausgebildeter Kämpfer, um ihm die Spielregeln beizubringen und ihn zu trainieren. Forge war seiner, und, ehrlich, meistens war Mac dankbar für den tödlichen Mistkerl. Aber nachdem er ihm gerade seine Verbindung vermasselt hatte, stand der Mann offiziell auf seiner Abschussliste. »Hau ab! Ich muss das in den Griff kriegen, bevor die anderen aufstehen und sich fertig machen für die Nacht.«

»Alle sind bereits wach und in der Küche.«

Mac knirschte mit den Zähnen. Er war zu spät dran. Wenn das Abendessen bereits auf dem Tisch stand, hatte ihn das Glück verlassen. In einer Stunde würden sich die Nightfury bereitmachen für eine Nacht, in der sie ausschließlich ihrer Lieblingsaktivität nachgehen würden  – Razorback jagen und töten. Und was bliebe ihm? Die Wände hochgehen, während er zurückgelassen würde. Wieder mal.

»Hat Bas dich geschickt, um mich abzuholen?«, fragte Mac und versuchte, seine Enttäuschung hinunterzuschlucken.

»Bastian möchte, dass sich der gesamte Clan versammelt«, sagte Forge und stieß sich vom Türrahmen ab. »Gemeinschaftsessen oder etwas in der Art.«

Mac dehnte seine Schultern und nickte. Wahrscheinlich keine schlechte Idee. Der Nightfury-Clan war kürzlich ganz schön aufgerüttelt worden, und alle mussten sich erst an die Tatsache gewöhnten, dass er und Forge jetzt dazugehörten. Neue Mitglieder in einer eng verbundenen militärischen Einheit zu akzeptieren, war nie einfach. Mac wusste das aus Erfahrung. Seine Zeit in der menschlichen Welt  – zuerst als Teil von SEAL Team Six und dann als Detective für das Seattle Police Department  – hatte ihn einiges gelehrt. Als Erstes? Vertrauen war zwingend erforderlich für den Zusammenhalt einer Gruppe. Warum? Nun, wenn du einem Typen nicht traust, willst du auf keinen Fall, dass er dich in einem Feuergefecht deckt.

Die Tatsache, dass Bastian das Prinzip nicht nur verstand, sondern Schritte unternahm, um das Problem zu bereinigen, war keine Überraschung. Der Kommandant der Nightfury war streng, zuverlässig, klug und gleichzeitig unglaublich brutal an vorderster Front. Der Zusammenhalt des Clans und die Gesundheit jedes einzelnen Mitglieds hatten erste Priorität für ihn, besonders unter Berücksichtigung der explosiven Mischung von Persönlichkeiten und hitzigen Gemütern, die Black Diamond ihr Zuhause nannten.

»Und…« Mac sah ihn fragend an. »Haben wir ein Love-in oder etwas in der Art?«

»So weit würde ich nicht gehen.« Forge grinste ihn teuflisch an. »Frosty ist immer noch sauer auf mich.«

»Aus gutem Grund«, murmelte Mac und unterdrückte ein Grinsen. Rikar, Bastians Stellvertreter, war auf hundertachzig, und Forge stand ganz oben auf seiner Wem-ich-als-Nächstes-den-Kopf-abreiße- Liste. Gott sei Dank. Mac hatte schon genug Sorgen für den Moment. Sich sein Gesicht von Rikar neu gestalten zu lassen, weil man seine Gefährtin während einer Kraftprobe mit den Abtrünnigen ungeschützt zurückgelassen hatte, brauchte er wahrlich nicht. »Ange wird ihn wieder zu sich bringen.«

»Mist, ich hoffe nicht.« Forge zwinkerte, zog eine Grimasse und tat, als wäre er in Alarmbereitschaft. »Ich freue mich auf den Kampf.«

Mac schüttelte den Kopf und genoss die großspurige Attitüde seines neuen Freundes. Meistens war er genauso. Zu schade, dass der anstrengende Tag ihm den Großkotz ausgetrieben hatte.

Seinen Blick wieder auf die Turnmatten gerichtet, sagte Mac: »Geh essen, Mann. Ich komme gleich nach.«

»Mac …«

»Gib mir noch eine Stunde. Ich hatte es beinahe geschafft.«

Eine Bewegung blitzte in seinem Gesichtsfeld auf, und Mac fluchte leise. Verdammter Forge. Der Mann hatte nicht die Absicht, ihn in Ruhe zu lassen. Hatte vor, ihn an seinen Eiern aus dem Schlupfwinkel zu ziehen und ihn nach oben zum Essen zu zerren. Mac wusste es, als würde er selbst da stehen, die Füße wie angewachsen, das Herz klopfend, die Fäuste geballt. Er roch förmlich Forges Besorgnis, während leise Fußtritte in dem Fitnessraum widerhallten, von den Betonwänden abprallten und jede Sekunde näherkamen.

Mit gesenktem Kopf verfolgte Mac das Geräusch, schärfte seine Wahrnehmung. Schwarze Kampfstiefel kamen in Sichtweite. Forge blieb am Rand der Übungsmatten stehen. Angespannt wartete Mac darauf, dass der Mann in seine Reichweite kam und ihm eine verpasste. Scheißkerl, aber er hoffte, dass Forge diesen Fehler machen würde. Er brauchte einen Kampf. Sehnte sich nach einer hart zur Sache gehenden Prügelei. Vielleicht würde er sich dann wieder besser fühlen. Weniger wie ein Versager und mehr wie er selbst.

Mentor oder nicht spielte keine Rolle. Ein Ziel war ein Ziel. Und wenn Forge beschloss, ihm den Gefallen zu tun und ihm eine direkt ins Gesicht zu verpassen, umso besser.

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Das Einzige, was Tania Solares mehr hasste als hässliche Schuhe, war, zu spät zu kommen. Das erste Problem konnte ein Mädchen letztendlich lösen. Verbessern. Improvisieren. Was auch immer. Beim zweiten war jedoch nichts mehr zu machen, sie hatte es vermasselt. Was bei genauerer Überlegung ihren Tag ziemlich gut zusammenfasste. Und weitere Fehler? Darauf konnte sie nach so einer verkorksten Woche wahrlich verzichten.

Nicht nur, dass sie ausgelaugt und total überdreht war. Sie steckte bereits bis über die Taille im Treibsand und sank rasend schnell. Und kein Beschützer, keine Lebensrettungsmannschaft in Sicht.

Tief durchatmend strich sich Tania das Haar aus der Stirn und schaltete einen Gang zurück in der S-Kurve. Ihr ’64er Mini Cooper schnurrte und glitt um die Kurve, katapultierte sie in die nächste Biegung. O ja, sie liebte diesen Abschnitt des Highways. Das Fahren machte richtig Spaß. Gab ihr das Gefühl, stark zu sein, sich wie ein Formel-1-Rennfahrer zu fühlen, der auf die Ziellinie zuraste.

Allerdings nicht heute. Die übliche Hochstimmung fehlte ganz und gar, stattdessen fühlte sie sich total leer. War ein einziger großer Schmerz bei dem Gedanken an ihre Schwester  – dem alleinigen Grund für diese einsame Fahrt. Tania unternahm sie zweimal im Monat, holte alles aus ihrem getunten Baby heraus auf dem Weg von Seattle nach Gig Harbor.

Was einfach nur schrecklich war.

Sie müsste viel häufiger fahren. Sollte ihre jüngere Schwester jedes Wochenende besuchen, nicht nur zweimal im Monat. Gott sei Dank verstand J.J. die Anforderungen, die ihr anspruchsvoller Job stellte. Sie wollte immer alles genau hören über die tollen Projekte, an denen sie arbeitete.

Als Landschaftsarchitektin in einer renommierten Firma hatte Tania viel zu erzählen: vom Projekt-Management, von Gestaltungsproblemen und -lösungen, von Klienten, die manchmal mehr Geld als Verstand besaßen. Das Thema spielte keine Rolle. J.J. saugte jedes noch so kleine Fitzelchen auf. Aber das rechtfertigte es nicht. Die Anforderungen ihres Jobs sollten nicht an erster Stelle stehen. Nicht wenn ihre Schwester sie brauchte. Sie war alles, was J.J. hatte  – die einzige Verbindung ihrer Schwester zur Außenwelt, sodass die langen Pausen zwischen ihren Besuchen nicht okay waren.

Aber Gott helfe ihr. Sie schaffte es einfach nicht. Konnte ihre Sorgen oder das Gefühl, nichts richtig zu machen, nicht verdrängen. Egal wie oft Tania versuchte, sich gut zuzureden  – oder wie viele Listen sie aufstellte  –, irgendetwas fiel immer durch den Rost. Sie jonglierte mit zu vielen Bällen. Hatte schlichtweg zu wenig Zeit. Es gab einfach zu viele Gelegenheiten, etwas zu vermasseln.

Und Freude über Freude? Der heutige Tag war ein ganz, ganz, ganz besonders übler Tag.

Sie war spät dran. Viel zu spät. Jetzt würde ihre Schwester sich sorgen und fragen, warum sie nicht kam.

Ihre Kehle verengte sich. Klassisch. Ein weiterer Ball fiel herunter, noch mehr Schuldgefühle auf dem ständig wachsenden Haufen. Noch etwas, wofür sie sich entschuldigen müsste, denn, jawohl: Es war ihr Fehler. Sie hätte niemals ans Telefon gehen sollen uf ihrem Weg nach draußen. Das war ihr erster Fehler gewesen. Und der zweite? Zu nett zu sein, sich festnageln zu lassen von einer blöden Umfrage über ihre Einkaufsgewohnheiten. Tania knurrte genervt, wechselte den Gang bei einem kurvenreichen Anstieg und schüttelte den Kopf.

Verfluchte ihre übereifrige Hilfsbereitschaft. Sie musste wirklich lernen, Nein zu sagen. Und dabei zu bleiben.

Und wenn sie schon mal dabei war, alte Gewohnheiten abzulegen: ein Nein anderer als Antwort zu akzeptieren, könnte auch nicht schaden. Das beste Beispiel? Das verfluchte Seattle Police Department. Sie wiesen sie weiterhin ab. Egal wie oft sie zur Polizeiwache ging  – sich zur Superpest zu entwickeln, hatte sich schnell zu ihrer Spezialität entwickelt  – und die Beamten bat, etwas zu unternehmen. Niemand hörte ihr zu. Und die für den Fall verantwortlichen Detectives?

Totale Penner.

Tania schluckte den Knoten in ihrer Kehle hinunter. Ah, bescheuert, nicht schon wieder. Sie musste sich zusammenreißen. Weinen war auch keine Lösung. Die Wassernummer hatte ihr weiß Gott nichts anderes gebracht, als sie noch mehr fertigzumachen, aber …

Sie blinzelte, schalt sich selbst, als ihre Sicht verschwamm und die ungewollten Tränen kamen, obgleich sie versuchte, sie zurückzuhalten. Tania tupfte sich die Augen ab. Na spitze, das war’s mit ihrer Mascara. Obgleich ihr Aussehen sie im Moment am wenigsten interessierte. Waschbäraugen zu haben, war ihre geringste Sorge.

Myst wurde noch immer vermisst.

Verschwunden, gekidnappt, tot, Tania wusste es nicht. Ihre beste Freundin könnte in den Händen eines Serienmörders sein oder noch Schlimmerem  – obgleich, wenn sie es sich recht überlegte, ein Psycho-Killer das absolut Schlimmste war, was sie sich vorstellen konnte oder wollte  – und was taten diese Schwachköpfe von Bullen?

Nichts. Verdammt noch mal, nichts.

Auf jeden Fall riefen sie nicht zurück. Keine große Überraschung. Sie nahm an, dass sie sie nur zurückrufen würden, um sie loszuwerden … besonders, da sie ihre Mailboxen mit Nachrichten überflutet hatte jeden Tag. Aber weder Keen noch MacCord hatten reagiert. Was könnte noch schlimmer sein? Dass auch die Detectives vermisst wurden, vermutete Tania. Aber das würde sie wissen. Schließlich hatte sie sich gezwungenermaßen als Stalkerin betätigt bei dem Versuch, etwas herauszufinden.

Bisher allerdings hatte sie nichts in Erfahrung bringen können. Eine große dicke Null an der Informationsfront. Was alle falschen Knöpfe auf ihrer inneren PlayStation betätigt und Tania einen Haufen Ärger eingebracht hatte. Das Paradebeispiel? Ihre Entscheidung, sich mit einer Reporterin zu verbünden, einer skrupellosen und viel zu ehrgeizigen Kannibalin. Jetzt war sie die Hauptinterviewte in einem anlaufenden Exposé über polizeiliche Inkompetenz und das Vertuschen in den Fällen vermisster Frauen in Seattle.

Sie erschauderte, und ihre Hand packte die Kupplung fester. Nicht ihr stolzester Moment. Aber da Mysts Leben auf dem Spiel stand, erschien es ihr die beste Option zu sein, sich skrupellos zu verhalten und den Bullen Feuer unterm Hintern zu machen.

Tania erspähte ihre Abzweigung, wischte sich eine weitere Träne ab, drosselte ihr Tempo und lenkte ihren Mini in die Einfahrt. Die kurze Fahrspur führte sie auf einen riesigen Parkplatz. Gekonnt manövrierte sie auf dem engen Raum, bog ein und überflog die erste Reihe von Fahrzeugen, suchte nach einem freien Platz. Samstags war immer viel los im Frauengefängnis des Staates Washington, eine beliebte Zeit für Familie und Freunde, um die hinter Gitter und Stacheldraht Eingeschlossenen zu besuchen. Langsam passierte sie Auto für Auto und hoffte –

Rote Rücklichter leuchteten weiter vorn auf.

Einer hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Gott sei Dank. Sie hatte keine Zeit zu vertrödeln. Nicht, wenn ihr nur noch eine Stunde Besuchszeit blieb. Inzwischen würde J.J. die Wände hochgehen. Was, jawohl, eine ziemlich gute Analogie war in Anbetracht der Größe der doppelt belegten Gefängniszellen.

Schrecklich in jeder Hinsicht. Aber wenn du ein Verbrechen begangen hast, musst du dafür bezahlen.

Ihre Schwester war da keine Ausnahme.

Die fünf Jahre, die ihre Schwester inzwischen inhaftiert war, hatten die Besuche allerdings nicht leichter gemacht. Tania vermisste ihre kleine Schwester von Tag zu Tag mehr. Ihre Abwesenheit hinterließ ein Loch in ihrem Leben, an dem Ort, den normalerweise die Familie ausfüllte, und seit ihre Mutter an Krebs gestorben war –

Tania schüttelte den Kopf. Nein. Diesen Gedankengang würde sie nicht weiterverfolgen. Der Verlust war immer noch zu schmerzlich, die Erinnerungen mehr, als sie an einem guten Tag ertragen konnte. Und heute war kein guter Tag.

Tania bremste, schaltete den Blinker an und wartete, dass der Early Bird aus der Parklücke fuhr. Der Chevy rumpelte davon und Tania schlüpfte in den freien Platz und freute sich über die Beweglichkeit ihres Mini. Rot mit weißen Rennstreifen war ihr Baby ein Klassiker. Ein Rückblick auf schlichtere Zeiten, in denen man noch keine Parkhilfe aktivieren musste und ohne eingebautes GPS und Telefon auskam.

Für sie war das in Ordnung. Sie brauchte all diesen Schnickschnack nicht, nur einen Hochleistungsmotor und möglichst freie Straßen.

Tania stellte die Gangschaltung auf Parken, zog die Handbremse an und griff nach ihrer übergroßen Handtasche auf dem Beifahrersitz. Nachdem sie ihre Schlüssel hineingeworfen hatte, hob sie sie auf ihren Schoß und durchwühlte sie flink. In einer der Seitentaschen fand sie ein Haargummi. Hastig strich sie sich ihre vollen Haare zurück und ging ihre übliche Checkliste durch. Pferdeschwanz? Erledigt. Geldbeutel mit Personalausweis und Schlüssel? Auch erledigt. Keine persönlichen Dinge und …

Ups. Ihr iPad musste verschwinden. Machte keinen Sinn, es mit hineinzunehmen und Officer Griggs (auch bekannt als das Wiesel) noch mehr Munition zu geben. Der schmierige Gefängniswärter arbeitete immer samstags  – welche Freude, sie Glückliche  – und verpasste keine Gelegenheit, ihre Sachen mit einem feinzahnigen Kamm durchzukämmen.

Und gefilzt zu werden vom Wiesel? Stand absolut nicht auf ihrer To-do-Liste … niemals.

Mit gequältem Gesichtsausdruck steckte sie ihr Lieblingsgerät in die Arbeitstasche auf dem Fußboden hinterm Fahrersitz, zwischen die mit Eselsohren versehenen Stapel gartenarchitektonischer Pläne und Kundenakten. In Ordnung. Alles klar. Keine verbotenen Waren. Nichts zu Persönliches in ihrer Handtasche. Sie war bereit, sich Griggs und seinen unablässigen vulgären Anspielungen zu stellen.

Mit einem letzten tiefen Durchatmen öffnete Tania die Autotür und schlüpfte hinaus. Baumkronen bewegten sich gegen den dunkler werdenden Himmel, skelettartige Äste erhoben sich über dem SUV, der vor ihr parkte. Während sie die Blätter der schattigen Redwoods in der Herbstbrise tanzen sah, umfasste sie den oberen Rand der Wagentür, um sie schwungvoll zuzuschlagen.

»Autsch!«, jaulte sie, als die scharfe Kante sie verletzte. Der Schmerz ging ihr durch und durch. Tania ließ ihre Tasche fallen. Sie hielt sich ihr Knie und hüpfte auf einem Bein herum. »O Mist … o Mist, Mist, Mist!«

Mann, tat das weh. Sie rubbelte sich die wunde Stelle. »Verdammt, das gibt einen blauen Fleck.«

Sie knirschte mit den Zähnen und schnappte sich ihre Handtasche. Zeit zu gehen. Ihre Schwester wartete, aber als sie über den Parkplatz eilte, wurde ihr flau im Magen. J.J. zu besuchen, hatte jedes Mal diese Wirkung auf sie, war wie ein Schlag in die Magengrube. Sie liebte ihre Schwester, kam aber nicht gern hierher. Hasste es, mit ansehen zu müssen, was das Gefängnis ihrer Schwester antat. Verabscheute die Stahltüren, stacheldrahtbewehrten Zäune und die kahlen, geschäftsmäßigen Korridore. Aber am meisten hasste Tania das Wissen, dass sie nichts tun konnte, um zu helfen.

Egal wie sehr sie es auch versuchte, sie konnte es nicht besser machen.

Mit schwerem Herzen lief Tania die Treppe hinauf zum Eingang, auf den sie sich jetzt konzentrierte. An einer Seite von einer monströsen grünen Wand flankiert, war an den Glastüren nichts Besonderes, und dennoch wunderte sie sich jedes Mal über das Gleiche. Wie konnte ein Eingang zu einem Gefängnis derartig normal aussehen? So durchschnittlich? So angenehm wie irgendein Geschäftsgebäude? Die Wirkung, oder Tarnung, wie auch immer, erschien ihr wie ein Sakrileg. Als ob die perfekt gepflegten Blumenbeete mit ihren roten Chrysanthemen und in Form beschnittenen Büschen die wahre Natur des Orts Lügen straften. Die Hässlichkeit, die hinter dem gestylten Eingang Tag für Tag herrschte, verbergen wollten.

Tania nahm die letzte Stufe, ging über den Treppenabsatz und riss die Tür auf. Die Angeln gaben einen leisen Zischlaut von sich, als sich die Tür hinter ihr mit einem vertrauten Ton schloss, während sie den kleinen Eingangsbereich durchquerte und den Flur dahinter betrat. Das schnelle Klackern ihrer Stiefelabsätze hallte wider in dem leeren Korridor, verband sich mit dem lauten Summen des Neonlichts an der Decke.

Ruhe herrschte, kein Stimmengemurmel oder Klirren von Stahlriegeln. Wirklich seltsam. Normalerweise traf sie mit dem späten Nachmittagsansturm ein  – mitten im Geschnatter einer aufgeregten Menge, während jeder Einzelne auf die Genehmigung wartete, seine Angehörigen zu besuchen. Aber jetzt? Die Abwesenheit jeglichen Geräuschs kam ihr unheimlich vor. Und aus irgendeinem Grund … bedrohlich. Wie die Ruhe vor dem Sturm in Horrorfilmen, kurz bevor der Verrückte hervorsprang und jemanden massakrierte.

Tania rieb sich die Oberarme, um ihre Gänsehaut zu vertreiben, und ging weiter. Ihre nassen Stiefelsohlen quietschten auf den Fliesen und trieben sie noch schneller voran, eilig bog sie um die Ecke in den –

»Ah, Ms. Solares. Da sind Sie ja.«

Die Stimme erreichte sie vom anderen Ende des Raums. Tania erstarrte. Sie umklammerte ihren Taschengurt und überflog die Glaskabine vor der Tür zum Besuchsraum. Nichts. Kein Griggs. Das Wiesel war nicht an seinem angestammten Platz. Sie blickte nach links. Ah, Mist. Er lief frei herum, schlenderte durch den Wartebereich, statt hinter der Kommandozentrale eingeschlossen zu sein. Aber was noch schlimmer war, als diese an sich schon schlechte Nachricht? Der zweite Wärter, der normalerweise während der Abendschicht arbeitete, war nicht bei ihm.

Toll. Kein Vermittler, was hieß, kein Puffer, um ihn auf Distanz zu halten.

Er hob eine Augenbraue und warf die Zeitschrift, die er in Händen hielt, auf den zerschrammten Seitentisch. Mit knarrenden Metallkappenstiefeln lief er um eine Doppelreihe Stühle in der Raummitte. Als er auf sie zukam, ging Tania schnurstracks auf den Eingangstresen zu.

»Sie sind spät dran, Solares. Was war los?«

Sie zuckte die Achseln. »Probleme mit dem Wagen.«

»Wirklich?«, sagte er sarkastisch. Er glaubte ihr nicht. Tania konnte ihm das nicht verdenken. Sie erzählte ihm nie die Wahrheit. Egal worum es ging. Das Wiesel war ein chronischer Schnüffler: rief sie zu Hause an, kontaktierte ihren Chef unter dem Vorwand, Gefängnisakten vervollständigen zu wollen, grub in ihrer Vergangenheit, bis er die Tatsache entdeckte, dass ihr Tunichtgut von Vater ihre Mutter sitzengelassen und Tania eine Woche vor ihrem zweiten Geburtstag verlassen hatte. Was er natürlich dazu benutzte, sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit herabzusetzen, an der offenen Wunde zu kratzen, wie ein Sadist ein in die Enge getriebenes Tier mit einem spitzen Stock quälte. »Ich könnte Ihnen dabei helfen, wenn Sie …«

»Nichts, was mein Mechaniker nicht beheben könnte«, sagte sie so zuckersüß, dass ihr die Zähne schmerzten.

»Schade.« Er hakte seine Daumen in seinen ledernen Dienstgürtel, womit er ihre Aufmerksamkeit auf die Pistole lenkte, die an seiner Hüfte hing. »Warum sind Sie nicht ein bisschen nett zu mir, Solares? Verschaffen Ihrer Schwester ein paar Vergünstigungen hier drinnen?«

Tanias Magen revoltierte. Dieser schmierige Widerling.

Sie ignorierte das Ekel und hielt vor dem hohen Tresen. Die Oberlichter spiegelten sich in der vom Tresen bis zur Decke reichenden Glaswand. Sie hielt ihren Blick nach vorn gerichtet, behielt aber auch Griggs im Auge, der sich ihr von der Seite näherte. Wenn er sie auch nur anrührte, dann würde sie …

Das Wiesel schnippte mit der Fingerspitze an das Ende ihres Pferdeschwanzes.

Sie hasste seine Nähe, wich ihm aus und blieb vor der rechteckigen Öffnung in der gläsernen Trennwand stehen. Mit erhobenem Kinn begegnete sie unverwandt seinem Blick, dann sah sie hinauf zur an der Wand angebrachten Kamera am Rand der Kabine. »Lächeln Sie, Sie sind auf dem Bildschirm.«

Sein Blick folgte ihrem. Tania unterdrückte das Bedürfnis, hämisch zu frohlocken. Sie hatte ihn ausgetrickst. Dort, wo sie stand, sah die Sicherheitskamera alles. Eine falsche Bewegung, und der Gefängnisdirektor würde sie aus der Vogelperspektive sehen.

»Cleveres Mädchen«, murmelte er gerade laut genug, dass sie es hören konnte. Ihr Magen zog sich zusammen, als er sie im Vorübergehen streifte. Mit offensichtlicher Wut im Bauch öffnete er die Tür der Kommandokabine und trat hinein. Mit dem Rücken zur Kamera sah er sie lüstern an. »Mal sehen, wie gut Sie auf dem Weg hinaus sind. Ich habe ab sieben frei, Süße, und nichts weiter zu tun als zu warten.«

Bis die Besuchszeit vorüber war.

Er sprach es nicht aus. Brauchte er nicht. Tania wusste, was er meinte. Der Bastard steigerte sich von verhüllten Drohungen zu direkter Einschüchterung. Was Griggs sich allerdings davon versprach, sie auf einem überwachten Parkplatz zu belästigen, war ihr nicht klar. Vielleicht wollte er ihr folgen? Herausfinden, welches Hotel sie für die Nacht gebucht hatte? Tja, sie konnte ihm nur Glück wünschen. Sie fuhr wie der Teufel, besser als viele Rennfahrer. Er würde sie nicht einholen, sobald sie die Asphaltstraße erreicht hatte, die sich zwischen dem Gefängnis und Gig Harbour erstreckte. Sie und ihr Mini wären längst verschwunden, bevor der Widerling sich angeschnallt und seinen Geländewagen in Gang gesetzt hatte.

Gott sei Dank gab es getunte Hochleistungsmotoren. Mann, wie sie ihren pfiffigen Automechaniker liebte.

Tania räusperte sich und rief sich zur Ordnung. Ihn auszulachen würde Griggs nur noch fieser machen, also wäre es keine gute Idee, ihn noch mehr zu reizen.

War Macht nicht etwas Tolles?

Und hier, innerhalb der Gefängnismauern, besaß Griggs die ultimativen Druckmittel, hatte er umfassende Autorität. Aber egal, wie oft er unterstellte, dass die Chancen ihrer Schwester auf Bewährung hundertprozentig stiegen, wenn Tania »nett« zu ihm wäre, weigerte sie sich, dieses Spiel mitzuspielen. Erstens würde J.J. sie dafür umbringen. Und zweitens? Sie war schließlich keine Hure  – und verkaufte sexuelle Vergünstigungen.

Niemals.

Jetzt musste sie nur noch durch die Sicherheitskontrolle. Ohne Griggs mit ihren schicken neuen Stiefeln in die Eier zu treten. Wenn sie das nicht schaffte, hätte J.J. die Konsequenzen zu tragen. Das konnte Tania auf keinen Fall zulassen. Oder nachgeben und diesen Drecksack gewinnen lassen.

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Die Dämmerung konnte nicht schnell genug kommen. Ivar konnte es kaum erwarten, die Enge des Hauptquartiers der Razorback in der Walton Street 28 zu verlassen. Und den Gedanken zu entkommen, die ständig in seinem Kopf kreisten. Er brauchte den Wind und die Kälte des Winters an seinen Schuppen. Sehnte sich danach, seine Drachengestalt anzunehmen, die Flügel auszubreiten und über die Stadt zu rauschen. Um die Frau zu jagen, bevor er den Verstand verlor.

Er war bereits gefährlich nahe dran. Weit von seinem Normalzustand entfernt und ohne Hoffnung auf baldige Besserung.

Ivar hockte auf seiner Bettkante und ließ den Kopf hängen. Er umfasste seinen Nacken und presste ihn nach vorn. Unbehagen nagte an ihm. Er drückte stärker, dehnte seine verspannten Muskeln, lenkte sich durch physische Schmerzen ab, während ein ganz anderer Schmerz sich in ihm ausbreitete. Wie ein Skalpell drang der Kummer in seine Brust, wurde dort größer, verschlang den übrig gebliebenen kleinen Rest seines Herzens. Er schloss die Augen, wehrte den unvorstellbaren Verlust ab, der ihn verrückt zu machen drohte.

Und es hatte bisher auch ganz gut geklappt … bis vor drei Wochen. Bis seine Krieger zurückgekehrt waren mit den schrecklichen Neuigkeiten.

Lothair  – sein bester Freund und Stellvertreter  – war nicht mehr. War tot. Ermordet von seinen Feinden.

Jetzt erstickte ihn die Trauer förmlich. Und er wusste nicht, wie er mit dem Kummer umgehen sollte. Er hatte es nie mit Emotionen oder brüderlicher Liebe gehabt. Übermäßige Gefühle hatten andere Männer  – schwächere mit irgendwelchen Beziehungen  –, nicht er. Niemals er. Tod gab es schließlich überall und ständig. War so unvermeidlich wie das Auf- und Untergehen der Sonne im Krieg gegen die Nightfury und die Drachenkrieger, die seine Feinde unterstützten.

Aber Lothair zu verlieren …

Verdammt noch mal, das tat höllisch weh. Mehr als er es für möglich gehalten hatte.

Ivar stützte die Ellbogen auf seine Knie, hob den Kopf und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Da keine Beleuchtung an war, müssten die aufgereihten Plasma-Bildschirme eigentlich unsichtbar sein, mit der Wand verschmelzen. Aber er konnte alles hochaufgelöst sehen. Sogar hinter seiner dunklen Sonnenbrille war seine Nachtsicht absolut präzise, war jedes Detail haargenau auszumachen: die strukturierte Oberfläche der Seegrastapete, die feine Faserung in den Bambusdielen, das Kristallglas und die leere Flasche Jim Beam auf der Marmorplatte der Bar.

Den JB zu kippen hatte nicht geholfen. Hatte den Kummer nicht gemildert oder ihm das Vergessen ermöglicht, nach dem er sich gesehnt hatte. Nichts tat das jemals. Klarheit war das Kreuz, das er zu tragen hatte  – war sein ständiger Begleiter, sorgte für die beste Handlungsweise wie bei einem Pokerspiel. Logisch. Direkt. Präzise. Sein Verstand betrachtete immer alles aus jedem Blickwinkel, was bedeutete, dass er seinen Arsch in Bewegung setzen musste. Auf die Jagd gehen, Plan A umsetzen und seinen Freund rächen musste.

Zu dumm, dass das Tageslicht Gift für seinen Energiefluss war. Mit gerunzelter Stirn nahm Ivar seine Monoglas-Sonnenbrille ab und massierte sich den Nasenrücken. Er ließ die Brille zwischen seinen Schenkeln baumeln. Es war seine Lieblingsbrille, eine, die er immer aufsetzte, wenn er menschliche Gestalt annahm, aber Dinge veränderten sich. Er hatte die Schnauze voll von dem Mist. Hatte es satt, sich selbst zu belügen. Hatte es satt, den Makel in seinen Chromosomen zu verbergen … die hellrosa Augen, mit denen er geboren und wegen denen er sein Leben lang verspottet worden war.

»Schwach«, hatte sein Erzeuger gesagt. Eine Farbe, die Neugeborene tragen und kleine Mädchen, keine Krieger.

Scheiß drauf. Die Augenfarbe hatte am wenigsten mit dem zu tun, wer er war … oder was er geworden war, nämlich ein mächtiger Mann, der den Razorback-Clan befehligte. Nehmen wir noch seine wissenschaftlichen Kenntnisse hinzu und … Mist. Was zum Teufel tat er da, lebte in der Vergangenheit und versteckte sich hinter dunklen Linsen? Im Allgemeinen bedeuteten seine scheißrosa Pupillen weniger als nichts. Lothair hatte sich einen Dreck um seine genetische Störung geschert, warum zum Teufel sollte er es tun?

Ivar stemmte sich hoch und ließ die Oakleys fallen. Die Brille landete klackernd auf dem Hartholz. Er kniff die Augen zusammen, hob seinen Fuß und zertrat sie mit seinem Stiefelabsatz, genoss das Knacken und Knirschen, als er sie so richtig in den Boden stampfte und …

»Hey, Boss.« Der deutsche Akzent drang durch die geschlossene Tür hinter ihm. »Muss mit dir reden.«

Mit einem mentalen Befehl öffnete Ivar den Türriegel und schwang die Tür weit auf, während Licht vom Korridor in den dunklen Raum flutete. Ivar blinzelte, legte den Kopf schräg und lud Denzeil in seine Domäne ein. »Was hast du herausgefunden?«

Mit funkelnden Augen trat Denzeil über die Schwelle, auf seinen langen Beinen kam er schnell näher. Er blieb auf der anderen Seite des Betts stehen, in der Hand einen blassen Aktendeckel. »Die Frau ist nicht zu Hause.«

»Wo ist sie?«

»Ich konnte ihren Wagen nicht aufspüren. Ist ein älteres Modell … kein GPS zum Verfolgen.«

»Aber?«, fragte Ivar und wartete auf die Pointe. Denzeil war nicht dumm. Er würde nicht hier auftauchen  – sich in Ivars Schusslinie begeben  –, es sei denn, er hätte etwas Wichtiges mitzuteilen.

Den lächelte, aber sein düsterer Blick blieb ausdruckslos. Nicht die Andeutung von Humor. Kein Aufblitzen von Vergnügen. Und das war auch richtig so. Lothairs Tod hatte alle Razorback schwer getroffen. Eine Weile würde keiner lachen. Und sollte einem danach sein? Dann würde Ivar den Mann derartig platt machen, dass er sich davon wochenlang nicht erholen würde. »Ihre Kreditkarte wurde in einem Hotel in Gig Harbor benutzt.«

Ivar runzelte die Stirn. »Wo verdammt noch mal ist das denn?«

»Ein paar Stunden südlich … nahe Tacoma, geht ab von der I-95.«

»Wir brechen bei Sonnenuntergang auf. Informiere die anderen.«

»Verstanden.« Denzeil nickte knapp und warf den Ordner auf das breite Doppelbett. Als sich der Inhalt der Akte über die Tagesdecke verteilte, sagte der Mann: »Noch etwas, Boss.«

Ivar forderte ihn wortlos auf, fortzufahren.

»Rodin hat vor einer Stunde aus Prag angerufen. Er hat sich nach …«

»Scheiße.« Genau das, was er nicht brauchte … dass Rodin, das Oberhaupt der Erzgarde, herumschnüffelte.

Lothairs Erzeuger war eine Nervensäge. Kürzlich in besonderem Maße. Aber Geld regierte nun mal die Welt, und Ivar konnte es sich nicht leisten zu streiken. Noch nicht. Nicht bevor er eine weitere Geldspritze erhalten hatte. Das Nachwuchsprojekt und seine Supervirus-Experimente waren gerade erst angelaufen. Dazu kam noch die Tatsache, dass ihr neues Hauptquartier erst halb fertig war und noch weitere Umbaumaßnahmen notwendig waren, und einen reichen Mäzen mit tiefen Taschen zu haben, war Priorität Nummer eins.

Finanzierung. Soldaten. Geheiminformationen über das politische Klima innerhalb der Drachenblutränge. Was auch immer, Rodin lieferte es.

Zu dumm, dass der Mann sein Maul nicht halten konnte. Der aristokratische Alleswisser war gern in alles eingeweiht, was total ätzend war, aber ein einflussreiches Mitglied der Erzgarde an der Hand zu haben  – Oberhaupt einer der Familiendynastien, die die Drachenkrieger regierten  – förderte die Sache der Razorback. Also jawohl … Rodin bei Laune zu halten, war durchaus wichtig.

Mächtige Freunde waren schließlich exzellente Verbündete.

Was bedeutete, dass er noch eine Weile lügen müsste, um Rodin weiterhin im Dunkeln tappen zu lassen. Klar, er würde ihm von Lothairs Tod erzählen … irgendwann. Aber nicht bevor Ivar dafür gesorgt hatte, dass der Typ, der für den Tod seines Freunds verantwortlich war, bezahlt hatte. Der Bastard gehörte ihm, nicht Rodins Todesschwadron.

Also, erster Schritt… Ruhe bewahren und alles von Rodins Radarschirm fernhalten.

Schritt zwei? Tania Solares finden.

Lothair hatte sie gejagt, bevor er starb. War Solares die letzte Frau mit hoher Energie, die er brauchte, um Phase eins seines Nachwuchsprojekts abzurunden? Keine Ahnung. Aber nachdem er ihr Foto gesehen hatte, vermutete Ivar, dass es mächtig viel Spaß machen würde, das herauszufinden, sodass …

Nennen wir es zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Indem er sie fing, würde er seinen Freund ehren  – beenden, was Lothair angefangen hatte  – und gleichzeitig Spielchen mit dem Feind treiben. Eine weitere vermisste Frau, die die Nightfury aufspüren müssten. Ein zusätzlicher Leckerbissen war, dass Denzeil herausgefunden hatte, dass Solares die beste Freundin der Gefährtin des Nightfury-Kommandanten war, und … genau. Eine unglaubliche Qual für einen Männerclan, dem mehr daran lag, Menschen zu beschützten, als ihre eigene Art. Der doppelte Schlag würde Bastian ablenken, ihn und seine Bande von Schweinebacken verrückt machen, während sie versuchten, sie zu finden.

Umso besser für ihn.

Würde unterhaltsam sein, diese Raserei zu beobachten. Aus der Ferne natürlich. Er wäre zu beschäftigt damit, seine neue Gefangene kleinzukriegen, Katz und Maus mit ihr zu spielen, sie in einen Käfig zu werfen und mit ihr zu spielen, bis sie um Gnade winselte. Das alles im Namen der Rache. Und sobald er genug hatte? Würde er sie vom Haken lassen. Sie als Köder für die Nightfury benutzen, und wenn sie kämen, um sie zu retten, die Falle um sie herum zuschnappen lassen.

Die Vernichtung wäre unausweichlich.

Ivar verzog den Mund. Es wurde tatsächlich Zeit, die Vergangenheit abzustreifen. Er roch schon Kentucky Fried Nightfury in seiner Zukunft. Also …

Rodin und seine lächerlichen Erzgarde-Probleme mussten warten.