Sophienlust 116 – Verloren und wiedergefunden

Sophienlust –116–

Verloren und wiedergefunden

Roman von Aliza Korten

Denise von Schoenecker betrachtete mit gelassener Heiterkeit die Menschen, die auf der Straße vorübergingen. Die Vormittagssonne ließ ihre Gesichter fröhlich aussehen.

»Beinahe Sonntagsstimmung«, wandte sie sich an ihren Mann, der ihr vor dem Café Wachenberg an einem der weißen Tischchen gegenübersaß.

»Unser letzter Ferientag, Isi«, antwortete Alexander von Schoenecker mit einem leisen Seufzer. »Heute Abend sind wir wieder zu Hause.«

»Du freust dich genauso auf die Kinder wie ich, Alexander. Einmal ist jede Reise zu Ende. Du, das ist doch …« Sie hob die Hand und winkte.

Die schlanke junge Frau, die eben an den auf die Straße gestellten Tischen und Stühlen vorüberhastete, hielt den Kopf gesenkt und bemerkte Denises Gruß nicht.

»Dori!«

Nun erst schaute die Pasantin auf. Sie schien ein paar Sekunden zu brauchen, ehe sie Denise und Alexander von Schoenecker erkannte.

»Ach, ihr seid es! Das ist eine Überraschung.« Ihre müde Stimme passte nicht recht zu diesen Worten. Sie sah so blass und abgehetzt aus, als sei sie nicht gesund.

»Wir sind auf der Durchreise, Dori. Trink doch eine Tasse Kaffee mit uns.«

Dori Elbing schaute auf ihre Uhr. »Ich habe nur ein paar Minuten Zeit, Isi.« Immerhin setzte sie sich auf den Stuhl, den Alexander ihr höflich zurechtrückte.

»Verschaffe ihr bitte schnell einen Kaffee, Alexander«, bat Denise. Sobald sich ihr Mann entfernt hatte, wandte sie sich an die Freundin, die sie ein paar Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. »Geht es dir irgendwie nicht gut?«, fragte sie leise.

»Doch, doch, Isi. Nur ein bisschen viel zu tun.« Dori Elbing mied dabei Denises forschenden Blick. Mit einer fahrigen Bewegung strich sie sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn. Denise stellte mit einiger Bestürzung fest, dass die bildhübsche Dori nicht mehr so attraktiv wirkte wie früher. Es war, als verblühe ihre Schönheit bereits. Dabei war sie doch erst Anfang der dreißig.

»Wie geht es Gela?«, erkundigte sich Denise, weil sie spürte, dass Dori nicht gern über sich selbst reden wollte.

»Aus Gela ist ein großes Mädchen geworden. Sie lernt nun schon Englisch in der Schule.« Auch diese Antwort klang matt.

Alexander kam zurück, gefolgt von einem Mädchen, das den Kaffee servierte.

»Danke«, sagte Dori leise.

Denise bemerkte, dass Doris Hand zitterte, als sie die Tasse an die Lippen hob.

»Was macht Chris?«

Dori streifte den Ärmel ihres hellen Mantels zurück und sah auf ihre Uhr. »Chris ist erfolgreich wie eh und je«, äußerte sie etwas undeutlich. »Jetzt muss ich mich ranhalten, sonst versäume ich meinen Bus. Seid mir nicht böse! Es war nett, dass wir uns wenigstens für einen Augenblick gesehen haben.« Flüchtig reichte sie dem Ehepaar von Schoenecker die Hand. »Danke für den Kaffee.« Schon eilte sie davon.

Denise schaute ihr nachdenklich nach. »Mit Dori stimmt etwas nicht, Alexander«, meinte sie besorgt. »Es ist zwar immer schwer gewesen, etwas von ihr herauszubekommen, aber diesmal war sie besonders zugeknöpft. Vielleicht braucht sie Hilfe. Sie gehört leider zu den Menschen, die schrecklich ungern um etwas bitten. Stolz ist eine lobenswerte Tugend, aber Dori treibt es damit ein bisschen zu weit.«

Alexander von Schoenecker nickte mehrmals und schmunzelte dabei. »Warum redest du so um den heißen Brei herum, Isi? Das ist normalerweise nicht deine Art. Du möchtest dich um Dori kümmern, nicht wahr?«

»Ja, Alexander. Aber das bringt uns in Schwierigkeiten mit der Weiterfahrt. Wir wollten nicht mehr übernachten …«

»Dann übernachten wir eben. Soviel ich mich erinnere, gibt es hier zwei besonders gute Hotels. In einem der beiden finden wir hoffentlich ein Zimmer.«

Denise sah ihren Mann dankbar an. »Es ist lieb von dir, Alexander, dass du einverstanden bist. Falls die beiden großen Hotels nichts frei haben, genügt auch ein kleineres. Es ist ja nur für eine Nacht. Wir müssten gleich in Schoen­eich und Sophienlust anrufen, damit man sich dort nicht sorgt.«

»Ich nehme das in die Hand, Isi. Zuerst müssen wir für ein Unterkommen sorgen. Warte mal fünf Minuten.«

Denise nickte und suchte aus ihrer Handtasche das ledergebundene Adressbuch heraus, das sie stets bei sich trug. Adresse und Telefonnummer der Elbings waren darin verzeichnet. Sinnend saß sie da, eine schöne Frau mit dunklem Haar, ausdrucksvollen dunklen Augen und einem fein gezeichneten Gesicht. Ein paar Männer, die auf der Straße vorübergingen, bedachten sie mit bewundernden Blicken, was sie jedoch nicht bemerkte.

»Ich habe im Parkhotel ein Doppelzimmer mit Bad ergattert«, schreckte Alexander seine Frau aus ihren Gedanken auf. »Wir fahren am besten gleich hin. Dann kann ich alles weitere von dort regeln.«

»Danke, Alexander. Ich glaube, es ist richtig, dass wir diese eine Nacht anhängen. Mit Dori ist etwas nicht in Ordnung. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich der Sache nicht nachginge.«

»Ich hatte sowieso nicht sehr viel Lust, schon heute Abend zu Hause zu sein. Außerdem weiß ich, dass dein Gefühl dich noch nie in die Irre geführt hat. Dori sah tatsächlich ziemlich verändert aus.« Er winkte das Serviermädchen heran und zahlte.

Arm in Arm schlenderte das Paar davon. Zwei Straßen weiter parkte der Wagen. Alexander ließ Denise einsteigen und nahm dann hinter dem Steuer Platz. Eine Viertelstunde später trug ein Hotelpage das Gepäck der beiden ins Zimmer.

Es war inzwischen fast ein Uhr geworden. Alexander bestand darauf, dass seine Frau wenigstens eine Kleinigkeit zu sich nahm, ehe sie Dori Elbing besuchte. Anschließend bestellte er ihr fürsorglich ein Taxi.

*

Als auf den Summer gedrückt wurde, gab Denise dem Chauffeur einen Wink, dass er abfahren könne. Sie hatte bezahlt, ihn jedoch gebeten, abzuwarten, ob sie jemanden antreffen werde.

Dori war also zu Hause.

Denise drückte die Eingangstür des modernen Mehrfamilienhauses auf und stieg die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Dori stand in der geöffneten Tür ihrer Wohnung, das blonde Haar ungeordnet, in zerknitterten Leinenhosen und einem Arbeitskittel darüber. Sie sah ziemlich erschöpft aus. Als sie Denise erblickte, malte sich auf ihrem Gesicht leichtes Erschrecken. »Ach du, Isi …«

»Alexander wollte bis morgen bleiben«, behauptete Denise, nicht ganz der Wahrheit entsprechend. »Da fiel mir ein, dass ich dich besuchen könnte. Wir haben heute Vormittag kaum ein paar Worte miteinander gewechselt.«

»Ja, das ist nett von dir. Komm herein!« Besonders einladend hörte sich diese Aufforderung nicht an. Doch Denise ließ sich nicht beirren. Sie lächelte strahlend und betrat die Diele. Hier allerdings unterdrückte sie nur mühsam einen Ausruf des Staunens. Kisten und Kartons standen übereinandergestapelt, Bücher häuften sich auf dem Fußboden, Packmaterial hatte überall Spuren hinterlassen. Kein Zweifel, hier waren die Vorbereitungen zu einem Umzug in vollem Gange.

»Ja, ich ziehe aus«, erklärte Dori trotzig und presste gleich wieder die Lippen aufeinander, als wollte sie um keinen Preis mehr verraten.

»Kann ich helfen?«, fragte Denise. »Stören will ich dich nämlich wirklich nicht.«

»Gela wollte später die Bücher in die Kartons sortieren. Ich habe ihr hier alles zurechtgemacht. Sie hat heute bis drei Uhr Schule. Das Porzellan ist schon in der Kiste da drüben. Jetzt bleibt nicht mehr viel.«

»Ist Chris versetzt?«

Dori holte tief Atem. »Nein.«

Denise zog ihren Staubmantel aus und betrat das Wohnzimmer, das kahl und ungemütlich wirkte. Ein Teil der Möbel fehlte bereits. Immerhin gab es zwei Sessel und einen Tisch. Die Freundinnen setzten sich, und Dori strich die hellen Haarsträhnen zurück. Das Licht fiel jetzt voll auf ihr Gesicht. Die Li­nien von Kummer und Leid darin waren nicht zu verkennen.

»Warum sagst du mir nicht, was los ist, Dori? Ich habe gleich gespürt, dass du etwas mit dir herumschleppst. Ich möchte dir gern helfen, sofern das möglich ist.«

»Helfen … Nein, Isi, helfen kann mir niemand. Chris und ich haben uns scheiden lassen. So, nun weißt du Bescheid.«

Denise nahm Doris Hand. »Das tut mir leid. Aber ihr habt es euch gewiss reiflich überlegt, nicht wahr? Was wird mit Gela?«

»Überlegt! Ach, Denise, dazu war keine Zeit.« Plötzlich standen Tränen in Doris blauen Augen. »Chris ist schon vor ein paar Wochen ausgezogen. Seine Möbel sind weg.« Sie machte eine hilflose Bewegung mit der Hand, als ob die fehlenden Einrichtungsgegenstände das Wichtigste wären.

»Hast du schon eine andere Wohnung?«

»Ja. Die Packer kommen morgen. Die Wohnung ist topmodern. Ich werde sie ganz nach meinem Geschmack einrichten. Du musst wissen, dass ich ab nächste Woche einen Job als Innenarchitektin bei Groß habe. Groß ist das beste Möbelhaus weit und breit. Meine neue Wohnung liegt so günstig, dass ich nur fünf Minuten zu meinem Arbeitsplatz zu gehen habe. Ich hatte viel Glück.« Ihre Stimme wurde nun etwas lebhafter. »Endlich kann ich meinen Beruf ausüben. Es hat mich oft genug bekümmert, dass ich es bisher nicht tat. Man kommt sich ziemlich nutzlos vor als Nur-Hausfrau.«

»Und Chris? Wo wohnt er?« Denise versuchte sich vorsichtig an den Kern dieser merkwürdigen Geschichte heranzutasten, die ihr naheging, weil sie genau sah, dass Dori todunglücklich war.

»Die Bank hat ihn zum Direktor gemacht. Er hat ein Einfamilienhaus mit allem Komfort als Dienstwohnung bekommen und residiert dort schon einige Zeit. Gela war bei ihm. Sie behauptet, das Haus sei sehr schön.« Dori verzog den Mund. Sie war überzeugt, dass ihr geschiedener Mann es nicht verstand, ein Haus gut einzurichten. Das sah man ihr an.

»Was wird aus Gela?«

»Sie geht weiter zur Schule wie bisher. Glücklicherweise gibt es mit ihr keine Schwierigkeiten. Chris war sofort damit einverstanden, dass sie bei mir bleibt.«

»Du wirst dich nicht viel um Gela kümmern können«, gab Denise zu bedenken. »Oder ist es eine Halbtagsstellung, die du angenommen hast?«

»Vom Gehalt einer Halbtagsstelle kann man nicht leben. Ich bin die verantwortliche Innenarchitektin der Firma. Das lässt sich nicht von acht bis zwölf erledigen, Denise. Gela wird sich allein zurechtfinden. Sie ist recht selbstständig geworden.«

»Wie alt ist sie eigentlich jetzt? Zehn?«

»Ja. Da braucht ein Kind nicht mehr dauernd am Rockzipfel der Mutter zu hängen. Wahrscheinlich wird Gela sogar gefallen, dass sie eine ganze Menge Freiheit erhält.«

»Willst du sie zu uns nach Sophienlust geben, Dori? Sie soll uns herzlich willkommen sein.«

Dori schüttelte den Kopf. »Danke, Isi. Es ist lieb von dir, dass du mir dieses Angebot machst. Aber es ist gar nicht nötig. Wirklich nicht.« Sie betonte das so krampfhaft, dass Denise sie unschwer durchschaute. Wieder war es nur ihr Stolz, der ihr verbot, fremde Hilfe anzunehmen.

»Sie muss ein Mittagessen haben, wenn sie aus der Schule kommt«, wagte Denise einen weiteren Anlauf. »Wie willst du das organisieren?«

Dori hob die Schultern. »Da fällt mir schon etwas ein. Wir wohnen dann ja mitten im Zentrum der Stadt. Möglich, dass ich mich jeden Tag mit Gela in einem Restaurant treffen kann. Aus solchen Dingen sollte man kein Problem machen. Das regelt sich alles.« Das sollte forsch und zuversichtlich klingen, tat es aber durchaus nicht.

Denise von Schoenecker schwieg ein Weilchen. Es war nicht leicht, an die verschlossene Dori heranzukommen. Gewiss wäre die kleine Angelika, die Gela gerufen wurde, im Kinderheim Sophienlust besser aufgehoben als bei ihrer Mutter, die nach jahrelanger Pause ins Berufsleben zurückkehren wollte und dazu die seelische Enttäuschung über das Scheitern ihrer Ehe überwinden musste.

»Chris will übrigens heiraten«, stieß Dori nun unerwartet hervor. »Er hat sie als Kundin der Bank kennen gelernt. Sie wollte wegen der Anlage von Geld beraten sein. Da war’s um meinen Chris geschehen.«

Denise hätte die Freundin am liebsten in die Arme genommen und gestreichelt wie ein Kind. Aber bei Dori musste sie behutsam sein.

»Marita Burmester«, fuhr die blonde Frau nun bitter fort.

»Die Schauspielerin?«

»Ja, sie ist leider in unserer Stadt zu Hause und spielt auch häufig an unserem Theater. Du kennst sie natürlich mehr vom Fernsehen.«

»Eine sehr attraktive und begabte Schauspielerin. Aber sie muss ein ganzes Teil jünger sein als Chris.«

»Fünfzehn Jahre – sie ist einundzwanzig, er sechsunddreißig. Verrückt kommt es mir vor, dass er sich ausgerechnet mit einer Bühnenberühmtheit verheiraten will. Ich selbst durfte nicht einmal mehr privat ein paar Möbelentwürfe anfertigen, nachdem ich seine Frau geworden war. Er hatte sehr feste Grundsätze. Der Mann müsse das Geld verdienen, die Frau den Haushalt führen und die Kinder erziehen. Es blieb allerdings bei unserer Gela. Nun ja, jetzt ist es vielleicht gut so. Mit drei oder vier Kindern hätte sich die Scheidung kaum verwirklichen lassen. Jedenfalls habe ich ihm keinen Stein in den Weg gelegt, als er mir sagte, dass er Marita liebt. Soll er mit ihr glücklich werden!«

Denise sah allmählich ziemlich klar. Chris hatte sich in die junge, berühmte Bankkundin verliebt und nicht einmal ein Geheimnis daraus gemacht. Dori war viel zu stolz gewesen, um sich zu wehren oder Rechte für sich zu beanspruchen. Es lag ihr nicht, um ihre eigenen Belange zu kämpfen. Wahrscheinlich war sie es sogar gewesen, die die Scheidung vorgeschlagen hatte.

»Wollte Chris die Scheidung?«

»Was denn sonst, Isi. Warum hätte er mir das Ganze wohl erzählt. Es war die große Glückssträhne in seinem Leben. Er wurde endlich Direktor und begegnete seiner einmaligen, schicksalhaften Liebe! Ich habe mich gar nicht erst auf lange Diskussionen eingelassen. Das wäre unnötige Quälerei für alle Beteiligten gewesen.«

»Gewiss, Dori.« Denise sagte das gegen ihre Überzeugung. Doch es hätte die Freundin verletzt, wenn sie sich anders geäußert hätte.

»Ich sagte Chris, dass ich mit der Scheidung einverstanden sei. Wir fanden zwei gute Anwälte, und die Sache wurde sozusagen routinemäßig abgewickelt, ohne dass Staub aufgewirbelt wurde. Ich wundere mich bloß, dass Gela immer noch zu Chris geht. Sie ist alt genug, um zu verstehen, dass er sich gegen sie genauso gemein benimmt wie gegen mich.«

»Kinder lieben ihre Eltern und urteilen meist gar nicht über sie. Selbst schlechte Mütter oder Väter werden oft geliebt. Das ist eine erstaunliche Tatsache, die viel Kinderleid hervorbringt, Dori.«

»Er hat Gela und mich aufgegeben für diese dumme kleine Schauspielerin. Ich kann Gela nicht verbieten, ihn zu sehen. Aber es ist für mich jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht, wenn sie wieder zu ihm will. Natürlich verwöhnt er sie bei solchen Besuchen nach Strich und Faden, erfüllt ihr tausend Wünsche und hetzt sie dabei wahrscheinlich gegen mich auf. Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich eine Stellung in einer anderen Stadt gefunden hätte. Aber die Position einer leitenden Innenarchitektin bei der Firma Groß wurde ausgerechnet zum Zeitpunkt unserer Scheidung ausgeschrieben. Das war eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen konnte. Ich kann nur hoffen, dass Gela nach und nach selbst einsieht, dass sie an ihrem Vater nichts verloren hat.«