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Ketil Bjørnstad

Der Fluß

Roman

Aus dem Norwegischen von
Lothar Schneider

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel

Elven

bei Aschehoug & Co., Oslo

© H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo

„Dieses Projekt wurde mit Unterstützung der Europäischen Kommission

finanziert. Die Verantwortung für den Inhalt der Veröffentlichung

trägt allein der Verfasser; die Kommission haftet nicht für

die weitere Verwendung der darin enthaltenen Angaben.“

KULTUR (2007-2013)

Förderbereich 1.2.2. Literarische Übersetzungen







ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© der deutschen Ausgabe

Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.



www.suhrkamp.de

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73170-3

Für Tanni.

In memoriam

Sometimes voices in the night will call me back again

Back along the pathway of a troubled mind.

Joni Mitchell, »Clouds«





Aufgetaucht aus dem Schwall der am Strand

aufspritzenden Brandung

Schwamm er herum, hinschauend zum Land,

abhängiges Ufer

Irgendwo zu erspähn, und sichere Busen des Meeres.

Homer, »Die Odyssee«, Fünfter Gesang

1. Teil

Der Schiffbruch

Der Wind hat stark aufgefrischt, hat jetzt Sturmstärke erreicht. Die Yacht segelt hart am Wind, der von Westen bläst. Ich betrachte sie mit schläfrigem, uninteressiertem Blick, so viele Boote kommen im Laufe eines Tages vorbei. Ich habe in diesem Sommer eine Menge gelernt über das Meer, das Salzwasser und den Wind. Ich habe gelernt, daß es eine Art von Glück gibt, ohne Sinn und Zweck, ohne Leidenschaft, beinahe ohne Musik. Rebecca hat es mir beigebracht. Weil ihr Freund mit seinen Eltern in Frankreich Ferien macht, weil ihre Eltern auf Jungfernfahrt sind mit dem neuen Flaggschiff der Reederei Frost, von Bergen an der Küste entlang bis nach Kirkenes und zurück. Weil sie mich mag und weil das Leben nicht länger ist, was es war, bin ich mit ihr allein in dem Ferienhaus der Frosts. Wir leben wie Geschwister, nur ohne die üblichen Streitereien, die Spannung und die Unruhe, die ich manchmal mit meiner Schwester Cathrine erlebe, die jetzt, Ende Juli, mit Interrail auf dem Balkan unterwegs ist. Hier, im Schärengarten vor Tvedestrand, läuft der Sommer 1970 vor meinen Augen ab, und ich muß nicht daran teilnehmen. Obwohl Rebecca zu mir sagt: »So ist das Leben, Aksel,« merke ich, daß ich nach wie vor außerhalb stehe, keine Beziehung habe zu all den Ereignissen und Dingen, von denen sie redet. Trotzdem mache ich gerne mit, trinke Wein mit ihr, pule Garnelen, höre mir jeden Morgen ihre Lieblingsmusik an, die kompromißlose C-Dur-Tonleiter am Anfang von Tschaikowskis Streicherserenade. Sie will mich mit dieser Art von Musik ärgern, und eines Morgens standen mir die Tränen in den Augen. Da lachte sie. »Ich juble, und du weinst. Sind wir nicht ein Spiegelbild des Lebens?« An diesem Tag führte sie ein ernstes Gespräch mit mir, sagte, ich würde zuviel grübeln, zuviel üben und müsse aufpassen, mich nicht in der Vergangenheit zu vergraben, müsse das gute Leben annehmen. Dieses Leben wollte sie mir zeigen in diesem Ferienhaus am Meer, mit einem ausgezeichneten Steinway-Flügel Modell B und dem Blick auf den Skagerrak, bis hin zum Horizont, der Felseninsel Målen und dem Leuchtturm Møkkalasset. Es ist schön hier. Die Sommerabende sind blau und ganz still, wenn der Mond aus dem Meer steigt. Abend für Abend sind wir hier gesessen und haben uns unterhalten, haben Musik aufgelegt zu dem leichten italienischen Weißwein, den Rebecca so liebt, haben die ersten Grillen gehört und die Freizeitboote vorbeisegeln sehen. Gelächter. Grillgeruch. Die Nächte haben wir in getrennten Zimmern geschlafen. Bei mir regte sich ein Anflug von Spannung, wenn wir uns in der Tür gute Nacht wünschten, ein unanständiger Gedanke ohne Zukunft. Ja, ich sehe uns so viele Jahre später von meinem Schreibtisch aus, Rebecca Frost und mich, Aksel Vinding. Wie zwei Freunde, fast wie Geschwister, eingehüllt in das verzauberte Licht der nordischen Sommernacht, waren wir uns näher, als es die Leidenschaft damals vermocht hätte, ewig verbunden, ohne daß wir es merkten.

Die Yacht lag jetzt so stark auf der Seite wie nur möglich. Dieses Draufgängertum der Segler hatte ich schon mehrfach beobachtet. Rebecca spaßte gerne darüber, wenn sie sagte: »Genau an dieser Stelle ist Richard Wagner in Seenot geraten, was ihn später auf die Idee des Fliegenden Holländers brachte.«

In dem starken Sonnenlicht, bei dem scharfen Wind kann man die Schären unter Wasser deutlich sehen. Die Wellen haben Schaumkronen. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und ein dunkler Schatten fällt auf das Meer. Kein anderes Boot ist zu sehen. Rebecca blickt für einen Moment von ihrem Buch auf. »Spürst du, wie es kühler wird?« Ich spähe hinauf zum Himmel, halte Ausschau nach dem Habicht, der mich und Anja vor einigen Monaten verfolgt hat, aber da ist keiner. Und Anja ist tot.

Ein Windstoß erfaßt den Sonnenschirm beim Swimmingpool und kippt ihn um. Das Meer ist bleigrau, fast schwarz. Das weiße Segel der Yacht liegt beinahe auf den Wellen. Vier Gestalten hängen nebeneinander auf Backbord im Trapez, berühren nur mit den Füßen das Deck. Am Ruder steht ein Mann in einem grünen T-Shirt, halb liegend hält er Kurs Richtung Land.

»Schau dir das an«, sagt Rebecca. »Muß er so verrückt segeln?«

Man hört das scharfe Knattern des flatternden Segels, als das Boot wendet. Dann greift der Wind wieder an, und die vier Gestalten wechseln hinüber auf Steuerbord. Die Yacht schießt nun in voller Fahrt auf die Felseninsel zu, die in der schäumenden Gischt kaum sichtbar ist. Da kommt eine kräftige Bö. Rebeccas roter Sonnenhut fliegt davon.

In dem Moment bricht der Mast. Die Yacht kentert. Jemand schreit. Das Segel wird von den Wellen verschlungen. Die Mannschaft fällt ins Wasser. Der glatte Rumpf wälzt sich nach oben, obszön in seiner Nacktheit, hilflos wie ein sterbender Fisch.

Rebecca springt vom Liegestuhl auf. »Mein Gott, Aksel. Was sollen wir tun?«

»Das fragst du mich

»Wir müssen sie retten.«

»Wie sollen wir sie retten?«

»Sie haben kein Schlauchboot. Siehst du irgendwo ein Schlauchboot?«

»Nein«, sage ich und stehe dabei auf, spüre, wie meine Knie zittern, laufe aber mit Rebecca die Treppe hinunter zum Anlegesteg in der kleinen Bucht unterhalb des Ferienhauses.

»Wir sind die einzigen Zeugen, Aksel. Außer uns hat es niemand gesehen. Jetzt sind wir gefragt, verstehst du?«

Rebecca, die nie Angst gezeigt hat, nicht einmal, als sie bei ihrem Debüt in der Aula der Länge nach auf das Podium fiel. Jetzt hat sie Angst, sind ihre Augen schwarz. Und trotzdem ist sie mir weit voraus. »Schneller, Aksel!« Sie hat die Wahl zwischen der 32 Fuß langen Motoryacht und der 17 Fuß langen Askeladden-Jolle. »Ich nehme die Motoryacht«, sagt sie. »Aber da mußt du mir helfen.« Sie springt an Bord, ruft mir zu, die Leinen zu lösen, und startet den Motor. Der ängstliche Pianist in mir will seine Finger schonen, aber Rebecca fährt bereits los. Ich springe im letzten Moment ins Boot.

»Beinahe Sturm, wenn doch Mama und Papa hier wären«, sagt sie verzweifelt. Ich lege ihr tröstend den Arm um die Schulter, fühle ihre Gänsehaut. Zum erstenmal berühre ich sie so, daß ich ihre Haut spüre. Sie ist die Stärkere von uns beiden. Sie ist immer der Chef gewesen. Jetzt auch. Obwohl sie zerbrechlich und verloren wirkt, wie sie da am Ruder dieses viel zu großen Bootes steht.

»So etwas habe ich noch nicht erlebt, Aksel.«

»Ich auch nicht.«

»Aber deine Mutter ist doch im Wasserfall ertrunken.«

»Das hier ist kein Wasserfall, Rebecca. Außerdem haben sie Schwimmwesten.«

Sie antwortet nicht, hat genug damit zu tun, das große Boot in dem Wellengang zu halten. Mir fallen idiotische Dinge ein. Die Motoryacht heißt »Michelangeli«. Nicht nach dem Maler, sondern nach dem Pianisten. Arturo Benedetti Michelangeli. Rebecca sollte Pianistin werden. Jetzt wird sie Ärztin. Vielleicht heißt das Boot im nächsten Sommer »Albert Schweitzer«.

Wir kommen hinaus aus der Bucht und werden vom ablandigen Wind abgetrieben. Die Wellen sind klein und hart. Nicht sie haben die Segelyacht zum Kentern gebracht, das war der Wind. Jetzt liegt sie direkt vor uns. Fünf Mann Besatzung, denke ich. Wie Holzstücke schwimmen sie im Wasser, und ich soll sie rausziehen, während Rebecca das Boot neben die kieloben treibende Yacht manövriert. So stellt sie sich das vor. Die Segler sind alle auf einer Seite. Die Sonne ist wieder herausgekommen. Das Meer glänzt. Die orangefarbenen Schwimmwesten schaukeln wie kleine Bojen auf dem Wasser. Aber es sind lebendige Menschen.

»Du mußt nach hinten gehen, Aksel!« ruft Rebecca. Sie dürfen nicht in die Schiffsschraube geraten, wenn ich plötzlich manövrieren muß!«

Da fällt mir ein, daß das Schiff keine Badeleiter hat. Sie ging zu Beginn des Sommers kaputt. Rebecca stellt sich also vor, daß ich die Schiffbrüchigen aus eigener Kraft an Bord ziehe.

Ich erkenne den Mann, der am Ruder stand. Das grüne T-Shirt. Er kämpft gegen die Wellen an, gibt aber seine Rolle als der starke und souveräne Kapitän nicht auf, als er seiner Besatzung befiehlt: »Ruhe bewahren! Wartet auf meine Anweisungen! Achtet auf die Propeller!«

Rebecca hat die Motoryacht voll unter Kontrolle. Immer noch ein Teenager. Im Profil sieht sie schön und stolz aus. Ich warte auf ihre Befehle. Rebecca fährt rückwärts.

»Jetzt mach dich fertig, Aksel.«

Ich habe keine Ahnung, was von mir erwartet wird. Gesichter im Wasser, nasse, angstvolle, erwachsene Gesichter. Vierzigjährige auf einem Segeltörn. Sie hätten es besser wissen können, denke ich und bin beinahe wütend auf sie, weil sie sich auf diese Weise in mein Leben einmischen. Als mich Rebecca in das Ferienhaus der Frosts einlud, war ich ziemlich am Ende. Ich tat ihr leid. Ich hatte Anja verloren. Und meine Familie hatte sich mehr oder minder aufgelöst. Mutter war vor längerer Zeit in einem Wasserfall ertrunken. Vater hatte eine neue Frau gefunden und unser Haus verkauft, und Cathrine hatte verzweifelt das Weite gesucht. »Das ist nun wirklich genug«, hatte Rebecca gemeint. Genug, um mir ein paar friedliche Tage am Kilsundfjord zu schenken, in ihrer unwirklichen Luxuswelt.

Jetzt stelle ich fest, daß einer fehlt. »Wo ist der fünfte?« rufe ich. Sie fangen an zu rufen, fuchteln mit den Armen. »Erik? Wo ist Erik geblieben?« Sie versuchen, über die Wellenkämme zu spähen.

»Vielleicht ist er unterm Boot gefangen«, sagt der Steuermann. »Ich tauche nach ihm.«

»Nein!« schreit ein Mann. »Doch!« schreit eine Frau. Im Wasser liegen zwei Männer und zwei Frauen und gestikulieren, direkt unter dem Heck der »Michelangeli«. Der Steuermann verschwindet in den Wellen. Die andern schreien durcheinander. Ich strecke die Arme aus, bereite mich auf das Hochziehen vor, erwachsene Körper, die eineinhalb Meter nach oben zur Reling gebracht werden müssen. Aber sie wollen nicht nach oben. Noch nicht. Sie sind Sportler, Segelsportler, gesund und fit. »Erik!« rufen sie, schreien sie, aber die Laute verschwinden im Sturm. Rebecca dreht sich zu mir, wagt ihren Platz am Ruder nicht zu verlassen.

»Was ist los, Aksel?«

»Einer fehlt!«

»Das ist nicht wahr!«

Sie fängt zu weinen an. Mir verkrampft sich der Magen. Ich muß in jedem Fall gleich die vier aus dem Wasser ziehen. Der Steuermann taucht wieder auf, schnappt nach Luft. Das Gesicht ist verzerrt vor Verzweiflung.

Eine der Frauen beginnt hysterisch zu kreischen.

»Zieh Marianne zuerst raus!« kommandiert der Steuermann und fixiert mich dabei. Jetzt erkenne ich, welche Angst er hat.

Ich greife nach ihren Armen. Sie wehrt sich. Will nicht nach oben.

»Du mußt hinauf, Marianne!« ruft der Steuermann. »Wir suchen weiter nach Erik!«

»Vorsicht mit dem Propeller!« ruft Rebecca. »Ich muß rückwärts fahren, damit ich nicht in der Takelage hängenbleibe.«

Sie setzt zurück, während ich diese Marianne aus dem Wasser ziehe. Wie schwer sie ist, denke ich. Ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch so schwer sein kann. Und obwohl ich die heulende und hysterische Frau bereits in diesem Augenblick wiedererkenne, wage ich erst viel später, die Wahrheit zu akzeptieren: daß es Marianne Skoog ist, die ich da ins Boot hole. Daß das mehr als ein Zufall sein sollte. Daß ich nie mehr von ihr loskommen sollte, so wie eine Katastrophe auf die andere folgt, so wie Menschen miteinander verbunden werden, wieder und wieder, um sich gemeinsam zu ergründen.



Wir sitzen auf der Terrasse des Ferienhauses. Draußen im Wasser liegt das gekenterte Boot. Manchmal, wenn sich das Heck aus den Wellen hebt, sehen wir seinen Namen. »Furchtlos« heißt es. Selbst der Steuermann mußte sich übergeben. Ich zog ihn als letzten heraus. Jetzt fliegen zwei Hubschrauber niedrig über dem Meer, und das Seenotrettungsschiff »Odd Fellow« aus Arendal ist eingetroffen. Einige kleinere Schiffe beteiligen sich an der Suche. Aber der Sturm hat kaum nachgelassen. Die vier Schiffbrüchigen sitzen auf den Steinbänken um den Grill und versuchen, einander zu trösten. Aus ihren Nasen rinnt immer noch Rotz und Salzwasser.

»Vergeßt nicht, Erik hält einiges aus!« sagt der Steuermann.

»Vielleicht hat ihn der Großbaum erwischt, und er war bewußtlos, als er ins Wasser fiel«, sagt der andere Mann, ein eher schüchterner Typ. Ich wage Marianne nicht anzusehen. Sie sorgt sich am meisten um den Vermißten. Mich scheint sie allerdings nicht wiedererkannt zu haben. Vielleicht hat sie einen Schock, denke ich. Alle verfolgen wir die Suche draußen auf dem Meer. Rebecca hat heißen Johannisbeerwein gebracht, den sie kaum trinken können, so zittern ihre Hände.

Da sehen wir, daß einer der Hubschrauber tiefer geht. Gekentert sind sie vor eineinhalb Stunden.

»Sie haben ihn gefunden!« ruft der Steuermann.

Im Gegenlicht wird die Silhouette des Mannes, der sich hinunterläßt, deutlich sichtbar. Rebecca setzt sich neben mich und umklammert mit beiden Händen meinen Arm.

»Er muß leben«, murmelt sie mehr zu sich selbst.

Marianne Skoog steckt den Kopf zwischen die Knie. Sie weint nicht.

Der Mann aus dem Rettungshubschrauber greift nach etwas im Wasser. Es ist ein Mensch, den er an sich festbindet. Die Silhouette eines Mannes. Zwei Männer werden langsam hinauf zum Hubschrauber gezogen. Und obwohl beide wie leblos in der Luft hängen, wissen wir alle, der eine lebt, der andere ist tot.

Nachbeben

Erst als der Krankenwagen aus Arendal vorfährt, um die Überlebenden zu holen, begegnet Marianne meinem Blick. Ihre Haare sind noch naß. Das Gesicht ist ungeschminkt und ihr Ausdruck verzweifelt, wie vor einigen Wochen, als sie ihre Tochter begrub.

»Ich habe nicht erwartet, dich so bald wiederzusehen, Aksel«, sagt sie matt.

Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich fühle mich beklommen. Zuviel Trauriges verbindet uns bereits.

»War er ein guter Freund von dir?« höre ich mich sagen und möchte nicht zu neugierig erscheinen.

Sie starrt mich nur hilflos an. Ist unfähig, zu antworten.

Dann verschwinden sie, in Decken gehüllt, man hilft ihnen in den Krankenwagen, als seien sie behindert. Aber sie sind die Überlebenden. Sie sollen ärztlich untersucht werden. Dann wird die Polizei ihre Fragen stellen. Rebecca steht neben mir und flüstert mir ins Ohr:

»Unfaßbar, daß das Anjas Mutter ist. Unfaßbar, daß sie das auch noch durchmachen muß.«



Am Abend ist es wieder still und ruhig. Als sei nichts geschehen. Nur die Dünung ist geblieben. Ein Schlepper hat die »Furchtlos« mitgenommen. Auf dem Meer wimmelt es von Sportbooten. Schaulustige, die von dem Schiffbruch gehört haben. Ich sitze neben Rebecca auf der Terrasse, habe den Arm wieder um sie gelegt, weil sie gehalten werden will.

»Erinnerst du dich, was du mir über das Haus der Skoogs erzählt hast? Daß es dir plötzlich wie ein Tatort erschien? Jetzt ist das Ferienhaus auch zum Tatort geworden. Aber genau hier ist einmal mein Glück gewesen! Hier waren die Sommer meiner Kindheit! Und auf einmal alles vorbei. Plötzlich verstehe auch ich, daß es schwierig sein kann, älter zu werden, Aksel.«

Sie versucht zu lächeln, schafft es aber nicht.

»Warum mußte er sterben

Ich lasse sie reden. Sie hat länger in einer Unschuldswelt gelebt als ich. So lange lebte sie mit dem Gefühl, frei zu sein, Möglichkeiten zu haben, wählen zu können. Aber das, was an diesem Tag geschehen ist, läßt ihr keine Wahl. Es empört sie, daß auch sie mit dieser Tragödie verknüpft ist, als Zeugin, und fast noch mehr empört es sie, daß ich dem ausgesetzt werde.

»Wie werden wir das in Erinnerung behalten, Aksel?« fragt sie in kindlicher Unschuld. »Wird das Boot in unseren Köpfen wieder und wieder kentern? Siehst du jede Nacht, bevor du einschläfst, deine Mutter, wie sie im Wasserfall ertrinkt?«

Ich denke nach. »Nein, jetzt nicht mehr«, sage ich. »Aber sie ist mir nach wie vor sehr nahe. So wie mir Anja nahe ist. Die Toten leben mit uns, ob wir wollen oder nicht. Manchmal denke ich, daß sie bestimmen, wie lange sie als Tote leben, mit uns, den Lebenden.«

»Du hast so viele seltsame Gedanken, Aksel.«

»Aber du wirst Abstand gewinnen von diesem Ereignis. Du hast den Ertrunkenen ja nicht einmal gekannt.«

»Nein, aber ich werde nie seine Arme vergessen. Sie hingen so schlaff in der Luft.«

»Hast du sehr viel Angst vor dem Tod?«

»Ja.«



Es wird kühl. Wir gehen hinein, entzünden das Gas in dem protzigen Kupferkamin, der keine Wärme spendet. Ich überlege, ob es eine Musik gibt für einen Abend wie diesen, sehe aber ein, daß das nicht der Fall ist. Als Mutter starb, hatte ich Brahms vierte Sinfonie im Kopf, aber nur, weil es an jenem Sonntag als Morgenkonzert im Radio gespielt worden war und weil Mutter mitgesungen hatte. An ihr Lied erinnerte ich mich, als sie der Fluß mit sich riß. Und als ich die Nachricht von Anjas Tod erhielt, klang in mir Schuberts »C-Dur-Quintett«, woran aber Anja schuld war, weil sie über Schubert gesprochen hatte, weil ihr Schubert soviel bedeutete. Aber für dieses Ereignis, für diese Tragödie, die man als sinnlos bezeichnen könnte, obwohl es nur die natürliche Folge der maskulinen Selbstüberschätzung des Steuermanns war, gab es keine Musik. Die Musik, die uns immer Schutz gegeben, die uns Auswege gezeigt hatte, existierte nicht. Ich sage es zu Rebecca. Sie nickt, hört nur halb zu.

»Leg trotzdem eine Platte auf«, sagt sie.

Sie sieht klein und verängstigt aus auf der Couch, die Beine angezogen und die Arme darum geschlungen, gleicht auf beinahe komische Weise einer Spinne, die sich bedroht fühlt und sich zusammenrollt, wie eine Kugel. Während ich die aufwendige Plattensammlung durchgehe, liest sie meine Gedanken:

»Glaubst du, der Tote war der Freund von Anjas Mama?« »Nein«, sage ich rasch, als wolle ich verhindern, daß sich der Gedanke weiter ausbreitet. »Bei dem, was sie alles mitgemacht hat. Der Ehemann, der sich erschießt. Die Tochter, die an Unterernährung stirbt. Innerhalb weniger Wochen verliert sie alles

»Ja, aber du vergißt eines, Aksel«, sagt Rebecca in ihrer bekannten, rationalen Art. »Die Trauer ist nicht ohne Sinnlichkeit.«

»Wirklich?«

»Ja. Es gibt doch viele Menschen, die in der Trauer zueinanderfinden. Die Trauer frißt sich tief in uns hinein. Das hat Papa einmal gesagt. Sie öffnet uns, macht uns empfindsam. Und was heißt das? Wir werden empfänglich, sehnen uns nach Trost. Wir suchen, ohne daß uns das bewußt ist. Glaubst du nicht?«

Ich stehe vor der Plattensammlung und betrachte auf einem Cover Dinu Lipatti. Das junge Gesicht. Das Bild muß aufgenommen worden sein, kurz bevor er an Krebs starb. Jetzt weiß ich, welche Musik paßt. »Jesu, Joy of Man’s Desiring«. Die Klavierfassung des Chorals aus der Bach-Kantate Nr. 147 von Myra Hess. Die berühmte Aufnahme aus den fünfziger Jahren. Ich lege die Vinylplatte auf den Teller. Merkwürdigerweise trägt die schlechte Wiedergabe dazu bei, den künstlerischen Genuß zu erhöhen. Seine übersensible Spielweise. Gedämpft bis zum Unerträglichen, als würde bereits der Verstorbene spielen. Gespenstermusik, die das Leben preist.

Suchen, ohne sich dessen bewußt zu sein? Rebeccas Worte klingen in meinem Kopf, während ich mich frage, ob Dinu Lipatti, als er diese Musik spielte, wußte, daß er krank war und sterben würde. In jedem Fall ist es eine tote Person, die spielt. Sie spielt immer noch für uns. Seelenwanderung durch Technologie. Große Wunder, über die wir längst vergessen haben, uns zu wundern. Ich starre auf die Nadel in den Plattenrillen. Die schwarzen Rillen als Symbol für das Leben des Menschen. Wenn eine LP vierzig Minuten spielt, denke ich, sind das vierzig Minuten in Rillen geprägtes Leben von Dinu Lipatti. Viele Jahre nach seinem Tod stehe ich in einem Ferienhaus an der Küste Südnorwegens, im hohen Norden Europas, und höre Dinu Lipatti, wer er war, wer er sein wollte. Ich kann seine Gedanken nicht lesen, aber das wäre mir auch zu seinen Lebzeiten nicht gelungen. Während ich den Klaviertönen lausche, fällt mir ein, daß Gedanken transformiert werden können. Hätte der Mann, der ertrunken ist und einst Erik getauft worden war, ein Aufnahmegerät gehabt, hätten wir gewußt, wie es ist, dieser Erik zu sein, der an einem Sommertag vor Kilsund, als die Sonne schien und niemand etwas Schlimmes ahnte, sterben mußte.

Dinu Lipatti spielt, als wäre er am Leben.

»Diese Musik macht alles noch trauriger und unheimlicher«, sagt Rebecca.

»Entschuldigung«, sage ich.

Ereignisse am Meer

Es ist spät, als wir schlafen gehen. Rebecca hat zuviel Wein getrunken. Ihr graut davor, ihren Eltern zu erzählen, was geschehen ist. Ihr graut auch davor, die Tragödie ihrem geliebten Christian zu erzählen, weil er so zartfühlend ist, wie sie sagt, und weil er dieses Ferienhaus liebt – der einzige Ort, an dem er sich von seinem Studium erholen und glückliche Gedanken denken kann.

Ich bin mir über meine Gedanken und Gefühle noch nicht im klaren. Rebecca hat den ganzen Abend meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Sie, die ständig betont, wie wichtig es ist, glücklich zu sein, denkt jetzt düstere Gedanken. Und vielleicht hat sie recht. Vielleicht öffnet die Trauer. Vielleicht wird man empfänglich. Wir stehen in dem kleinen Flur vor den Schlafzimmern. Sie hält meine Hand.

»Ich kann heute nacht nicht allein schlafen«, erklärt sie.

Ich sehe ihr Schlafzimmer vor mir, mit dem Doppelbett, vorbereitet auf künftige Ehenächte mit dem zartfühlenden Christian, mit dem sie sich an Mittsommer verlobt hat. Ein großes Fest, mit Schubert im Freien, das Hindar-Quartett unter Apfelbäumen, die Liebeslieder von Grieg, dargeboten von Ingrid Bjoner persönlich. Die Fenster des Zimmers gehen nach Osten, fangen das erste Morgenlicht. Rebeccas Vater wollte immer auf alles beizeiten vorbereitet sein.

»Ich kann auf dem Boden schlafen«, sage ich pflichtschuldigst.

»Willst du das tun?« sagt sie und drückt mich kurz an sich. »Da brauchst du eine Matratze.«

»Ich brauche wirklich keine Matratze«, sage ich und verstehe nicht, warum ich das sage. Ich spüre jetzt meine Arme, sie schmerzen vom Hochwuchten der Schiffbrüchigen. Und ein Ziehen im Kreuz spüre ich ebenfalls.

»Du willst dich auf den blanken Fußboden legen?« fragt sie ungläubig.

»Ist da kein Teppichboden?« sage ich und versuche, witzig zu sein.

»Nein«, sagt sie kurz. »Eichenparkett. Aber mach, wie du willst. Es war nur ein Angebot. Du solltest wenigstens ein Handtuch unterlegen.«

»Ein Handtuch ist in Ordnung«, sage ich und reibe mir den Rücken.

Ich stehe im Bad. Betrachte mich im Spiegel. Deutliche Spuren der Erschöpfung. Worauf habe ich mich da eingelassen? Warum bin ich so schwach? So nachgiebig? Warum habe ich nicht gesagt, daß ich eine Matratze möchte? Will ich der frisch verlobten Rebecca imponieren? Ja. Das ist es. Obwohl meine Gedanken bei Marianne Skoog sind. Ihre Verzweiflung erregt mich. In dem nassen, nackten Gesicht sah ich Anja. Das Sanfte, Nachgiebige. Genau wie in meinem Spiegelbild. Und daneben der Trotz: Ich mache, was ich will. Und es ist mein Wille!

Mein Wille ist es also, in Rebecca Frosts Zimmer auf dem Boden zu schlafen. Mit dem gestreiften Pyjama komme ich aus dem Bad und gehe ins Gästezimmer, um Decke und Kopfkissen zu holen. Rebecca steht in der Tür und kichert, obwohl ihre Augen vom Weinen rot sind.

»Du bist so süß, Aksel.«

Nur der Teddy fehlt noch, als ich ihr mit meiner Decke ins Zimmer folge.



Sie liegt im Bett. Ich liege auf dem Fußboden, in Embryohaltung, horche auf eine Grille vor dem offenen Schlafzimmerfenster. Ich drehe mich um, versuche eine bequeme Position zu finden.

»Ist der Boden zu hart?« Ihre Stimme klingt dunkler als sonst.

»Alles in Ordnung«, sage ich.

»Ich kann nicht schlafen, solange du am Boden liegst. Willst du nicht ins Bett kommen? Es ist groß genug, und ich kann mich doch auf dich verlassen, oder?«

»Natürlich kannst du dich auf mich verlassen«, sage ich und ziehe mit meiner Decke nach oben.

»Gut«, sagt sie. »Jetzt kann ich endlich schlafen.«

Woher wissen wir, daß wir beide wach sind? Ihr Atem geht regelmäßig und tief. Trotzdem weiß ich, daß sie nicht schläft.

»Schläfst du?« fragt sie leise.

»Nein«, sage ich. Dann liegen wir wieder still da. Versuchen, zu schlafen.

Schließlich schlafe ich ein.



Ich erwache von einem Laut. Zuerst glaube ich, daß da jemand lacht. Dann höre ich, daß es Rebecca ist, die weint. Ich verhalte mich ruhig, weiß nicht, was ich tun soll. Ich hatte geträumt. Im Traum waren Wellen, aber nicht aus Wasser, sie waren aus Haut. Anjas Haut. Die Haut, die ich auf ihren Knochen spürte, weil sie so abgemagert war. Aber im Traum war nur die Haut, die Wölbungen, die Wellen. Anja lachte. Rebeccas Weinen im Dunkeln wird im Traum zu Anjas Lachen. Zwischen uns ist plötzlich kein Abstand mehr. Ich liege in einer Umarmung.

»Ich habe Angst«, sagt sie und drückt sich an mich. »Halt mich fest.«

»Hast du schlimm geträumt?«

»Ich habe nicht geschlafen.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Es fühlt sich so an, als ginge es eher darum, was ich für dich tun kann.«

Sie kichert. Ich erröte.

»Reg dich nicht auf, Aksel. Das Phänomen des Trostes wird in dieser Welt unterschätzt.« Sie greift mit der einen Hand nach mir. »Wir brauchen ja nicht miteinander zu schlafen.«



Sie atmet tief und erregt, als wir es tun. Ich komme schnell und heftig in ihrer Hand. Sie streichelt meinen Kopf. Ich suche ihren Mund, und sie läßt zu, daß ich es auch mit ihr mache. Sie ist schüchterner, als ich gedacht hatte. Sie flüstert mir unverständliche Wörter ins Ohr. Danach murmelt sie und weint nicht mehr: »Wie oft habe ich davon geträumt, daß du das mit mir machst, Aksel.«

»Hast du das? Wirklich?«

»Ja, aber das war vor Christian. Und was gerade war, darüber dürfen wir nie reden. Verstehst du? Diese Nacht ist eine Ausnahme und kehrt nie wieder. Wir haben nicht miteinander geschlafen. Was wir getan haben, passierte nur, weil es nicht anders ging. Weil wir Trost brauchten. Weil wir in einer tiefen Not waren.«

Ich nicke gehorsam. Sie merkt es. Sie hat den Arm um meinen Nacken und ihre Handfläche an meiner Wange. Ich streiche ihr sachte über den Bauch, als wären wir ein altes Ehepaar.

Das Licht des Morgens

Sie hat geschlafen. Sie liegt voller Vertrauen in meinem Arm, leise schnarchend wie ein kleines Mädchen. Sie hält mich mit festem und geübtem Griff. Als hätte sie sich in der Not an einem Pfosten im Hafen vertäut. Sind wir einander wirklich so nahe? Der Gedanke ist mir ungewohnt. Ein altmodisches Wort taucht plötzlich in meinem Bewußtsein auf. Begehrenswert. Ja, Rebecca Frost ist begehrenswert. Die blauen, lebhaften Augen, die plötzlich ganz schwarz werden, die Haut mit den winzigen, fast unsichtbaren Sommersprossen. Die schmale, muskulöse Taille, der kräftige Rücken. Sie ist so unerschrocken, und sie hat mit mir über das Glück gesprochen. Daß ich danach greifen solle und es nicht verspielen dürfe. Warum bemühe ich mich nicht um Rebecca? Ist nicht jetzt der günstigste Augenblick, wo sie an mich geschmiegt im Bett liegt, wo ich sie erst vor ein paar Minuten besessen und liebkost habe? Ist nicht jetzt der richtige Augenblick, nachdem sie mich eben aus einem Traum geholt und das vollbracht hat, was der Traum nicht zu vollbringen imstande war? Ist sie nicht eine perfekte junge Frau? Hat sie nicht mehr Mut als wir alle? Sie, die Unbestechliche, die trotzdem so etwas wie gerade eben geschehen läßt? Sie wartet nicht auf das Leben wie ich, denke ich. Sie ergreift es. Bestimmt darüber. Und wenn sie nicht bestimmt, wenn etwas Schreckliches passiert, dann findet sie die beste Lösung.

Ich liege da, höre sie im Schlaf ruhig atmen, und mich streift ein unheimliches Gefühl. Es war Anja, von der ich träumte. Ich träumte vom Tod. Vom Unmöglichen. Und wenn ich nun falsch geträumt habe? Wenn die Haut, die ich spürte, gar nicht die von Anja war? Vielleicht war es die Haut ihrer Mutter? Sie wäre beinahe ertrunken. Ich begehrte sie schamlos. Sie heißt Marianne Skoog. Sie ist über dreißig Jahre alt.

In dem Augenblick erwacht Rebecca.

»Du bist ein lieber Junge, Aksel Vinding. Weißt du das?«

»Nein«, sage ich aufrichtig. »Das weiß ich nicht.«

Sie greift nach mir. Kichert wieder.

»Es ist, wie ich dachte, Aksel. Wir müssen das, was so schön war, noch mal machen. Auf diesem Erdball werden nicht allzu viele gute Taten vollbracht. Aber dann, mein Freund, ist Schluß. Versprichst du mir das?«

»Ja, ich verspreche es.«

Abschied vom Paradies

Es ist schon lange Tag. Die Uhr zeigt nach zwölf. Wir kamen nicht aus dem Bett, weg vom befleckten Laken, vom befleckten Gewissen. Jetzt sitzen wir in der Küche, sind beide hungrig, rühren aber kaum einen Bissen an. Die Erinnerung an das Bootsunglück überfällt uns mit aller Macht. Ich merke, daß es Rebecca schlechtgeht.

»Du denkst an Christian«, sage ich.

»Nicht mehr als an dich oder an das, was gestern passiert ist«, erwidert sie. »Außerdem weiß ich, daß Christian einmal etwas Ähnliches gemacht hat.«

»Dann war das mit uns nur ein Racheakt?«

»Nein, du verstehst mich falsch. Ich wollte es. Habe es gebraucht, für mich!«

Sie schaut mich mit einem fast bittenden Blick an.

»Wir reden nicht mehr darüber.«

»Nein, nie mehr.« Sie greift über den Tisch nach meiner Hand. »Aber ich weiß, daß ich dich von jetzt an jeden Tag vermissen werde.«

»Du entscheidest dich für Christian«, erkläre ich.

»Ich habe mich für Christian entschieden. Das ist etwas anderes. Man setzt nicht einfach leichtfertig nach ein paar Monaten eine Verlobung aufs Spiel, nur weil man etwas verwirrt im Kopf ist.«

Nein, denke ich, das tut man wohl nicht.

»Ich halte es hier nicht mehr aus«, sagt Rebecca. »Merkst du, daß nichts mehr ist wie vorher? Nicht einmal das Licht ist wie vorher. Ich muß Mama und Papa anrufen. Und Christian. Es ist so schrecklich. Fährst du heute nachmittag mit mir zurück nach Oslo?«

Ich nicke.

»Was wirst du jetzt machen, Aksel?«

»Ich weiß es nicht.«

»Das hast du immer gesagt. Du mußt bald eine Entscheidung treffen. Aber man entscheidet leicht falsch.«

»Das hast du mir auch schon einmal gesagt.«

»Deshalb ist es nicht weniger richtig.«

»Du bist dir jedenfalls sicher, richtig entschieden zu haben?«

»So sicher man sein kann, ohne unmenschlich zu werden. Das, was heute nacht geschehen ist, war menschlich.«

Die Rückfahrt Die Ferien sind jetzt auch für alle anderen zu Ende. Wir haben beide nicht daran gedacht, daß Sonntag ist und das Ende der großen Ferien. Wir sitzen in Rebeccas neu erworbenem Mercedes Cabrio. Fabian Frosts Geschenk an seine Tochter zum bestandenen Führerschein. Eine träge und schwüle Hitze hat sich auf das Land gelegt. Auf der E 18 bewegen wir uns im Schneckentempo vorwärts hinauf zur Telemark. Keiner von uns sagt etwas. Die Stimmung zwischen uns ist angespannt. Ich habe den Eindruck, daß Rebecca das, was passiert ist, totschweigen will, daß sie jetzt bewußt Abstand von mir hält. Vielleicht haben wir eine Freundschaft zerstört, denke ich. Vielleicht wird sie mich ab jetzt meiden. War es das wert? Eine enge und lange Freundschaft, voller Vertrautheit und Nähe, gegen ein paar Minuten sündiges Glück? Ich weiß, daß mir die langen Abende im Ferienhaus der Frosts fehlen werden, die Musik, die wir auflegten und die ich wieder auflegen werde, allein. Die Gespräche über das Leben, über die Zukunft. Die gesalzenen Garnelen. Der trockene Wein. Tschaikowskis Streicherserenade. Ich will diese plötzliche Distanz nicht. Ich lege behutsam eine Hand auf ihr Knie.

»Laß das«, sagt sie, beide Hände am Lenkrad und die Augen unverwandt auf die Straße gerichtet. Ich betrachte sie im Profil. Wie gut sie aussieht, denke ich. Die teure Sonnenbrille steht ihr. Und trotzdem hat das Leben sie hart angepackt. Nächstes Jahr wird sie zwanzig. Sie hat bereits eine Pianistenkarriere hinter sich, ein Debütkonzert, an das man sich erinnern wird, nicht an die Musik, die sie darbot, sondern weil sie über ihr eigenes Kleid stolperte. Kleine, schnelle, aber entscheidende Fehler. Wie der von heute nacht.

Wir sprechen erst wieder kurz vor Porsgrunn.

»Du mußt mir Zeit lassen, Aksel«, sagt sie. »An diesem Tag ist einfach zuviel geschehen. Verstehst du?«

»Ja.«

»Was wirst du diesen Herbst machen? Das Abitur nachholen? Das solltest du tun. Jeder braucht eine Ausbildung.«

»Vielleicht. Mal sehen, was Selma Lynge meint.«

»Selma Lynge? Sie will nur neue Klaviervirtuosen hervorbringen. Die große Pädagogin braucht dringend einen großen Erfolg, nachdem sowohl ich wie Anja versagt haben. Wirst du dieser Erfolg sein? Ja, das wird sie sich wünschen. Du mußt dich hüten vor ihr, Aksel. Sie ist falsch. Sie hat Anja in den Abgrund gestürzt. Hat Selma eigentlich jemals über Anjas Tod getrauert?«

In mir zieht sich etwas zusammen, als sie das sagt. Ich habe selbst daran gedacht. Vor einer Frau wie Selma Lynge muß man sich hüten. Aber wie soll ich das anstellen? Sie hat schließlich ganz auf mich gesetzt. Es ist zu spät, jetzt abzubrechen.

»Wir sind in derselben Situation, du und ich«, sage ich und zünde ihr die Zigarette, die sie sich zwischen die Lippen gesteckt hat, mit dem Anzünder vom Armaturenbrett an. »Wir haben ja zu etwas gesagt, haben ein Versprechen gegeben, das wir nicht brechen wollen. Im Augenblick ist Selma Lynge der einzige Halt, den ich habe.«

»Mich hast du auch«, sagt sie nüchtern und zieht den Rauch tief ein. »Uns verbindet das Schicksal, vergiß das nicht. Uns verbindet ein Geheimnis. Uns verbindet eine Lüge.«

Weltschmerz

Spätsommer in Oslo. Selma Lynge macht mit ihrem Philosophen noch Urlaub in München. Morgens sitze ich am Küchenfenster meiner Wohnung in der Sorgenfrigata und beobachte die Spatzen. Jeden Vormittag, sobald Frau Evensen in der Wohnung unter mir zur Arbeit gegangen ist, übe ich auf Synnestvedts altem Blüthner, der dringend gestimmt werden müßte. Nachmittags radle ich hinaus nach Bygdøy, suche mir einen glatten Felsen am Ufer mit Ausblick nach Fornebu und den Flugzeugen, die Richtung Süden starten, betrachte die Mädchen in ihren Bikinis und erinnere mich, was zwischen mir und Rebecca geschah. Ich höre die Musik, die meine Altersgenossen auf ihren kleinen, tragbaren Plattenspielern spielen oder die aus den rosafarbenen oder hellblauen Kofferradios tönt. Musik, mit der mich nichts verbindet, die ich aber immer besser kenne, weil sie mich überall umgibt, die Rolling Stones und die Beatles, ja, ich kann schon die Texte, ertappe mich dabei, die bekanntesten Songs mitzusummen, solche, die schon jahrelang Schlager sind. »Can’t buy me love.«

Da sitze ich und sehe aus wie die anderen, fühle mich aber nicht wie diese braungebrannten Jungen mit langen, blonden Haaren, die dicht bei den Mädchen liegen, sie mit Sonnencreme einschmieren, mit den Fingern schnippen, wenn die Rolling Stones loslegen, und in tiefen Zügen Zigaretten rauchen.

Es ist ungewohnt, allein zu leben, ohne Mutter und ohne Cathrine. Ungewohnt, nicht im Elternhaus in Røa zu sein. Jeden Samstag stehe ich im Untergeschoß der Musikalienhandlung an der Karl Johan und verkaufe Noten. Ich habe Geldprobleme, habe in der letzten Zeit über meine Verhältnisse gelebt. Ich kann mir keine Noten leisten und leihe mir heimlich die am wenigsten nachgefragten Komponisten aus. Das ist kein Diebstahl, denke ich. Eines Tages werde ich alle zurückgeben. Auf diese Weise lerne ich Prokofjew und Skrjabin spielen. Oben in der Plattenabteilung erfahre ich alles über die neuesten Aufnahmen. Aber irgendwie habe ich gar keine Lust mehr, Klaviermusik zu hören. Ich sehne mich nach einem anderen Ausdruck, nach anderen Klängen als die, die ich Tag für Tag höre, wenn ich systematisch, aber ohne besondere Freude die Russen übe und mich außerdem durch die vierundzwanzig Etüden von Chopin quäle, wieder und wieder, weil genau diese intrikaten Klavierstücke meine Technik verbessern sollen, wie Selma Lynge gesagt hat. Die Tage sind nicht mehr so spannend wie eine Wundertüte. Die Angst vor der Zukunft und vor Selma Lynge überfällt mich. Überall ist soviel Licht, aber ich sehe nur Schatten. Ich habe zuwenig geübt. Selma Lynge wird das sofort merken. In mir ist eine Verzweiflung, die mich schon frühmorgens weckt, zusammen mit dem Dröhnen der ersten Straßenbahn. Die Musik ist kein Trost mehr. Rebecca war ein Trost. Aber Trost ist wie eine Droge. Trotzdem sehne ich mich nicht nach ihr. Die Gefühle sind heftig, aber unverbindlich. Ständige Taktwechsel. Wenn nichts anderes mehr wirkt, wenn die Sorge zur Depression zu werden droht, suche ich Zuflucht bei Brahms. Die Kammermusik. Violine, Bratsche und Cello. Ich spiele diese Trios mit Melina und Tibor, zwei jungen, verliebten Ungarn, die noch nicht wissen, ob sie ganz auf die Musik setzen sollen. Sie haben die Wohnung eines Psychiaters in Slemdal gemietet. Dreimal die Woche fahre ich mit der Straßenbahn dorthin. Ich möchte mit Melina schlafen, so wie ich es mit Rebecca getan habe, egal wie Rebecca das nennt. Unverbindlich. So, daß ich sie unmittelbar danach vergessen kann. Was stimmt nicht mit mir? Intensives Verliebtsein, das zwei Tage dauert. Dann eine andere. Aber jedesmal ist es Anja Skoog, und jedesmal sind es Selma Lynges Erwartungen, und jedesmal ist es Brahms. Eine Welt, in der das Klavier trotz einer gewaltigen Partitur eine untergeordnete Rolle spielt, wenn es in den Sonaten auftaucht, in den Trios, in den Quartetten und in den anstrengenden f-Moll-Quintetten. So wie ich eine untergeordnete Rolle in Anjas Leben spielte und sie nicht retten konnte, wenn ich es gewollt hätte.

Aber mit den beiden spiele ich Trios, mit ersten Sätzen so langgezogen wie ein Traum, in dieser Zeit meines Lebens, in der ich unsicher und introvertiert bin und in der Melina und Tibor meine Ferienbetreuer sind. Ich kann mit ihnen momentan nichts anderes machen als Trios spielen. O Melina, du hast deinen Tibor gefunden! Du wirst nie eine Cellistin werden! Du wirst dich zur Ärztin ausbilden lassen, den Beruf nicht ausüben und viele Kinder bekommen! Ich habe mich bereits entschieden, sowohl für die Musik wie für die Scham. Das ist keine Scham, die einen konkreten Anlaß hat, jedenfalls nichts, was an das erinnert, was zwischen mir und Rebecca geschah. Die Scham hängt mit Anjas Tod zusammen, und darüber kann ich mit Melina und Tibor nicht reden. Melina spielt in trägerlosen Sommerkleidern. Ist schüchtern und zugleich willig, schickt mir ihre schwarzen Blicke, wenn sich die Musik dem Höhepunkt nähert, flirtet offensichtlich, ist aber trotzdem ihrem Tibor hoffnungslos treu. Worüber kann ich mit ihnen reden? Ich kenne Ungarn nicht, und sie sprechen kaum Norwegisch. Wir trinken nach dem Üben Egri Bikaver, aber Melina bekommt jedesmal Kopfschmerzen und muß sich schon vor neun Uhr hinlegen, küßt mich mit schwellenden Lippen auf die Wange, bittet mich, sie zu entschuldigen. Wofür entschuldigen? Ich habe keine Lust, allein mit Tibor über seinen Vater und den Aufstand von 1956 zu reden. Das ist das einzige, über das er reden kann, obwohl er damals erst fünf Jahre alt war. Er erinnert sich nicht einmal an seinen Vater, muß aber ständig von ihm reden. Ich erinnere mich immerhin an meine Mutter und kann sie nicht vergessen. An einem Sonntagnachmittag Anfang September 1970 suche ich wieder die Tatorte auf. Das Tal der Kindheit. Das verlorene Paradies. Ich nehme die Røa-Straßenbahn, wie wir immer gesagt haben, obwohl sie nach Lijordet fährt. Ein sinnloses Zurücksehnen. Das frühe Herbstlicht ist scharf. Die Schatten sind ebenfalls scharf. Nichts mehr wirkt schmerzstillend. Keine glänzenden und goldenen Punkte zum Festhalten. Die große Mattigkeit des Sommers hat mir jede Kraft genommen, jede Initiative. Was im Sommer geschieht, ist nicht wirklich. Mutters Tod war nicht wirklich. Anjas Tod auch nicht. Nur Rebeccas Hand war wirklich. Die Segelyacht mit dem Rumpf nach oben. Mariannes verzweifelter Blick.

Die Annonce

Der Herbst ist ein Freund. Kühle Luft. Klare Gedanken. Die Sorgen und das innere Chaos werden von neuen Vorhaben verdrängt. Menschen mit roten Wangen und wachem Blick. Sternenschein. Der Herbst ist verbindlich. Ich habe nicht mehr soviel Angst vor dem Wiedersehen mit Selma Lynge. Es war Herbst, als ich Anja Skoog kennenlernte. Im Herbst trifft man neue Freunde und knüpft künftige Beziehungen. Im Herbst debütieren die jungen Talente. Im Herbst ist Parlamentswahl und Schicksalswahl. Im Herbst kommen die größten Solisten und spielen mit der Philharmonie. Heuer wird Swjatoslaw Richter kommen, denke ich auf meinem Sitzplatz in der Straßenbahn. Die Straßenbahn war immer der Weg zur Musik. Die Straßenbahn war der Weg zur Stadt, fort von der Vorstadtidylle und der Geborgenheit.

Und hinterher, wie eine Bedingung, brachte uns die Straßenbahn sicher zurück in unsere Vorstadtleben. Zurück nach Røa, der Haltestelle, die ich besser kenne als jede andere, wo die Wohnhäuser nicht auffällig groß sind, wo einmal ein Bauernhof war, ein gutes Stück entfernt von den Gütern Bogstad und Fossum. Ich denke an Anja und an meine Mutter. Marianne Skoog ist Anjas Mutter. War es. Ich frage mich, ob sie wieder im Elvefaret ist, ob sie trauert, ob sie krank geschrieben ist, ob sie den verfluchten Tatort verkaufen will. Wenn ich Elvefaret hinuntergehe bis zum Erlengebüsch, erfahre ich vielleicht mehr. Da stehe ich nun in der vertrauten Gegend, und plötzlich beschleicht mich ein komisches Gefühl. Ich habe im Grunde kein Ziel, kein wirkliches Motiv für mein Hiersein. Wo finde ich mich hier? Beim Wasserfall, wo Mutter ertrank? In dem Haus, in dem Cathrine und ich unsere Kindheit verlebten?

Meter um Meter passiere ich meine eigene Vergangenheit. Da bin ich mal gestolpert. Dort führt der Weg zum Zigeunerfelsen und zum Wasserfall. Da hörte ich an einem Herbstabend Anjas Schritte. Da lag der Stein, wo mich die Brüder des Nachbarn einmal verprügelten. Wieder in der Kindheit, in der Erniedrigung, der Langeweile, der flüchtigen Vertrautheit mit den Erwachsenen. Kein Ausgleich für das Alleinsein. Zurückgekehrt ins Land der Ängste. Es ist an einem Dienstag im September 1970. Ich gehe den Melumveien hinunter, bin verlegen. Schäme mich irgendwie. Daß es da etwas gibt, mit dem ich nicht fertig werde, das mich an dieses anspruchslose, schöne und zugleich so traurige Tal bindet. Ich bleibe vor dem Elternhaus stehen, schaue auf unsere Fenster, aus denen fremde Menschen schauen, wenn überhaupt jemand zu Hause ist. Es ist beinahe eine Provokation, daß mein Elternhaus, dieses gewöhnliche gelbe Haus, leer ist. Wissen sie nicht, daß ich in diesem Augenblick vorbeigehe? Ich, Aksel Vinding. Erfahren in der Liebe. Eine tiefe und komplizierte Natur.

Und auf der anderen Seite des Flusses: Selma Lynge, die auf ihr junges Genie wartet.



Am Lichtmast vor dem Elternhaus fällt er mir ins Auge, der weiße Zettel: »Zimmer zu vermieten. Ideal für musikbegeisterten Studenten. Konzertflügel vorhanden. Geringe Miete, wenn kleinere Gartenarbeiten erledigt werden. Interessenten bitte wenden an Marianne Skoog« usw.

Ich fange an zu würgen, übergebe mich, sehe einen Schatten in meinem ehemaligen Schlafzimmer. Ein Zeuge. Aber er oder sie können keine Diagnose stellen. Ich weiß nicht einmal, ob es eine Krankheit ist. Es ist eine Sehnsucht. Ein Schock. Marianne sucht einen Mieter. Anjas Zimmer steht leer. Ich erröte, aus Scham ebenso wie vor Freude. Ich könnte also, wenn mir das Geld reicht, zurückkehren in ihre Welt. Aber will ich das denn? Ist es vernünftig? Was würde Mutter dazu sagen? Ich stehe neben dem Lichtmast, schlucke und denke. Es ist schon Nachmittag, und die Menschen kommen von der Arbeit nach Hause. Der Septemberhimmel färbt sich rot. Jetzt kann alles geschehen. Kleine Entscheidungen. Große Irrtümer. Mariannes Annonce trifft mich wie eine Kanonenkugel in die Magengrube. Ich habe kein Geld. Viel zu lange habe ich den Entschluß vor mir hergeschoben. Daß ich die Wohnung in der Sorgenfrigata vermieten müßte. Daß ich es mir nicht leisten kann, dort zu wohnen. Daß die Klavierstunden bei Selma Lynge Geld kosten. Daß ich einen besser bezahlten Job haben müßte. Daß ich nichts unternommen habe, weil ich einen Ort zum Üben brauche. Bei Marianne kann ich üben. Bei Marianne kann ich bei Anja sein, in ihrem Bett schlafen, in ihren vier Wänden leben, die Träume träumen, die ihr nicht mehr vergönnt waren, auf den Tasten spielen, die sie so liebte. Ebenholz. Elfenbein. Was wäre die Geschichte des Pianos ohne den Elefanten?



Zögernd gehe ich den Melumveien hinunter zum Elvefaret. Als hätte sich meine Kindheit selbst eingesperrt, wäre zu einem versperrten Raum geworden, zu dem ich den Schlüssel verloren habe. Aber es ist ja noch alles da! denke ich. Die Bäume, die Häuser, der Asphalt, die Türen, der Flieder. Meter um Meter erobere ich verlorenes Leben zurück. Da sind Anja und ich nach dem Ausflug auf den Brunkollen stehengeblieben. Da stand ich und blickte zur letzten Kurve vor ihrem Haus. Sie wollte nicht, daß ich sie ganz bis dorthin begleite. Aber jetzt sehe ich das Haus wieder. Das Haus der Skoogs. Dunkel und düster steht es hinter den hohen Bäumen. Ich sehe den Plattenweg zur Treppe und die braune Eingangstür mit dem kleinen Bleiglasfenster. Auf dem alten Messingschild steht immer noch Skoog. Ich bin jetzt da und an dem Lichtmast rechts vom Gartentor entdecke ich den gleichen, etwas hilflos maschinengeschriebenen Zettel mit der Annonce. »Zimmer zu vermieten. Ideal für musikbegeisterten Studenten.« Da stand eine Telefonnummer. Aber die brauche ich nicht. Ich bin persönlich gekommen. Und weiß, daß ich vielleicht eine Wahl fürs Leben treffe. Dieses Haus ist ein Tatort. Hier hat sich im Keller Bror Skoog erschossen. Hier ist Anja gestorben, Tag für Tag. Nur die Mutter ist noch da, Marianne Skoog. Die Witwe. Warum vermietet sie? Arm ist sie nicht, stammt aus reichen Verhältnissen. Und ist erst fünfunddreißig Jahre alt. Hat bei einem Segelunfall einen Freund verloren. Kann immer noch Kinder bekommen.



Ich öffne das Gartentor und gehe hinein, eigentlich ist es noch zu früh am Nachmittag und sie wird nicht zu Hause sein, wird noch in ihrer Gynäkologenpraxis in der Pilestredet mit Dingen beschäftigt sein, die ich mir lieber nicht vorstellen möchte. Ich habe eine Wahl getroffen und rechne mit einer Ablehnung. Nervös stehe ich vor ihrem Haus und weiß, daß das eine Totgeburt wird. Oder vielleicht eine überflüssige, nutzlose Demütigung.

Dann drücke ich auf den Klingelknopf.

Klingeltöne

Ich wußte nicht, daß die Erinnerung des Gehörs so stark ist. Ich fühle mich zurückversetzt zu jenem Dienstag, als gelbes Laub von den Bäumen fiel und ich zum erstenmal in diesem Haus Elgar hören sollte. Anja erwartete mich. Das war ein Gefühl, als würde man ein Kloster betreten. Sie wollte mir Jacqueline du Pré vorspielen. Was sich sonst noch ereignete, habe ich mir stibitzt, wie ein kleiner Taschendieb. Denn sie war ständig irgendwo anders.

Die Klingeltöne. Danach Schritte. Marianne Skoog öffnet. Dann ist sie sicher den ganzen Tag zu Hause gewesen. Ist vielleicht immer noch krank geschrieben. Aber was hat sie gemacht. Als sie die Tür öffnet, sehe ich eine Frau im Baumwollkleid, fast ungeschminkt und nicht auf Besuch eingestellt. Bevor sie mich erkennt, ist die Körpersprache ablehnend. Dann merkt sie, wer ich bin.

»Du!« sagt sie vorwurfsvoll.