Sophienlust 4 – Staffel

Sophienlust –4–

Staffel

Roman von Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER DIGITAL GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert, Oliver Melchert, Mario Melchert

Originalausgabe: © KELTER DIGITAL GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.kelterdigital.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-127-0

Weitere Titel im Angebot:

Weitere Titel im Angebot
Sophienlust 4 – Staffel

Hurra, wir bekommen eine neue Mutti!

31

Roman von Bettina Clausen

Hurra, wir bekommen eine neue Mutti!

Cosima und Frank können endlich wieder fröhlich sein

Roman von Bettina Clausen

Melissa Verhoeven betrachtete gerührt die schlafenden Kindergesichter. Ihre Nichte Cosima war acht, ihr Neffe Frank sechs Jahre alt. Melissa begriff erst jetzt, wie viel die beiden ihr bedeuteten. Vor vier Jahren, nach dem Tod ihrer Schwester, hatte Melissa die Kinder bei sich aufgenommen. Ihr Schwager war ihr dafür sehr dankbar gewesen. Doch nun hatte er wieder geheiratet und wollte die Kinder zurückhaben.

Während Melissa noch ihren Gedanken nachhing, schlug Cosima die Augen auf. Ein Lächeln glitt über ihr Gesichtchen. »Tante Melissa, müssen wir wirklich schon heute zu unserer Stiefmutti?«

Melissa setzte sich zu ihrer Nichte ans Bett. »Aber das war doch euer eigener Wunsch«, erinnerte sie die Kleine.

Von dem Gespräch war auch Frank erwacht. »Wir wollten bei unserem Papi sein, aber mit dir zusammen, Tante Melissa«, mischte er sich ein.

Cosima nickte eifrig. »Das stimmt. Nach unserem Papi hatten wir Sehnsucht. Aber nicht nach einer fremden Mutti.«

»Aber euer Papi hat nun mal wieder geheiratet«, versuchte Melissa den Kindern die Situation zu erklären. Wie oft hatte sie in letzter Zeit schon diesen Versuch unternommen. »Ihr kennt doch eure neue Mutti noch gar nicht. Vielleicht ist sie sehr lieb?«

»Sie kann gar nicht lieb sein, wenn sie sich so viele Monate nicht um uns gekümmert hat«, behauptete Frank, und sein Blick suchte Bestätigung bei seiner Schwester.

Melissa wusste, dass die Kinder sich in diesem Punkt absolut einig waren. Auch sie verstand ihren Schwager und dessen zweite Frau nicht. Schon vor einem halben Jahr hatte Siegfried Bremer jene attraktive junge Frau geheiratet. Doch in all diesen Monaten hatte sie es nicht der Mühe wert gefunden, die Kinder ihres Mannes kennenzulernen.

»Siehst du, Tante Melissa, du denkst auch so wie wir«, sagte Cosima, die Melissas Schweigen richtig wertete.

Doch Melissa wollte in den Kindern keine Vorurteile aufkommen lassen. Die Kleinen standen der neuen Mutti ohnehin schon mit Misstrauen und Ablehnung gegenüber. Hätte sich Anita Bremer allerdings gleich nach der Hochzeit, die im Ausland stattgefunden hatte, um die Kinder gekümmert, so wären ihr Frank und Cosima mit offenem Herzen entgegengekommen. Doch nun war der Zeitpunkt verpasst. Die Kleinen spürten instinktiv, dass sie in dem neuen Heim ihres Vaters nicht willkommen waren. Die ganz natürliche Folge war, dass sie sich mit Trotz und Ablehnung wappneten und verlangten, bei Melissa zu bleiben. Deshalb musste Siegfried seine Kinder möglichst bald zu sich nehmen, wenn er deren Liebe nicht für immer verlieren wollte. So sehr der Gedanke, die Kinder hergeben zu müssen, Melissa auch schmerzte, sie war bereit, ihrem Schwager zu helfen. Kinder gehörten nun mal in ein ordentliches Elternhaus und brauchten Liebe von Vater und Mutter.

Mit einem leisen Seufzer erhob sich Melissa und schaute Cosima und Frank aufmerksam an. »Ihr habt mir doch gestern versprochen, heute mit mir zu eurer neuen Mutti zu fahren und lieb und nett zu sein. Werdet ihr euer Versprechen halten?« Schmerzerfüllt betrachtete sie die Kindergesichter.

Cosima senkte die Augen. Frank aber schaute seine Tante treuherzig an. »Was man verspricht, muss man auch halten, nicht wahr, Cosi?«

Cosima nickte.

Schweren Herzens ging Melissa in die Küche und bereitete das Frühstück zu.

Während die Kleinen sich wuschen, deckte sie ein letztes Mal liebevoll den Tisch und goß Kakao in die Tassen. Wie glücklich war sie all die Jahre mit den Kindern gewesen. Sie hatte ihnen so viel Liebe und Zärtlichkeit geschenkt, dass sie den Tod der Mutter bald überwunden hatten. In dem kleinen Haus, das sie von ihrem elterlichen Erbteil gekauft hatte, hatten Cosima und Frank ein zweites Zuhause gefunden. Ihr Beruf als Modeschöpferin hatte ihr genügend Zeit gelassen, sich um die Kinder zu kümmern. Und wenn sie wirklich einmal beruflich unterwegs gewesen war, hatte sie tageweise eine Kinderschwester eingestellt. Nun ahnte sie, dass ihr Leben ohne die Kinder sehr trostlos und einsam sein würde.

»Was hat Papi denn am Telefon gesagt?« erkundigte sich Cosima während des Frühstücks bei ihrer Tante.

»Er hat gesagt, dass er euch erwartet und dass er sich auf euch freut«, erwiderte Melissa und erkannte gleich darauf, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Nur Papi freut sich auf uns? Die Stiefmutti nicht?«, fragte Frank mit großen Augen.

»Vielleicht hat Papi uns deshalb so lange nicht zu sich genommen, weil die Stiefmutti es nicht wollte«, folgerte Cosima richtig.

»Ihr sollt euch nicht so viele Gedanken machen«, ermahnte Melissa. »Lernt doch eure Mutti erst einmal kennen.«

»Aber wenn sie nicht lieb zu uns ist, dann müssen wir nicht bei ihr bleiben, nicht wahr? Das hast du uns nämlich versprochen, Tante Melissa«, erinnerte Cosima ihre Tante.

»Ich glaube bestimmt, dass sie lieb zu euch ist«, tröstete Melissa die Kinder.

»Aber das kannst du doch gar nicht wissen, du kennst sie ja auch noch nicht«, hielt Frank ihr altklug entgegen.

Fast musste Melissa lächeln. »Natürlich kenne ich sie nicht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass euer Papi eine böse Frau geheiratet haben könnte.«

Das leuchtete den beiden ein.

*

Vor ihrer Spiegelkommode sitzend lauschte Anita Bremer mit halbem Ohr den Ausführungen ihres Mannes. Doch plötzlich wurde sie hellwach.

»Was, die Kinder sollen gleich dableiben?«, fragte sie mit hoher Stimme. »Davon war nicht die Rede.«

»Wir reden seit Wochen von nichts anderem mehr«, sagte Siegfried Bremer ungeduldig. »Ich verstehe nicht, warum du dich immer noch so dagegen wehrst, die Kinder zu uns zu nehmen!« Er fuhr sich mit einer hilflosen Geste durchs Haar. Dass sich Anita seinen Kindern gegenüber so herzlos verhielt, konnte er einfach nicht begreifen. Deshalb hatte er ihr Verhalten vor Melissa auch immer wieder entschuldigt.

»Ich wehre mich nicht dagegen«, korrigierte Anita ihren Mann hochmütig. »Aber ich möchte, dass wir eine friedliche Familie werden. Deshalb muss ich die Kinder erst kennenlernen. Vertragen wir uns, dann habe ich nichts dagegen, dass sie für immer hierbleiben.«

Insgeheim dachte sie anders. Aber sie hütete sich, ihren Mann diese Gedanken wissen zu lassen. Schließlich hatte sie ihm vor der Ehe versprochen, seinen Kindern eine gute Mutter zu sein.

»Ihr werdet euch bestimmt vertragen, das weiß ich«, erwiderte Siegfried Bremer hoffnungsvoll. In seinen Augen war Anita eine warmherzige Frau, und seine Kinder kannte er als anschmiegsam und liebebedürftig. Seiner Ansicht nach konnte also nichts schiefgehen. Zuversichtlich nahm er seine Frau in die Arme. »Schau, Liebes, wir beide sind doch glücklich. Aber kann unser Glück je vollkommen sein, wenn wir wissen, dass meine Kinder ohne Elternliebe aufwachsen?«

»Ich denke, sie lieben Melissa so sehr und sind glücklich bei ihr?«

»Natürlich hängen sie sehr an Melissa. Aber das ist doch ganz selbstverständlich, schließlich hat sie fast vier Jahre lang Mutterstelle an ihnen vertreten. Die Kleinen haben mich ja nur selten gesehen. Doch jetzt, wo ich wieder eine Frau und ein Zuhause habe, möchte ich diesen Zustand beenden. Eines Tages wird Melissa heiraten. Wer weiß, wie es dann meinen Kindern ergehen würde.«

Anita beschloss, die Debatte zu beenden. Da sie eingesehen hatte, dass sie sich nicht länger weigern konnte, die Kinder ins Haus zu nehmen, sann sie nach anderen Mitteln. Auf keinen Fall wollte sie ihr Leben auf die Dauer mit zwei unbequemen Kindern belasten.

Es würde sich bestimmt ein Weg finden, die beiden wieder loszuwerden. Wozu gab es schließlich Kinderheime?

»Du bist also einverstanden, dass wir sie gleich dabehalten?«, fragte Siegfried Bremer.

»Aber natürlich«, antwortete Anita leichthin.

»Ich danke dir«, flüsterte er und schloss sie in die Arme.

Anita schob das schlechte Gewissen, das sekundenlang in ihr hatte aufkommen wollen, rigoros beiseite.

*

Während Melissa den Wagen aus der Garage fuhr, standen Cosima und Frank Hand in Hand vor der Eingangstür. Süß sahen sie aus in ihren bunten Sommersachen und den weißen Lackstiefelchen.

»Ich würde viel lieber bei Tante Melissa bleiben«, sagte Frank kläglich. »Sie hat uns lieb, und wir sind mit ihr auch eine Familie, nicht wahr, Cosi?«

»Das finde ich auch«, bestätigte Cosima. »Ich habe Tante Melissa viel lieber als Papa«, fügte sie rebellisch hinzu.

»So etwas darfst du nicht sagen, Cosi«, flüsterte Frank erschrocken. »Tante Melissa wäre bestimmt böse darüber. Wir haben ihr doch versprochen, lieb zu sein. Und eigentlich habe ich Papa doch lieb, auch wenn er eine Stiefmutti geheiratet hat.«

»Ich auch«, wisperte Cosima. »Aber vielleicht hat er uns nicht mehr lieb?«

»Bestimmt hat er euch lieb«, versicherte da Melissa hinter den beiden.

Erschrocken fuhren die Kinder herum.

»Du darfst Cosi nicht böse sein«, stotterte Frank und schaute seine geliebte Tante bittend an.

»Aber, Liebling, wie könnte ich euch denn böse sein?«, flüstere Melissa und schloss sie alle beide in die Arme.

»Und nun fahren wir.« Sie nahm die beiden entschlossen bei der Hand und führte sie zu ihrem Wagen.

Als Melissa vor dem Haus ihres Schwagers hielt, fühlte sie sich genauso beklommen wie die Kinder. Schließlich kannte sie die Frau ihres Schwagers selbst noch nicht. »Vergesst eure Blumen nicht«, ermahnte sie die Kinder und öffnete ihnen die hintere Wagentür.

»Wem sollen wir unseren Blumenstrauß geben?«, erkundigte sich Frank.

»Natürlich eurer Mutti«, antwortete Melissa. Dann nahm sie die Kinder bei der Hand und ging mit ihnen auf die Villa ihres Schwagers zu.

Das im Bungalowstil erbaute Haus war von einem großen Garten umgeben. Ein Paradies für Kinder, dachte Melissa flüchtig. Dann sah sie ihren Schwager aus dem Haus treten und ihnen entgegenkommen. Er sah braungebrannt und glücklich aus. Das Herz krampfte sich ihr zusammen, als sie es feststellte. Ihre ganze Zuneigung gehörte ihm, seit sie denken konnte. Aber er war unerreichbar für sie.

Als Cosima und Frank den langentbehrten Papi erblickten, vergaßen sie ihre Vorurteile und liefen ihm mit einem freudigen Aufschrei entgegen. Siegfried Bremer fing sie alle beide gleichzeitig auf und presste sie an sich.

»Meine Kleinen«, flüsterte er mit rauer Stimme und gab jedem Kind einen Kuss.

»Du hast uns also doch noch lieb«, flüsterte Frank mit tränenerstickter Stimme, während Cosima ihr heißes Gesichtchen an die Wange des Vaters presste. Es war ein Bild zärtlicher Vaterliebe, das von zwei Frauen beobachtet wurde. Während Anita Bremer hinter dem Fenster stand und durch den Vorhang spähte, verhielt Melissa einige Meter entfernt den Schritt. Sie begegnete den Augen ihres Schwagers und erkannte die Dankbarkeit darin. Das genügte ihr schon.

»Kommt«, sagte Siegfried Bremer und nahm seine Kinder bei der Hand. »Eure Mutti wartet schon auf euch.«

Anita Bremer erwartete die Kinder im Wohnzimmer, im Schaukelstuhl sitzend. Verschüchtert blieben Cosima und Frank an der Tür stehen. Die auffallende blonde Frau sah so gar nicht wie eine liebe Mutti aus!

»Na, wollt ihr mir nicht guten Tag sagen?«, sprach Anita die beiden an.

Cosima nahm all ihren Mut zusammen, streckte die Hand mit dem Blumensträußchen vor und trat zu der Frau im Schaukelstuhl. »Guten Tag, Stiefmutti«, sagte sie mit leiser Stimme. »Wir haben dir Blümchen mitgebracht, damit du uns gern hast, und wollen dich auch liebhaben«, fügte sie schnell hinzu, als sie in die kalten Augen der gut aussehenden Frau blickte. Frank hielt ihr ebenfalls seine Blumen hin, brachte aber keinen Ton heraus.

Sekundenlang war Anita Bremer sprachlos. »Das hat euch wohl eure Tante beigebracht?«, erkundigte sie sich dann.

Die beiden Kinder schüttelten den Kopf.

In diesem Moment betrat Melissa das Wohnzimmer. Die Blicke der beiden Frauen begegneten sich. Anita Bremer vergaß, den Kindern die Blumen abzunehmen. Sie hatte nicht erwartet, in der Schwägerin ihres Mannes eine so ausgesprochen aparte Erscheinung kennenzulernen.

Als die Kinder merkten, dass sie von der neuen Mutti nicht beachtet wurden, flüchteten sie sich an Melissas Seite, die Anita Bremer mit einem warmen Lächeln die Hand reichte. Doch die Begrüßung von Anitas Seite fiel recht kühl aus. Siegfried Bremer rettete schließlich die Situation, indem er seine Frau auf die Blumen der Kinder aufmerksam machte, die diese noch immer in den Händen hielten.

»Schau doch, wie hübsch die kleinen Sträußchen sind, Anita. Willst du sie ihnen nicht abnehmen?« Er warf seiner Frau einen auffordernden Blick zu.

Wortlos nahm Anita den Kindern die Blumen ab.

Frank kämpfte bereits wieder mit den Tränen. »Die ist aber nicht lieb«, flüsterte er seiner Schwester zu.

Siegfried Bremer, der diese Bemerkung gehört hatte, nahm seine beiden Kinder bei der Hand und führte sie zu dem gedeckten Kaffeetisch. »Es gibt einen feinen Kuchen und zuckersüße Plätzchen«, versuchte er seine Kinder aufzumuntern.

»Hm, der schmeckt aber wirklich gut«, lobte Frank den Kuchen, nachdem er davon gekostet hatte. Für süße Sachen hatte er eine Schwäche. »Hat den unsere Stiefmutti selbst gebacken?«, wandte er sich an seinen Vater.

»Für so etwas haben wir eine Köchin«, beantwortete Anita die nicht an sie gerichtete Frage.

Erschrocken schaute Frank seine Tante an. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«, erkundigte er sich schuldbewusst. »Ich meine doch nur, weil Tante Melissa den Kuchen auch immer selbst bäckt.«

»Und weil Tante Melissa uns erklärt hat, wir dürfen alles fragen, weil wir sonst nichts dazulernen«, kam Cosima ihrem Bruder zu Hilfe.

An dieser kleinen Szene erkannte Siegfried Bremer sekundenlang überdeutlich, wie wenig Interesse seine Frau an den Kindern hatte. Er warf ihr einen so strafenden und fast verächtlichen Blick zu, dass Anita unwillkürlich erschrak.

»Es war ja auch nicht bös gemeint«, wandte sie sich an Cosima und Frank. »Natürlich dürft ihr alles fragen.«

Trotz dieser einlenkenden Worte hatte Melissa nicht das Gefühl, dass die Kinder bei dieser Frau in guter Obhut sein würden. Doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ihr Schwager sich auf die Seite der Kinder stellen würde. Leider blieb ihr keine Gelegenheit, ein paar Worte mit Siegfried allein zu wechseln. Schweren Herzens verabschiedete sie sich schließlich.

»Dürfen wir dich noch bis zum Wagen bringen, Tante Melissa?«, fragten Cosima und Frank.

»Aber natürlich«, gestattete Siegfried Bremer und begleitete seine Schwägerin bis zur Tür.

»Ich besuche euch schon in den nächsten Tagen«, versprach Melissa und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme belegt klang.

»Sie ist überhaupt nicht lieb«, schluchzte Frank und bat: »Kannst du uns nicht wieder mitnehmen, Tante Melissa?« Auch Cosima schaute ihre Tante flehentlich an.

Melissa konnte verstehen, wie den Kleinen zumute war. Ihr selbst ging es ja nicht besser. »Versucht es doch erst einmal ein paar Tage«, bat sie. »Euer Papi wäre bestimmt sehr unglücklich, wenn er wüsste, dass ihr nicht bleiben wollt.«

Dieser Gedanke tröstete die Kinder ein wenig. Melissa nahm sie nacheinander in die Arme und küsste sie zum Abschied. Dann fuhr sie schnell davon. Cosima und Frank winkten noch, als der Wagen schon längst nicht mehr zu sehen war.

Siegfried Bremer hatte die Szene von der Haustür aus beobachtet. Fast wollte ein klein wenig Eifersucht in ihm aufkommen, dass die Kinder so an Melissa hingen.

Aber schließlich musste er sich eingestehen, dass das ja seine eigene Schuld war. Warum hatte er sich so lange nicht um sie gekümmert?

Als die beiden Hand in Hand auf ihn zu kamen, auf den Gesichtern noch die Spuren der Tränen, schlug er ihnen einen Spaziergang durch den Garten vor.

»Bist du den ganzen Tag nicht da?«, erkundigte sich Frank bei seinem Vater.

»Ich muss mich um meine Firma kümmern«, versuchte Siegfried Bremer seinem Sohn klarzumachen.

»Aber …, aber was mache ich denn, wenn Cosima am Vormittag in der Schule ist?«, fragte Frank beinahe erschrocken.

»Du kannst in den Garten gehen. Außerdem hast du ja Cosima zum Spielen. In ein paar Tagen fangen ohnehin die großen Sommerferien an.«

»Muss ich dann nicht mehr in die Schule?«, fragte Cosima.

»Diese letzten paar Tage auch nicht«, versprach ihr der Vater. »Deine Zeugnisse holt Tante Melissa ab und bringt sie uns.«

Vor dem Abendessen zeigte Siegfried Bremer den Kindern ihr Zimmer.

»Dürfen wir beide zusammen hier schlafen?«, fragte Cosima, als sie die beiden Betten in dem hübsch eingerichteten Zimmer sah.

Siegfried Bremer nickte.

»Das ist fein«, freute sich Frank. »Bei Tante Melissa haben wir auch in einem Zimmer geschlafen. Das ist viel schöner.«

»So, und nun sollt ihr noch unsere Köchin kennenlernen«, sagte Siegfried Bremer und nahm die Kinder mit in die Küche.

Der älteren Frau schenkten die Kleinen sofort ihr Vertrauen. Sie hatte ein so gutes, mütterliches Gesicht. Als sie ihnen dann auch noch zuflüsterte, dass sie sich ab und zu ein paar Süßigkeiten bei ihr holen dürften, war die gegenseitige Freundschaft besiegelt. Froh darüber, wenigstens einen winzigen Erfolg verzeichnen zu können, führte Siegfried Bremer seine Kinder an den gedeckten Abendbrottisch.

Staunend betrachtete Frank die lecker hergerichteten bunten Platten. »Das sieht aber toll aus«, sagte er, während ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

»Na siehst du, wenigstens etwas gefällt dir bei uns«, sagte Anita und bemühte sich um ein Lächeln.

Cosima schaute ihre Stiefmutti misstrauisch an. Sie war nicht so leicht zu bestechen und schon gar nicht mit einem guten Essen. Mit einer Mischung aus Unwillen und Staunen beobachtete sie ihren Bruder, der tüchtig zulangte und vollkommen zufrieden zu sein schien.

»So, und nun ins Bett«, bestimmte Anita nach dem Essen und gab jedem der Kinder einen freundschaftlichen Klaps anstelle eines Kusses.

»Tante Melissa hat uns immer zu Bett gebracht«, sagte Frank und schaute seinen Vater an.

»Aber ihr seid doch keine kleinen Kinder mehr«, wandte Anita ein.

»Lass nur«, wehrte Siegfried Bremer ab und nahm seine Kinder bei der Hand. »Ich bringe euch ins Bett.« Dabei dachte er, dass es eigentlich Aufgabe der Mutter sei, den Kindern das Badezimmer zu zeigen und ihnen eventuell beim Waschen behilflich zu sein. Er selbst benahm sich in dieser Rolle auch nicht besonders geschickt. Er ließ die Kleinen einfach im Badezimmer rumoren und wartete, bis sie wieder erschienen. Sie hatten hübsche bunte Schlafanzüge an und kuschelten sich in seine Arme.

»Erzählst du uns auch eine Geschichte?«, bettelte Frank.

»Tante Melissa hat uns jeden Abend vor dem Zubettgehen eine Geschichte erzählt, Papi«, sagte Cosima, und ihre großen blauen Augen schmeichelten sich bei ihrem Papi ein.

»Also gut«, seufzte der Vater. Er hatte noch nie Kindermärchen erzählt und wusste auch gar nicht, wie er damit beginnen sollte.

Aber die Kinder kamen ihm zu Hilfe. Zum Schluss war es dann so, dass sie ihm eines der Märchen von Tante Melissa erzählten.

»So schöne Geschichten hat Tante Melissa gewusst?«, wunderte sich Siegfried Bremer.

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Anita stand da.

»Wo bleibst du denn so lange?«, wollte sie wissen. »Der Fernsehfilm hat schon begonnen.«

Sofort erhob sich Siegfried Bremer und löschte das Licht.

»Sie ist ihm wichtiger als wir«, flüsterte Cosima. »Er hat sogar vergessen, uns einen Gutenachtkuss zu geben.« Schmollend vergrub sie ihr Gesicht in die Kissen.

*

Am nächsten Morgen beim Frühstück vernahmen Anita und Siegfried Bremer ein tappendes Geräusch.

»Was ist denn das?«, wunderte sich Anita.

Da öffnete sich leise die Tür, und Frank, der ein Frühaufsteher war, schob sein verwuscheltes Köpfchen herein. »Guten Morgen«, murmelte er und lächelte verschmitzt.

»Aber was machst du denn um diese Zeit schon hier?«, schalt Anita. »Ihr könnt doch ausschlafen!«

»Ich wollte Papi einen Kuss geben, bevor er geht«, entschuldigte sich Frank und schaute auf seinen Vater.

Siegfried Bremer stand auf und nahm seinen Sohn auf den Arm.

Frank schmiegte sich an seinen Hals und flüsterte: »Du musst auch zu Cosi gehen und ihr einen Kuss geben.«

»Das fehlte gerade noch«, mischte sich Anita ein. »Solche Sentimentalitäten wollen wir gar nicht erst einführen, junger Mann.« Sie nahm Frank entschlossen vom Arm seines Vaters. »Dein Vati muss ins Büro und darf nicht aufgehalten werden.«

Damit fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss. Siegfried Bremer stand verdutzt allein vor dem Frühstückstisch.

Anita war gleich darauf wieder da.

»War das notwendig?«, schrie er sie unbeherrscht an.

»Damit das ein für allemal klargestellt ist: Für Ordnung hier im Haus sorge ich«, sagte Anita entschieden. »Wo kämen wir denn hin, wenn die Kinder ungewaschen, ungekämmt und im Schlafanzug jeden Tag hier am Frühstückstisch erscheinen würden? Gefrühstückt wird getrennt, weil du früh aus dem Haus gehen musst. Deswegen bin ich noch lange nicht herzlos.«

Das klang zwar alles logisch, aber es war nicht das Benehmen einer liebenden Mutter.

»Wo willst du hin?«, rief Anita ihm nach, als er das Zimmer verließ. »Dein Frühstück steht doch noch auf dem Tisch!«

»Mir ist der Appetit vergangen.« Siegfried Bremer griff nach seiner Jacke und verließ das Haus.

Anita lief ihm nach und holte ihn vor dem Gartentor ein. »So habe ich das nicht gemeint, Siegfried«, beteuerte sie, wobei ihre Stimme auf einmal weich klang. »Ich will deinen Kindern doch nur Ordnung und Disziplin beibringen. Bitte zeige mir, dass du nicht ungerecht bist, und gib mir wenigstens einen Kuss.«

Sie blickte ihn verführerisch an. Siegfried Bremer, der seine Frau liebte, beugte sich herab und küsste sie auf den Mund.

»Das ist doch die Höhe«, rief Cosima oben am Fenster erbost und schlug mit der Hand auf die Fensterbank.

»Was ist die Höhe«, wollte Frank wissen und stolperte schnell ans Fenster.

»Ihr gibt er einen Kuss, wir aber haben gestern nicht einmal einen Gutenachtkuss bekommen. Und heute früh hat er zugelassen, dass sie dich zurück ins Bett gebracht hat.« Cosima konnte ihrer Entrüstung kaum Herr werden.

»Hat er ihr wirklich einen Kuss gegeben?«, wollte Frank wissen.

»Natürlich, ich habe es doch ganz genau gesehen. Sie nimmt uns unseren Papi weg!« Cosima schaute ihren Bruder beschwörend an. »Sollen wir uns das gefallen lassen, Frank?«

Frank schüttelte den Kopf. »Aber was sollen wir dagegen tun?«

»Das weiß ich auch noch nicht. Aber es ist doch klar, dass unser Papi uns liebhat. Das haben wir doch gestern Abend deutlich gesehen. Nur sie holt ihn immer wieder weg von uns. Es war auch bestimmt nur ihre Schuld, dass wir so lange nicht heim durften.«

In diesem Moment öffnete sich die Tür, sodass die beiden erschrocken herumfuhren.

»Na, ihr seid ja noch immer nicht angezogen«, sagte Anita Bremer. »Heute morgen hattet ihr es doch so eilig.«

»Aber nur, weil wir unseren Papi noch sehen wollten«, erwiderte Cosima rebellisch.

»Beeilt euch, damit wir frühstücken können«, befahl Anita und wollte das Zimmer verlassen.

»Wir wollen allein frühstücken!«, rief Cosima.

Mit einem strafenden Blick wandte Anita sich um. Sie wollte den Kindern einen Verweis erteilen, doch bestimmt würden sie es Siegfried klatschen. Es gab auch andere Mittel, ihren Hochmut zu brechen.

»Also gut. Dann wird der Schokoladenkuchen in die Küche zurückgetragen, und ihr bekommt nur Haferflocken.« Damit wandte sie sich wieder um und verließ das Zimmer.

»Der schöne Schokoladenkuchen«, jammerte Frank, den Tränen nahe.

»Sei nicht so gefräßig, es geht hier um wichtigere Dinge«, wies Cosima ihren kleinen Bruder zurecht.

Doch Frank konnte den Verlust des Schokoladenkuchens so schnell nicht überwinden. »Vielleicht isst sie ihn nun selbst«, überlegte er aufgeregt.

»So viel Schokoladenkuchen kann sie doch gar nicht allein essen«, tadelte Cosima ihren Bruder. »Wasch dich lieber und zieh dich an, sonst nimmt sie uns die Haferflocken auch noch weg.« Sie traute der Stiefmutti alles zu.

Etwas später betrat Anita das Esszimmer und sah, wie die Kinder lustlos in ihren Haferflocken herumstocherten. »Euch schmeckt es wohl nicht?«, fragte sie.

»Uns schmeckt alles, was auf den Tisch kommt«, antwortete Cosima schnell, als sie sah, dass Frank zum Sprechen ansetzte. Er würde es fertigbringen und die grässliche Mutti um den Schokoladenkuchen bitten. Das durfte auf keinen Fall geschehen.

»Ich fahre jetzt in die Stadt«, sagte Anita Bremer. »Wenn ihr lieb gewesen wäret, hätte ich euch mitgenommen. Aber nun fahre ich allein. Ihr könnt im Garten spielen.«

»Wir spielen viel lieber im Garten«, sagte Cosima trotzig.

»Wenn ihr recht ungezogen seid, verbiete ich euch das auch noch«, herrschte Anita die Kinder an. Dann verließ sie das Zimmer.

»Soll ich sie fragen, ob sie uns ein Eis mitbringt?«, fragte Frank seine Schwester.

»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Wo sie so eklig zu uns ist!« Cosima verstand ihren Bruder nicht mehr. Doch dann tat er ihr plötzlich leid, denn sie wusste, wie gern er Schokoladenkuchen aß. »Komm, wir gehen in die Küche. Vielleicht bekommen wir doch noch ein Stück Schokoladenkuchen.« Sie nahm ihren Bruder bei der Hand.

»Kommt herein«, sagte die gutmütige Köchin, als die Kinder auf der Schwelle stehen blieben.

»Unsere Stiefmutti hat uns den Schokoladenkuchen weggenommen«, erklärte Cosima mutig. »Und Frank isst doch so gerne welchen.«

»Ich habe euch den Schokoladenkuchen aufgehoben«, erklärte die Köchin und deckte für die Kinder in der Küche den Tisch.

»Wenn die Stiefmutti dich nun aber deswegen schimpft?«

»Das lass nur meine Sorge sein«, tröstete die Köchin die Kinder. Sie hatte unter der neuen Herrin schon mancherlei auszustehen gehabt. Da kam es auf einen Tadel mehr oder weniger auch nicht mehr an. Sie goss heißen Kakao in die Tassen und schob Frank das größere Stück Schokoladenkuchen zu.

»Du hast ja extra noch einmal Kakao gekocht«, rief Cosima erstaunt aus.

Frank hatte gar keine Zeit, sich mit irgendwelchen Überlegungen zu beschäftigen. Er machte sich über seinen Schokoladenkuchen her, als könnte er ihm jeden Augenblick wieder weggenommen werden.

»Dürfen wir jetzt in den Garten?«, fragten Cosima und Frank, als sie ihren Kuchen aufgegessen hatten.

»Aber natürlich«, erlaubte die Köchin.

Der schöne große Garten tröstete die Kinder ein klein wenig über den Verlust ihrer geliebten Tante hinweg. »Wie schön wäre es, wenn Tante Melissa jetzt hier wäre«, meinte Frank.

»Vielleicht besucht sie uns bald«, sagte Cosima hoffnungsvoll.

Erst am Nachmittag kehrte Anita Bremer aus der Stadt zurück. Aber auch dann hatte sie keine Zeit für die Kinder. Eine Stunde lang saß sie vor ihrer Spiegelkommode und richtete sich her. Erst als sie den Wagen ihres Mannes vorfahren hörte, kam sie herunter.

»Sie sieht aus wie eine aufgetakelte Modepuppe«, flüsterte Cosima ihrem Bruder zu.

»Pass bloß auf, dass sie das nicht hört«, flüsterte Frank erschrocken. »Sonst nimmt sie uns womöglich auch noch das Abendessen weg.«

»Das kann sie nicht, denn heute abend ist Papi da.«

In diesem Moment hörten sie draußen einen Wagen vorfahren und liefen ihrem Papi entgegen.

»Sollen wir ihm etwas von dem Schokoladenkuchen sagen?«, fragte Frank seine Schwester noch im Laufen.

»Bloß nicht«, ermahnte Cosima ihren Bruder. »Sonst schikaniert sie uns noch mehr.«

»Papi, Papi!«, riefen die beiden und ließen sich aus dem Lauf heraus auffangen.

Siegfried Bremer drückte ihnen einen zärtlichen Kuss auf den Mund. »Ich habe euch etwas mitgebracht«, sagte er geheimnisvoll und angelte zwei Päckchen aus dem Wagen.

»Oh«, machte Frank. »Dürfen wir die gleich aufmachen?«

»Hebt euch die Überraschung bis nach dem Essen auf«, schlug Siegfried Bremer vor und ging mit den Kindern ins Haus.

Anita begrüßte ihren Mann ebenfalls mit einem Kuss.

»Gut siehst du aus, Liebling«, lobte er seine Frau. Er verteilte seine Liebe gleichmäßig und wünschte sich nichts sehnlicher als eine glückliche Familie.

Nach dem Essen, als die Kinder ihre Päckchen öffneten, gab es ein freudiges Hallo. Frank, der Tiere über alles liebte, hatte ein kleines weißes Angorahäschen bekommen.

»Aber das ist ja lebendig!«, rief er freudig überrascht. Er streichelte das kleine Tier, das verschüchtert in einer Ecke der Schachtel saß, und konnte seine Freude kaum bändigen. »Woher weißt du nur, dass ich mir das so sehr gewünscht habe?«, fragte er mit glühenden Wangen.

»Tante Melissa hat es mir verraten«, gestand sein Vater lächelnd.

»Es ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe«, versichert Frank unf fiel seinem Papi um den Hals. »Und du bist der liebste Papi, den es gibt«, raunte er ihm ins Ohr.

Cosima nahm so viel Anteil an der Freude ihres Bruders, dass sie fast vergessen hätte, ihr eigenes Geschenk zu öffnen.

»Mach dein Päckchen auf, Cosi«, forderte Frank und nahm das kleine Häschen vorsichtig auf den Arm. »Es ist nichts Lebendiges«, stellte er fest, als Cosima den eleganten Karton eines Bekleidungshauses aus dem Papier schälte.

»Ein Hosenanzug«, strahlte Cosima und musste vor lauter Rührung schlucken. »Auch das weißt du von Tante Melissa, nicht wahr, Papi?« Sie hängte sich überglücklich an seinen Hals. Er musste sie doch gern haben, wenn er sogar versuchte, ihre heimlichsten Wünsche zu erfüllen.

»Hast du Melissa getroffen?«, erkundigte sich Anita eifersüchtig bei ihrem Mann.

»Ich habe mit ihr telefoniert«, gab Siegfried Bremer bereitwillig Auskunft. Seine Augen strahlten genauso wie die der Kinder. Er war überglücklich, ein bisschen von seiner versäumten Liebe nachholen zu können. Aber Anita zeigte dafür wenig Verständnis.

»Ich finde, dass du übertreibst«, zischte sie ihrem Mann leise zu. »Was sollen wir denn mit einem Tier im Haus?«

»Aber Anita, wir haben einen großen Garten. Sobald sich das Tierchen ein bisschen eingewöhnt hat, können wir seinen Stall in den Garten stellen«, sagte Siegfried Bremer.

Frank, der glücklich hinter seinem Häschen durchs Zimmer hoppelte, hörte nichts davon, wohl aber Cosima. Sie blickte ihre Stiefmutti so verächtlich an, dass Anita unwillkürlich zusammenzuckte.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Frank und ich werden das Häschen selbst versorgen«, erklärte Cosima.

»Es geht nicht ums Versorgen, es geht um den Gestank, den es ins Haus bringt«, erwiderte Anita gereizt.

»Verdirb den Kindern bitte nicht die Freude«, bat Siegfried Bremer seine Frau. Dann ermahnte er die Kleinen, ins Kinderzimmer zu gehen. »Ihr dürft eure Geschenke mitnehmen«, gestattete er ihnen.

»Auch das Häschen?«, fragte Frank aufgeregt.

»Ja«, lachte der Vater. »Aber du musst mir versprechen, dass du es nicht mit ins Bett nimmst.«

»Ganz bestimmt nicht«, versprach Frank feierlich. Der Gedanke, dass der kleine Hase bei ihm im Zimmer schlafen würde, war schon eine große Sensation für ihn.

Die Kinder nahmen ihre Geschenke und wollten das Zimmer verlassen.

»Wollt ihr eurer Mutti nicht gute Nacht sagen?«, fragte der Vater.

»Gute Nacht«, sagten die beiden gehorsam und gingen schnell hinaus.

»Ich bin gleich wieder da«, meinte Siegfried Bremer zu seiner Frau. »Vielleicht suchst du in der Zwischenzeit eine gute Flasche Wein für uns aus, hm?« Er wollte auch seine Frau nicht vernachlässigen.

Doch Anita schmollte. Sie ertrug es nicht, dass nun die Kinder im Mittelpunkt standen. Deshalb ließ sie die Wohnzimmertür hinter sich ins Schloss fallen und ging zu Bett. Sollte er doch den Abend allein verbringen.

»Darf ich das Häschen auch einmal streicheln?«, bat Cosima im Kinderzimmer.

»Gern«, gestattete Frank und hielt seiner Schwester das weiche Tierchen hin.

Cosima nahm es vorsichtig auf den Arm. »Wie lieb es ist«, flüsterte sie. »Wir müssen ihm einen Namen geben, Frank.«

»Au ja«, rief Frank begeistert. »Weißt du vielleicht einen, Papi?«

»Den sucht ihr wohl lieber selbst aus.« Siegfried Bremer lächelte.

In diesem Moment fiel eine Tür mit lautem Knall ins Schloss.

»Das war Mutti«, flüsterte Cosima erschrocken. Sie schaute ihren Vater ängstlich an. Nun würde er bestimmt gleich wieder losrennen und sie allein lassen. Tatsächlich!

»Ich geh mal nachsehen«, sagte Siegfried Bremer und gab den beiden einen flüchtigen Gutenachtkuss.

»Da haben wir es wieder«, seufzte Cosima, als sie allein waren.

»Ob sie jetzt beleidigt ist?«, überlegte Frank.

»Sie hat doch gar keinen Grund dazu«, meinte Cosima.

»Aber warum knallt sie dann die Tür ins Schloss?« Frank schüttelte verständnislos den Kopf.

Als von unten nichts mehr zu hören war, widmeten sich die beiden wieder ihrem Häschen. Da das Tier noch jung und übermütig war, reizte es sie immer wieder zu neuem Gelächter. Doch plötzlich öffnete sich die Tür, und Anita Bremer stand auf der Schwelle.

»Wenn der Lärm nicht sofort aufhört, dann kommt das Tier aus dem Haus«, rief sie erbost.

Schützend presste Frank das Tierchen an sich und stieg vor lauter Verwirrung mit ihm ins Bett.

»Ja, was fällt dir denn ein!«, fuhr Anita ihn unbeherrscht an. »Raus aus dem Bett mit dem Vieh«, befahl sie und kam zu Franks Bett.

»Das ist kein Vieh«, schluchzte Frank. »Das ist ein Häschen!«

Cosima sprang noch einmal aus dem Bett und setzte das Häschen schnell in seine Kiste.

»Es ist mir ganz egal, was es ist. Wenn es Schmutz und Unordnung ins Haus bringt, dann verschwindet es, verstanden?«

Eingeschüchtert nickten die beiden.

Ohne ein weiteres Wort löschte Anita das Licht und verließ das Zimmer.

Verängstigt krochen die beiden unter ihre Bettdecke. »Glaubst du wirklich, dass sie uns das Häschen wegnimmt?«, erkundigte sich Frank ganz unglücklich bei seiner Schwester.

»So etwas lässt Papi bestimmt nicht zu«, tröstete ihn Cosima.

Voll innerer Zerrissenheit hatte Siegfried Bremer inzwischen das Haus verlassen, um seine Gedanken bei einem kurzen Abendspaziergang zu sammeln. Er verstand seine Frau einfach nicht. So lange hatte er für ihre Ausreden und Entschuldigungen ein offenes Ohr gehabt, und nun, da er von ihr Entgegenkommen für seine Kinder erwartete, ließ sie ihn im Stich. Hatte er sich am Ende etwa in ihr getäuscht? Aber das konnte doch nicht sein! Er hatte sie als warmherzige Frau kennengelernt. So plötzlich konnte sich ein Mensch doch nicht ändern? Wahrscheinlich lag es nur daran, dass Anita keine Erfahrung mit Kindern hatte. Er musste eben für sie genauso viel Verständnis aufbringen wie für die Kleinen.

*

Zwei Tage später kam Melissa zu Besuch. Es war ein Samstag. Bereits eine Stunde vor ihrer Ankunft spielten Cosima und Frank nur noch in der Nähe des Gartentors, um sie ja nicht zu verpassen. Dann endlich hielt der ersehnte Wagen vor der Tür.

»Tante Melissa, Tante Melissa!« Die beiden liefen ihr entgegen und fielen ihr um den Hals.

»Nicht weinen«, tröstete Melissa die Kinder.

Frank wischte sich mit der Hand über die Augen, schnüffelte und fragte dann rundheraus: »Kannst du uns nicht wieder mitnehmen, Tante Melissa, und unserem Papi sagen, er soll nicht böse sein?«

»Das geht nicht, Papi würde bestimmt sehr traurig sein«, wies Cosima ihren Bruder zurecht.

»Aber warum willst du denn nicht hierbleiben? Ist es denn so schlimm?«, erkundigte sich Melissa vorsichtig bei Frank.

»Ja«, schluchzte der Kleine auf. »Sie ist gemein und hässlich zu uns und will mir sogar mein weißes Häschen wieder wegnehmen.«

Melissa erkannte, dass die Situation ernster war, als sie gedacht hatte. Sie schaute Cosima an. »Du bist doch schon etwas vernünftiger, Cosima, gibt es denn wirklich keinen Weg, euch mit eurer Mutti zu vertragen?«

Cosima schüttelte den Kopf. »Nein, Tante Melissa.« Ihre großen Kinderaugen waren ernst und traurig.

Sie konnten das Gespräch nicht fortsetzen, da in diesem Moment Siegfried Bremer mit seiner Frau aus dem Haus trat. Der Hausherr begrüßte seine Schwägerin erfreut. Anitas Gruß fiel dagegen kühl aus. Es passte ihr gar nicht, dass Melissa schon wieder zu Besuch kam und dass sie die Kinder ganz offensichtlich gegen sie aufhetzte.

»Geht hinein und wascht euch die Hände«, forderte sie Cosima und Frank auf, um sie von Melissas Seite zu bringen.

Gehorsam lösten sich die beiden von Melissa und gingen ins Haus. Melissa aber sagte der einzige Satz, den diese Frau an die Kinder gerichtet hatte, mehr als tausend Erklärungen. Bedrückt ging sie ins Haus.

»Machst du nach dem Kaffeetrinken mit uns einen Spaziergang, Tante Melissa?«, erkundigte sich Cosima.

»Papi und Mutti sind sicher froh, wenn sie ein bisschen allein sein könneg«, fügte sie mit einem schnellen Seitenblick auf ihre Stiefmutter hinzu.

Melissa begriff sofort, dass die Kinder mit ihr allein sein wollten. »Aber natürlich machen wir zu dritt einen Spaziergang. Wir haben uns ja schon so lange nicht mehr gesehen«, versicherte sie.

»Du bleibst doch bis morgen da?«, erkundigte sich Frank und schaute erst Melissa und dann seinen Papi an.

Sekundenlang herrschte Schweigen. Melissa blickte auf ihren Teller und sagte nichts. Es wäre jetzt die Aufgabe der Hausfrau gewesen, sie einzuladen. Aber offensichtlich hatte Anita das nicht vor.

»Ist doch ganz selbstverständlich, dass Melissa das Wochenende bei uns verbringt«, rettete Siegfried Bremer schließlich die Situation. Er ärgerte sich über seine Frau. Wie konnte Anita nur so unhöflich sein?

Während Melissa mit den Kindern im Garten spazierenging, räumte Anita den Tisch ab.

»Was hast du?«, forschte Siegfried Bremer. »Ist es dir nicht recht, dass Melissa hierbleibt?«

»Wenn du mich so fragst, nein, es ist mir nicht recht«, erwiderte sie grob. »Sie bringt Unruhe ins Haus und hetzt nur die Kinder auf.«

»Aber das ist doch Unsinn. Melissa würde so etwas nie tun.«

»Ach, du nimmst sie auch noch in Schutz?«, zischte Anita böse. »Das lässt ja tief blicken.«

»Was willst du damit sagen?«, forschte Siegfried Bremer.

»Ich will damit nur sagen, dass deine Schwägerin besonders jung und besonders schön ist. Und die Kinder lieben sie geradezu unterwürfig. Aber glaube nicht, dass ich mich an der Nase herumführen lasse. Mir entgeht nichts.«

Mit einem harten Ruck stieß Siegfried Bremer den Stuhl zurück. »Genug«, herrschte er seine Frau an. »Wenn ich solch alberne Verdächtigungen und Verleumdungen noch einmal von dir höre, dann ziehe ich mit meinen Kindern aus.« Er ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Anita Bremer blieb erstarrt zurück. In diesem Ton hatte er noch nie mit ihr gesprochen. War sie vielleicht doch zu weit gegangen? Aber die schöne Schwägerin war ihr nun einmal ein Dorn im Auge. Und dann noch das Getue mit den Kindern …

Ich muss einen Weg finden, die Kinder loszuwerden und meinen Mann zu behalten, dachte sie und beschloss, in Zukunft etwas diplomatischer vorzugehen.

*

»Komm, Tante Melissa, wir zeigen dir unser Häschen«, rief Frank begeistert und wollte Melissa mit sich ziehen.

Doch Melissa hatte ihren Schwager entdeckt, der mit verbissenem Gesicht auf sie zukam. Sie ahnte, dass er eine Auseinandersetzung mit seiner Frau gehabt hatte. »Geht allein und holt das Häschen«, bat sie die Kinder. »Ich werde hier mit Papi auf euch warten.«

Erfreut liefen die beiden los.

»Es tut mir leid, Melissa«, entschuldigte sich Siegfried Bremer, als er zu ihr trat.

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, antwortete Melissa verständnisvoll. »Ich kann mir vorstellen, dass die Situation für dich nicht einfach ist.«

»Sie ist unerträglich«, stöhnte er. »Anita gibt sich kein bisschen Mühe, den Kindern entgegenzukommen.«

Melissa nickte nur.

Er ergriff ihre Hände und blickte ihr in die Augen. »Gib mir einen Rat, Melissa. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende.«

In einer solchen Situation war guter Rat teuer. Was sollte sie ihrem Schwager antworten? Es gab nur zwei Alternativen: Eine Trennung von den Kindern oder eine Trennung von seiner Frau. Aber beides wollte er nicht, das wusste sie.

»Ich möchte mich auf keinen Fall von meinen Kindern trennen«, sagte Siegfried Bremer leise. »Den Fehler, den ich viele Jahre lang gemacht habe, werde ich nicht wiederholen. Aber ich liebe auch meine Frau.«

Die letzten Worte waren nur noch ein Flüstern, aber Melissa hatte sie verstanden.

»Dann gibt es nur einen Weg«, erwiderte sie und schaute ihren Schwager offen an.

Einen Moment lang verwirrte ihn der sprechende Blick ihrer schönen Augen. »Was ist das für ein Weg, Melissa?«