Meinen drei Söhnen

Eine Vignette

Der Erfinder goss sich ein Glas Milch ein und horchte auf das zwanzigste Jahrhundert. Ein paar Sekunden blieben noch bis Mitternacht, aber es gehörte zu seinem kleinen Experiment, dass er die Milch getrunken haben wollte, bevor die Uhr zum ersten Mal schlug.

In dieser Nacht aller Nächte saß er allein in seinem Arbeitszimmer. Seine Frau hatte ihn nach oben geschickt, damit er sich für die Jahrhundertwendfeier umziehen sollte, die eine Etage tiefer jeden Moment losbrechen würde, aber er hatte sich von der Idee zu einem Experiment ablenken lassen. Sein alter Gehrock hing ihm schlaff von den Schultern, den Strohhut hatte er noch auf dem Kopf, und nun beugte er sich vor und füllte das Glas bis zu einem vorbestimmten Punkt, den er mit dem Daumen markierte. Als die richtige Menge im Glas war, nahm er es und trank mit der Aufmerksamkeit und Konzentration eines Alkoholikers.

Und da, just als er sich die Lippen leckte, kam der erste Schlag der Porzellanuhr an der Wand. Das Jahrhundert war vorüber. Eine Feuerwerksrakete erfüllte das Fenster mit Licht. An ihrem höchsten Punkt angekommen, zerplatzte sie. Sterne regneten herab.

Das alte Jahrhundert – die New York Times war sogar so weit gegangen, es nach ihm zu benennen, dem »Mann, der das meiste dafür geleistet hat« – war plötzlich auf das Maß einer bloßen Anekdote geschrumpft. Und er war froh, dass es vorüber war. Mit etwas Glück, dachte er, war die Zeit, in der man ihn wie einen Gott verehrt hatte, nun auch bald vorbei; und auch den albernen Spruch, dass doch sein Name so sehr der Inbegriff alles Neuen sei, dass die Idee zu einem neuen Jahrhundert nur aus seinem Labor gekommen sein könne, würde man bald nicht mehr hören. Nein, er würde dem neunzehnten nicht nachtrauern – weg damit. Sollte sich das neue Jahrhundert einen neuen Messias suchen.

Der fröhliche Lärm, der von unten heraufdrang, bestärkte ihn nur in seinem Entschluss, der Feier fernzubleiben. Er wischte sich den letzten Rest Milch von der Oberlippe, leckte seine Bleistiftspitze an – die verlässlichste Freude war und blieb für ihn seine Arbeit – und notierte die neueste Flüssigkeitsaufnahme zusammen mit seinem aktuellen Gewicht, das konstant bei respektablen 148 Pfund blieb.

Dieser heimliche Test, mit dem er herausbekommen wollte, ob es möglich war, dass ein Mensch sich nur von einem einzigen Nährstoff ernährte, in diesem Falle Milch, lief schon seit drei Wochen und kam an seinen entscheidenden Punkt. Ihm war klar, dass die Öffentlichkeit über eine so radikale Entdeckung, gerade wenn sie sich auch noch als medizinisch haltbar erwies, nur verächtlich die Nase rümpfen würde, zumal sie von keinerlei wirtschaftlichem Nutzen wäre. Aber es war ein Bereich, der ihn interessierte, denn schon seit jungen Jahren hatten ihn die abstrusen Ernährungsvorschrif‌ten seines Vaters fasziniert, eines Autodidakten mit dem Kinnbart und der rasierten Oberlippe eines Quäkers. Und die erste Frau des Erfinders – mochte Gott ihrer Seele gnädig sein und ihm selbst verzeihen, was er ihr angetan hatte – war früh gestorben, vielleicht die Folge einseitiger Ernährung: Schokolade. War das laufende Experiment also eine Art symbolische Leichenschau seiner ersten Ehe? Ein verspätetes Sich-Kümmern, eine morbide Beweisaufnahme?

Er stand auf und zählte mit: Neun Schritte genügten, um ihn ans Bücherregal zu bringen. Unterwegs klopf‌te er noch auf das Barometer an der Wand. Aber es war schon zu oft beklopft worden, um noch zu reagieren; und auch das Thermometer blieb beharrlich auf eiskalten sieben Grad.

Er fand das gesuchte Buch. Auf dem Vorsatzblatt der verblasste Namenszug seines Vaters. Neugierig auf die Lektüre, kehrte er zu seinem Stuhl zurück, doch er sah, wie die Oberfläche der Milch im Krug von dem Lärm der Feiernden vibrierte, und stampf‌te mit dem Absatz auf die Bodendielen. Zu viel Lärm! Ein solches Tohuwabohu musste doch nicht sein. Sein Phonograph spielte viel zu laut. Was zum Teufel sollte aus dem neuen Jahrhundert werden? Was war zu erwarten? Er war sicher, es würde ein Jahrhundert des Lärms werden. Und zu wie vielen dieser neuen Geräusche hatte er seinen Beitrag geleistet? Er fragte sich oft, für wie viele seiner Erfindungen er schon bald Abbitte leisten müsste, weil grässlicher Missbrauch damit getrieben würde. Als er den Phonographen ersonnen hatte, ein reines Hilfsmittel für die Büroarbeit, war er nicht auf den Gedanken gekommen, dass man daraus ein Gerät zur Unterhaltung machen könnte. Er nahm sich vor, bei allen zukünftigen Phonographenmodellen Lautstärkenbegrenzer einzubauen, damit solcher Frivolität ein Riegel vorgeschoben wurde.

Er setzte sich wieder und schlug das alte, abgegriffene Buch auf. Aber er kam nur bis in die Mitte des ersten Absatzes, dann hörte er, wie unten auf der Feier etwas zu Bruch ging. Wussten seine Angehörigen denn nicht – das sollten sie aber doch wirklich inzwischen wissen –, dass er zwar, mit dreiundfünfzig, praktisch stocktaub war, dass aber doch vollkommene Stille, die vollständige Abwesenheit aller akustischen Schwingungen, nach wie vor eine Vorbedingung für seine Arbeit war? Niemand brauchte die Stille mehr als ein Gehörloser. Das kleinste Grummeln war ein Erdbeben. Er beugte sich vor und biss in die Tischkante, schlug die Zähne in das weiche Holz, denn nur so konnte er mehr akustische Informationen aufnehmen (die Kante seines Schreibtisches war an dieser Stelle schon schwer benagt) – mit diesem einfachen Akt machte er sich zum menschlichen Verstärker. Die empfindungsbegabten Kieferknochen gaben die kleinsten Schwingungen so zuverlässig wieder, dass er sie entziffern konnte wie Morsesignale, und ein geschickter Telegraphist war er schon von Kindesbeinen an gewesen. Nun, wo das Haus wie der Messingtrichter eines Phonographen wirkte und seine Kauwerkzeuge als fast perfekter Tonabnehmer, konnte er Einzelheiten aus dem Durcheinander des Lärms heraushören: die Juchzer seines jüngsten Sohnes, rhythmisches Füßetrappeln, den Klang der gläsernen Kelle, als sie in die Bowleschale fiel; ein Lied wurde gesungen – aber welches? Er biss fester zu – »Auld Lang Syne«.

Er hielt das Buch mit seinen dicken Kaufmannsfingern, schlug zur nächsten Seite um und lächelte dazu jenes Lächeln, das das einzige Erbe seiner schottisch-presbyterianischen Mutter war. Vom maßvollen Leben von Luigi Cornaro, vierundachtzig Quartseiten, 1558 erschienen, als der italienische Verfasser vierundachtzig Jahre alt war. Die Seitenzahl war kein Zufall. Cornaro war ein großer Anhänger der Numerologie, abergläubisch bis zum Irrsinn, und war an allen Kalendertagen, die sich durch fünf oder sieben teilen ließen, im Bett geblieben. Edison las wahllos einige Passagen und hörte in diesen skurrilen Belehrungen die Ermahnungen seines Vaters, eine Gespensterstimme, die den Abgrund von vierzig Jahren überbrückte: Die Sterblichkeit des Menschen zu akzeptieren war nichts als eine Schwäche des Willens; ein langes Leben, genau wie das Gold der Alchemisten, lag nur knapp jenseits des Horizontes, und Enthaltsamkeit beim Essen war der erste Schritt dazu. »Du kannst aufstehen, Alva.« Aber Alva, die Gabel in der Hand, immer noch hungrig, ein klapperdürres Kind, entgegnete seinem Vater, er wolle mehr. »Das ist genau der richtige Augenblick, um von der Tafel aufzustehen, Alva. Gerade jetzt, wo du mehr willst.« Die alten holländischen Einwanderer, die hatten eine Menge über den pädagogischen Nutzen des Hungers gewusst.

Bald merkte der Erfinder, dass jemand gegen die Tür hämmerte. Er erhob sich, kam in neun Schritten dorthin, riss sie auf und sah zu seiner Freude das hoffnungsvolle Gesicht seiner Frau, das schimmernde Haar, diese schräg stehenden grünen Augen, die beide wortlos von ihm die Rückkehr ins Menschenleben einforderten. Mit etlichen der kleinen Gesten, aus denen ihre eheliche Zeichensprache bestand, gab sie ihm zu verstehen, dass er unten gebraucht werde, und zwar umgehend.

Immer der gleiche Ärger. Unterbrechungen, Anforderungen der Familie, alle störten ihn ohne vernünftigen Grund. War es denn da ein Wunder, dass Alexander der Große, dass Shakespeare, Tom Paine, sogar der unvergleichliche Faraday alle auf eine Familie verzichtet und das Junggesellenleben vorgezogen hatten?

Aber seiner zweiten Frau, Mina Miller Edison, mit ihren hellen Augen, ihr konnte man nichts abschlagen. Wie jedes Mal ließ sie seine Konzentration auf seine eigenen Gedanken dahinschmelzen wie an dem Tag, an dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte, mit einer Haube auf dem Kopf, an der eine Feder steckte, im Jahr 1855, als ihr Vater, ebenfalls Erfinder, eine Vorrichtung namens »Motormäher« vorgestellt hatte.

»Was machst du denn mit einer Flasche Milch, Liebling?«, brüllte sie, damit er sie hören konnte.

Er schaute nach unten. Hatte er sie etwa noch in der Hand? So ein Pech; und Cornaro hatte er in der anderen. Sie hatte ihn erwischt. (Sie machte immer einen Riesenaufstand um seine Ernährung.)

Sie nahm, ja riss ihm die Flasche aus der Hand. »O nein, Thomas, das reicht!«

»Ich experimentiere«, versuchte er es.

»Weswegen? Und in so einer Nacht? Was denkst du denn, wie viele Jahrhundertwenden du noch erleben wirst?«

Was für eine Schönheit sie war! Seine beste Entdeckung überhaupt, und ihre Liebe zueinander war die trostreichste unter all seinen Erfindungen – strahlend, wie er ihr in shakespeareschem Überschwang gern sagte, wie ein Faden, der die beiden Pole seiner Seele überspannte und sie zum Leuchten brachte.

»Ich weiß es noch nicht«, antwortete er. »Zu viele Unterbrechungen. Wie soll ich das wissen? Ich bekomme ja nichts fertig.«

»Komm mit nach unten, wie du bist. Alle warten auf dich. Alle warten, sage ich. Komm mit.« Sie ließ nicht locker.

»Eine Minute noch.«

»Jetzt sofort.«

»Gleich.«

»Jetzt sofort. Ich meine das wörtlich. Sofort.«

Er gab nach. Seufzend sah er, wie ihr Kleidersaum die Treppe hinabglitt wie Schaum in der Brandung. Er steckte das Buch unter den Arm und griff unwillkürlich hinter sich, um seine berühmteste Erfindung auszuschalten. Im Zimmer kehrte das Dunkel der Jahrhunderte wieder ein, und er polterte die Treppe hinunter und folgte ihr nach.

Edison

1878

Auf der Werkbank brannte eine urtümliche Glühbirne. Ihr schwacher Schimmer reichte noch nicht aus, um das Labor auf dem Hügel zu erhellen; dafür sorgten sechs Gaslampen und zeigten in ihrem Licht den großen Arbeitsraum und darin den Tisch, an dem der Erfinder zusammengesunken saß.

Alva. Zweiunddreißig. Schäbiger Gehrock. Tief eingeschlafen nach drei Tagen Wache beim Prototypen seiner elektrischen Glühlampe. Und weder die Phonographenaufnahme (die Arie war längst zu Ende, vom Zylinder kam nur noch Knistern) noch das mehrfache langgezogene Tuten des Zuges von New York nach Menlo Park weckten den Meister aus seinem erschöpf‌ten Schlummer.

»Mr. Edison?«

Ein Mann Mitte vierzig, mit einer Hand den Bowlerhut an die Brust gedrückt, einen Lederkoffer in der anderen, rief von der Tür her: »Sir?« Keine Antwort. »Mr. …« (lauter) »MR. EDISON?!« Als selbst das den Mann nicht aufweckte, berührte der Besucher, jetzt schon besorgt, den Erfinder an der Schulter.

Edison schlug die Augen auf. »Mary?«

Laut: »Verzeihen Sie, Sir.«

Edison setzte sich auf, gähnte, streckte seine steifen Glieder. »Achtzig. Achtzig Dezibel. Höchstens.«

Der Besucher, besorgt: »SOLL ICH EINEN ARZT RUFEN

»Achtzig Dezibel. Nicht so laut.«

»Bitte um Verzeihung. Soll ich einen Arzt rufen?«

Doch Edison brauchte keinen Arzt. »Und? Worum geht es? Wer sind Sie? Machen Sie den Mund auf! Oder haben Sie zu viel Zeit?« Mit raschen Schritten ging er zu der brennenden Glühbirne, dem bisher erfolgreichsten Exemplar. Er beugte sich darüber, inspizierte den weißglühenden Draht. »Na, mein Schätzchen …« Dann, mit einem Blick auf die Taschenuhr: »Fast zwei Stunden. Sehen Sie?«

»Whitcomb Judson, Sir. Eine große Ehre. Ich hatte Ihnen geschrieben.«

Edison ging zum Walzenphonographen und stellte ihn ab.

»Ich bin ebenfalls Erfinder«, verkündete Judson mit stolzem Lächeln. »Erfinder des – na, ich weiß noch nicht recht, wie ich es nennen soll. Sie hatten sich bereit erklärt, meine Erfindung anzusehen. Ein Urteil abzugeben.«

Edison seufzte. Was für eine Last man doch mit dem Ruhm hatte: die unverhohlene Auf‌forderung, den physischen Abstand zwischen Bewunderer und Bewundertem auf null zu reduzieren. Verbindlich: »Haben Sie es dabei?«

»O ja. Hier in meiner Jacke.«

Noch einmal warf Edison einen Blick auf seine Taschenuhr. »Also gut. Lassen Sie sehen.« Woraufhin Judson ihm ein zusammengerolltes Stück Stoff reichte. »Wozu ist es gut?«

»Es – ähm – verbindet Textilien. Ja. Es ist eine – ähm – ›Automatische Kleiderverschlussvorrichtung‹. Das wäre eine von den Bezeichnungen, die ich dafür habe. Ein wenig sperrig natürlich. Vielleicht wäre ›Klammerverschluss‹ eine passendere … Es ist nämlich – damit könnte man Knöpfe vollständig ersetzen –, und zwar – sehen Sie, Sie müssen nur einfach dieses Führungsteil hier nach oben ziehen, wie, so wie eine Art umgekehrten Pflug, und dann verbindet es die beiden Stränge.«

Müde probierte es Edison aus. »Ein … umgekehrter Pflug? Sie sind hergekommen, um mir einen umgekehrten Pflug zu zeigen?«

»Sie – ja, wissen Sie« – erste Zeichen von Enttäuschung –, »es ist so – für mich sind Sie ein Held, Sir. Meine Bewunderung für Sie ist unermesslich. Genau wie Sie habe ich nie eine Schulausbildung genossen. Einfach nur harte Arbeit, ein klarer Kopf, die Zähigkeit, an etwas dranzubleiben, bis es funktioniert. Wenn man sich das vorstellt – etwas erfinden, das jeder gebrauchen kann – das uns die unerträgliche Last des Lebens erleichtert! Das Leben ist schwer – wie könnte man es besser verbringen als damit, es leichter zu machen? Ach, Sir, und dann für alle Zeit im Gedächtnis bleiben als jemand, der den anderen das Leben erleichtert hat!«

»Was spricht gegen Knöpfe?«

»Wie bitte?«

»Knöpfe. Was spricht gegen Knöpfe? Erklären Sie mir das. Ihre ganze Idee, und wenn man Sie so reden hört, Ihr ganzes Leben, alles kreist um den Gedanken, dass man einen Ersatz für Knöpfe braucht. Also, was spricht gegen Knöpfe?«

Darauf Schweigen.

»Ich … ich … also, ich … Mit so einer Frage hatte ich nicht gerechnet.«

»Für jemanden mit steifen Fingern könnte ich mir einen gewissen Nutzen vorstellen … Aber das würde ich nicht gerade einen lukrativen Markt nennen. Sie etwa? Ich glaube nicht, dass Sie da etwas Brauchbares haben.«

Judson machte ein langes Gesicht – ja die ganze Kinnpartie schien länger zu werden. »Ehrlich? Überhaupt nichts? Ach je. Ach je. Ich dachte … Ich hatte solche Hoffnungen. Solche … H… Hoffnungen.«

»Willkommen im Erfindergeschäft. Wissen Sie, wie viele von meinen tausend Patenten mir je einen Dollar eingebracht haben? Unter dem Strich? Wie viele sich durchgesetzt haben? Keines.«

»Keines? Aber Ihre – all diese – zumindest der Phonograph muss doch –«

Ein zweiter Besucher trat ins Zimmer.

»Mr. Edison.«

Als der Erfinder den Mann weder hörte noch bemerkte, kam Judson ihm zu Hilfe. »Achtzig Dezibel.« Er tippte sich mit dem Finger ans Ohr. »Lauter.«

»Mr. Edison? Ich habe hier ein paar Papiere für Sie!«

Edison wandte sich zu ihm um. »Was sagen Sie?«

»Sheriff Taylor, Menlo Park! Verzeihen Sie, wenn ich so eindringe, aber ich fürchte, ich muss Ihnen diese Papiere hier zustellen!«

»Papiere?«

»Jawohl, Sir! Wegen säumiger Darlehensrückzahlungen werden diese Werkstatt, das Farmland und sämtliche Wohn- und Wirtschaftsgebäude auf Anordnung der National Bank of Commerce versteigert!«

»Meine Werkstatt?! Meine Werkstatt?! Verschwinden Sie hier! Raus!« Er warf dem Mann die Papiere vor die Füße.

Der Sheriff, ein blasses, rundes Gesicht mit feuchten Augen, zeigte Bedauern. »Tut mir leid, wenn ich solche Nachrichten bringe. Ich schätze Sie nämlich sehr. Guten Tag!«

Der Sheriff war fort; die Papiere hatte er auf dem Boden liegengelassen.

Edison wandte sich an Judson. »Möchten Sie immer noch Erfinder sein?« Er beförderte die Papiere mit Tritten unter die Werkbank; der Ärger war ihm anzusehen. »Damit, dass man die Welt verbessert, verdient man kein Geld. Nur mit ihrer Zerstörung.«

»Ich … das wusste ich nicht«, sagte Judson.

»Guten Tag, Mr. –«

»Judson.« Niedergeschlagen wandte er sich zum Gehen.

Edison, dem der Mann leidtat, streckte ihm die Hand hin. »Kommen Sie noch einmal her. Lassen Sie es mir hier, dieses Dingsbums. Ihren Pflug. Vielleicht lasse ich es mir noch einmal durch den Kopf gehen, wer weiß – vielleicht gibt es eine andere Verwendung dafür, etwas anderes, als Ihnen vorschwebt. So etwas geschieht oft.«

»Wirklich? Dann behalten Sie es bitte.«

»Finden Sie allein hinaus?«

Eine Lokomotive pfiff laut.

»Und beeilen Sie sich. Der Zwei-Uhr-fünfzehn fährt gleich ab. Wenn Sie laufen –«

»Ich danke Ihnen. War mir eine Ehre. Danke. Auf Wiedersehen.«

Wieder allein, seufzte Edison, inspizierte die noch immer brennende elektrische Glühlampe, holte seine Taschenuhr hervor, merkte sich die Zeit, griff zu einem Bleistift und trug sie in den Werkstattbericht ein, und wieder pfiff die Lokomotive dazu.

*

Rauch und Dampf des eben angekommenen Zuges umwallten seine Schultern wie ein Umhang, und aus dieser Wolke trat der berühmteste Bankier der Welt und zog sein Exemplar der New York Times vom 21. Dezember unter dem Arm, unter den er es geklemmt hatte, hervor. Hier, ans Tageslicht zurückgekehrt, konnte er die Schlagzeile wieder lesen: »Elektrisches Licht – Der Triumph des großen Erfinders«; er faltete die Zeitung zusammen, setzte die Silberspitze seines Mahagonispazierstocks auf die krummen Bohlen, das präzise Pochen ein telegraphisches Signal an alle in Hörweite, dass er nahte und man besser den Weg freimachte. Er war allein gekommen, niemand wusste von dieser Reise. Das Letzte, was er heute gebrauchen konnte, waren Fanfaren. Dieser Besuch in Menlo Park bei dem großen Thomas Alva Edison sollte eine vollkommene Überraschung sein.

Ein Bahnhofsjunge von Menlo sah das Gesicht des Bankiers und wich zurück wie vor einem Gespenst. Es war ein feindseliger Ausdruck und durch und durch bedrohlich; aber wie sollte dieses Kind mit dem abgenutzten Besen auch wissen, woran man sich in der Wall Street Tag für Tag neu erinnern musste: dass dieser Ausdruck von Wut das ganz normale Gesicht des Mannes war, die Grundeinstellung, die Norm. Eine solche Rage war einfach der Preis dafür, dass man die Schlüssel zum Wohlstand der Welt in Händen hielt.

Dann war da noch die Nase. Keiner anderen großen Persönlichkeit der Weltgeschichte war je eine solche Nase aufgebürdet worden, nicht einmal Giovanni de’ Medici, dessen unglaubliches päpstliches Profil den Vatikan zum Prägen seiner ersten eckigen Münze genötigt hatte. Doch J. Pierpont Morgan, der »Napoleon der Wall Street« (wie die Times ihn genannt hatte), war eigentümlich zufrieden mit seinem entstellten Gesicht, und jetzt hätte er die Nase nicht mehr gegen die attraktivsten der ganzen Christenheit eintauschen wollen. Als wollte er sagen: »Ich bin ein außerordentlicher Mensch und will deshalb auch außerordentlich aussehen.«

Es war ein so schlimmer Fall von Knollennase, wie die Medizin ihn bisher nicht gekannt hatte. Binnen der letzten beiden Jahre war die Nase auf mehr als das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angewachsen – durchzogen von blauen Äderchen, ein schwärendes rundliches Magma aus warzenartigem Gewebe, eine Oberfläche wie Blumenkohl. Bizarr, anstoßerregend, machte sie denen, die sie unvorbereitet sahen, Angst, und doch trug er sie mit einer Art trotzigem Stolz. Es gab Heilmittel, und immer wieder wurden sie ihm angeboten, doch starrköpfig lehnte er sie alle ab. Das soll nicht heißen, dass es ihm gleichgültig war, wie er aussah. Ganz im Gegenteil. Er verabscheute Spiegel, und an deren Stelle umgab er sich mit einem Kreis gutaussehender junger Männer, die sozusagen die Funktion eines Spiegelbildes übernahmen. Es war kein Zufall, dass die jüngeren Banker bei Drexel-Morgan zu den bestaussehenden Männern New Yorks gehörten.

Ein Porträtmaler nach dem anderen, darunter sogar der große Porträt-Künstler Edward Steichen, lernte die wahre Eitelkeit des Bankiers kennen; keine ihrer Arbeiten fand Gnade, denn alle hielten sich zu sehr an das, was sie vor Augen hatten, und zu wenig an den komplizierten Charakter ihres Auf‌traggebers. Nicht besser erging es den Chefredakteuren der Zeitungen, denn sie riskierten den Ruin, wenn sie die Daguerrotypien nicht retuschieren ließen, so dass die grotesken und kolossalen Ausmaße des Gesichtserkers im Unbestimmten blieben. Selbst der anscheinend allmächtige Multimillionär Gates musste feststellen, dass ihm plötzlich achtzehn private Clubs in Manhattan, in denen Morgan Mitglied war, den Zutritt verwehrten, als er den Spitznamen »Schnapsnase« in Umlauf brachte und dies Morgan zu Ohren kam.

Nein, dass er an dieser Nase, wenn man so wollte, festhielt und alle denkbaren Heilmittel ablehnte, das lag daran, dass sie im täglichen Leben ihren praktischen Nutzen hatte.

Wollte man hinter das Spiel kommen, das J.P. Morgan spielte, dann musste man als Erstes wissen, dass er reich war.

Wie reich? Einige zweifelten daran, dass er der reichste Mann auf Erden war – Vanderbilt, Carnegie und Rockefeller waren auch noch in Betracht zu ziehen –, aber alle waren sich einig, dass es, finanziell gesehen, kaum ein Land gab, das nicht von ihm abhängig war. Die Welt grüßte ihn mit einem Lächeln, weil ihr nichts anderes übrigblieb. Und er erwartete zwar dieses Lächeln von ihr, wusste aber auch, dass es unaufrichtig war. Konnte er auch nur einem einzigen Menschen trauen? Das große Problem aller Reichen. Wie sollte er unter all den lächelnden Masken seine Freunde erkennen?

Hier konnte er seine Nase einsetzen wie eine Wünschelrute. Nie kam es vor, dass die Reaktion der anderen darauf ihm nicht auf die eine oder andere Weise nützlich war.

Wenn zum Beispiel jemand ein Darlehen wollte und vor seiner Nase zurückschreckte oder den Blick abwandte, wenn jemandem schlecht wurde oder er unter einem fadenscheinigen Vorwand das Zimmer verlassen wollte, dann wusste Morgan genau, dass sein Gegenüber ein schwächlicher Typ war, einer von den Kleinmütigen, die bei der ersten Schwierigkeit zu Boden gehen würden, und dass deshalb die Gefahr groß war, dass er sein Geld nie wiedersah.

Was die romantische Seite betraf: Wenn einer Frau die Sinne schwanden, wie es schon mancher feinen Dame der Gesellschaft bei ihrer ersten Begegnung mit seiner Nase ergangen war – nur um schon im nächsten Augenblick ihren Ehemann zu hintergehen, indem sie eine geheime Verabredung akzeptierte oder Morgan Zutritt zu ihrer Loge versprach, damit er sie von hinten umarmen konnte und sein Backenbart ihr im Nacken kitzeln würde –, dann wusste er gleich, dass sie insgeheim eine Schwäche für hässliche Männer mit Geld hegte.

Und wenn schließlich eine Geliebte mit echter Zärtlichkeit von seinem entstellten Organ sprach, ihm erzählte, dass sie es liebe, es bewundere, ja dass es sie sexuell errege oder sie nach dem Liebesakt bisweilen deswegen weine, als ob ein geliebtes Haustier Kummer habe, dann würde er sofort den Braten riechen und sich auf der Stelle daranmachen, sie unauf‌fällig loszuwerden. Wahre Liebe konnte er nicht gebrauchen. Seine Nase hatte ihm schon Millionen von Dollars eingespart.

Wie hätte er es da bedauern sollen, dass er eine solche Nase sein Eigen nannte, wie hätte er auf den Gedanken kommen sollen, sie behandeln und kurieren zu lassen, wenn er Fremde damit durchschauen konnte? Jawohl, durchschauen. Dieser abscheuliche fiebernde, nässende Blumenkohl vermittelte ihm eine hellseherische Einsicht in den Charakter der Menschen.

*

Mit dem turmhohen Zylinderhut – Hutweite 61 – auf dem Kopf, eine glimmende Zigarre mit Monogramm zwischen Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand, verließ Morgan den Bahnsteig mit dem staksigen Schritt eines Mannes, der von einem Trampolin steigt.

Am Ausgang gab er einem schwarzen Arbeiter ein Trinkgeld, überquerte den Lincoln Highway und erklomm die zweihundert Fuß Bohlenweg zu dem dreistöckigen, schindelbedeckten Haus. Er blieb da stehen, wo die Bohlen in einen schlammigen Pfad übergingen. Hundert Schritt den Hügel hinauf stand das Laboratorium. Er beschloss, mit dem Haus anzufangen.

An der Tür empfing ihn ein spanisches Dienstmädchen, das er offenbar auf Anhieb hypnotisierte.

»J.P. Morgan. Ich möchte Mr. Edison sprechen.«

Er musste es wiederholen, bevor die benommene Frau wieder zum Leben erwachte und hastig ins Haus entschwand.

Die Dame des Hauses erschien und brachte immerhin ein gewisses Maß an Gleichmut auf.

»Mr. Morgan? Ich traue meinen Augen nicht. Ist das die Möglichkeit! Guten Tag, Sir. Seien Sie uns willkommen. Ich bin Mrs. Edison, Sir. Mary Edison.«

Eine unscheinbare Frau und noch dazu im Morgenmantel. Das zu einer solchen Stunde, das sprach sehr gegen sie, doch der Bankier ließ es durchgehen, denn sie stellte ihren Charakter durch ihren Blick unter Beweis, der auf seine Augen und nirgendwohin sonst gerichtet war. Dies, folgerte er, war eine solide, moralisch gefestigte Frau.

»Sehr freundlich von Ihnen, Madam, dass Sie mir mein Eindringen verzeihen. Ich bin unerwartet geschäftlich hier. Ein Überraschungsbesuch, wenn Sie so wollen.«

Beeindruckt von der Erscheinung dieses Mannes – eine Jacke mit Samtkragen, weiße Glacéhandschuhe, steifer Kragen, gestreif‌te Hose, Ascotkrawatte –, auch von seiner liebenswürdigen Art und seiner Körpergröße, gab Mary dem immer noch wie erstarrt dastehenden Mädchen Anweisung, den Besucher zum Labor zu führen.

»Alva isst dort mit den Jungs. Seinen Mitarbeitern. Wenn er überhaupt etwas isst. Hier unten bekommen wir ihn nicht zu sehen, wenn er gerade einer neuen Erfindung auf der Spur ist.«

Das hörte Morgan gern. »Und wie oft ist er einer neuen Erfindung auf der Spur?«

»Immer«, sagte sie. »Ununterbrochen.«

Das Labor auf dem Hügel war ein nagelneues, langgestrecktes, zweistöckiges Gebäude, hundert mal dreißig Fuß groß. Das Dienstmädchen führte Morgan hinein, und bevor es sich wieder zurückzog, zeigte es noch auf den Tisch in der Ecke, an dem der Erfinder saß, gesenkten Hauptes, tief konzentriert, und Einträge in mehrere Notizbücher zugleich machte.

Morgan ging hinüber und sprach ihn an. »Sir?« Keine Antwort. »Sir?« Doch Edison blieb ungerührt bei der Arbeit. »Meine Güte, ich habe mir zwar sagen lassen, dass Sie schwerhörig sind, aber so schlimm hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ja lieber Himmel« – er stieß heftig mit dem Spazierstock auf –, »SIR

»Augenblick noch«, murmelte der Erfinder, als bereits ein mächtiger Schatten über das fiel, was er gerade schrieb.

Der Bankier schüttelte ungläubig den Kopf und betrachtete, während er wartete, den Schreibtisch des Erfinders. Es gab fünf Fächer, die mit »Geld«, »Licht«, »Finanzen«, »Amberola«, »Neue Sachen« beschrif‌tet waren.

Dieses letzte Fach war mit Papieren vollgestopft. Als Nächstes inspizierte Morgan ein Regal in der Nähe, in dem in mehreren großen Gläsern ebenso viele in Alkohol konservierte tote Katzen lagen.

Edison erhob sich. »So. Sie müssen entschuldigen. Und wen haben wir hier?«

»Ich danke Ihnen. Endlich. Wie schaffen die Leute es, mit Ihnen Geschäf‌te zu machen?«

»Geschäf‌te?«

»Ja. Das Wort haben Sie doch schon gehört?« Das war der Punkt, an dem Morgan näher an die Lampe herantrat und sein Gesicht dem trüben Licht zuwandte.

Edison erschrak. »Morgan!« Und als er nun die berühmte Nase so von nahem sah, fleischlich sozusagen, sagte er noch: »Meine Güte …«

»Ich bin gekommen, um mich umzusehen, Sir.«

»Sie … Sie haben mich –« – Edisons Augen blieben weiter auf die Nase gehef‌tet –, »Sie haben – ähm – mich überrascht.«

»Es wäre eine herbe Enttäuschung für mich, wenn es nicht so wäre.«

»J.P. Morgan hier! Ich kann es kaum glauben.«

»Es würde uns beiden das Leben um vieles einfacher machen, wenn Sie es dennoch täten.«

»Lieber Himmel. Das ist unglaublich … erstaunlich … es ist … es ist vollkommen ohne …«

»Ohne?«

»Beispiel. Ich … ich kann es immer noch nicht glauben.«

Morgan, der genau spürte, wie aufmerksam seine Nase gemustert wurde, wie der Erfinder sie mit seinem Blick schon halb umkreist hatte – Edison bewegte tatsächlich den Kopf, er betrachtete das Gesicht seines Besuchers aus allen Winkeln wie ein Forschungsobjekt –, kniff die Augen zusammen, nun wirklich schwer verstimmt. »Überlegen Sie es sich gut, Sir. Überlegen Sie gut, was Sie als Nächstes sagen.«

*

Offiziell waren die beiden Männer sich noch nie begegnet, aber es war denkbar, dass sie einander, ohne es zu wissen, in den beiden letzten Monaten zweimal über den Weg gelaufen waren, das erste Mal unbekannterweise bei einem gemeinsamen Bad.

Nach den zermürbenden, doch am Ende erfolgreichen Testreihen des Frühlings und in der Zeit der letzten Anstrengungen, die Glühbirne zur Gebrauchstüchtigkeit zu entwickeln, hatte der Erfinder seinen gesunden Schlaf verloren. Er nickte nur immer wieder kurz ein, und das machte ihm zu schaffen. Auch sein Magenleiden wurde schlimmer, kein Mittel half. Auf dem Höhepunkt seiner Fähigkeiten und seines Ansehens litt er Höllenqualen. Der frühe Tod seines Neffen Charley, den er wie einen Sohn großgezogen hatte und der in Paris, in homosexuelle Affären verstrickt, ums Leben gekommen war, hatte ihn schwer getroffen. Er wurde in einem Maße von Schuldgefühlen gepackt, wie er sie noch nie gekannt hatte. Und während seine Arbeiter sich mühten, die Lampe ohne ihn zu vervollkommnen, war er deshalb dem Rat seines wichtigsten Mitarbeiters Charles Batchelor gefolgt und hatte sich mit seiner Frau zur Heilquelle von Saratoga Springs begeben.

Einen Tag, nachdem Edison und Mary im Grand Union Hotel Quartier bezogen hatten – Edisons Befinden hatte sich durch die Strapazen der Reise noch weiter verschlechtert –, geriet der ganze Kurort durch die Ankunft einer geheimnisvollen Gesellschaft in Aufruhr.

Das Gerücht machte die Runde: Das waren ganz eindeutig die Morgans. Ein Dienstmädchen hatte beim Auf‌tragen des Frühstücks als Erste Gewissheit bekommen. Die Nase hatte sie schockiert.

Und dann bestätigte es der blinde Hotelmasseur: Ja, das seien sie, keine Frage.

Weshalb also war J. Pierpont Morgan in Saratoga? War er krank oder seine Frau? Etliche Theorien kamen auf und wurden sogleich von noch abwegigeren überboten: Der berühmte Bankier hatte einen körperlichen Zusammenbruch erlitten, einen Blinddarmdurchbruch, einen Hodenbruch. Andere gingen noch weiter: Es war ein Nervenzusammenbruch, und die Tatsache wurde vertuscht, denn sonst befänden sich die Börsenkurse im freien Fall.

Die Folge war, dass das Restaurant Abend für Abend bis auf den letzten Platz besetzt war. Die gesamte Gästeschar des Kurortes – hauptsächlich Europäer, größtenteils Frauen, viele Juden – wollten die beiden sehen. Die Frauen hielten Ausschau nach Mrs. Morgan und hofften, dass sie ihren Pariser Chic zuerst bewundern und anschließend kopieren könnten, und die Männer träumten davon, später im Salon den Bankier beim Kartenspiel zu schlagen.

Bei all dieser Aufregung bewahrte Edison Ruhe, auch wenn er kaum bedient wurde, weil sich die gesamte Belegschaft nur noch um den Bankier kümmerte. Wenn er endlich doch seinen Kaffee bekam, war er kalt, der Toast zäh, der Service lausig. Aber dass Morgan der Grund für all das sein sollte, kam Edison dennoch weiterhin abwegig vor.

Nach einem frühabendlichen Sonnenbad saß der Erfinder auf der nach Westen gerichteten Veranda, als ihm ein hoher Zylinderhut auffiel, umschwirrt von einer Schar weiblicher Kopfbedeckungen auf dem Weg zum französischen Garten. Aber er sagte sich, dass dies jeder wohlhabende Satyr sein konnte, der seinen Nutzen aus der Anwesenheit der vielen reichen Erbinnen am Ort zog. Dann schleppten die Kellner beim Abendessen Tabletts mit exquisiten Speisen zu einem abgetrennten Bereich, vor den neugierigen Augen der anderen geschützt. Das konnten nur die Morgans sein. Sämtliche Gäste im Restaurant richteten ihre Stühle zur Tür aus, auch Mary, und Edison brummte, sie solle sich nicht so anstellen.

Und schließlich, als er am folgenden Nachmittag vorsichtig in die brühheiße Sole gestiegen war, in dem sprudelnden Wasser die Beine spreizte und sofort die Entspannung in seinem Inneren spürte, da war ihm, als sähe er, nur ein paar Fuß entfernt, unter den Männern, die auf schwimmenden Tabletts Domino spielten, den sagenhaften Gentleman persönlich: die deformierte Nase, die flammenden Augen.

Doch dann verbarg der dichte Dampf ihn wieder vor seinem Blick. Und als der Nebel sich das nächste Mal lichtete, war der Mann verschwunden. Hatte er ihn sich etwa nur eingebildet? Er schrieb es der extrem hohen Luftfeuchtigkeit zu, stieg sofort aus dem Wasser und begab sich zum piscine froide.

Es sei unerhört, beschwerte er sich bei Mary. Binnen weniger Tage hatte sich in dem gesamten Kurort die hysterische Atmosphäre jener anderen berühmten Quelle breitgemacht: der von Lourdes.

Als er wieder in seinem Zimmer war, durchforschte Edison die New York Post in der Hoffnung auf Hinweise, dass Morgan in Wirklichkeit in Paris oder Wien war oder dass man gesehen hatte, wie er im Tal der Könige Antiquitäten erwarb, denn das hätte ihm bewiesen, dass die Berichte aus dem Kurort nichts weiter als der Ausdruck jener Besessenheit von dem Wohlstand waren, dem alle Welt frönte. Reichtum als solcher sei kein Grund, einen Menschen hochzuschätzen, erklärte er Mary, und man dürfe sich nicht von dem allgegenwärtigen »Morgan-Kult« mitreißen lassen. Öffentliche Anerkennung solle denjenigen vorbehalten sein, die etwas für das Allgemeinwohl getan hätten. Denkmäler solle man Wohltätern errichten, nicht Profiteuren. Und in dieser Hinsicht hatte er sich ein wenig mehr Aufmerksamkeit für sich selbst erhofft – vielleicht wenigstens eine Einladung in den abgesperrten Bereich? Hatte er sich denn nicht schon vor langem zum Diener der Öffentlichkeit gemacht? Und würde er nicht mit seinem neuesten Projekt, dem elektrischen Licht, die unerträgliche Beschwernis, die auf den Menschen lastete, lindern?

Zwar war die Begeisterung für den Phonographen abgeklungen – vorbei, das musste er zugeben, die Zeit, als die Leute für die Vorführungen in seinem Labor in Menlo Park Schlange standen; keine Mädchen mehr, die in Ohnmacht fielen und in Séparées mit Fächern wiederbelebt werden mussten, keine Schlagzeilen »Ein Orchester in der Kiste!«, »Eine Maschine spricht!«, keine täglichen Artikel, die auf seine 158 anderen Erfindungen verwiesen –, aber der Erfolg der elektrischen Glühlampe hatte ihn in den Augen der Öffentlichkeit zum Zauberer gemacht. Was hätte das für ein großartiger Sommer für Thomas Alva Edison sein können. Zeitungen verbreiteten seinen Ruhm in alle Winkel der Erde. Kinder in Russland kannten seinen Namen, bevor sie den von ausländischen Präsidenten kannten. Was war das für ein Rummel gewesen, als er seine Entdeckung publik gemacht hatte! Ein Selfmademan, ein Held der Arbeiterklasse – keine Schulbildung, nicht einmal Grundschule, und doch in der Lage, durch schiere Verstandeskraft und harte Arbeit die großartigsten Erfindungen zu machen. Zum Beispiel die Schlagzeile zum 1. April, die alle Welt für bare Münze genommen hatte: »Edison erfindet Maschine, die den Hunger der Welt stillt – Brot, Fleisch, Gemüse und Wein aus Luft, Wasser und gewöhnlicher Erde.« Der Mann hatte das elektrische Licht erfunden – wer wollte da bezweifeln, dass er auch so etwas erfinden konnte?

Doch so dankbar ihm die Öffentlichkeit war, ja sosehr sie ihn liebte – denn in Amerika war er der Prophet des besseren Lebens –, hatte sein Ruhm doch nicht für angemessenen Zimmerservice in einem Kurort außerhalb der Saison gereicht.

Aber so war das eben – Geld stellte alles in den Schatten. Was verabscheute er diese Gestalten aus der Wall Street! Die Wahrheit war: Trotz aller Aufmerksamkeit, die er dafür erhielt, hatte er mit seinen Erfindungen so gut wie nichts verdient, und er machte die Bosse und Bankiers dafür verantwortlich. Kaum hatten seine Schöpfungen sein Labor verlassen, schon rissen sich solche Leute die Patente unter den Nagel, um damit Geld zu machen, und das wenige, das er bekam, musste in das nächste Projekt investiert werden, so dass er selbst immer arm blieb. Derzeit machte ihm der Gedanke Magenschmerzen, dass er nicht in der Lage sein würde, seine laufende Hotelrechnung zu bezahlen. Er nahm sich vor, ein Wort mit dem Rezeptionisten zu sprechen, sich eine vorläufige Rechnung ausstellen zu lassen.

Mary schlug ihre Zeitschrift zu und erhob sich von dem Liegestuhl auf dem Balkon. Das Heilwasser half ihr nicht. Genauer gesagt ging es ihren Nerven, die keine Ruhe mehr gefunden hatten, seit sie zehn Jahre zuvor Alva geheiratet hatte, von Tag zu Tag schlechter. Seine Exzentrizitäten mochten gutes Futter für die Zeitungen sein, doch für ihre Gesundheit waren sie Gift. Sie verzichtete auf ihren gewohnten Kuss oben auf seinen Kopf, schickte sich an, zu Bett zu gehen, und brüllte ihm als Antwort noch zu, für ihre Begriffe sei er einfach neidisch auf Morgan. Und fügte hinzu, sie fahre jederzeit gern nach Hause zurück, sobald er so weit sei.

*

Die zweite Beinahebegegnung des Erfinders mit Morgan fand bei einem Abschiedsbankett bei Delmonico’s zu Ehren von Morgans Vater statt, der sich aus der Welt der transatlantischen Finanzen zurückzog. Er staunte, dass er eine Einladung erhielt – er hatte nie irgendwelche Verbindungen zu den Morgans gehabt –, und übermittelte seine Zusage telegraphisch.

Mary, die sich nicht wohl fühlte, begleitete ihn nicht, und ohne jemanden, der ihm Mitteilung machte, was in den Reden gesagt wurde, saß er schweigend an einem Tisch ganz hinten in dem vollgestopften Saal und bekam nichts von den flammenden Worten von Gouverneur Tilden mit, dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, der über den Aufstieg amerikanischen Geldes und den schwindenden britischen Einfluss sprach.

Edison hatte einen unvorteilhaften Platz erhalten. Er blickte auf eine gewaltige Zuckerskulptur, die den stämmigen Amerikaner Henry Morton Stanley in Afrika zeigte, wie er eben den schmächtigen, verweichlichten Engländer David Livingstone rettete. Das proamerikanische Tableau schmolz in der großen Hitze so schnell, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis Stanley (oben) stürzte und Livingstone (unten) unter sich begrub und vollends schmelzen ließ.

Die Skulptur ließ gerade noch ein kleines trapezförmiges Fenster frei – zwischen Livingstones Oberschenkel und Stanleys tropfender Muskete –, durch das er einen Blick auf Pierpont Morgan erhaschen konnte, im weißen Smoking, versorgt von einer ganzen Armee von Kellnern, und auf Tabletts mit timbales à la périgourdine und getrüffeltem Rebhuhn.

Eine üppige Frau hatte eine Fenstertür ins Freie geöffnet, und ihrem Beispiel folgend, erhob sich der Erfinder, um selbst auch etwas frische Luft zu schöpfen. Er trat auf die von einem Säulendach beschattete Terrasse und sah das weiße Kleid im Dunkeln blitzen. Die Frau hatte sich hinter einem Strauch, der dort in einem großen Terrakottatopf stand, versteckt. Hätte er lieber drinbleiben sollen? Wartete sie auf jemanden? Er sog den Duft von Flieder und Pfeifenbaum ein, dann trat er einen Schritt näher und legte sich eine steife Vorstellung zurecht – »Verzeihen Sie die Störung, Madame …« –, da sah er, dass die Dame stürmisch geküsst wurde.