Cover

 Über das Buch:

Menschen setzen täglich unterschiedlichste Mittel ein, um andere zu beeindrucken und zu beeinflussen. Die Spannweite reicht vom Anlächeln des Gesprächspartners bis zur vorsätzlichen Manipulation. Das Ziel ist stets dasselbe: das Verhalten anderer Menschen zu steuern. Dafür werden zahlreiche Tricks und Strategien der Manipulation eingesetzt: Sprache und Verhalten, Täuschung der Wahrnehmung, gezielt unwahre Behauptungen, veränderte Zahlen, falsche Vergleiche und viele andere psychologische Manöver.

Dieses Buch beschreibt, wer manipuliert und wie manipuliert wird. Sie erfahren, was mit Manipulation alles möglich ist. Anhand konkreter Beispiele - vom Hochstapler bis zu Prominenten aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft - zeigen die Autoren, wie Manipulation funktioniert. Sie geben den Lesern praktische Tipps, wie sie Manipulationen erkennen, um den Macht-Code zu entschlüsseln.

Ebenso unterhaltsam wie spannend zu lesen, bietet dieses Buch alles, was Sie über Manipulation wissen müssen.

Reiner Neumann und Alexander Ross

Der Macht-Code

Spielregeln der Manipulation

Edel Elements

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

 

Als der Macht-Code im Herbst 2007 erschien, war Bernard L. Madoff nur relativ wenigen ausgewählten Menschen ein Begriff. Seit Dezember 2008 kennt ihn die ganze Welt. 50 Milliarden Dollar – um diese unvorstellbare Summe Geld soll der US-Vermögensverwalter Madoff seine Anleger über viele Jahre hin betrogen haben. Gerade hatten wir den Macht-Code für die zweite Auflage überarbeitet, aktualisiert und um zwei neue Kapitel ergänzt, da wurden dank Madoff gleich mehrere der von uns beschriebenen Wirkfaktoren der Manipulation in der Wirklichkeit sichtbar.

Zum Beispiel die Tue-Gutes-Nummer und das psychologische Prinzip der Reziprozität: Wenn du von anderen etwas willst, gib zuerst selbst etwas. Madoff spendete gut 20 Millionen Dollar und lernte bei den vielen Charity-Events immer wieder reiche Menschen kennen. Mit ihrem frischen Geld lief seine Betrugsmaschine weiter. Madoff musste doch einfach ein Ass der Geldvermehrung sein, wenn so viele ihm Geld gaben – tatsächlich wirkte hier der Lemming-Faktor bei jedem neuen Kunden. Denn er war wie sie: erfolgreich, bestens vernetzt und gesellschaftlich etabliert – kurz: ein Gewinner. Und er zeigte seinen Gewinner-Bonus mit drei Villen in den USA und Frankreich und der Mitgliedschaft in sechs exklusiven Golfklubs.

Ein weiterer Grund für Madoffs fatalen Erfolg dürfte im Komplexitäts-Argwohn seiner Kunden liegen. Sie akzeptierten einfache, beständig steigende Erträge wie bei Staatsanleihen – statt zu erkennen, dass Aktienanlagen nur schwankende Ergebnisse liefern können. Selbst den Gegenbeweis – angetreten durch den Fondsmanager Harry Markopolos, der seit 1999 vor Madoff warnte – konnte weder die Anleger noch die Börsenaufsicht SEC zum Handeln bewegen. Noch im November 2008, nach der Lehman-Pleite, vertrauten sie auf Madoffs Zahlen-Schwurbel, der ihnen wie bisher acht Prozent Rendite versprach. Er konnte die Experten-Masche immer wieder abziehen, weil er als Pionier des elektronischen Aktienhandels und als ehemaliger Vorsitzender der Börse Nasdaq für einen besonderen Kenner der Aktienmärkte gehalten wurde. Die Ermittlungen dürften noch weitere unserer Manipulationsbeispiele bestätigen.

In den beiden neuen Kapiteln betrachten wir vor allem die psychologischen Aspekte von Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sowie die Rolle von Öffentlichkeit und Medien. Welche Mittel setzen wir ein, um bei Menschen einen von uns oder anderen gewünschten Eindruck zu hinterlassen? Genau hinsehen heißt es, sobald es Menschen in die Öffentlichkeit treibt. Authentisch bleiben, sich nicht verbiegen lassen wollen – das kann eher Probleme schaffen, wie uns das Beispiel von Kurt Beck zeigte. Gute Wirkung ist selten Zufall, aber oft das Ergebnis von zutreffender Selbsteinschätzung und guter Vorbereitung.

In diesem Sinne: Bleiben Sie kritisch – bei anderen und bei sich selbst!

Berlin, im Januar 2009

Reiner Neumann

Alexander Ross

1

ZUM START

Das Leben ist kein Ponyhof.
Oder: Warum haben wir dieses Buch geschrieben?

Der amerikanische Psychologe Paco Underhill schlug einer amerikanischen Drogeriekette vor, dass die Mitarbeiter all jenen Kunden ungefragt einen Einkaufskorb anbieten sollten, die mehr als zwei Produkte in den Händen durch den Laden trugen. Die Einkaufssummen pro Kopf nahmen erkennbar zu.

Wladimir Rakowskij bietet in Moskau Kurse für „стёрвы“ an. Das Wort bedeutet „Luder“ und die Teilnehmerinnen lernen dort, wie sie die Aufmerksamkeit eines Mannes erregen oder an seine Telefonnummer kommen. Rakowskij stellte im Magazin Focus seine einfache, aber erfolgreiche Typenlehre dar: „Kennt die Frau erst einmal den Typ Mann, dann kann sie genau jenen Typ Frau geben, den er sich erträumt.“ Die Teilnehmerin Marina berichtet von ihren Erfolgen, auch im Job: „Wenn ich Hilfe brauche, spiele ich das kleine Mädchen. Da kommen die Männer sofort und unterstützen mich.“

Ein Aufbaustudium zum MBA (Master of Business Administration) an einer Business School gilt vielen Jungmanagern als Turbo für die Karriere. Für die Auswahl der „richtigen“ unter den vielen Karriereschmieden greifen Studenten wie Unternehmen gerne auf Rankinglisten zurück. Doch nicht wenige der Business Schools richten ihr Lehrprogramm genau darauf aus, dass es ihnen einen oberen Platz in den Ranglisten sichert. Dies bestätigt George Bickerstaffe, einer der international bekanntesten Experten auf dem Gebiet.

Da erzählt man Versuchspersonen folgende Geschichte: Ein gut gekleideter, gepflegt aussehender Mann beschimpft übel einen schäbig gekleideten, tätowierten Langhaarigen und bedroht ihn sogar mit einem Messer. Erzählen die Versuchspersonen die Geschichte dann weiter, sind oft ab der dritten bis vierten Wiederholung die Rollen vertauscht: Der Langhaarige hat das Messer, er bedroht und beschimpft den gut Gekleideten. Unsere Vorurteile prägen viel von unserer Wahrnehmung und verzerren die Gedächtnisleistung. Dies wiesen die Psychologen Gordon Allport und Leo Postman in zahlreichen Versuchen schon in den 40er-Jahren des letzten Jahrhunderts nach.

Ein Geschäftsführer aus der Transportbranche verrät dem Manager Magazin einige Tricks der Verhandlungsführung: „Seine Geheimwaffen heißen wahlweise Simona, Lulu oder Carmen. Hat er ein schwieriges Gespräch, bucht er eines der Models.“ Deren einzige Aufgabe besteht darin, den Kunden während des Gesprächs zu ignorieren. „Dann macht der Geschäftsführer ein eigentlich nicht annehmbares Angebot und schließt … mit dem Satz: ‚Oder fehlt Ihnen für eine solche Entscheidung die Kompetenz?’ In diesem Moment blickt das Model hoch und dem Mann direkt in die Augen – der plustert reflexartig sein Gefieder. Und der Deal steht.“

Sind wir wirklich so leicht zu beeinflussen? Ja, das sind wir!

Denn offensichtlich ist unser Alltag von den unterschiedlichsten Arten der Manipulation geprägt. Es gibt eine Vielzahl von Techniken und Taktiken, die uns gezielt in die Irre führen können. Zum Beispiel die Kontrolle über Informationen, über Handlungen, über Situationen und Abläufe, über Regeln und Verfahren, über Beziehungen und Netzwerke, über die Selbstdarstellung des Manipulators. Und nicht zuletzt gibt es auch Faktoren, an denen wir uns selbst orientieren, um den bestmöglichen Eindruck zu machen.

Wenn einzelne Menschen oder Gruppen die Möglichkeit haben, das Verhalten oder das Denken anderer Menschen in ihrem Sinne zu beeinflussen, so nennt man dies Macht. Nach einer gängigen Definition des Soziologen Max Weber ist Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“. Macht kann dabei durchaus gut sein. Etwa dann, wenn sie dazu eingesetzt wird, dass auch die Interessen anderer Menschen berücksichtigt werden oder zu Geltung kommen.

Macht ist also nicht per se negativ. Doch sie kann es schnell werden, und wir alle haben es wohl schon einmal am eigenen Leib erfahren: Menschen nutzen ein ihnen verfügbares Machtpotenzial aus, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Unsere eigenen Interessen werden dabei herabgesetzt, verletzt oder sogar unterdrückt.

Manipulation kommt dann ins Spiel, wenn jemand Macht über uns ausübt, wir dies jedoch nicht bemerken oder nicht als Einflussnahme erkennen. Damit nehmen wir auch oft gar nicht wahr, dass hier jemand gegen unsere Interessen handelt und uns schaden kann, mitunter sogar recht massiv.

Manipulative Machtausübung schadet aber nicht nur dem Einzelnen, sondern auch dem Erfolg ganzer Unternehmen. So untersuchte der Organisations- und Sozialpsychologe Wolfgang Scholl von der Berliner Humboldt-Universität im Jahr 2004 für eine Studie über 40 Innovationsprozesse in Unternehmen. Dabei fand er heraus, dass bei den misslungenen Innovationen vor allem Informationen nicht korrekt übermittelt und noch häufiger nicht korrekt verarbeitet wurden.

Kommt Ihnen das bekannt vor? Die Manipulation von Informationen ist nur eine der von uns betrachteten Taktiken, doch sie begegnet uns jeden Tag: im Zurückhalten, Verdrehen oder Filtern, beim geschickt gewählten Ausschnitt der Wirklichkeit, der gezielten Halbwahrheit oder beim Ausschluss aus der Kommunikation durch Expertenphrasen und Insiderjargon – damit wir nicht gleich verstehen, was jemand wirklich vorhat. Oder dass er nur behauptet, kompetent zu sein.

Den Tricksern und Täuschern nutzt manipulatives Verhalten nur so lange, wie sie unentdeckt und ohne Sanktionen ihr Spiel treiben können. Deshalb machen wir Sie in unserem Buch mit einer Auswahl wichtiger und alltäglicher Einflüsse und Techniken der Manipulation bekannt. Anhand von Beispielen zeigen wir Ihnen, dass sie wirken und wie sie wirken – und wir zeigen Ihnen, wie Sie damit erfolgreich umgehen können.

Für uns heißt das: Nur wenn ich die Muster und Methoden der Manipulation durchschaue, kann ich selbstbestimmt handeln. Ich kann erkennen, ob und wie ich das Opfer der Machenschaften anderer werde. Und ich kann entscheiden, ob ich bestimmte Techniken für mich und für eine gute Sache einsetzen will. Unser Fachwissen macht uns kompetent, doch souverän werden wir erst durch das Wissen um die Wege und Abwege anderer Menschen. Denn gerade wenn sich deren Verhalten gegen uns richtet, wollen wir ihnen nicht so einfach auf den Leim gehen.

Die Spielregeln der Manipulation betreffen alle Lebensbereiche und vor allem auch unser eigenes tägliches Verhalten. Denn wir werden nicht nur von anderen manipuliert, wir tun es auch selbst jeden Tag, sei es unbewusst oder mit voller Absicht.

Ob wir dabei gewinnen oder verlieren, hängt auch davon ab, wie gut wir die Spielregeln kennen. Es ist wie beim Kartenspiel: Wer die Regeln nicht kennt und das Spiel nicht beherrscht, verliert sogar mit einem guten Blatt. Schließlich wissen wir doch alle: Das Leben ist kein Ponyhof.

2

DER KOMPLEXITÄTS-ARGWOHN

Einfach = richtig.
Oder: Warum mögen wir lieber simple Lösungen, dafür sogar falsche?

Es ist doch so einfach, zu Geld zu kommen: indem man erst welches ausgibt, um dann richtig zu sparen. Wer dieses simple Prinzip anerkennt, war ein willkommener Kunde bei der „Alternative Kollektive Wertschöpfung“, die im Jahr 2003 in Berlin an Wohnungstüren und per Telefon unterwegs war. Man musste nur 250 Euro einzahlen, um dann nach drei Monaten im Wert von 650 Euro einkaufen zu können – ohne zusätzliche Zahlung, egal wo oder was gekauft werden sollte. Und wer sich dafür begeistern konnte, war meist auch interessiert daran, zusätzliche Provisionen von bis zu 17 000 Euro einzustreichen, sofern man weitere Kunden beibringen konnte, die sich auch jeweils mit 250 Euro beteiligten. Ein einfaches Prinzip, das jeder versteht, bei dem jeder mitmachen kann. Und weil es was für jeden ist, muss es geradezu ein Erfolg werden.

Oder eben auch nicht, wie die Richter des Berliner Landgerichts urteilten. Das Geschäftsmodell sei aus sich heraus nicht erklärbar und könne nicht funktionieren – wie alle Systeme, die auf dem Schneeball- oder Pyramideneffekt aufbauen, die man besonders am unregulierten „grauen“ Kapitalmarkt findet. Wer glaubt, was die Verkäufer erzählen, entscheidet sich damit meist für die Seite der sicheren Verlierer. Der Deutsche Anlegerschutzbund in Frankfurt am Main schätzt, dass hier jährlich rund 20 bis 30 Milliarden Euro Schäden am Vermögen der Kunden verursacht werden. Aber nur ein Bruchteil der Fälle wird angezeigt, wobei Geld aus hinterzogenen Steuern allerdings nur eine Nebenrolle spielt.

Doch die Anziehungskraft dieser betrügerischen Modelle kommt nicht von ungefähr: Unsere vielschichtige und komplizierte Umwelt wird radikal vereinfacht auf einen „Generalschlüssel zum Glück“, den man uns zu Sonderkonditionen gern verkauft. Der Erfolg hängt dabei nur von ganz wenigen Einflussgrößen ab, deren Erfüllung man sich durchaus zutrauen kann. Wenn man zum Beispiel drei weitere „Vertriebspartner“ im Monat beibringen muss, um dann an deren Umsätzen mitzuverdienen, dann sieht das nicht unmöglich aus – das sollte doch zu schaffen sein, wenn man nur fleißig ist und genügend Menschen fragt.

Sicherlich, doch genau das ist das Problem. Denn nicht nur einer tut das, sondern jeder bisherige Spieler und jeder Neuanfänger. Sie können gar nicht so viele neue Leute herbeibringen, wie schon rein zahlenmäßig benötigt werden, um die Provisionen für alle Beteiligten in diesem Spiel zu bezahlen. Genau diese Komplexität ist für viele schwer vorstellbar, und die einfache Regel ist auch leichter zu begreifen. Doch schon bald trifft man auf abgegraste Weiden, sprich Menschen, die bereits mehrfach angesprochen wurden und ablehnten. Wie bei einer Hydra wachsen dauernd neue Köpfe, die gefüttert werden wollen. Damit ist klar: Satt werden nur jene, die sich so etwas ausdenken, früh einsteigen und somit gleich oben anfangen.

Auch auf anderen Gebieten des täglichen Lebens verfangen die einfachen Rezepte. Wie etwa „Wünsch dich reich!“ – das ist die Grundaussage des Buchs „The Secret“ der US-Autorin Rhonda Byrne, die etwas ganz Besonderes entdeckt hat: das Gesetz der Anziehung, demzufolge Gleiches wiederum Gleiches anzieht. Dieser schöpferische Prozess hat nach Byrne drei Schritte: bitten, glauben, empfangen. Und er ist anwendbar auf alle Lebenslagen, von der Partnerschaft bis zur Karriere – wer hätte nicht schon genau nach diesem Generalschlüssel für sein Leben gesucht? Man kann sich das Universum demnach als so eine Art Versandhauskatalog vorstellen, und die Welt wird liefern, was immer man sich wünscht.

Klingt toll, und zumindest bei der Autorin hat es schon ein klein wenig funktioniert. Ihr Buch wurde von der einflussreichen US-Talkmasterin Oprah Winfrey in deren Show zur besten Sendezeit vorgestellt – eine Garantie für einen der vorderen Plätze auf den Bestsellerlisten des größten Buchmarktes der Welt. Und was in den USA funktioniert, das klappt so ähnlich auch anderswo. Auch dies scheint eine Regel der Simplizität zu sein, auf die auch andere als Rhonda Byrne gekommen sind, sogar in Deutschland und diesmal sogar früher als in den Vereinigten Staaten. Denn nicht viel anders sind die Ansichten, die von Bärbel Mohr im Buch „Bestellungen beim Universum“ vertreten werden, das im Jahr 1998 erschien und mittlerweile schon in der 28. Auflage vorliegt.

Solche Bücher sind sehr zahlreich, und sie sind erfolgreich. Warum? Nun, sie bieten den Menschen einfache Methoden und schnelle Lösungen. Die sind immer gefragt, gerade auch in der Managementliteratur. Derzeit sind zum Beispiel Symboliken aus Flora und Fauna der letzte Schrei. Dort wimmelt es neben anderen Fischen von Delfin-Methoden, Peperoni-Strategien, Kakerlaken-Methoden und Mäuse-Strategien mit der Antwort auf die alles entscheidende Frage: „Who moved my cheese?“ In allen diesen Büchern werden also Techniken, Mechanismen und Prinzipien entdeckt, erklärt und wärmstens empfohlen, die alle todsicher wirken und von jedem angewendet werden können.

Ist es wirklich so leicht? Wohl eher nicht. Leicht ist nur der Glaube an etwas, und viele von uns glauben deshalb gerne, was sie gerne glauben möchten. Das kann man sich zunutze machen, denn Wunschbotschaften im Verbund mit einfachen Aussagen sind schlicht überzeugend. In den 90er-Jahren stand der Name Jürgen Höller für Motivationsseminare mit vollmundigen Sprüchen („Ich bin der Beste!“), aber wenig Substanz. Die Seminare waren – trotzdem oder deswegen – sehr erfolgreich. An guten Tagen füllte Herr Höller die Westfalenhalle mit 14 000 Fans. Als Ergebnis weniger erfolgreicher geschäftlicher Aktivitäten wurde er 2002 wegen Konkursvergehens verhaftet und zu drei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Entlassung auf Bewährung im April 2004 gibt er sich in öffentlichen Auftritten geläutert, führt aber weiter seine Seminare in der von ihm gewohnten Weise durch.

Da wäre es doch überraschend, wenn diese Masche nicht auch bei anderen ziehen sollte: So führen die Mitarbeiter und Inhaber der Aktienpower AG mit Sitz im schweizerischen Zug anscheinend recht erfolgreiche Seminare in Deutschland durch, in denen den Zuhörern Zeichnungsscheine für eine außerbörsliche Emission angedient werden. Diese Finanzfüchse sind übrigens in der Mehrzahl frühere Adepten des eben erwähnten Höller. Die Börsenseminare sind laut Aussage der Referenten „so genial, dass sie die Finanzwelt in ihren Grundlagen erschüttern“ werden. Um die Versprechungen des Aktien-Kraftmeiers Alfredo Cuti und anderer zu erfüllen, hätte das Unternehmen im Jahr 2007 immerhin 180 Millionen Schweizer Franken Gewinn nach Steuern erwirtschaften müssen. Wie die Wirtschaftswoche berichtete, waren es im Frühjahr 2005 noch vergleichsweise überschaubare 1,1 Millionen Franken. Zwei Dutzend Personen (immerhin alle Direktoren) betreuten vorgebliche 4 000 Kunden, in nur zwei Jahren sollten es 150 Mitarbeiter sein, die dann 24 000 Kunden betreuen – ein Meisterstück an Wachstum! Es scheint, als ließen sich trotz der höchst dubiosen Randerscheinungen und vieler kritischer Stimmen offensichtlich immer genügend Menschen von der Aussicht auf schnellen Reichtum ohne Anstrengung einlullen.

Simple Erklärungen üben auf Menschen offensichtlich große Faszination aus. Einfache Wahrheiten und Methoden scheinen dabei geradezu unfehlbar zu wirken, wie etwa beim Beispiel von Frau Dr. med. Waldmann-Selsam. Wie der Spiegel berichtete, befragt sie seit Jahren vor allem Menschen, die leidend sind, für deren Krankheiten sich aber keine einfachen Diagnosen finden lassen. Die Ärztin aus Bamberg hingegen weiß, dass es an den Handystrahlungen liegt und sie trägt emsig Belege dafür zusammen. Typische Belege sind immer isolierte Beobachtungen und selektive Interpretationen: Hamster, die das Wachstum einstellen, oder ein Bambus, der nur sechs statt der möglichen zehn Meter wächst, Kinder mit Schulschwierigkeiten oder ein Paar mit Problemen in der Ehe. Immer sind die Handystrahlungen schuld – und solche tödlichen Sendemasten gibt es in ganz Deutschland. Damit ist doch alles klar – wundert Sie da noch irgendwas?

Und wenn ich diese Wahrheiten intensiv und häufig genug verbreite, dann finde ich auch Glauben mit meinen Behauptungen. Ein Erfolgsfaktor ist die Häufigkeit, mit der ich meine Meinungen verbreite. Eine aktuelle Studie der Virginia Tech University mit mehr als 1 000 Teilnehmern kommt zu dem Ergebnis, dass eine beliebige Aussage umso glaubwürdiger wirkt, je häufiger sie wiederholt wird. Dies gilt unabhängig vom Inhalt und davon, ob sie von einer Person oder von vielen verbreitet wird.

Das Muster scheint immer dasselbe: Wir wünschen uns einfache Rezepte und Konzepte, die unser komplexes Umfeld als ein Räderwerk beschreiben, das vorhersagbar ist und das wir durch einfache Steuerung lenken können. Einfache Analogien und simple Erklärungen wirken auf uns oft überzeugender als komplizierte Erläuterungen, die aber leider oft der Wahrheit näher kommen.

Für den bekannten Psychologieprofessor Dietrich Dörner sind logische Fallen durch Vereinfachung an der Tagesordnung. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir in seinen Augen den Anforderungen von komplexen Situationen in vielen Fällen nicht gewachsen sind. Komplexität erzeuge Unsicherheit und könne verhängnisvolle Kettenreaktionen auslösen, so Dörner, der dieses Phänomen in Studien („Tana-Land“) bereits Ende der 70er-Jahre nachwies: Versuchspersonen wurde die Aufgabe gestellt, die Lebensbedingungen in einem fiktiven Land zu verbessern. Zu Beginn der Studien handelte es sich um eine recht einfache Computersimulation mit nur wenigen Variablen. Alle diese Variablen waren bekannt gegeben und durften variiert werden. Es zeigte sich, dass die Probanden fast ausnahmslos das ursprünglich stabile Gefüge zerstörten und dadurch häufig katastrophale Zustände schufen. Das könnte so manchen an die Folgen politischer Interventionen in unser Leben erinnern.

Eine weitere leider tragische Bestätigung seiner Thesen in der Realität wies Dörner 1989 am Beispiel des Atomreaktorunfalls von Tschernobyl nach. Es war niemand eingeschlafen, kein falscher Schalter betätigt worden – alles lief wie eigentlich normal. Und doch nicht, denn es gab ja den Störfall.

Um mit diesen Unwägbarkeiten überhaupt klarzukommen, vermindert laut Dörner das Gehirn die Zahl der „Stellschrauben“ – und klammert damit Details, Nebenbedingungen und Kompliziertheiten aus der Betrachtung aus. Was übrig bleibt, ist vor allem Bekanntes – und das kann man lösen, denn man kennt es ja. Leider ist es nur ein Teil des Problems, und die Teillösung hat Auswirkungen auf den ganzen großen Rest, den man ausgeklammert hat. Dörners Fazit: Wir verlagern, ohne es zu wollen, die Entscheidungen und damit die Kontrolle über das Geschehen letztlich in Bereiche, die sich dem Zugriff entziehen.

Wir leben in komplexen Netzwerken – diese Tatsache zu akzeptieren fällt uns offensichtlich reichlich schwer. Denn sie begrenzen unsere Möglichkeiten, selbst aktiv einzugreifen in unser tägliches Leben. Und damit erfahren wir einen Widerspruch zwischen unserem Bedürfnis nach autonomem Handeln und den in der Realität recht begrenzten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Dabei versuchen wir immer wieder durch einfache Eingriffe die Steuerung eines komplexen Systems zu leisten. Das gilt für den Bereich der Politik wie für Unternehmen, die bei Schwierigkeiten im Unternehmen oder am Markt einfach den Vorstandsvorsitzenden austauschen und dabei oft glauben, dass die Denke des Vorstands sich gewissermaßen automatisch auf alle Mitarbeitenden überträgt.

Doch es führt leider kein Weg daran vorbei: Wir müssen zunächst einmal die Komplexität unseres Umfelds akzeptieren. Dann müssen wir uns eingestehen, dass eine Reihe von Sachverhalten nur nach ausführlicher Betrachtung zu verstehen sind und dass dieses Verstehen ein großes Maß an intellektueller Anstrengung und Erfahrung erfordert. Wir werden dann eher bereit sein, zu akzeptieren, dass erfolgreiches Handeln in solchen Kontexten eben häufig selbst auch nur wieder komplex und langwierig sein kann. Erfolge stellen sich oft erst mit Verzögerung ein und sie können nur selten einzelnen Personen angelastet werden. Ob Politik, Management oder das ganz normale Leben – es ist eher wie ein Flugsimulator mit vielen Knöpfchen und weniger wie ein Flipper mit zwei Drückern links und rechts.

Noch schwerer zu akzeptieren wird für uns die Lage auch dadurch, dass sich Erfolgsrezepte anderer eben nicht so einfach auf unsere Situation übertragen lassen. Der Ansatz des Lernens von den Besten bedeutet nur für Naive, dass sich deren Konzepte einfach adaptieren lassen. Und das, was im Sport erfolgreich ist, lässt sich eben gerade nicht eins zu eins in die Wirtschaft übertragen. Wenn wir einmal genauer hinsehen, dann sind Spitzensportler im Durchschnitt in ihren Berufen eben nicht häufiger erfolgreich als Otto Normalverbraucher – nur einige sichtbare Ausnahmen scheinen die Regel zu bestätigen. Erfolg im Sport ist nicht gleich Erfolg im Geschäft, was nicht nur Boris Becker bestätigen könnte. Nicht von ungefähr können nach dem Ende ihrer Profikarriere längst nicht alle Bundesligaprofis auch später von den Früchten ihrer Arbeit leben. Jeder vierte Ex-Profi hat dann nichts mehr auf der hohen Kante, erklärt Michael Daudert, der zahlreiche Fußballspieler in Finanzfragen berät. Und so mancher musste Privatinsolvenz anmelden wie Eike Immel, einstiger Spitzentorwart und 19-maliger Nationalspieler: Um seine Schulden abzuzahlen, ging Immel sogar ins TV-Dschungelcamp. Einzelne Erfolgsbeispiele sollen oft das Gegenteil belegen, sie sind aber eben genau das: Einzelfälle.

Man kann aus solchen Beispielen sicher etwas lernen, aber es handelt sich nie um Patentrezepte, die man dann nur noch anwenden muss. In Unternehmen gilt: Was bei General Electric funktioniert, das funktioniert noch lange nicht bei Siemens oder bei ABB. Ein und dasselbe Patentrezept wird oft von international tätigen Beratungen in Wellen über ganz unterschiedliche Branchen und Unternehmen verbreitet. Ob Kostensenkung oder Marketingoffensive, es macht den einen durchaus erfolgreich, den anderen bringt es aber mitunter in große Schwierigkeiten.

Behalten Sie den kritischen Blick, analysieren Sie das ganze System und seinen Sie offen für komplexe und individuelle Lösungen. Einfachheit kann ungeahnte Erfolge bringen, wenn man herausfindet, wo sie nötig und gewollt ist. Der Erfolg des „Logan“-Autos der rumänischen Renault-Tochter Dacia ist so ein Beispiel. Wie sehr Autofahren uns inzwischen fordern und sogar überfordern kann, dazu reicht bereits eine Testfahrt in einem mit Bordelektronik vollgepackten Mittelklassewagen. Schon die Sitzverstellung ist mitunter ohne einen Blick in die Bedienungsanleitung nicht mehr zu betätigen. Elektronik, die man nicht braucht und die deshalb nicht eingebaut ist, kann auch nicht ausfallen und muss nicht teuer repariert werden. Oder die Mobiltelefone von Nokia: Sie galten stets als intuitiv bedienbar, in jedem Fall eher als die Handys anderer Hersteller. Und schließlich haben die Albrecht-Brüder mit Aldi die bewusste Einfachheit auf einen Geschäftszweig angewendet, der sich bis dahin durch das Gegenteil auszeichnete. Doch in jedem dieser Fälle zeigt sich: Einfachheit ist nie eindimensional – und vor allem wieder das Ergebnis komplexer und genauer Überlegungen.

„Das kann doch nicht so kompliziert sein!“

Menschen bevorzugen einfache verständliche Lösungen.

Solche Lösungen werden durch einfache Methoden erzielt.

Einfache Lösungen und Methoden verringern die Komplexität unseres Umfelds.

Menschen sind nur schlecht in der Lage, komplexe Netzwerke zu überblicken.

Ein komplexes Umfeld zu steuern fällt den meisten schon bei nur wenigen Variablen sehr schwer.

Trotzdem:

Hüten Sie sich vor einfachen Lösungen. Meist wird unzulässig vereinfacht.

„Patentrezepte“ gibt es nicht. Das möchten Ihnen nur die Erfinder solcher Methoden weismachen.

Erfolgreiche Lösungen lassen sich nicht von einer Situation auf andere übertragen.

Prüfen Sie immer, ob alle relevanten Aspekte berücksichtigt wurden.

Überprüfen Sie von Zeit zu Zeit den Zustand der relevanten Variablen.

3

DER ZAHLEN-SCHWURBEL

Ein rundes Ergebnis kann nie stimmen.
Oder: Warum benutzt man Zahlen, damit wir den Durchblick verlieren?

Sind Sie zahlenblind? Nein? Vielleicht wissen Sie es nur nicht. Denn Zahlenblindheit ist nicht so leicht zu erkennen wie andere Fehlsichtigkeiten. Den Begriff der Zahlenblindheit prägte der US-amerikanische Mathematiker John Allen Paulos schon Ende der 80er-Jahre in seinem gleichnamigen Buch und brachte analog zum Analphabetismus, auf Englisch „Illiteracy“ den Begriff „Inumeracy“ auf. Dabei geht es nicht in erster Linie um Rechenschwäche, sondern um die Unfähigkeit, die Bedeutung von Zahlen und ihre Beziehung zueinander zu erfassen und zu verstehen. Das ist besonders fatal in einer Welt, die uns neben den Worten vor allem mit Zahlen umgibt – denn für viele ist es eine Einladung, diese Schwäche bei anderen gezielt auszunutzen.

„Chef, ich will mehr Geld!“ – „Das haben Sie auch verdient. Was halten Sie von einer Erhöhung um ein Drittel?“ – „Nee, so einfach wird das nicht – ich will mindestens ein Viertel mehr.“ – „Also gut, ausnahmsweise …“ So oder ähnlich soll vor Längerem das Gespräch zwischen einem damals sehr erfolgreichen Fußballer und seinem Vereinspräsidenten gelaufen sein. Nun waren es hier Bruchzahlen, die den guten Kicker ins Rutschen brachten, doch auch Prozentzahlen und absolute Zahlen sind immer wieder gut für erstaunliche Fehleinschätzungen. Etwa über den Reichtum und ab wann man in Deutschland zu den Besserverdienenden gehört.

„Wie viel Haushaltsnettoeinkommen ist nötig, um zu den reichsten fünf Prozent in Deutschland zu gehören?“ Diese Frage stellt der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder von der Freien Universität Berlin als kleines Experiment immer wieder in seinem Bekanntenkreis und bei seinen Studenten. Was er dabei so an falschen Zahlen hört, erzählte er dem Magazin Brand eins: „Dann kommen oft Zahlen wie 50 000 Euro, 75 000 Euro und mehr – im Monat wohlgemerkt. Die Realisten schätzen 15 000 Euro. In Wirklichkeit sind es etwa 5 000 Euro.“

Denn über 41 Prozent des ganzen Geldes, das der Staat mit der Einkommenssteuer einnimmt, kommen von gerade mal fünf Prozent der Bevölkerung. Und die oberen zehn Prozent der Einkommen stehen für 53 Prozent der Einkommenssteuer gerade. Zehn Prozent Reiche zahlen die Hälfte des Steueraufkommens, wie das Institut der Deutschen Wirtschaft für 2005 ermittelte. Warum dennoch immer wieder eine besondere Reichensteuer gefordert wird, überrascht Schroeder nicht, ebenso wie die Ansicht der sozialen Schere, die sich immer weiter öffnet. Für ihn ist dieses Bild eine Fehlwahrnehmung, hervorgerufen durch die besondere Konzentration in den Medienberichten auf Superreiche, seien es Fernsehstars, Sportler, US-CEOs oder Vorstände deutscher DAX-Unternehmen. Dabei sei deren Anteil an der Gesamtbevölkerung eher im Promillebereich. Dennoch glauben wir, unser Leben hätte mit diesen Menschen direkt zu tun. Schroeder stellt dies bei seinen ostdeutschen Studenten fest, die den durchschnittlichen Reichtum noch stärker überschätzen, vor allem den im Westen der Republik. Gleichzeitig orientieren sie sich daran, was für Schroeder deren besondere Frustration erklärt.

Wer heute etwa Mitte 40 ist, kennt dieses Gefühl – aber aus einem ganz anderen Grund. Der Jahrgang 1964 war der geburtenstärkste der Nachkriegszeit, und er hat sich bisher auf die Stabilität der staatlichen Altersvorsorge verlassen. Dafür zahlt er jetzt dreifach – die Sandwich-Generation sorgt für ihre Eltern durch die Rentenbeiträge, die einfach an die heutigen Rentner weitergereicht werden, sie zahlt für ihre Kinder Kitagebühren und künftig Studienbeiträge – und ganz nebenbei soll sie für den eigenen Lebensabend Vorsorgen. Der Grund dafür: Verantwortliche Politiker können seit über 40 Jahren nicht rechnen – und wenn doch, dann mit falschen Ergebnissen. So wurde bereits 1972 im Deutschen Bundestag die Rentenreform behandelt. Dem folgenden Beschluss lag ein Bericht zugrunde, nach dem der Rentenüberschuss in den nächsten 15 Jahren auf 200 Milliarden Mark anwachsen würde. Diese Zahlen wurden auf der Basis einer idealen weiteren Entwicklung geschätzt: hohes Wirtschaftswachstum, hohe Beschäftigung, jährliche Lohnsteigerungen von acht Prozent. Zahlen, die eine solche Faszination ausübten und als Zahlen, Daten, Fakten so exakt wirkten, dass Regierung und Opposition an diese Angaben glaubten und einträchtig das Fundament für unsere heutige Misere des Sozialversicherungssystems legten. Und etwas durchaus Vergleichbares vollzieht sich derzeit beim Thema Klimawandel, wenn sich herausstellt, dass die drastischsten Aussagen auf hochkomplexen Computermodellierungen mit zahlreichen Variablen basieren, wo bereits kleine Abweichungen der Nebenbedingungen das künftige Ergebnis erheblich verändern können. Kann man wirklich annehmen, dass so das Klima über die nächsten 30 bis 50 Jahre steuerbar ist, wo schon die Vorstellungskraft für so etwas vergleichsweise einfach zu Berechnendes wie die künftige Rente nicht ausreicht?

Zahlen geben nur vordergründige Sicherheit, gerade wenn sie genau sind. „Jedes dritte Kind in Schweden ist psychisch gestört!“, so die Schriftstellerin Gabriele Kuby in der Christiansen-Talkshow zum Thema „Kinderkrippen“. Eine solche Aussage kann man nicht direkt prüfen, sie wirkt aber präzise und damit richtig. Viele Zuschauer haben diesen Satz gehört und halten ihn dann für wahr. Eine spätere Nachrecherche von Journalisten ergab, dass es keinerlei Studien gibt, die diese Zahlen belegen.

Dabei zeigt sich immer wieder: Manipulatoren arbeiten gerne mit Zahlen, die die gemachte Behauptung belegen sollen. In der Regel kann man die Angaben nicht oder nur aufwendig überprüfen, die Zahl hat gut und plausibel geklungen und damit ihre Wirkung entfaltet. Konkrete Angaben sind eben unschlagbar: Zahlen, Daten und Fakten, aus der Tageszeitung, einer Meinungsumfrage oder aus einer wissenschaftlichen Untersuchung.

Und das, obwohl wir von der Anlage unserer Denkprozesse her denkbar schlecht ausgestattet sind, Zahlen richtig wahrzunehmen und zu evaluieren. Zahlen, die uns ja den Anschein von Exaktheit und Objektivität vermitteln, entsprechen unserem Steuerungsempfinden. Sie machen uns glauben, dass wir den Sachverhalt dahinter verstanden haben und dass wir ihn kontrollieren können. Dabei sind solche objektiven Ergebnisse immer abhängig vom Mess- und Beobachtungsverfahren (wie wir spätestens durch die heisenbergsche Unschärferelation wissen). Auch ein Meter, selbst mit einem modernen Lasergerät gemessen, ist nur eine kulturell verankerte Vereinbarung über die Bestimmung von Längen. Aber immerhin. Eine Bilanz („nach HGB oder nach US-GAAP oder IFRS-Richtlinien“), ein Fragebogen („jeder dritte Deutsche“), eine Diagnose („Sie fallen in die Kategorie X“) oder andere vergleichbare Verfahren sind immer stark subjektiv geprägt. Und doch glauben wir den Zahlen, wenn sie erst einmal ermittelt und kommuniziert wurden.

Noch schwieriger wird es, wenn wir uns mit Sachverhalten befassen, in denen die Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielt. Wir verschätzen uns systematisch, wenn wir die Häufigkeit von Ereignissen einschätzen sollen. Wir orientieren uns dabei bevorzugt an der wahrgenommenen Präsenz, weniger an der tatsächlichen Häufigkeit. So werden beispielsweise die absolute und die relative Häufigkeit von Delikten in der Bevölkerung systematisch falsch eingeschätzt. Nach der Kriminalstatistik bleibt die prozentuale Häufigkeit von Delikten über Jahre hinweg nahezu gleich. In der Bevölkerung wird jedoch mehrheitlich ein starkes Ansteigen vermutet. Ebenso wird die Wahrscheinlichkeit, einem Mord oder anderen vergleichbaren brutalen Delikten zum Opfer zu fallen, systematisch überschätzt. Eine der Ursachen dieser Fehleinschätzung ist die starke Präsenz solcher Delikte in den Medien. Ebenso ist Krebs als Krankheit in den Medien präsenter als Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dementsprechend haben die meisten Deutschen mehr Angst, an Krebs zu sterben. In Wahrheit sterben doppelt so viele Deutsche an Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems.

Hinzu kommt das grundsätzliche Problem, solche Zahlen zu interpretieren, selbst bei alltäglichen Erscheinungen wie dem Wetter. Denn was bedeutet es eigentlich, wenn der Wettermann uns informiert, dass für den morgigen Tag eine 30-prozentige Wahrscheinlichkeit von Regen besteht? Heißt es, dass es morgen während 30 Prozent des Tages regnen wird? Na? In Wirklichkeit bedeutet diese Aussage, dass an 30 von 100 Tagen, die klimatisch so sind wie der Tag morgen, dann auch Regen fallen wird. Wer dennoch ohne Regenschirm aus dem Haus geht, wird in den Augen manch anderer schnell zur Spielernatur – dabei kann er einfach nur mit Wahrscheinlichkeiten rechnen.

Aus solchen fehlerhaften Interpretationen, unzureichenden Informationen und anderen Problemen machen wir weitere Fehler: Professor Walter Krämer, ein renommierter Statistiker und Autor („Der Panikmacher“), stellt fest, dass wir uns auf der Basis dieser Fehleinschätzungen oft aus den falschen Gründen Sorgen machen: Als Beispiel nennt er die Gefahr, an BSE zu erkranken. Selbst dann, wenn man nichts unternommen hätte, wären aller Wahrscheinlichkeit nach in ganz Deutschland pro Jahr etwa 50 Menschen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit zum Opfer gefallen. Nun ist dies ohne Frage eine tragische Krankheit und für jeden der Betroffenen eine Katastrophe. Doch Krämer stellt die richtige Frage: Was ist das aber verglichen mit den mehr als 800 Deutschen, die jedes Jahr an verschluckten Fischgräten sterben – sollte man deswegen den Genuss von Fischen verbieten oder die Grätendealer Metro, Nordsee, Gosch und andere bestrafen? Immerhin verbreiten sie diese tödliche Ware.

Freiwillig übernommene Risiken werden in der Regel um den Faktor 100 unterschätzt. Und ebenso werden natürliche Risiken akzeptiert und systematisch unterschätzt. Beispiel dafür ist der Vergleich der von Menschen gemachten Schadstoffe mit den natürlich vorkommenden Substanzen. 99,9 Prozent aller Schadstoffe in unserer Nahrung sind natürlichen Ursprungs, das heißt, sie sind ohnehin in den Pflanzen und Tieren enthalten, die wir verzehren.

Ebenso werden unsere Wahrnehmungen der uns umgebenden Realität vorwiegend auf anekdotischem Weg gebildet. Das bedeutet, dass wir viel mehr auf einzelne, aber plakative Ereignisse achten und diese zur Grundlage unserer Entscheidungsfindung machen. Die tatsächlichen Fakten und Zahlen treten dabei in den Hintergrund und verlieren an Wert. Das verführt uns dazu, Lotterielose zu kaufen, obwohl die Gewinnchancen doch so erbärmlich schlecht sind. Und ebenso führt es dazu, dass viele Menschen Angst davor haben, bei einem Flugzeugabsturz zu sterben, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür äußerst gering ist. Ein Flugzeugabsturz mit den vielen Toten bei diesem allerdings seltenen Ereignis macht natürlich andere Schlagzeilen in vielen Medien als die Vielzahl von Einzelereignissen, bei denen Menschen aus anderen Gründen zu Tode oder zu schwerem Schaden kommen – Haushalts- und Arbeitsunfälle, Verkehrs- und Sportunfälle. Dramatische Ereignisse dominieren in diesen Fällen unsere Wahrnehmung. Ein anderes aktuelles Beispiel: Ganz Amerika leidet mit den toten Soldaten im Irak, kaum jemand zeigt sich gleichermaßen irritiert durch die deutlich höhere Zahl von Mordopfern im eigenen Land.

Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – hören wir immer wieder solche Aussagen: „90 Prozent unserer Kunden sind mit unserem Service zufrieden.“ – „Die Untersuchung belegt, dass unsere Methode eine 30-prozentige Ertragssteigerung garantiert.“ – „Es ist uns gelungen, die Fehlerquote auf unter ein Prozent zu drücken.“ Diese Fakten sollen uns beeindrucken. Diese Erfolge machen Sie auch sprachlos? Schauen wir jetzt einmal etwas genauer hin: Wie viele Kunden stehen hinter „90 Prozent“? – Mit welcher Technik wurde die Untersuchung durchgeführt? – Wie viel Ausschuss steht quantitativ hinter „ein Prozent“? Oder ist gar die Prüfmethode „aufgeweicht“ worden? Ist die Methode der Auswertung bei dem erhobenen Datenmaterial überhaupt zulässig?

Die gleiche Skepsis ist bei bildhaften Darstellungen – auf den allseits so beliebten Folien – angebracht. Eine Steigerung des Index von 5 000 auf 5 600 sieht sehr beeindruckend aus, wenn ich die Grundlinie bei 5 000 ansetze – und recht bescheiden, wenn die Grundlinie bei null beginnt.

Zahlen sind oft Schall und Rauch und mit Statistiken, Untersuchungen oder Zertifikaten lässt sich beinahe jede Veränderung belegen. Beweise finde ich bei genügend intensiver Suche für viele Thesen – oder auch dagegen. Vorsicht also bei Zahlen – stellen Sie kritische Fragen und schalten Sie Ihr Gehirn nicht aus, sobald Sie mit schlüssigen Zahlen konfrontiert werden. Gestatten Sie sich eine gesunde Skepsis – und trauen Sie sich, diese gegebenenfalls auch vor anderen zu formulieren. Der aufmerksame Teilnehmer lässt sich nicht durch – scheinbar – erdrückende Zahlenbelege einlullen. Stellen Sie kritische Fragen und beharren Sie auf einer Antwort:

Wer hat die Untersuchung veranlasst oder sogar finanziert? Nicht selten ist der Auftraggeber der Studie mit dem Ergebnis „verbunden“. Unschön ist, wenn beispielsweise die Produkte des Tochterunternehmens den Test als Beste absolvieren.

Welche Methode wurde angewandt? Die Befragung einer Zielgruppe kann sehr unterschiedlich ausfallen, wenn ich anhand eines strukturierten Fragebogens Interviews durchführe oder wenn ich den Personen Fragebögen zusende.

Wer hat die Untersuchung durchgeführt? Ein erfahrener Interviewer wird andere Ergebnisse erzielen als ein nach Zeit oder Zahl der Befragten bezahlter Anfänger.

Welche Zielgruppe wurde untersucht? Kunden einer Institution urteilen anders als eine bunt zusammengewürfelte Zielgruppe.

Wie groß war die Stichprobe? Zehn befragte Personen ergeben eine andere Datenqualität als 100 oder 1 000 Probanden.

Wo wurde die Untersuchung durchgeführt? Ergebnisse aus den Vereinigten Staaten oder Thailand lassen sich nicht direkt auf die Verhältnisse in Deutschland übertragen.

Wann wurde untersucht? Eine Untersuchung aus den 80er-Jahren werde ich anders bewerten als eine aktuelle Umfrage. Kunden kann ich zu einem günstigen Zeitpunkt oder in einem schwierigen Moment befragen.

Mit welcher Methode wurden die Daten analysiert? Nicht alle statistischen Verfahren sind für alle Daten geeignet. Nicht jede Analysemethode ist zulässig.

Wie werden die Daten abgebildet? Eine Skala, die bei 8 000 beginnt, lässt eine Steigerung um 200 Punkte von 8 100 auf 8 300 erheblich spannender aussehen, als eine Skala, die bei null beginnt.

Sind die Daten zugänglich? In Ergebnisse, die sich gegebenenfalls überprüfen lassen, setze ich mehr Vertrauen als in Daten, die unter Verschluss gehalten werden.

Werden die Schlussfolgerungen durch die Daten gestützt? Zahlen belegen nicht jede gewünschte Aussage oder Schlussfolgerung. So ist der – statistisch nachweisbare – Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Storchenpopulation und dem Sinken der Geburtenrate eben kein Beweis dafür, dass der Storch die Kinder bringt.

Wenn Sie selber Zahlen, Daten und Fakten als Beleg heranziehen, so prüfen Sie genau, ob das Material Ihren Anforderungen entspricht. Nichts ist peinlicher, als vor Zuhörern zugeben zu müssen, dass Ihr „Beweis“ nicht stichhaltig ist. Wenn Ihnen das trotz aller Sorgfalt passiert, so geben Sie am besten Ihren Irrtum zu, entschuldigen sich für die mangelnde Sorgfalt und fahren fort.

Es sei denn, Sie wollen sich ein Beispiel an der Regierung von Mexiko nehmen. Als man vor einigen Jahren dort feststellte, dass die Autobahnen mit ihren zwei Spuren den vielen Verkehr nicht mehr bewältigen konnten, sollten sie um eine Fahrspur verbreitert werden. Nun kostet das nicht nur in Deutschland viel Zeit und vor allem Geld – beides hatte Mexiko nicht. So kam man auf die Idee, durch drei statt bisher zwei Spuren die Kapazität der Autobahnen schlagartig zu erweitern – um sage und schreibe 50 Prozent! Dumm nur: Die Autos, die darauf fuhren, waren immer noch so breit wie vorher – viele Unfälle waren die Folge. Nach wenigen Monaten wurde die Maßnahme rückgängig gemacht, es gab wieder zwei Spuren pro Fahrbahn.

Doch nun war ein potemkinsches Dorf aus Zahlen errichtet, die den Erfolg und die Sinnhaftigkeit des Manövers belegen sollten. Der Ausbau hatte ja bereits 50 Prozent gebracht, doch wegen der Unfälle fiel die dritte Spur wieder weg – ein Minus von 33 Prozent. Verkündet wurde, worauf niemand sonst gekommen wäre: ein Kapazitätszuwachs von 17 Prozent – und das ohne nennenswerten Aufwand. Es rechnete auch niemand nach, bis auf einen Journalisten des britischen Economist.

Das funktioniert auch sehr gut im Kleinen, etwa in einer Kantine. In einem Fall einer besonders lausigen Betriebsküche eines großen Hauses in Berlin kam der Pächter auf die an sich gute Idee, seine Gäste zu befragen. Das Ergebnis war vernichtend. Die wesentlichen Zahlen gab er, leicht zusammengefasst, mit einem Aushang bekannt: „Über 90 Prozent unserer Gäste sind mit den Leistungen der Kantine sehr gut oder gut zufrieden oder essen woanders.“ Inzwischen ist die Kantine unter neuer Leitung, und die tut das einzig Richtige – sie kocht besser.

„Zahlen, Daten, Fakten – mehr braucht man nicht!“

Zahlen sind oft abhängig von der Messmethode – andere Methoden, andere Ergebnisse.

Viele Aussagen beruhen auf mathematischen Modellen, die die Zukunft beschreiben – ändern sich einzelne Parameter nur geringfügig, komme ich zu vollkommen anderen Ergebnissen.

Zahlen sind für die meisten Menschen nur schwer vorstellbar.

Wenn es um Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit geht, verschätzen wir uns systematisch.