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Der Apollontempel von Bassai im Bergland oberhalb des arkadischen Phigaleia

Josiah Ober

Das antike Griechenland

Eine neue Geschichte

Aus dem Englischen von
Martin Bayer und Karin Schuler

Impressum

Aus dem Englischen übertragen von Martin Bayer (Vorwort, Kapitel 1–4, 8
und 9 sowie Anhang II und Dank) und Karin Schuler (Kapitel 5–7, 10 und 11
sowie Anhang I und Bibliografie).

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

»The Rise and Fall of Classical Greece« im Verlag Princeton University Press,
Princeton (New Jersey) & Woodstock (Oxfordshire)
2015 (The Princeton History of the Ancient World)

© 2015 by Princeton University Press
Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung des Kupferstichs: Nordostansicht des Tempels von Apollo Epicurius in Bassae bei Phigalia. Stich von Thomas Leverton Donaldson, von The Antiquites of Athens (London, 1830). Mit freundlicher Genehmigung der Aikaterini Laskaridis Foundation.

Nach der Originalausgabe, © Chris Ferrante, gestaltet von Rothfos & Gabler.

Datenkonvertierung: Fotosatz Amann, Memmingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94928-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10029-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1 Die Blüte des klassischen Griechenland

»Fair Greece, sad Relic«

Klassische griechische Blüte

Kleine Staaten, verteilte Autorität

Spezialisierung, Innovation, kreative Zerstörung

Wissen, Institutionen, Kultur

Niedergang und Fortbestand

2 Ameisen um einen Teich

Bevölkerung und Verteilung

Ähnlichkeiten

Unterschiede

3 Politische Lebewesen

Aristoteles’ politische Tiere

Verteilte gegen zentralisierte Zusammenarbeit

Hobbes gegen Aristoteles

Ameisen und Informationsaustausch

Ameisen und Griechen: Die Grenzen der Vergleichbarkeit

Motivation von Zusammenarbeit ohne Verwandtschaft

4 Hellas war reich

Das vormoderne Normalmaß für Griechenland

Andere Vergleichsmaßstäbe

Starkes Wirtschaftswachstum

Eine dichte, gesunde und urbanisierte Bevölkerung

Gleichmäßige Verteilung von Wohlstand und Einkommen

Schlussfolgerungen

5 Gründe für den Reichtum Griechenlands

Bestandsaufnahme

Erklärungshypothesen

Klima, Landschaft, Lage, Ausbeutung

Faire Regeln, Investitionen und Transaktionskosten

Wettbewerb, Innovationen und rationale Zusammenarbeit

Ausblick

6 Bürger und Spezialisierung vor 500 v. Chr.

Vor dem Bürgerrecht: Das Griechenland der Bronzezeit und der Frühen Eisenzeit

Die Modellierung der Entstehung des Polis-Rahmens

Das Zeitalter der Expansion

Sparta: Lykurgische Reformen, 7. bis 6. Jahrhundert v. Chr.

Athen: Solonische Reformen 594 v. Chr.

Bürgerstaaten

7 Von der Tyrannis zur Demokratie, 550–465 v. Chr.

Tyrannenmörder

Die athenische Revolution

Demokratischer Föderalismus

Athenische Institutionen und die Leistungskraft des Staates, 506478 v. Chr.

Erklärungen für die Leistungsfähigkeit des athenischen Staates

Sizilien im späten 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr.

Syrakus unter den Tyrannen

Sizilien nach den Tyrannen

Demokratie in Syrakus

Eine Erklärung für den sizilischen Wohlstand

8 Das Goldene Zeitalter des Imperialismus, 478–404 v. Chr.

Präventivkrieg

Ärger mit Sparta

Das athenische Reich

Die Wirtschaft des Reiches

Griechische Theorien des Reichtums, der Macht und der Politik

Der Peloponnesische Krieg bis 416 v. Chr.

Athen gegen Syrakus

Die Endphase des Krieges

9 Unordnung und Wachstum, 403–340 v. Chr.

Die Welt der Nachkriegszeit

Das spartanische Reich scheitert

Institutionelle Neuerungen und Bürgerkultur in Athen

Verwirrung und Unordnung: Das griechische Festland und die Ägäis bis 352 v. Chr.

Expansion und Integration

Verbesserter Zugang zu den Institutionen in Athen

Fachwissen und Leistung des Staates

Niedergang und Aufstieg von Syrakus und des griechischen Sizilien

Die Griechen Kleinasiens unter persischer Herrschaft

10 Politischer Niedergang, 359–334 v. Chr.

Blick in die Zukunft

Die »Opportunisten«

Makedonien vor Philipp

Philipp und der Aufstieg Makedoniens (359346 v. Chr.)

Vor Chaironeia (346338 v. Chr.)

Der Korinthische Bund

Erklärungen für Philipps Erfolg

Philipp und Alexander zwischen Aristoteles und Hobbes

11 Schöpferische Zerstörung und Unsterblichkeit

Im Sturz noch groß …

… Aber warum unsterblich?

Alexanders Feldzug und noch ein Sturz

Nach dem Fall: Die hellenistische Welt

Konkurrenz, Konvergenz und Kooperation nach Chaironeia

Demokratie, Föderalismus, Befestigung

Könige, demokratische Städte, Eliten: Das hellenistische Gleichgewicht

Ausblick

Anhang

Anhang I

Anhang II

Anmerkungen

Bibliographie

Dank

Abkürzungsverzeichnis

Verzeichnis der Karten, Abbildungen und Tabellen

Personen- und Ortsregister

Für Adrienne

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Vorwort

Ich lebe in einer außergewöhnlichen Zeit. Für mich ist eine Weltordnung selbstverständlich, in der es zahlreiche unabhängige Staaten gibt. Einige darunter sind wohlhabende demokratische Verbünde, die letztlich von ihren Bürgern regiert werden. Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde gelten allgemein als grundlegende Werte. In Staaten, deren Bürger die Regierung kontrollieren, werden Menschen- und Bürgerrechte durch die Öffentlichkeit geschützt. Gewöhnlich herrschen dort Gesetz und Ordnung. Solche politischen Voraussetzungen fördern das Wirtschaftswachstum. In den Genuss einer Verbindung von demokratischem Staat und starker Wirtschaft kommen de facto nur wohlhabende Bürger hochentwickelter Länder. Viele Menschen, die solche Lebensbedingungen noch nicht genießen können, streben sie an. Demokratie und Wachstum bestimmen die normalen, wenn auch nicht die gewöhnlichen Voraussetzungen der Moderne. Die meisten Länder werden tatsächlich autokratisch regiert. Da dies aber als anormal gilt, geben sich Autokraten fast immer als Demokraten aus. Wirtschaftlicher Stillstand wird als Problem angesehen und verlangt nach einer Lösung.

Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte galten Demokratie und Wachstum allerdings nicht als normal; sie waren nicht einmal vorstellbar. Lediglich im ersten Jahrtausend v. Chr. gab es im antiken Griechenland einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten, in denen Demokratie und Wachstum für die Bürger im klassischen Griechenland tatsächlich normal waren. Wie es dazu kam und warum das Wissen um diesen Umstand wichtig ist, führe ich in dem vorliegenden Buch aus.

Neuere Forschungsarbeiten – viele stammen von meinen Kollegen an der Stanford University – leisten einen Beitrag, um folgende Frage zu klären: Warum sind die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Moderne, gesamtgeschichtlich gesehen, so außergewöhnlich selten? Mehrere tausend Jahre lang, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, lebten die meisten Menschen unter der Befehlsgewalt von Autokraten. Diese begründeten ihre Herrschaft religiös. Die erfolgreichsten dieser Machthaber regierten große Reiche; die meisten ihrer Untertanen vegetierten am Existenzminimum dahin. An der Macht konnten sich diese Herrscher halten, indem sie den Untertanen die Produktionsüberschüsse abnahmen. Diese »Beute« verteilten sie unter den Eliten, die im Gegenzug ihre Herrschaft stützten. Unter solchen Bedingungen ist der Zugang zu Ämtern begrenzt. Menschen- und Bürgerrechte existieren so gut wie nicht. Das Wirtschaftswachstum gewöhnlich gering.1

Dieser vormoderne Normalzustand kann im Folgenden unter dem Begriff Herrschaft zusammengefasst werden. Dabei muss man stets bedenken, dass die absolute Herrschaft des Autokraten gewöhnlich eingeschränkt war, sei es, dass bestimmte Gruppierungen von Untertanen durch Ständeversammlungen oder durch ein Petitionsrecht Mitsprachemöglichkeiten bei der Regierung besaßen oder dass Traditionen und religiöse Bräuche die Absolutheit der Macht einschränkten. Außerdem akzeptierten Untertanen oft die Legitimität einer königlichen Autorität. Herrschaftsverhältnisse dieser Art bestanden im größten Teil der Welt bis zum 18. Jahrhundert. Dann setzten allmählich Veränderungen ein, zuerst in einigen Ländern am Atlantik, später in einem Großteil der Welt. Das Ergebnis ist unser heutiger politischer Normalzustand, der als »Demokratie« bezeichnet werden kann – solange man bedenkt, dass de facto auch in demokratischen Gesellschaften viele Menschen unterschiedlichen Formen von Herrschaft unterworfen sind.2

Die moderne Welt ist sowohl in ihrer wirtschaftlichen als auch in ihrer politischen Entwicklung eine Ausnahmeerscheinung – nicht nur, weil sie (insgesamt) wohlhabend ist, sondern auch, weil in ihr Formen und Werte politischer Demokratie vorherrschen. Nur wenige meiner Leser würden es wohl vorziehen, in den vormodernen Normalzustand der Herrschaftsverhältnisse zurückzukehren, selbst wenn ihr materieller Wohlstand dabei garantiert bliebe. Ebensowenige würden wohl mit den wirtschaftlichen Zuständen einer vormodernen Gesellschaft vorliebnehmen, selbst wenn sie demokratisch wäre. Bürgern eines neuzeitlichen Industriestaates bleibt die Entscheidung zwischen Wohlstand und Demokratie erspart. Wir wissen inzwischen, dass demokratische Staaten durchaus ein enormes Wirtschaftswachstum erzielen können.

Mein Kollege Ian Morris(1) hat gezeigt, dass unter verschiedenen politischen Systemen relativ hohe Entwicklungsstandards historisch erreicht worden sind.3 Die Frage, welche institutionellen Voraussetzungen für Wachstum erforderlich oder ausreichend sind, bleibt heftig umstritten. Außer Frage steht dagegen, dass viele Menschen – auch jene, die nicht das Glück haben, als wohlhabende Bürger in modernen Industrienationen zu leben – nicht nur den Wohlstand der Armut vorziehen, sie favorisieren auch die Demokratie anstelle von Autokratie. Das ist eine normative Präferenz. Sie beruht auf der grundlegenden Annahme, den Wert einer Demokratie über jenen einer Autokratie zu stellen. Meiner Meinung nach sprechen gute Gründe für diese normative Präferenz. Viele Leser des vorliegenden Werks werden meine Vorliebe für Demokratie durchaus teilen, auch wenn unsere persönlichen Gründe vielleicht voneinander abweichen.4

Wenn wir unsere heutigen politischen und ökonomischen Umstände jenen des vormodernen Normalzustands vorziehen, dann haben wir einleuchtenden Grund zu untersuchen, wie sie zustande gekommen sind: Mit welcher Wahrscheinlichkeit können sich Demokratie plus Wohlstand als ebenso gängig wie normal etablieren? Wie kam es überhaupt, dass historisch außergewöhnliche wirtschaftliche und politische Bedingungen für normal befunden wurden? Dürfen wir erwarten, dass sich diese Bedingungen dort, wo sie gegenwärtig bestehen und gelten, erhalten und sich auch im Rest der Welt durchsetzen werden? Das Studium politisch und wirtschaftlich außergewöhnlicher Umstände in früheren geschichtlichen Epochen bietet hier einen noch weitgehend unbegangenen Weg, solche Fragen zu beantworten.

Die außergewöhnlichen politischen Umstände, die ich unter der Bezeichnung Demokratie zusammenfasse – eine Sozialökologie zahlreicher unabhängiger Staaten, föderale Strukturen, bürgerliche Selbstverwaltung und die diesen Faktoren zugrundeliegenden Werte – waren zwar vor dem 18. Jahrhundert nur sehr selten gegeben, aber keineswegs unbekannt. Zu den Gesellschaften mit diesen Merkmalen gehörten zum Beispiel die niederländischen Republiken des 16. Jahrhunderts, die (1)(2)italienischen Stadtstaaten der Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert – und das antike Griechenland der klassischen Zeit im 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. In allen diesen Fällen dauerten die außergewöhnlichen wirtschaftlichen Umstände nur für eine begrenzte Zeit an. In keinem einzigen Fall waren die vormodernen Bürgerrechte und das Wirtschaftswachstum jedoch so ausgeprägt, wie es viele Bürger der höchstentwickelten Staaten seit etwa 150 Jahren genießen. Aber in allen diesen historischen Beispielen erlebte die jeweilige Gesellschaft eine längere Periode blühender Wirtschaft und Kultur vor dem Hintergrund einer historisch bemerkenswerten Ausdehnung des Bürgerrechts.

Eine vergleichende Analyse dieser und anderer historischer Fälle außergewöhnlicher politischer und wirtschaftlicher Umstände wäre eine große Hilfe, wenn wir die Frage nach den Entstehungsgrundlagen und den Zukunftsaussichten unserer modernen Gesellschaft aufwerfen. Vor einem solch ehrgeizigen vergleichenden historischen Projekt kommt allerdings die gründliche Untersuchung der einzelnen historischen Beispiele. Warum entstand die betreffende historisch außergewöhnliche Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt und in dieser Region? Wie und warum endete ihre politische und ökonomische Außergewöhnlichkeit? Diese Umstände müssen erklärt und erläutert werden, mehr noch: Wir sollten sie verstehen. Das vorliegende Werk möchte, indem es eine neuartige politische und wirtschaftliche Geschichte des antiken Griechenland bietet, zu diesem Projekt beitragen.

Dieses Buch offeriert keine »große Divergenz« zwischen Ost und West. Es behauptet auch nicht, Demokratie sei notwendige oder zureichende Bedingung für Wirtschaftswachstum. Meine Darstellung zeichnet den Aufstieg einer Gesellschaft nach, in der die politischen Bedingungen der Demokratie, die als normativer Wert geschätzt wurde, für eine große Zahl der Bürger (allerdings definitiv nicht für alle Einwohner) mit einem Wirtschaftswachstum einhergingen. Davon profitierte ein Großteil der Menschen ebenso wie von den kulturellen Leistungen, die weltweit prägend wirkten. Dieses Buch beziffert das Wachstum, arbeitet die kausalen Beziehungen zwischen politischer und wirtschaftlicher Entwicklung im antiken Griechenland heraus, schildert die Eroberung der von den Bürgern getragenen Stadtstaaten durch ein autokratisches Großreich und legt dar, warum so viel Wissen über die griechische Antike bis heute überdauert hat.

Widersinnig wäre es jedoch zu behaupten, das antike Griechenland, in dem Sklaven als unverzichtbar, Frauen als politisch rechtlos und Kriege als ruhmreich galten, böte ein Patentrezept, das wir undifferenziert übernehmen könnten. Der Übergang vom Herrschaftsstaat zur Demokratie in Griechenland blieb unvollkommen und schloss zahlreiche Menschen aus. Ebenso unvernünftig wäre es zu behaupten, die Werte und Errungenschaften unserer Moderne wurzelten ganz oder größtenteils in der griechischen Antike vor 2500 Jahren. Aber dennoch – wenn uns die Zusammenhänge zwischen außergewöhnlichen politischen und wirtschaftlichen Umständen interessieren, müssen wir ja irgendwo anfangen. Und in der griechischen Gesellschaft des klassischen Altertums schienen Wohlstand und Demokratie gemeinsam zum ersten Mal in einer Form auf, die sich gründlich erforschen lässt.

Das klassische Griechenland war weder ein Staat noch eine Nation, sondern eine ausgedehnte Sozialökologie zahlreicher unabhängiger Stadtstaaten-Regierungen, die von den Bürgern getragen wurden. Niemals und nirgends haben die Griechen das Konzept der Menschenrechte explizit ausformuliert; sie entwickelten aber durchaus die grundlegenden demokratischen Werte von Freiheit, politischer Gleichheit und Bürgerwürde. Griechen experimentierten erfolgreich mit dem Föderalismus. In einigen griechischen Staaten herrschte eine rechtsstaatliche Ordnung, und in einigen wurde auch der Zugang der Bürger zu öffentlichen Ämtern sehr liberal gehandhabt. Die griechischen Gesetzgeber führten selbstbewusst planmäßige politische Reformen durch, deren theoretische Begründungen uns teilweise überliefert sind. Die griechische Philosophie hat uns scharfsinnige und bahnbrechende Analysen der politischen Entwicklung hinterlassen.

Weil aus der klassischen Antike zahlreiche literarische Werke und andere Dokumente überliefert sind, konnten sich Theoretiker wie Praktiker späterer Epochen, die an der Überwindung der Herrschaftsnorm arbeiteten, die Erfahrungen des Altertums zunutze machen. Die Griechen selbst lernten zwar viel von anderen Gesellschaften, hatten aber nur wenige Vorbilder zur Verfügung, was den Aufbau demokratischer Institutionen und Werte anging. Wenn wir den Aufstieg des klassischen Griechenland erklären können, gewinnen wir vielleicht auch einen besseren Einblick, wie die Verbindung von Wohlstand und Demokratie entstand. Wenn wir den Niedergang der griechischen politischen Ordnung erklären können – nämlich, warum die klassischen Stadtstaaten ihre Unabhängigkeit schließlich einbüßten –, wissen wir womöglich auch besser darüber Bescheid, was Demokratie gefährdet.

Aufstieg und Niedergang des klassischen Griechenland thematisiere ich als Historiker und Politologe. Das ist nicht der einzig mögliche Zugang, um die griechische Geschichte zu erhellen. Auch Anthropologen, Soziologen und Philologen haben unser Verständnis der griechischen Kultur bereichert; ihre Ansätze sind mit meinen durchaus vereinbar. Es gibt allerdings in Verbindung mit den genannten drei Forschungsrichtungen auch Denkansätze, die, wenn man sie konsequent verfolgt, mit meinem Projekt unvereinbar wären: Erstens die Annahme, die griechische Welt sei keine Ausnahmeerscheinung gewesen, zweitens die Behauptung, ihre Sonderstellung mache die griechische Welt für vergleichende Analysen irrelevant, und drittens die Behauptung, die Ausnahmestellung der griechischen Antike gehe auf Gründe zurück, die mit moderner Politik oder Wirtschaft nichts zu tun haben.

Die erste Annahme, die griechische Antike hätte keine Ausnahmestellung innegehabt, da sie mit anderen vormodernen Gesellschaften zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweise, scheint mir im Hinblick auf historisch nachweisbare Unterschiede unzureichend. Es stimmt zwar, dass die Wirtschaft des antiken Griechenland größtenteils auf Ackerbau beruhte, dass die Griechen diverse ethisch verwerfliche Statushierarchien einschließlich Sklaverei und Zwangsarbeit praktizierten und dass eine polytheistische Religion wichtiger Bestandteil in Weltbild und Alltag des gewöhnlichen Bürgers war. Aber ebenso sehr beruhte die griechische Wirtschaft, wie wir sehen werden, auf Spezialisierung und Austausch; die Reallöhne (auch die zumindest einiger Sklaven) lagen deutlich über der vormodernen Norm; und die Religion war in Griechenland ebenso wichtig wie anderswo (bis heute). Aber gerade das klassische Griechenland hebt sich aus anderen vormodernen Gesellschaften mit dokumentierter Geschichte heraus: Hier – in Griechenland – haben, wie der Althistoriker Oswyn Murray(1) betont, rationale Logik und sachgerechtes politisches Denken den Prozess der Entscheidungsfindung entscheidend und nachhaltig geprägt und den Lauf seiner Geschichte bestimmt.5

Die zweite Behauptung, die Ausnahmestellung Griechenlands sei in diesem Fall analytisch bedeutungslos, misst meines Erachtens dem historischen Regelfall zu viel interpretatives Gewicht bei. Wenn man ein bestimmtes Merkmal einer Gesellschaft untersucht, kann der Soziologe (unter bestimmten Umständen) »Ausreißer« von der Analyse ausschließen, weil die relevanten Beispiele die Mitte der Verteilungskurve bilden. In unserem Fall aber sind gerade die Merkmale, die aus der antiken griechischen Gesellschaft einen »Ausreißer« machen, von großem Interesse, weil der »Ausreißer« in frappierender Weise unserer Normalität ähnelt und weil er von großer normativer Bedeutung für uns ist. Vielleicht war die politische Ökologie der Stadtstaaten tatsächlich von Anfang an, wie W. G. Runciman(1) annimmt, »zum Untergang verdammt«, weil die griechischen Stadtstaaten »ausnahmslos viel zu demokratisch waren.«6 Dennoch hatte das stadtstaatliche Netzwerk immerhin auffallend lange Zeit Bestand, bevor es ausstarb. Auch die Großreiche der Antike, meistens ohnehin viel kurzlebiger als die griechischen Stadtstaaten, sind alle untergegangen. Wenn Demokratie uns etwas bedeutet und wenn der Ausnahmefall einer demokratischen Gesellschaft im Altertum tatsächlich außergewöhnliche Parallelen zur Moderne aufweist, dann muss uns sehr daran gelegen sein zu erfahren, ob so etwas wie Griechenlands »Untergang« vielleicht auch uns bevorsteht. Wenn dem nicht so ist, dann sollten wir auch dafür die Gründe kennen und begreifen.

Die dritte Behauptung beruht auf der Voraussetzung, Gesellschaften seien eigentlich überhaupt nicht miteinander vergleichbar, weil jede Gesellschaft andersartig, also eigener Natur sei. In seiner starken Version negiert dieses historistische Argument die Quantifizierung und konzentriert sich auf die besonderen Umstände der untersuchten Gesellschaften und ihrer kulturellen Erzeugnisse.7 In der historistisch vergleichenden Analyse werden vor allem Unterschiede betont, wobei hervorgehoben wird, wie aussichtslos fremdartig jede Gesellschaft erscheint, sobald man sie aus dem Blickwinkel einer anderen betrachtet. Der Vergleich von Ähnlichkeiten ergebe dabei, so diese Sichtweise, nur Scheinanalogien. Der historistische Ansatz ist allerdings unvollständig, sofern sich Muster menschlichen Verhaltens in allen Gesellschaften – auch in zeitlich und räumlich weit auseinanderliegenden – grundsätzlich gleichen. Die Sozialwissenschaften gehen wie die Naturwissenschaften davon aus, scheinbar disparate Phänomene prinzipiell auf Regeln zurückführen zu können, die allen gleichermaßen zugrundeliegen. Die heutige Gesellschaftswissenschaft ermisst großteils die Ursachen beobachteter sozialer, politischer und ökonomischer Erscheinungen auf der Basis vereinzelter »Mikrofundierungen«. Dabei werden minimale und mindestens prinzipiell überprüfbare Annahmen über die Beweggründe individuellen und kollektiven menschlichen Handelns unter spezifizierbaren Bedingungen untersucht.

Das vorliegende Buch ist sowohl historisch wie sozialwissenschaftlich ausgerichtet. Als Geschichtsdarstellung hat es sozusagen mittlere Reichweite, weil es weder Welt- noch Lokalgeschichte darstellt, weder Makro- noch Mikrohistorie bietet. Ich versuche mich hier nicht an der weltgeschichtlichen Bandbreite und umfassenden Generalisierung neuerer »Groß-Geschichten«, die sich mit Veränderung und Kontinuität in einem Äon von Zehntausenden oder gar Millionen Jahren befassen.8 Vielmehr geht es mir darum, Veränderung und Kontinuität in einer bestimmten Gesellschaft mit mehreren Millionen Einwohnern und in etwa tausend Einzelstaaten in einem Zeitraum von einigen Jahrhunderten zu erklären. Mitunter werde ich ausführlicher auf die Taten einzelner Gesetzgeber oder Führungspersönlichkeiten eingehen, aber meist bemühe ich mich, kollektives Handeln sowohl auf einzelstaatlicher wie auf zwischen- und multistaatlicher Ebene zu erklären. Mein Ansatz verallgemeinert folglich viel stärker als eine Lokal- oder Mikrohistorie.9

Auch als sozialwissenschaftlicher Ansatz hat dieses Buch mittlere Reichweite und bedient sich sowohl quantitativer wie qualitativer Methoden. Meine Argumentation beruht zum Großteil auf quantifizierten Daten. Meine Analyse der geschichtlichen Entwicklung des griechischen Wirtschaftswachstums ist zwangsläufig quantitativ. Meiner Ansicht nach sind hier wesentliche Fortschritte möglich, wenn man sich der Datensätze bedient, die ich mit Kollegen und Studierenden zusammengetragen habe. Diese Daten beruhen wiederum auf neueren monumentalen Sammlungen, die für die Ökologie antiker griechischer Stadtstaaten maßgeblich sind. Außerdem bediene ich mich zuweilen einfacher spieltheoretischer Modelle, die auf solide etablierte sozialwissenschaftliche Theorien über politisches Verhalten und politische Entwicklung zurückgehen. Obwohl nur ein Spielmodell vollständig ausgeführt wird (Anhang II), darf sich der Leser im ganzen Buch die sozialen Beziehungen im antiken Griechenland in Form von Spielen vorstellen, deren Hintergrundregeln die einzelnen Spieler dazu bringen, vergleichsweise kooperative Entscheidungen zu fällen. Das Zusammenspiel dieser prosozialen Entscheidungen war das »Zünglein an der Waage«. Es führte im klassischen Griechenland zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum.

Bei der Untersuchung komplexer Fragestellungen langfristiger sozialer Entwicklungen in Gesellschaften der fernen Vergangenheit kann man unmöglich eine saubere Identifikationsstrategie verfolgen: Wir müssen streng zwischen unabhängigen (erklärenden) und abhängigen Variablen unterscheiden und Hypothesen in der Praxis, im Labor oder durch Umfragen überprüfen. Meine Daten sind daher unweigerlich mit einer gewissen Grundfehlerquote behaftet, die allerdings, wie ich darlegen werde, nicht so hoch ist, dass sie keine gültigen Schlussfolgerungen zuließe. Allgemeiner gesagt sind die von mir untersuchten Sozialsysteme komplex genug und die Zeiträume lang genug, um das in den Sozialwissenschaften so bezeichnete Problem der Endogenität auftreten zu lassen. Endogen kommt aus dem Griechischen und bedeutet »im Inneren erzeugt«. In den Sozialwissenschaften wird mit dem Problem der Endogenität eine Rückkopplung zwischen Ursache und Wirkung bezeichnet. Viele meiner Ergebnisse beruhen teilweise auf der qualitativen Analyse literarischer und dokumentarischer Quellen. Meine Schlussfolgerungen gehen davon aus, quantitative und qualitative Methoden so zusammenführen zu können, dass sie stringent genug sind, um den Anforderungen einer Kausalerklärung zu genügen.10

Mein Ziel ist es, mit den Methoden des Historikers und des Sozialwissenschaftlers zwei Phänomene zu erklären. Beide Phänomene erscheinen mir im Hinblick auf das größere Projekt, außergewöhnliche politische und wirtschaftliche Umstände zu analysieren, besonders relevant: erstens das anhaltende wirtschaftliche und kulturelle Wachstum der griechischen Welt von 1000 v. Chr. bis 300 v. Chr., den »Aufstieg des klassischen Griechenland«. Das zweite Phänomen ist »der Niedergang des klassischen Griechenland«, die Niederlage einer Koalition von griechischen Stadtstaaten gegen das (1)(2)makedonische Königreich Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. Mit diesem Ereignis endete die Epoche, in der souveräne Stadtstaaten den Lauf der Geschichte am (1)Mittelmeer bestimmten. Den wirtschaftlichen Aufschwung erkläre ich, indem ich die Entwicklung der demokratischen Institutionen und der politischen Kultur in einer Umwelt zwischenstaatlicher und zwischenmenschlicher Konkurrenz und rationaler Zusammenarbeit nachverfolge. Ich zeige auf, wie und warum die politische Entwicklung zu außergewöhnlich hohen individuellen und kollektiven Investitionen in Humankapital, hohen Standards wirtschaftlicher Spezialisierung und Austauschs, ständiger technischer und institutioneller Innovation, starker Mobilität von Menschen und Ideen, niedrigen Transaktionskosten und bereitwilligem Transfer von Gütern und Ideen führte. Die Rolle, die dieselben politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen dann im politischen Niedergang spielten, wird davon klar unterschieden.

Aufstieg und Niedergang des klassischen Griechenland lassen sich durchaus ohne Rekurs auf einen mystischen hellenischen Geist und ohne unbegründete Annahmen inhärenter Unterschiede zwischen den Völkern des Ostens und des Westens erklären.11 Die Antworten darauf, wie und warum Griechenland aufstieg, fiel und im kulturellen Weltgedächtnis überdauerte, sind in sich von Interesse. Sie sind von tragender Bedeutung für die zentralen Fragestellungen der Sozialwissenschaften, einschließlich im Hinblick auf das Problem gemeinschaftlichen Handelns ohne zentrale Autorität und hinsichtlich der Rolle politischer Institutionen innerhalb der Wirtschaftsentwicklung, und damit auch für einige der größten Herausforderungen und vielversprechendsten Möglichkeiten, mit denen Bürger demokratischer Gesellschaften in unserer eigenen dezentralisierten Welt gegenwärtig konfrontiert sind.

In den folgenden Kapiteln stelle ich zunächst die Frage nach dem Grund von Griechenlands Aufstieg und Niedergang und lege anschließend neues Datenmaterial vor, um sie zu beantworten. Diese neuen Belege zeigen, wie weit sich Griechenland vom Zeitalter Homers(1) bis in die Ära von Aristoteles(1) sowohl politisch wie wirtschaftlich fortentwickelt hatte. Ich formuliere neue Hypothesen zur Spezialisierung und Innovation, um sowohl Aufstieg als auch Niedergang mit Hilfe eines kausalen Zusammenhangs zwischen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu erklären. Anschließend biete ich eine neue chronologisch zusammenhängende Schilderung der griechischen Geschichte von der frühen Eisenzeit bis in die Epoche des Hellenismus. Dieses Narrativ erweitert und überprüft die hypothetischen Erklärungsversuche. Mit Blick auf die bedeutenden wie die weniger wichtigen griechischen Stadtstaaten erklärt die so entfaltete Geschichtsdarstellung: Wie gelang es der Stadtstaaten-Ökologie, über so lange Zeit hinweg derart dramatisch anzusteigen? Wie wurde sie schließlich erobert? Wie wurde die griechische Kultur zur Weltkultur?

Kapitel 1 stellt also zunächst das Rätsel der Ausnahmestellung Griechenlands vor. Die Kapitel 2 bis 4 zeichnen die Umrisse der dezentralisierten Ökologie aus Hunderten kleiner Staaten nach; entwickeln eine Theorie, wie sich hochrangige Zusammenarbeit und damit politische Stabilität ohne zentrale Führungsinstanz herausbilden kann; und dokumentieren das Wirtschaftswachstum im antiken Griechenland. In Kapitel 5 werden zwei wesentliche Faktoren dieses Wachstums benannt: Erstens das Aufkommen gerechter Regeln, die es ermöglichten, in Humankapital zu investieren und die Transaktionskosten niedrig zu halten; und zweitens die Konkurrenz zwischen einzelnen Individuen und Staaten, die zu ständiger institutioneller wie technischer Innovation führte und rationale Zusammenarbeit motivierte.

Kapitel 6 bis 9 schildern dann den Aufstieg des klassischen Griechenland: die historische Entwicklung der bürgerzentrierten Politik und des Wirtschaftswachstums von Homer(2) bis Aristoteles(2). Dabei konzentrieren wir uns auf einige besonders erfolgreiche und wichtige Stadtstaaten, befassen uns aber auch mit der historischen Entwicklung weniger herausragender und mächtiger Verbünde. Der Aufstieg von Hellas wird hinsichtlich der Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Athen(1), Sparta(1) und Syrakus(1) und der jeweils besonderen Geschichtsverläufe in vielen griechischen Staaten unterschiedlicher Größe und Bedeutung erhellt. Ein Vergleich der inneren Entwicklung großer und kleiner Stadtstaaten zeigt, wie innovative politische Institutionen und Kultur die Spezialisierung anregten und kreative Zerstörung anfachten. Dass Athen seine Hegemonie über den Attischen Seebund im fünften Jahrhundert v. Chr. nicht aufrechterhalten konnte, demonstriert, wie widerstandsfähig die dezentrale griechische Sozialökologie war. Die Bevölkerungsdichte und das hohe Pro-Kopf-Einkommen im postimperialen Zeitalter hingegen zeigen, dass ein Imperium keine Vorbedingung für anhaltendes Wirtschaftswachstum war.

Kapitel 10 erzählt den politischen Niedergang Griechenlands und zeigt, wie die Errungenschaften der griechischen Spezialisierung, besonders das militärische und finanzielle Fachwissen, von Staatsführern an den Grenzen der griechischen Welt aufgenommen wurden. Darüber hinaus zeigt dieses Kapitel, wie Philipp(1) und Alexander(1) von Makedonien(3), die talentiertesten dieser unternehmungslustigen Opportunisten, die Ära unabhängiger Stadtstaaten beendeten, die den Verlauf der griechischen Geschichte bestimmt hatte.

Kapitel 11 schließt das vorliegende Buch ab mit einer Erklärung der überraschenden Widerstandsfähigkeit der Polis-Ökologie und der anhaltend starken Wirtschaftsleistung auch in der nachklassischen Zeit. Weil Hellas nach dem politischen Niedergang der großen unabhängigen Stadtstaaten nicht zusammenbrach, hat sich das Andenken an die politische Ausnahmestellung Griechenlands als Teil des Weltkulturerbes erhalten. Das klassische Griechenland bleibt daher eine Quelle für Theoretiker dezentraler Sozialordnungen. Das antike Griechenland ist und bleibt eine Inspiration und ein Exempel für alle, die eine bürgerzentrierte Politik stärken möchten.

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Karte 1: Die 45 Regionen der griechischen Welt(1)(1)(1)(1)(1)(1)(2)(1)(1)(1)(1)

Erläuterung zu Karte 1: Die 45 Regionen der griechischen Welt

Die Regionen (mit Zahlen auf der Karte markiert) entsprechen der Reihenfolge im Inventory und umfassen die 907 exakt oder plausibel lokalisierbaren der 1035 insgesamt aufgeführten Poleis. Die Nummern sind die des Inventory. Siehe auch Anhang I. Bekannte oder plausibel vermutete Orte einzelner Poleis: http://polis.stanford.edu/. Die meisten im Inventory aufgeführten Poleis existierten auch noch im späten 4. Jh. v. Chr.; einige waren damals allerdings bereits untergegangen. 128 von 1035 Poleis des Inventory ließen sich für eine Eintragung auf der Karte nicht genau genug lokalisieren. Region 1 liegt außerhalb des Kartenausschnitts; für die betreffenden Poleis der Region 1 siehe Karte 3.

Zahlenschlüssel

Schema: Nummer der Region (Inventory-Nummern der Poleis), Name der Region

 1   (1–4)   Spanien(1) und Frankreich(1)

 2   (5–51)   Sizilien(1)

 3   (52–74)   Italien(3) und Kampanien(1)

 4   (75–85)   Adriatisches Meer(1)

 5   (86–111)   Epeiros(1)

 6   (112–141)   Akarnanien(1) und Umgebung

 7   (142–156)   Aitolien(1)

 8   (157–168)   Lokris(1), westlicher Teil

 9   (169–197)   Phokis(1)

10   (198–223)   Böotien(1)

11   (224–228)   Megaris(1), Korinth(1), Skiyonien(1)

12   (229–244)   Achaia(1)

13   (245–265)   Elis(1)

14   (266–303)   Arkadien(1)

15   (304–311)   Triphylien(1)

16   (312–322)   Messenien(1)

17   (323–346)   Lakedaimonien(1) (Lakonien)

18   (347–357)   Argolis(1)

19   (358–360)   Saronischer Golf(1)

20   (361–364)   Attika(1)

21   (365–377)   Euboia(1)

22   (378–388)   Lokris(2), östlicher Teil

23   (389–392)   Doris(1)

24   (393–470)   Thessalien(1) und Umgebung

25  (471–527)   Ägäisches Meer

26  (528–544)   Makedonien(4)

27  (545–626)   Thrakien(1): Axios(1) – Strymon(1)

28  (627–639)  THRAKIEN: STRYMON – NESTOS

29  (640–651)   Thrakien(2): Nestos(2) – Hebros(1)

30  (652–657)   Thrakien(3): Binnenland

31  (658–672)   Thrakischer Chersones(4)

32  (673–681)   Propontis(1): Thrakische Küste

33  (682–734)   Schwarzes Meer(2)

34  (735–764)   Propontis(2): Kleinasiatische Küste

35  (765–793)   Troas(1)

36  (794–799)   Lesbos(1)

37  (800–835)   Aiolis(1) und südwestliches Mysien(1)

38  (836–869)  (1)Ionien(2)

39  (870–941)   Karien(1)

40  (942–943)   Lykien(1)

41  (944–992)   Kreta(1)

42  (993–1000)   Rhodos(1)

43  (1001–1011)   Pamphylien(1) und Kilikien(1)

44  (1012–1021)   Kypros(1)

45  (1022–1035)   Syrien(1) – Säulen des Herakles(1)

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Karte 2: Die griechische Welt im geographischen Zusammenhang(1)(1)(1)(2)(1)(1)(1)(1)(1)(1)(5)(2)(1)(1)(1)(1)(1)(1)(2)(1)

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Die Blüte des klassischen Griechenland

»Fair Greece, sad Relic«

Im Jahr 1812 erschien ein Gedicht Lord Byrons(1), das den Dichter zum Helden einer dem Romanhaften zugeneigten Welt an der Schwelle zur Moderne machte. Es enthielt folgende besonders treffende Verszeilen:

Fair Greece! sad relic of departed worth!

Immortal, though no more! though fallen, great!1

Du düstrer Rest verschwundner Herrlichkeit,

Unsterblich selbst im Staub, gestürzt noch groß!2

Mit nur vierzehn Wörtern hatte Byron(2) den scharfen Kontrast zwischen der griechischen Antike und der griechischen Gegenwart erhellt, wie er sie auf seinen Reisen 1809 und 1810 erlebt hatte. Byron verfügte über fundierte Griechenlandkenntnisse; als gebildeter britischer Edelmann hatte er die Klassiker gelesen und kannte als unerschrockener Reisender das Land aus eigener Anschauung. Zu Byrons Zeiten hatten die Griechen drei entbehrungsreiche Jahrhunderte als Untertanen des Osmanischen Reichs erlitten, und jetzt stürzten sich europäische Kunstsammler auf ihre nationalen Schätze; aber bereits im zweiten Jahrhundert n. Chr., als Pausanias(1), ein griechischer Reiseschriftsteller der römischen Kaiserzeit, die Altertümer Griechenlands beschrieb, war es ein »relic of departed worth«. Weder Byron noch Pausanias konnten ahnen, dass Griechenland zu Beginn des 20. Jahrhunderts das ärmste Land Europas sein würde, dass es im frühen 21. Jahrhundert, zweihundert Jahre nach Byrons unsterblichen Versen, noch trauriger dran sein würde – zerfressen von einer politischen und wirtschaftlichen Krise, die Millionen Griechen ins Elend stürzen und die finanzielle Stabilität ganz Europas bedrohen sollte.3

Byrons(3) Vision von Größe war durch die Errungenschaften der griechischen Antike inspiriert – in Kunst und Architektur, in der Literatur, der darstellenden Kunst und auf dem Theater, in Wissenschaft und Moralphilosophie. Eine Generation später veröffentlichte der britische Bankier und Gelehrte George Grote(1) seine umfangreiche History of Greece (Geschichte Griechenlands, 12 Bände, 1846–1856). Dieses monumentale Werk veranlasste die englischsprachige Welt, die Größe des antiken Griechenland im Sinne einer einmaligen Kombination von Werten und Institutionen zu definieren: Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Würde – in Verbindung mit dem Streben nach vernünftigem Handeln, kritischem Denken und Innovation.

Trotz seiner Kürze und seines eingeschränkten Rahmens lässt Byrons(4) romantisches Reimpaar mit seinem scharfen Kontrast zwischen den Schicksalen des antiken und modernen Griechenland und mit seinen explosiven Ausrufungszeichen unvergleichlich das Rätsel erahnen, das mit dem vorliegenden Buch erklärt werden soll: Wie und warum gelang es den Griechen der Antike, eine Kultur zu schaffen, die für die moderne Welt von zentraler Bedeutung wurde? Wenn Hellas früher einmal groß gewesen war, warum dauerte diese Größe nicht an? Warum blieb Griechenland, nachdem es gefallen war, so herausragend und so lange Zeit im Gedächtnis?

Diese Fragen sind auch im 21. Jahrhundert noch von hoher Bedeutung, und man kann sie durchaus beantworten. Hellas – die griechische Welt der Antike, die sich bereits vor den Eroberungen Alexanders(2) des Großen im Osten bis in die westlichen Randgebiete Asiens, im Norden bis an die Küsten des Schwarzen Meeres(3), im Süden bis nach (1)Nordafrika und im Westen bis ins heutige Italien(4), Frankreich(2) und Spanien(2) erstreckte, war tatsächlich groß. Hellas war groß aufgrund einer kulturellen Leistung, die durch dauerhaftes Wirtschaftswachstum getragen wurde. Dieses Wachstum wiederum wurde durch einen besonderen Politikstil ermöglicht.

Klassische griechische Blüte

In einer geistvollen Streitschrift gegen die Angewohnheit, die Weltgeschichte in einander gegenüberstehende Phasen wirtschaftlicher Stagnation und modernen Wachstums einzuteilen, hat der Historische Soziologe Jack Goldstone(1) auf eine Anzahl vormoderner Gesellschaften hingewiesen, die mehr oder weniger ausgedehnte Perioden der Blüte erlebten – gesteigertes Wirtschaftswachstum, das mit einem starken Aufschwung kultureller Errungenschaften einherging. Kennzeichen einer solchen Blüte sind mehr Menschen (Bevölkerungswachstum), die einen höheren Lebensstandard haben (höheres Durchschnittseinkommen) sowie kulturelle Produktion auf höherem Niveau. Diese zeigt sich nicht nur an Reichtümern, die in den Schatzkammern der Paläste angehäuft werden, oder an monumentaler Bautätigkeit. Solche Kapitalkonzentrationen in staatlicher Hand und große Bauprojekte können mit einem dramatischen Anwachsen von Bevölkerung, Wohlstand und Kultur einhergehen, müssen es aber nicht.

Blüte als solche ist definitionsgemäß nicht von Dauer, aber manche Blütezeiten sind dramatischer und dauern länger als andere. Die Moderne – die Erfahrung der seit Beginn des 19. Jahrhunderts industrialisierten Staaten – ist die dramatischste, aber (noch) nicht die längste Blütezeit der menschlichen Geschichte. Vorerst muss die Frage offen bleiben, ob die historisch außergewöhnliche Wachstumsrate der Wirtschaft in einigen Teilen der Welt während der letzten zweihundert Jahre nur die neueste und (um mehrere Größenordnungen) größte einer langen Reihe von Blütezeiten darstellt, oder ob »diesmal alles anders ist« und die Moderne somit eine grundsätzliche und dauerhafte Umorientierung in der Geschichte der Menschheit ist. Goldstone(2) konzentriert sich auf Blütezeiten nach 1400, aber er merkt dabei an, dass das klassische Griechenland zu den wenigen Gesellschaften gehört habe, die schon lange vor diesem Datum eine Blütezeit erlebt hatten.4

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Abbildung 1.1: Entwicklungsindex für das griechische Kernland von 1300 v. Chr. bis 1900 n. Chr.

Der Entwicklungsindex multipliziert eine geschätzte Einwohnerzahl (in Millionen) mit dem Median des geschätzten Pro-Kopf-Verbrauchs (als Vielfaches des Existenzminimums). Die Schätzwerte für Bevölkerung und Verbrauch werden in den Kapiteln 2 und 4 besprochen und in Abbildung 4.3 detailliert dargestellt.

Griechisches Kernland: das vom griechischen Staat zwischen 1881 und 1912 kontrollierte Gebiet (Inventory-Regionen 6 bis 25, siehe Karte 1).

LBA: Späte Bronzezeit; EIA: Frühe Eisenzeit; FH: frühhellenistisch; SH: späthellenistisch; FR: frührömisch; SR: spätrömisch; FB: frühbyzantinisch; MB: mittelbyzantinisch; SB: spätbyzantinisch; FO: frühosmanisch; SO: spätosmanisch; UG: unabhängiges Griechenland.

Die Blüte Griechenlands, die um 300 v. Chr. ihren Höhepunkt erreichte, dauerte mehrere Jahrhunderte an, von der archaischen über die klassische bis in die hellenistische Periode der griechischen Geschichte. Abbildung 1.1 beruht auf Belegen, die in Kapitel 4 präsentiert werden, und illustriert die Blüte anhand der wirtschaftlichen Entwicklung (gemessen an Bevölkerung und Verbrauch) im griechischen Kerngebiet von der späten Bronzezeit bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Weil nach der hier verwendeten Definition das griechische Kerngebiet nur den Bereich des unabhängigen Griechenland am Ende des 19. Jahrhunderts umfasst, zeigt das Schaubild tatsächlich eine zu niedrige0005