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North Bath, Upstate New York, Mitte der Achtziger: Donald Sullivan, von allen nur Sully genannt, führt ein bequemes Leben in der verschlafenen Kleinstadt. Obwohl er geschieden ist, sein kaputtes Knie ihm immer wieder Ärger macht und er seit Langem eine Affäre mit einer verheirateten Frau hat, ist er mit seinem Leben zufrieden. Schon immer hat er sich gründlich vor jeder Verantwortung gedrückt – ob als Ehemann, als Vater oder als Untermieter seiner ehemaligen Highschool-Lehrerin. Jetzt holt ihn der Ernst des Lebens ein: Denn nicht nur sein Enkel, der aus einer zerstrittenen Familie flieht, braucht auf einmal seine Hilfe. Mit leiser Ironie und viel Verständnis für die Verrücktheiten seiner kauzigen Figuren erzählt Richard Russo vom Amerika der kleinen Leute. ›Ein grundzufriedener Mann‹ ist die Neuausgabe eines Klassikers: Mit diesem Buch, das unter dem Originaltitel ›Nobody’s Fool‹ mit Paul Newman verfilmt worden ist, etablierte sich Richard Russo in der ersten Riege amerikanischer Romanciers. Jetzt liegt das Werk erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vor.

»Ein großes, lustiges, sehr menschliches und wortmächtiges Buch, das einen auf den ersten Seiten zu fassen kriegt und nicht mehr loslässt.« Financial Times

Autor

© Elena Seibert

Richard Russo, geboren 1949 in Johnstown, New York, studierte Philosophie und Creative Writing und lehrte an verschiedenen amerikanischen Universitäten. Für ›Diese gottverdammten Träume‹ (DuMont 2016) erhielt er 2002 den Pulitzer-Preis. Bei DuMont erschien außerdem 2010 ›Diese alte Sehnsucht‹. In seinem jüngsten Roman ›Ein Mann der Tat‹ (2017) kehrt der Autor zurück zu den Helden aus ›Ein grundzufriedener Mann‹. Russo lebt mit seiner Familie in Boston und an der Küste Maines.

Barbara Först übersetzt seit zwanzig Jahren aus dem Englischen, u. a. Rosie Blake, Thomas Gifford und John Naish. Sie lebt in Köln.

Richard Russo

Ein
grundzufriedener
Mann

Roman

Aus dem Englischen
von Barbara Först

TEIL EINS

Mittwoch

Die Upper Main Street im Städtchen North Bath durchquert zunächst das Geschäftsviertel, verläuft dann zwei weitere Blocks durch ein ruhiges Wohnviertel, um schließlich entlang der alten Bundesstraße 27A zu einer Art Landstraße zu werden. Die 27A, eine zweispurige geteerte Serpentinenstrecke, windet sich durch die Adirondacks im Norden des Staates New York, führt durch winzige heruntergekommene Erholungsorte und endet schließlich im reicheren Norden in Montreal. Die Häuser an der Upper Main, wie sie von den Einheimischen genannt wird – obwohl die Hauptstraße von ihrem »unteren« Ende am IGA-Supermarkt bis zum Tiefkühlshop am »oberen« Ende kaum eine Viertelmeile zählt –, sind zum größten Teil Fossilien: schindelgedeckte Gebäude aus viktorianischer Zeit oder massige nachgeäffte Griechentempel, die auf der anderen Seite der Grenze – in Vermont – einiges wert wären, hier aber ihren Wert eingebüßt haben, weil sie von Anfang an als Zwei- oder gar Dreifamilienhäuser entworfen oder dazu umgebaut worden sind und über Jahrzehnte hinweg als Einzelwohnungen vermietet wurden, ohne renoviert zu werden. Doch die Upper Main ist nicht wegen ihrer Häuser, sondern der Bäume wegen beeindruckend – eine wahre Parade uralter Ulmen, deren oberste Äste sich sowohl über die steilen Dächer der ehrwürdigen Gebäude als auch über die Straße wölben, sodass man den Eindruck hat, sich in einer grünen Kathedrale zu befinden. Die Schatten des windbewegten Laubs verbergen den rissigen Anstrich der Fassaden und verleihen den krummen Veranden und schiefen Giebeln trotz des allgemeinen Verfalls ein pittoreskes Aussehen. Wenn Durchreisende aus den Großstädten auf dem Weg nach Norden hier die Interstate verlassen, weil sie etwas zum Essen oder Benzin brauchen, fahren sie meist in gemächlichem Tempo durchs Städtchen, spähen wehmütig zu den alten Häusern hoch und geben sich müßigen Gedanken hin: Wie teuer mögen die Gebäude wohl sein, wie sind sie eingerichtet und was für ein Gefühl ist das wohl, in einem dieser Gemäuer zu wohnen und im Schatten der Bäume ins Städtchen zu laufen? Das müsste doch ein geruhsames Leben sein. Und einige der Autofahrer denken dann auf dem Heimweg nach einem langen Wochenende kurz darüber nach, ob sie einmal einen Blick auf die Immobilienanzeigen werfen sollten. Dann aber fällt ihnen ein, wie schwer die Ausfahrt zu finden ist, wie ungünstig North Bath vom Highway zu erreichen ist, sodass sie nun viel später als geplant in die Stadt zurückkommen werden. Ja, und den Kindern auf dem Rücksitz ist nur schwer zu erklären, warum sie jetzt einen solchen Umweg gemacht haben, nur um ein kurzes Stück der Allee entlangzufahren, bevor man wieder umdreht und auf die Interstate zurückfährt. Sie wissen doch, dass solche Städtchen hübsche grüne Gräber sind – und so wird der Impuls, einen zweiten Blick auf North Bath zu werfen, wortlos unterdrückt, und die Autos fahren in unvermindertem Tempo an der Ausfahrt zum Städtchen vorbei.

Vermutlich ist das klug gehandelt, denn die Schönheit des langen Bogens riesiger Ulmen trügt, wie die Menschen, die unter den Bäumen hausen, wohl bezeugen können. Lange Zeit waren die Bäume der Stolz der Bewohner gewesen, denn auf geheimnisvolle Weise waren sie der Plage des Ulmensterbens entronnen. Doch seit wenigen Jahren scheinen auch sie vom Unheil befallen zu werden. Im Winter 1979 wütete ein furchtbarer Schneesturm, und im folgenden Sommer hingen an fast der Hälfte der Bäume die Blätter schlaff herab, sie verfärbten sich gelblich und fielen schon während der Hundstage im August herab statt in der zweiten Oktoberhälfte. Man berief Experten, es erschienen drei Lastwagen – jeder mit einem Logo vom Glücklichen Baum versehen –, und die jungen Männer, die aus den Wagen stiegen, trugen weiße Kittel wie Ärzte. Sie schlenderten um jeden einzelnen Baum, kratzten an der Rinde, schlugen mit Hämmern auf den Stamm, als suchten sie verborgene Kammern, hoben aus dem Rinnstein verrottende Blätter als Muster auf und hielten sie gegen das Licht, das nun am Nachmittag immer schwächer wurde.

Ein weiß gekittelter Mensch bohrte ein Loch in die Ulme, die vor Beryl Peoples’ vorderer Veranda stand, steckte seinen behandschuhten Zeigefinger in das Loch, kostete und verzog das Gesicht. Mrs Peoples, eine achtzigjährige Lehrerin im Ruhestand, hatte, seit die Lastwagen angekommen waren, hinter den Vorhängen in ihrem Vorderzimmer gestanden und den Mann beobachtet. Nun schnaubte sie verächtlich: »Wie soll denn das wohl schmecken?«, sagte sie laut. »Nach Erdbeertörtchen vielleicht?« Beryl Peoples, »Miss Beryl«, wie fast jeder in North Bath sie nannte, lebte nun schon lange genug allein, um an den Klang der eigenen Stimme gewöhnt zu sein, und sie machte nicht immer einen klaren Unterschied zwischen der Stimme, die sie beim Sprechen hörte, und der, die sie beim Denken vernahm. Für sie war das ein und dieselbe Person, und es machte sie so wenig verlegen, zu sich selbst zu sprechen, wie für sich allein zu denken, denn sie war ziemlich sicher, dass sie nicht die eine Stimme zum Schweigen bringen konnte, ohne die andere ebenfalls verstummen zu lassen – und daran hatte sie keinerlei Interesse, solange sie noch so vieles zu sagen hatte, auch wenn der einzige Mensch, der ihr zuhörte, sie selbst war.

Zum Beispiel hätte sie gerne diesem jungen Mann, der an seinem Handschuh gekostet und das Gesicht verzogen hatte, erklärt, dass er in ihren Augen ein typischer Vertreter dieser irregeleiteten Zeit sei; denn wenn es ein immer wiederkehrendes Motiv in der heutigen Welt gab – einer Welt, mit der Schritt halten zu können die achtzigjährige Miss Beryl allmählich bezweifelte –, so war es die ungenierte Offenheit. »Wie willst du denn wissen, wie’s ist, wenn du’s nie versucht hast?«, so pflegten es die jungen Leute auszudrücken. Nach Miss Beryls Denkweise – und sie selbst lobte sich als eine Art Freigeist – konnte man oft etwas vorhersagen, wenn man sich nur Zeit nahm, die Dinge genau anzuschauen; doch der junge Mann, der gerade an dem Baum gekostet hatte und davon angeekelt das Gesicht verzog, hatte ebenso wenig Grund, enttäuscht zu sein, wie ihre Freundin Mrs Gruber, die im großen Speisesaal vom Northwoods Motor Inn mit lauter Stimme verkündet hatte, dass die Schnecke, die sie gerade in ihre Serviette gespien hatte, ihr weder vom Geschmack noch von der Konsistenz her besonders zusagte. Miss Beryl hatte ungerührt zugesehen, wie ihre Freundin den Mund verzog. »So wie das aussieht – wie hast du denn glauben können, dass es schmeckt?«

Mrs Gruber hatte ihr keine Antwort gegeben. Nachdem sie die Schnecke in die Serviette gespuckt hatte, bestand im Augenblick ihr größtes Problem darin, wie sie nun die Serviette loswerden sollte.

»Sie war grau und schleimig und sah einfach widerlich aus«, gab Miss Beryl zu bedenken.

Mrs Gruber stimmte dieser Beschreibung zwar kleinlaut zu, erklärte dann aber, es sei nicht so sehr die Schnecke selbst als vielmehr der Name gewesen, der sie gereizt habe. »Sie heißen doch auf Französisch escargot«, sagte sie, während sie verstohlen ihre besudelte Stoffserviette auf den Tisch legte und vom nächsten Tisch eine frische nahm. »Escargot.«

Im Englischen gebe es auch ein Wort dafür, hatte Miss Beryl gekontert. Snail. Hühnerdreck mochte auf Französisch auch anders heißen, aber das hieß noch lange nicht, dass man ihn nach Gottes Willen auch verzehren musste.

Dennoch war die achtzigjährige Beryl Peoples stolz auf ihre Freundin, die so mutig eine Schnecke gekostet hatte, und sie musste zugeben, dass Mrs Gruber wagemutiger war als die meisten Leute, einschließlich zweier Menschen mit Namen Clive – mit dem einen war sie verheiratet gewesen, den anderen hatte sie in die Welt gesetzt. Gab es einen Mittelweg zwischen dem Sinn für Abenteuer und dem einfachen gesunden Menschenverstand? Dies war eine der Grundfragen der menschlichen Existenz.

Der junge Mann, der vom Innenleben der Ulme gekostet hatte, müsse noch dümmer sein als Mrs Gruber, sagte sich Miss Beryl, denn kaum hatte er das Gesicht verzogen, da zog er auch schon seinen Arbeitshandschuh aus, steckte den Finger wieder ins Loch und probierte von Neuem – vermutlich wollte er feststellen, ob der faulige Geschmack von dem Baum oder von den Handschuhen herrührte. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen war es doch der Baum.

Ein paar Minuten später sammelten die weiß gekittelten Herren ihr Werkzeug ein und luden es wieder in die Lastwagen. Miss Beryl, nun neugierig geworden, trat auf die Veranda hinaus und starrte sie boshaft an, bis einer der Männer zu ihr kam und sie mit einem »Howdy« grüßte.

»Doody«, erwiderte Miss Beryl.

Der junge Mann starrte sie nur an.

»Wie lautet das Urteil?«, fragte Miss Beryl.

Der junge Mann zuckte die Achseln, bog seinen Oberkörper zurück und blickte in das Gitter aus schwarzen Zweigen hinauf. »Sie sind einfach nur alt, weiter nichts«, erklärte er und wandte sich wieder Miss Beryl zu, mit der er ungefähr auf Augenhöhe war, ungeachtet der Tatsache, dass er auf der untersten Stufe ihrer Treppe stand und sie auf der obersten. »Teufel noch mal, der hier« – und er wies auf Miss Beryls Ulme –, »wenn das ein Mensch wär, dann müsste er glatt achtzig sein.«

Der junge Mann hatte diese Bemerkung offenbar ohne Hintergedanken gemacht, obwohl die winzige Frau mit dem Rücken, der gekrümmt war wie ein Ellbogen, nach diesem Vergleich eindeutig ein Zeitgenosse des Baums war. »Wir könnten vielleicht noch ein paar Vitamine reinpumpen«, fuhr er fort, »aber …« Bedeutungsvoll ließ er den Satz in der Schwebe, offenbar voller Zuversicht, dass Miss Beryl ausreichende geistige Fähigkeiten besitze, um seinen unausgesprochenen Gedanken zu folgen. »Einen schönen Tag noch«, schloss er, kehrte zu seinem Lastwagen mit dem Glücklichen-Baum-Logo zurück und brauste davon.

Falls das »Reinpumpen« irgendeine Wirkung zeigte, so war dies nach Miss Beryls Meinung eher eine verheerende: Im gleichen Winter noch brach ein gewaltiger Ast von Mrs Boddickers Ulme unter der Last von Schnee und Eis wie ein spröder Knochen entzwei und krachte hernieder, jedoch nicht auf Mrs Boddickers Dach, sondern auf das ihrer Nachbarin, Mrs Merriweather, wobei der Kamin der Merriweathers auf einen Schlag heruntergefegt wurde. Der Kamin seinerseits fiel auf das steinerne Vogelbad von Mrs Gruber – jener Mrs Gruber, die von der Schnecke so enttäuscht gewesen war – und verwandelte es in einen Trümmerhaufen. Seit jenem ersten Zwischenfall hatte es jeden Winter alarmierende Unfälle gegeben, und die Bewohner der Upper Main hatten es sich inzwischen angewöhnt, den Baldachin gewölbter Äste über ihren Köpfen mit Furcht statt mit ihrer angestammten gläubigen Ehrfurcht zu betrachten, als habe sich Gott der Herr nun von ihnen abgewandt. Wenn sie das Gewirr schwarzer Äste betrachteten, konnten sie besonders gefährlich aussehende Zweige an den Bäumen ihrer Nachbarn ausmachen und ihnen empfehlen, die Bäume stutzen zu lassen – was mit hohen Kosten verbunden war. In Wahrheit jedoch waren die Bäume so hochgewachsen, die oberen Äste so weit entfernt von der Erde und den alten Augen, die ängstlich zu ihnen hochspähten, dass man kaum erraten konnte, zu welchem Baum ein bestimmter Ast nun gehören mochte und wessen Schuld es war, wenn er herunterfiel.

Die Sache mit den Bäumen war einfach nur ein weiteres Unglück, aber – wie die Bewohner von North Bath gern betonten – wenn sie das Unglück nicht hätten, würde ihnen gar nichts mehr bleiben. Dies entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn die Gemeinde verdankte ihre Existenz einem Glücksfall der Geologie, da sie mehrere ausgezeichnete Mineralbrunnen besessen hatte und zur Kolonialzeit ein beliebter Kurort gewesen war – vielleicht der erste in Nordamerika –, der Besucher aus so fernen Erdteilen wie Europa angelockt hatte. Bis zum Jahre 1800 hatte ein wagemutiger Unternehmer namens Jedediah Halsey ein riesiges Kurhotel mit fast dreihundert Zimmern gebaut und es Sans Souci getauft, obwohl die Einheimischen es beharrlich Jedediahs Blödsinn nannten, denn wie jeder weiß, kann man keine dreihundert Zimmer belegen an einem Ort, der vor Kurzem noch eine Wildnis war. Doch Jedediah Halsey hatte alle Zimmer vermieten können, und bis 1820 waren noch einige kleinere Herbergen entstanden, um den Überschuss an Gästen aufzunehmen, und die ungepflasterten Straßen des Städtchens waren von noblen Kutschen verstopft, deren Besitzer angereist waren, um sich an den Quellen von Bath zu laben (denn damals hieß der Ort so, einfach Bath, das »North« wurde hundert Jahre später hinzugefügt, um das Städtchen von einem anderen größeren Kurort im westlichen Teil des Bundesstaates zu unterscheiden, obwohl sich die Einwohner von North Bath dieser Änderung hartnäckig widersetzt hatten). Und die Menschen kamen nicht nur wegen der heilenden Wasser, denn als Jedediah Halsey, der ein tiefgläubiger Mann war, das Sans Souci verkaufte, sättigte der neue Besitzer den Markt auch mit Feuerwasser, und während der langen Sommerabende feierten unzählige Menschen im Ballsaal und in den Salons des Hotels. Bath war so wohlhabend geworden, dass kein Mensch davon Notiz nahm, als ein paar Meilen nördlich in der Nähe einer winzigen Gemeinde einige neue ausgezeichnete Heilquellen entdeckt wurden. Schuyler Springs sollte zum Rivalen von Bath werden, doch bis 1868 sorgten sich weder die Besitzer des Sans Souci noch die Einwohner um ihre Zukunft, bis auf einmal das Unerdenkliche geschah, und die Brunnen einer nach dem anderen ohne Vorwarnung oder sichtbaren Grund zu versiegen begannen – und mit ihnen der Reichtum der Stadt.

Launisch, wie das Glück (wie sollte man es sonst nennen?) nun mal ist, wurde der Emporkömmling Schuyler Springs zum unmittelbaren Nutznießer von Baths Niedergang. Obwohl seine Brunnen von der gleichen unsicheren Quelle wie die in Bath gespeist wurden, sprudelten die Wasser in Schuyler fröhlich weiter, und genauso strömten die Besuchermassen herbei, deren Nobelkutschen früher immer vor der runden Einfahrt des Sans Souci gehalten hatten, nun aber ein paar Meilen weiterrollten und vor dem noch größeren und feineren Hotel in Schuyler Springs hielten, das in dem Jahr fertiggestellt worden war (apropos Glück!), in dem die Quellen in Bath versiegten. Nun ja, vielleicht war es auch nicht wirklich Glück. Seit Jahren schon hatte Schuyler Springs sich um das Publikum bemüht, und die staatlichen Investoren und die Geschäftsleute der Stadt hatten mit anderen Attraktionen geworben als die Besitzer des Sans Souci. In Schuyler Springs wurden während der ganzen Sommersaison Preiskämpfe abgehalten, man konnte sich am Glücksspiel versuchen, und die aufregendste neue Errungenschaft war eine Rennbahn, die sich noch im Bau befand. Natürlich hatten die Bürger von Bath von diesen Unternehmungen gewusst und sie zuerst hämisch beäugt und darauf gewartet, dass sie scheiterten, denn die Pläne von Schuyler Springs kamen ihnen noch verrückter vor als damals das Sans Souci mit seinen dreihundert Zimmern. Was sollte man wohl mit zwei Kurorten, zwei Grandhotels, die so nahe beieinander lagen? Man glaubte, dass Schuyler Springs zum Scheitern verurteilt sei – jeder Blödsinn musste mal ein Ende haben. Sicher, das Sans Souci von Jedediah Halsey war nicht so sehr eine Dummheit als vielmehr ein »visionäres« Unternehmen gewesen. Aber wie man weiß, wird jedes Hirngespinst, das sich am Ende doch noch bezahlt macht, so bezeichnet. Und als die Quellen versiegten und die Besucher ausblieben, waren die Leute schnell mit ihrem Urteil bei der Hand, das besagte, das Sans Souci habe sich im Grunde nicht bezahlt gemacht, sondern sich nur eines zeitweiligen Erfolges erfreut. Die überwiegende Zahl seiner fast fünfhundert Zimmer (denn man hatte das Hotel nur drei Jahre vor dem Versiegen der Quellen noch um einiges erweitert) stand nun leer, wie jedermann von Anfang an vorausgesagt hatte. Und die Leute fingen an, sich gegenseitig zu ihrer weisen Voraussicht zu gratulieren. Die Einwohner des einst glücklichen, nun eher tragischen Bath lehnten sich in ihren Sesseln zurück und warteten darauf, dass das Glück ihnen erneut winken werde. Was jedoch nicht geschah.

Um 1900 hatte Schuyler Springs alle Konkurrenten aus dem Felde geschlagen. Das Feuer, das 1903 das Sans Souci zerstörte, war nur ein Symbol für das Ende, aber natürlich war der Kampf lange vorher schon verloren gewesen, und die meisten Leute stimmten darin überein, dass man den Brand im Sans Souci nicht als bösen Zufall ansehen könne, da er mit größter Wahrscheinlichkeit vom Besitzer selbst gelegt worden sei, um die Versicherungsprämie zu kassieren. Der Mann war in den Flammen umgekommen, offenbar nachdem er versucht hatte, sie wieder anzufachen, denn der Wind hatte sich gedreht, und es war ihm wohl klar geworden, dass nur der ältere Teil des Hotels, der aus Holz errichtet war, brennen würde, der neuere, größere Teil jedoch verschont bliebe, wenn er nicht ein wenig nachhalf. Es ist so schwer, Glück und Pech zu definieren, wenn es um menschliche Belange und Absichten geht. Man könnte sagen: Es ist Pech, dass der Wind dann umschlägt, wenn man es nicht will. Aber was soll man zu einem Mann sagen, der in Panik ein Benzinfass zu nahe an die Flammen heranrollt, die er doch selbst entfacht hat? Hat er Pech, wenn ein Funke ihn in die Ewigkeit schickt?

Jedenfalls sah es so aus, als wartete das Städtchen Bath auch jetzt noch, im Jahre 1984, darauf, dass sich die Dinge zum Besseren wendeten. Es gab ein paar ermutigende Zeichen. Das renovierte Sans Souci – besser gesagt: die Überreste davon – sollte im Sommer wieder eröffnet werden, und man hatte auf dem ausgedehnten Grundstück, das zum Hotel gehörte, ein Loch gebohrt und eine Quelle freigelegt. Und das Glück, so weiß der Volksmund, muss ja eines Tages wiederkehren.

Fünf Winter waren vergangen, seit jene erste Ulme die Bewohner der Upper Main heimgesucht, das Dach der alten Mrs Merriweather gespalten und das Vogelbad von Mrs Gruber in Trümmer geschlagen hatte. Am Morgen vor Thanksgiving erwachte Miss Beryl – die sich immer früh erhob – noch früher als sonst mit dem undeutlichen Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Als sie auf der Bettkante saß und versuchte, die Ursache dafür zu finden, überfiel sie plötzlich heftiges Nasenbluten. Es kam wie der Blitz und war genauso schnell wieder vorüber. Das meiste Blut fing sie mit einem Papiertaschentuch aus der Box an ihrem Bett auf, und sobald ihre Nase aufgehört hatte zu bluten, spülte sie das Tuch energisch in der Toilette hinunter. Ob es nun am Nasenbluten selbst oder an der Tatsache, dass es so schnell vorüber war, lag – Miss Beryl fühlte sich erfrischt. Und sie fühlte sich noch besser, nachdem sie gebadet und sich angekleidet hatte, und als sie ins vordere Zimmer ging, um dort ihren Tee zu trinken, war sie überrascht und erfreut zu sehen, dass während der Nacht Schnee gefallen war. Keiner hatte ihn vorausgesagt, aber da lag er: dicker, nasser Schnee, der sich auf Geländern und Zweigen türmte. Die ganze Straße war weiß. Im grauen Zwielicht sah die vertraute Umgebung fremd aus, und Miss Beryl schaute auf die Straße und schlürfte ihren Tee, bis ein Auto auftauchte und sich langsam einen kurvenreichen Weg bahnte, wobei es frische Spuren im Schnee hinterließ. Das undeutliche Gefühl der Beklommenheit, das sie schon beim Aufwachen gehabt hatte, kehrte wieder, doch diesmal schwächer. Wer kommt wohl diesen Winter dran?, überlegte sie und schob die Vorhänge auseinander, um nach oben in die Wipfel zu blicken.

Obwohl Miss Beryl viel zu realistisch war, um an die Idee der göttlichen Gerechtigkeit zu glauben, gab es auch Zeiten, in denen sie Gottes Willen deutlich zu spüren glaubte. Bis jetzt hatte sie Glück gehabt. Gott hatte es zugelassen, dass dreimal Äste auf ihre Nachbarn, jedoch nicht auf sie gefallen waren. Aber sie zweifelte doch sehr, dass Er sie bei dieser Prüfung der fallenden Äste ewig verschonen würde; in diesem Winter würde Er vielleicht den entscheidenden Schlag niedersausen lassen.

»Dieses Jahr bin ich dran«, sagte sie laut zu ihrem Mann – Clive senior, der auf dem Fernseher saß und ihr abgeklärt zulächelte. Nun, da er seit zwanzig Jahren tot war, konnte sich Clive sen. rühmen, ein ausgeglichenes Temperament zu besitzen: Es gab nichts, was ihn von seinem strategisch günstigen Aussichtspunkt hinter Glas verscheuchen konnte, und falls er sich Sorgen machte, dass seine Frau diesen Winter dran sein könnte, so zeigte er es nicht. »Hörst du mich, du Stern an meinem Himmelszelt?«, bohrte Miss Beryl weiter. Als Clive sen. wiederum keine Reaktion zeigte, starrte Miss Beryl ihn stirnrunzelnd an. »Ich könnte ja genauso gut mit Ed reden«, sagte sie zu ihrem Mann. »Lass dich nicht abhalten«, schien Clive sen., sicher hinter seiner Glasscheibe verborgen, zu erwidern.

»Was meinst du, Ed?«, fragte Miss Beryl. »Bin ich dieses Jahr dran?«

Driver Ed, eine afrikanische Zamble-Maske, starrte von seinem Platz an der Wand auf sie herunter. Ed hatte ein mürrisches menschenähnliches Antlitz mit Antilopenhörnern und einem zahnbewehrten Schnabel, was ihm nach Miss Beryls Ansicht einen gedemütigten Ausdruck verlieh; vor zwanzig Jahren hatte sie ihn gekauft. Damals war ihr aufgefallen, dass er genauso aussah wie Clive sen., als dieser herausfand, dass man ihm an der Schule nahelegen werde, künftig den Fahrunterricht zu erteilen. Clive sen. war der Football-Trainer gewesen, und die Jahre vor seiner Pensionierung hatten sich nicht zu seiner Zufriedenheit entwickelt. Als das Team anfing, immer öfter zu verlieren, hatte man gewünscht, dass er fortan Staatsbürgerkunde unterrichten solle, und als das Team immer weiter verlor, war er schließlich dazu verdammt worden, die driver education an der Highschool zu übernehmen. Schließlich hatte man den Football ganz fallen lassen, weil nach dem Krieg die Schülerzahl gesunken war, das Interesse nachgelassen hatte und man sich beim Erzrivalen Schuyler Springs eine Niederlage nach der anderen einhandelte; doch für Miss Beryls Ehemann bedeutete es, dass man ihm die Basis seines Lebens entrissen hatte. Und dann brachte ihn Driver Ed zu Tode, denn eines Morgens bremste ein Mädchen namens Audrey Peach ohne Warnung und ohne Grund so heftig, dass Clive sen. – der zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz wach war – durch die Windschutzscheibe eines nagelneuen driver-ed-Autos geschleudert wurde. Clive sen. schnallte sich nie im Auto an; er kümmerte sich zwar darum, dass seine Schüler und Fahrgäste die Gurte trugen, aber ihm selbst war das Gefühl zuwider, eingesperrt zu sein. Clive sen. sah die Sache so: War er erst einmal in einem Kleinwagen eingezwängt, so gab es für ihn ohnehin keinen Weg des Entkommens mehr. Da er ein großer Mann war, brauchte er auch einen großen Wagen, und er hegte den starken Verdacht, dass dieser miese kleine driver-ed-Wagen, den der Schulbeirat gekauft hatte, eine persönliche Strafe für ihn sein sollte, weil seine Mannschaft jetzt auch beim Basketball – einer Sportart, die er nicht einmal besonders mochte – dauernd verlor. Sobald er in dem Kleinwagen saß, überfiel ihn Platzangst, und er konnte sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. In diesem Fall hatte ihn das niedrige Dach gezwungen, sich nach vorn zu beugen, um zu sehen, wohin die junge Audrey Peach steuerte. Als sie auf die neu eingestellte Bremse trat, kam das kleine Auto mit einem Ruck zum Stehen, doch Clive sen. bewegte sich weiter nach vorn und sein kugelförmiger Kopf durchschlug die Windschutzscheibe; dort verweilte Clive kurz wie der Sünder am Pranger und wurde dann durch eine weitere Erschütterung des Wagens wieder auf seinen Sitz geschleudert, wo er mit gebrochenem Genick verblieb – ein blutiges Mahnmal für den Sinn des Anschnallens und der einzige Fahrlehrer im Norden des Staates New York, der in Ausübung seiner Pflicht zu Tode gekommen war.

»Siehst du?«, sagte Miss Beryl zur Fotografie ihres Mannes. »Ed meint das auch.«

Immerhin, so tröstete sie sich, wäre sie, sollte der göttliche Schlag einmal erfolgen, in einer besseren finanziellen Lage als die meisten ihrer Nachbarn; sie konnte sich selbst dazu beglückwünschen, dass sie nicht nur gut versichert, sondern auch ziemlich sicher war. Miss Beryl war, wie so viele Hausbesitzerinnen der Upper Main, Witwe – also überhaupt keine »Miss« Beryl. Ihr Mann hatte ihr sowohl seine Veteranenrente als auch seine Berufsrente hinterlassen, die sich, zusammen mit ihrer eigenen Rente und der Sozialunterstützung, auf eine hübsche Summe beliefen, und sie wusste, dass sie viel besser dran war als Mrs Gruber und die anderen. Das Leben, das nach Miss Beryls wohlabgewogener Meinung zur Grausamkeit tendierte, hatte ihr immerhin die Geldsorgen im Alter erspart, und dafür war sie überaus dankbar.

In anderer Hinsicht war das Leben weniger gut zu ihr gewesen. Dass sie in North Bath unter dem Namen »Miss« Beryl bekannt war, rührte daher, dass die störrischen, unbelehrbaren Schüler der achten Klasse, die sie vierzig Jahre lang unterrichtet hatte, in ihr nur eine hässliche Frau mit einer schlechten Figur gesehen hatten, die unmöglich einen Mann haben konnte. Sie weigerten sich sogar an die Existenz eines Ehemanns zu glauben, als sie mit dem unwiderlegbaren Beweis konfrontiert wurden. Vom ersten Schultag an nannten sie sie instinktiv Miss Peoples oder Miss Beryl und nahmen es gar nicht wahr, wenn sie verbessert wurden. Clive sen. war der festen Überzeugung, dass es für Kinder ganz normal sei, ihre Lehrerinnen für alte Jungfern zu halten, und es amüsierte ihn so sehr, dass auch er sie oft »Miss Beryl« nannte. Clive sen. war nicht gerade ein Dummkopf, aber er hatte kein Gespür für das, was Miss Beryl »Nuancen« nannte, und konnte daher nicht verstehen, wie sehr es sie verletzte, wenn er sie gedankenlos so nannte – denn dann kam es ihr so vor, als sehe er sie wie alle anderen auch. Clive sen. war der einzige Mann, der Miss Beryl je als begehrenswerte Frau behandelt hatte, und es schien ihr nahezu unverzeihlich, dass er so gedankenlos gewesen war und das Geschenk seiner Liebe mit diesem kleinen Wort zurückgenommen hatte – und das immer wieder und immer mit einem breiten Grinsen.

Doch er hatte sie geliebt, das wusste sie ganz genau – und mit diesem Wissen hatte sie ihren Nachbarinnen wieder etwas voraus, deren Männer ihre Witwen allein zurückgelassen hatten, völlig unvorbereitet auf die ein oder zwei Jahrzehnte einer einsamen Existenz, die ihnen noch verblieben waren. Mrs Gruber zum Beispiel hatte nie außerhalb des Hauses gearbeitet und kaum eine Vorstellung von der Welt da draußen, außer der offensichtlichen Tatsache, dass alles immer teurer wurde. Tatsächlich war Miss Beryl die einzige berufstätige Frau unter den ganzen ängstlichen Witwen der Upper Main. Als ihre Männer noch lebten, hatten sie die Frauen vor den fallenden Ästen des Lebens schützen können, doch nun reichten die Veteranenrenten und die magere Sozialunterstützung kaum zur Deckung der Unkosten, und die meisten Witwen sahen sich gezwungen, ihre Wohnungen im oberen Stockwerk zu vermieten, obwohl die Mieten oft dazu herhalten mussten, hundert Jahre alte, brüchig gewordene Wasserleitungen zu reparieren und die Schäden zu beheben, die durch Überlastung veralteter Stromkreise und durch fallende Äste entstanden waren. Und um alles noch schlimmer zu machen, schossen nun auch die Steuern raketengleich in die Höhe; dies war die Schuld von Grundstücksspekulanten aus dem Süden des Staates, von denen viele überzeugt schienen, dass Bath und jede andere Kleinstadt im Gebiet zwischen New York City und Montreal in den Achtziger- und Neunzigerjahren beträchtlich an Wert gewinnen würden. Es sah zwar nicht so aus, doch Bath hatte tatsächlich vieles zu bieten; da war nicht nur das alte, großzügig restaurierte Sans Souci, das im nächsten Sommer wiedereröffnen sollte, sondern auch ein riesiges Sumpfgebiet zwischen dem Städtchen und der Interstate, auf dem man einen Freizeitpark mit dem Namen The Ultimate Escape anlegen wollte. Miss Beryls Sohn Clive junior, seit zehn Jahren Aufsichtsratsvorsitzender der Spar- und Darlehenskasse von North Bath, war der Anführer einer Investorengruppe im Ort, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, den Park Wirklichkeit werden zu lassen. Clive jr. war ein glühender Anhänger der Auffassung, dass zwar das Land begrenzt sei, die Zukunft jedoch voller unbegrenzter Möglichkeiten stecke. »In zwanzig Jahren«, so pflegte er gern zu bemerken, »wird es so etwas wie eine schlechte Gegend gar nicht mehr geben.«

Miss Beryl wollte darüber nicht streiten, konnte aber den Optimismus ihres Sohnes nicht teilen. Ihrer Meinung nach gab es immer schlechte Gegenden, und sie musste sich schon sehr irren, wenn Clive jr. das nicht ebenfalls herausfinden würde, sobald er in eine solche investierte. Clive jr. war ein äußerst zynischer Optimist. Er glaubte, dass die Leute nur aus zwei Gründen bankrott gingen: aus Dummheit und aus falsch verstandener Sparsamkeit. Wenn andere sich dumm verhielten, so war das für Clive jr. eine gute Sache, denn er konnte seinen Profit daraus schlagen. Die Rückschläge der anderen waren Gelegenheiten, kein Grund zur Besorgnis. Er liebte es, Fehlschläge im Nachhinein zu analysieren, die Gründe in falscher Sparsamkeit, einem zu engen Horizont und in Pfennigfuchserei zu entdecken. Er war stolz darauf, die Spar- und Darlehenskasse von North Bath vor solch ungesunden Geschäftspraktiken gerettet zu haben; jahrelang war die Bank langsam auf die Zahlungsunfähigkeit zugesteuert – das Ergebnis der Geschäftspolitik seines Vorgängers, eines überaus misstrauischen und pessimistisch eingestellten Mannes aus Maine, der es hasste, Leuten Geld zu leihen. Dass Menschen zu ihm kamen, um Geld baten und es oft genug auch wirklich brauchten, schien ihm anzudeuten, dass sie es nie zurückzahlen würden; er sah die Not in ihren Augen und konnte sich nicht vorstellen, dass diese Not jemals aufhören würde. Für ihn war das Geld der Bank im Safe sicherer aufbewahrt als in den Taschen der Kunden. Der Mann war buchstäblich in der Bank gestorben, an einem Sonntag, in seinem Ledersessel, die Tür zu seinem Privatbüro wie immer verschlossen, als ob er erwartet hätte, dass man ihn selbst am Wochenende, wenn die Pforten der Bank geschlossen waren, um ein Darlehen angehen würde. Schließlich entdeckte man ihn am Montag in einem fortgeschrittenen Stadium der Leichenstarre, einem Zustand, der, wie später bemerkt wurde, dem der Institution, die er geleitet hatte, nicht unähnlich war.

Als Clive jr. die Leitung übernahm, löste sich die Starre. Zuerst ließ er in der Eingangshalle einen neuen Teppich verlegen, weil der alte schon mehrere Phasen der Fadenscheinigkeit durchlaufen hatte – nur in dem Flur nicht, der zum Büro des Direktors führte, wo es weniger Durchgangsverkehr gegeben hatte. Für die nächsten zehn Jahre setzte er sich das Ziel, das Vermögen der Bank zu verzehnfachen, und gab seine Absicht kund, alle Überschüsse radikal zu investieren und sogar, wenn nötig, Geld zu verleihen. Nach so vielen Jahren der Flaute, behauptete Clive jr., sei es nun an der Zeit, wieder gesunden Optimismus zu zeigen. Und schließlich sei das ganze Land in dieser Stimmung.

In einer Hinsicht jedoch wusste sich Clive jr. mit seinem Vorgänger einig: Beide Männer misstrauten den Einwohnern von North Bath, die sie für träge hielten. Der Durchschnittsbürger von Bath legte schon als Schüler eine ungewöhnliche Faulheit an den Tag, befand Clive jr. Er verhandelte lieber mit Investoren und Kreditnehmern aus anderen Teilen des Staates, ja sogar mit solchen aus anderen Bundesstaaten, mit Leuten aus Texas etwa, denn er war davon überzeugt, dass sie für die Zukunft von North Bath sorgen könnten, so wie sie Clifton Park und andere, neuerdings prosperierende Vorstädte von Albany gerettet hatten. »Das Geld vom Süden kommt den Weg nach Norden hochgekrochen«, sagte Clive jr. oft zu seiner Mutter, eine Bemerkung, die sie immer dazu veranlasste, ihn über den Rand ihrer Brille hinweg argwöhnisch zu betrachten. Miss Beryl erschien die Vorstellung von Geld, das die Interstate heraufgekrochen kam, geradezu unheimlich. »Ma«, beharrte er, »hör mir doch zu. Wenn die Zeit kommt, das Haus zu verkaufen, musst du dein Bündel schnüren.«

Es waren Sätze wie »wenn die Zeit kommt«, die Miss Beryl beunruhigten. Aus Clive juniors Mund hatten sie immer einen bedrohlichen Klang. Sie fragte sich, was er vorhaben mochte. Würde sie bestimmen, wann »die Zeit gekommen war«, oder würde er es tun? Wenn er zu Besuch war, schaute er das Haus mit den Augen eines Maklers an, fand Vorwände, um in den Keller und auf den Speicher zu gehen – es schien, als wolle er, »wenn die Zeit kam« und er das Haus erbte, sicher sein, dass es dann in einem guten Zustand war. Er hatte etwas dagegen, dass sie die obere Etage an Donald Sullivan vermietet hatte, und kein noch so kurzer Besuch verstrich ohne die jedes Mal gleiche Bitte, sie solle Sully doch hinauswerfen, bevor er einmal mit der brennenden Zigarette im Bett einschlafe. Und irgendetwas in Clive juniors Tonfall überzeugte Miss Beryl davon, dass ihr Sohn weniger Angst darum hatte, seine ältliche Mutter in Flammen aufgehen zu sehen, als darum, was dem Haus zustoßen mochte.

Miss Beryl war nicht stolz darauf, dass sie ihrem einzigen Kind gegenüber solch unfreundliche Gedanken hegte, und zuweilen versuchte sie sogar, sich von ihnen freizumachen und sich eine mütterliche Liebe einzureden. Aber das war gar nicht so einfach. Der Clive jr., der auf dem Fernseher seinem Vater gegenübersaß, machte durchaus einen liebenswerten Eindruck, und das Gesicht auf dem Foto war nicht das eines unglücklichen, unsicheren Bankiers in den mittleren Jahren. Mehr noch, es war in mancher Hinsicht immer noch ein Jungengesicht, das voller Möglichkeiten zu stecken schien, und das in einem Alter, in dem sich in die Gesichter der meisten Männer unauslöschliche Spuren ihrer Existenz gegraben haben. Clive jr., zumindest der Clive, der auf dem Fernseher hockte, kam Miss Beryl immer noch seltsam unfertig vor, obwohl er an seinem kommenden Geburtstag sechsundfünfzig wurde. Der wirkliche Clive jr. war jedoch ganz anders. Immer wenn er zu Besuch erschien, Miss Beryl ein trockenes, unfreundliches Küsschen auf die Stirn drückte und danach die Wohnzimmerdecke nach Wasserschäden absuchte, schien sein Charakter – wenn man von Charakter sprechen konnte – starr und unbeugsam wie der eines Politikers in der fünften Amtsperiode. Sie ertrug seine Besuche und seine endlosen Ratschläge in Geldangelegenheiten mit einer Engelsgeduld; er erklärte ihr immer, was sie tun müsse, sie hörte höflich zu, ohne ihn zu unterbrechen, und lehnte es hinterher ab, seinen Ratschlägen zu folgen. Ihrer Meinung nach steckte Clive jr. voller verrückter Pläne, und er versuchte jeden so darzulegen, als sei er einer Offenbarung Gottes und nicht seinem eigenen überhitzten Hirn entsprungen. »Ma«, pflegte er zu sagen, wenn sie es wieder nachdrücklich abgelehnt hatte, seinem Rat zu folgen, »es ist ja fast so, als ob du mir nicht traust.«

»Ich traue dir auch nicht«, sagte Miss Beryl laut zum Foto ihres Sohnes auf dem Fernseher, dann setzte sie, an ihren Mann gerichtet, hinzu: »Es tut mir leid, aber ich kann es nicht ändern. Ich traue ihm einfach nicht. Ed versteht das, stimmt es nicht, Ed?«

Clive sen. lächelte sie an, ein wenig reuevoll, wie ihr schien. Seit seinem Tod hatte er sich in immer stärkerem Maße auf die Seite des Sohnes gestellt. »Vertrau ihm doch, Beryl«, flüsterte er nun mit gesenkter Stimme, als fürchte er, Driver Ed könne ihn hören. »Er ist dein Sohn. Er ist jetzt der Stern an deinem Himmelszelt.«

»Ich arbeite daran«, versicherte Miss Beryl ihrem Mann, und so war es auch. Sie hatte Clive jr. zweimal während der letzten fünf Jahre Geld geliehen und ihn nicht einmal gefragt, was er damit zu tun gedenke. Beim ersten Mal waren es fünftausend Dollar. Beim zweiten Mal zehntausend. Beträge, die sie nicht gerade gern verloren hätte, die sie sich aber – um die Wahrheit zu sagen – als Verlust leisten konnte. Doch beide Male hatte Clive jr. das Geld in der vereinbarten Frist zurückgezahlt, und Miss Beryl, die einen Grund gesucht hatte, ihrem Sohn misstrauen zu dürfen, merkte, dass sie ein wenig enttäuscht war, als das Geld sich wieder in ihrem Besitz befand. Ja, sie konnte sich nicht einmal eines besonders beschämenden Verdachts erwehren – dass Clive jr. das Geld überhaupt nicht gebraucht hatte, dass er es nur von ihr geliehen hatte, um zu beweisen, wie vertrauenswürdig er war. Sie begann sogar zu ahnen, dass er nicht hinter einem Teil dessen her war, was ihm ohnehin bald gehören würde, sondern dass er die Herrschaft über das Ganze anstrebte. Doch worauf sollte das hinauslaufen? Miss Beryl musste zugeben, dass die Logik ihrer Verdächtigungen fehlerhaft war; schließlich würde das ganze Geld, das Haus auf der Upper Main mit seinen beträchtlichen inneren Werten – alles würde Clive jr. gehören, wenn einmal »die Zeit kommen würde«.

Eins der Dinge, die ihn zur Verzweiflung trieben – so vermutete Miss Beryl –, war, dass er nicht wusste, wie viel »alles« zusammen wert sein würde. Da war einmal natürlich das Haus und dann gab es die zehntausend Dollar, die seine Mutter besitzen musste, weil sie ihm ja das Geld geliehen hatte. Aber was war noch da? Über den Stand ihrer finanziellen Angelegenheiten bewahrte Miss Beryl Stillschweigen; sie ließ sich jedes Jahr von einem Steuerberater in Schuyler Springs die Steuererklärung machen und hatte ihn angewiesen, keine Informationen an Clive jr. weiterzugeben. Als Rechtsbeistand hatte sie sich den im Ort ansässigen Anwalt Abraham Wirfly genommen, und ihr Sohn wurde nicht müde, ihn ihr gegenüber als unfähigen Trinker hinzustellen. Miss Beryl war sich Mr Wirflys Unzulänglichkeiten durchaus bewusst, aber sie behauptete steif und fest, er sei im Grunde nicht unfähig, sondern nur nicht so karrierebesessen wie andere, ein unter Anwälten äußerst seltener Charakterzug. Noch wichtiger jedoch war, dass sie den Mann für einen loyalen Menschen hielt, und als er ihr versprach, nichts über ihre Geld- und Rechtsangelegenheiten an Clive jr. weiterzugeben, glaubte sie ihm. Und obwohl er nie etwas darüber verlauten ließ, schien es so, als habe Abraham Wirfly seine eigenen Vorbehalte gegenüber Clive jr., und das machte ihn in Miss Beryls Augen nur umso glaubwürdiger. Clive juniors wachsender Unmut schien ihr ausgezeichnetes Urteilsvermögen nur zu bestätigen. »Ma«, bat er in mitleiderregendem Ton, während er immer wieder die ganze Breite ihres Wohnzimmers durchmaß, »wie soll ich dir helfen, dein Vermögen zu schützen, wenn du mich nicht lässt? Was soll denn nur werden, wenn du krank wirst? Willst du etwa, dass dir das Krankenhaus alles nimmt? Hast du das vor? Du kriegst einen Schlaganfall und lässt das Krankenhaus tausend Dollar pro Tag einkassieren, bis alles weg ist und du am Bettelstab gehst?«

Die Sorge ihres Sohnes kam mit einer unwiderstehlichen Logik daher – dennoch konnte Miss Beryl sich des Gefühls nicht erwehren, dass Clive jr. insgeheim etwas anderes im Schilde führte. Sie wusste nicht mehr über sein Vermögen als er über das ihre, aber sie nahm an, dass er auf dem besten Wege sei, ein wohlhabender Mann zu werden. Sie wusste auch, dass er trotz seines Maklerblicks kein Interesse an dem Haus hatte – wenn er es erbte, würde er es schon am nächsten Tag verkaufen. Vor Kurzem hatte er ein üppig ausgestattetes Stadthaus im neuen Schuyler Springs Country Club zwischen North Bath und Schuyler Springs erstanden. Das Haus auf der Upper Main mochte hundertfünfzigtausend Dollar einbringen, vielleicht mehr, und darüber konnte wohl kaum einer die Nase rümpfen, auch nicht Clive jr., selbst wenn er das Geld nicht »brauchte«. Dennoch konnte sie nicht unbesehen glauben, dass dies die Absichten ihres Sohnes waren; die Art, wie er seine Blicke unruhig in jedem Raum durch die Ecken schweifen ließ, als suche er nach Spuren von Geistern, überzeugte Miss Beryl davon, dass er etwas sah, was sie nicht sehen konnte, und bevor sie nicht herausgefunden hatte, was es war, würde sie ihm nicht über den Weg trauen.

Vor Miss Beryls Vorderfenster fiel ein dicker Klumpen Schnee von einem unsichtbaren Ast lautlos zur Erde. Es war schon viel Schnee gefallen, aber er würde sich nicht halten. Auch wenn es zwischenzeitlich so wirkte – dies war noch nicht der richtige Winter. Dennoch ging Miss Beryl in den rückwärtigen Korridor, zog die Schneeschaufel unter den Stufen hervor, wo sie die Schaufel im April verstaut hatte, und lehnte sie gegen die Tür, sodass nicht einmal Sully sie beim Hinausgehen übersehen konnte. Als sie wieder im Haus war, hörte sie ein fernes Summen, das anzeigte, dass der Wecker ihres Mieters angefangen hatte zu läuten. Seit er sich am Knie verletzt hatte, schlief Sully noch weniger als Miss Beryl, die auch nur fünf Stunden Schlaf in der Nacht brauchte, abgesehen von drei oder vier kurzen Nickerchen, die sie während des Tages hielt – und hartnäckig abstritt. Sully wachte nachts öfter auf. Miss Beryl hörte dann, wie er durch sein Schlafzimmer trottete, das über ihrem lag – in Richtung Toilette, wo er geduldig darauf wartete, sein Wasser lassen zu können. Alte Häuser können aufgrund ihrer Hellhörigkeit viele Geheimnisse verraten, und Miss Beryl wusste zum Beispiel, dass Sully seit Kurzem die Angewohnheit hatte, sich zu setzen – das Klosett knirschte unter ihm –, während er wartete. Da es manchmal sehr lange dauerte, bis er ins Bett zurückkehrte, konnte man annehmen, dass er dort eingeschlafen war; oder aber er hatte Schwierigkeiten mit der Prostata. Miss Beryl nahm sich vor, Sully mal ein Verschen aus ihrer Kindheit vorzutragen.

Die alte Frau Jones, die hatte Zucker,

Das Pinkeln ging nicht mehr.

Sie schluckte zwei Flaschen

Lydia Pinkham’s

Und floss in ’ner Leitung zum Meer.

Miss Beryl fragte sich, ob Sully das witzig finden würde. Das hing vermutlich davon ab, ob er wusste, was mit Lydia Pinkham’s gemeint war. Eins der großen Probleme eines achtzigjährigen Menschen war, dass man nach all der Zeit einen wahren Berg an Anspielungen angehäuft hatte, die andere Leute oft nicht verstehen konnten, und die machten einem dann klar, dass es schließlich nicht ihre Schuld sei. Irgendwann um die Zeit herum, als Amerika besiedelt worden war, war die Weisheit alter Leute in Verruf geraten, vermutete Miss Beryl. Irgendwie waren die Alten, früher hochverehrte Träger einer Kultur und ihrer Werte, zu staubigen Museen voller obskurer und wertloser Weisheiten verkommen. Egal. Sie würde Sully den Vers trotzdem aufsagen. Er konnte in seinem Leben ein wenig Poesie gebrauchen.

Oben summte der Wecker immer lauter. Sully behauptete von sich, dass seine einzige Tiefschlafphase ungefähr in die Stunde fiel, bevor sein Wecker anschlug. Vor Kurzem hatte er einen neuen Wecker gekauft, weil er den alten immer überhörte. Den neuen jedoch auch. Als Miss Beryl zum ersten Mal dieses seltsame entfernte Summen hörte, hatte sie irrigerweise angenommen, ihr eigenes Ende sei nun gekommen. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, das menschliche Gehirn sei kaum mehr als ein Labyrinth elektrischer Impulse, die pflichtbewusst ihre Ladungen durch den Schädel schießen, und das Summen musste daher – so nahm sie an – auf eine Art Störung hindeuten. Auch die Tatsache, dass das Summen jeden Morgen um die gleiche Zeit einsetzte, brachte sie nicht sofort darauf – wie man eigentlich hätte annehmen sollen –, dass es außerhalb von ihr geschah. Sie nahm jedes Mal an, dass nun die Zeit gekommen war, auf die Clive jr. immer angespielt hatte. Es war das plötzliche Verstummen des Summens, gefolgt von dem Aufstampfen Sullys schwerer Arbeitsschuhe über ihrem Kopf, das Miss Beryl schließlich auf die richtige Fährte brachte. Sie war dafür sehr dankbar, denn nun brauchte sie ihren Kopf nicht mehr ständig hin und her zu schütteln, um den »Kurzschluss« im Hirn zu finden, was nur dazu führte, dass sie Kopfschmerzen bekam.

Vielleicht lag es an ihrer ursprünglichen Fehldiagnose – das Summen von Sullys Wecker war jedenfalls immer noch etwas beunruhigend, und so tat sie an diesem Morgen das, was sie sich jetzt morgens sehr häufig erlaubte: Sie stapfte in die Küche und holte einen Besen, begab sich wieder in ihr Schlafzimmer, wo sie ein- oder zweimal kräftig mit dem Stiel gegen die Decke hämmerte und erst aufhörte, als sie ein Grunzen vernahm, einen letzten lauten, verwirrten Schnarcher. Sie bezweifelte, dass Sully ahnte, was ihn da aus dem Schlaf riss.

Vielleicht – so gab Miss Beryl zu – hatte ihr Sohn ja recht, wenn er meinte, sie sollte Sully rausschmeißen. Er war ein nachlässiger Mensch, das konnte sie nicht leugnen. Er war leichtsinnig mit seinen Zigaretten, er ging, ohne es zu wollen, mit Menschen und mit Situationen nachlässig um. Und das machte ihn gefährlich. Und plötzlich, als sie zu ihrem Vorderfenster zurückkehrte und in das Netz der schwarzen Äste über ihr starrte, fiel Miss Beryl ein, dass Sully der sprichwörtliche Ast sein könnte, der von oben auf sie herniederfiele. Sie wusste, es gehörte mit zum Altwerden, dass man unsicher wurde. Länger als jede ihrer verwitweten Nachbarinnen hatte Miss Beryl die Vorboten der allgemeinen Verunsicherung zurückgeschlagen, indem sie sich allen geistigen Herausforderungen gestellt und angemessen reagiert hatte. Bis jetzt hatte sie sich gut auf ihr eigenes Urteil verlassen können, weil sie auch das Urteilsvermögen anderer heftig infrage stellte. Clive jr. war in dieser Hinsicht sehr hilfreich gewesen, und Miss Beryl hatte sich immer gesagt, dass der Augenblick, in dem seine Ratschläge ihr sinnvoll erscheinen würden, der Anfang vom Ende wäre. Vielleicht war es schon ein Anfang, wenn sie fürchtete, dass Clive jr. mit seinen Warnungen vor Sully recht hatte.

Aber sie würde noch nicht klein beigeben, beschloss sie. In vielen wichtigen Dingen war Sully ein wichtiger Verbündeter