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Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung
Teil 1 Um Judas betrogen?
Der gute Judas
Der böse Judas
Die Zwischenräume machen das Rad
Teil 2 Die Ermittlungen im Fall Judas
Markus, erster Tag
Matthäus, erster Tag
Lukas, erster Tag
Johannes, erster Tag
Erstes Auswertungsprotokoll des Ermittlers
Teil 3 Die Ermittlungen im Fall Jesus
Markus, zweiter Tag
Matthäus, zweiter Tag
Lukas, zweiter Tag
Johannes, zweiter Tag
Zweites Auswertungsprotokoll des Ermittlers
Copyright

Der gute Judas

Schon viele haben den Versuch unternommen, das Rätsel Judas zu lösen: sein Verhältnis zu Jesus zu erhellen, seine Rolle zu bestimmen, sein Motiv zu ergründen, seine Tat zu werten und den Tathergang zu klären. Der Grund für ihren Eifer liegt auf der Hand: Jeder der vier Evangelisten nährt mit seiner Darstellung den Verdacht, dass er Judas Iskariot nicht gerecht wird und gar nicht gerecht werden will. Dass er womöglich verschleiert, verheimlicht, verfälscht. Denn schon für sich genommen verwickelt sich einer wie der andere in Ungereimtheiten und Widersprüche. Nimmt man alle Aussagen der Evangelien über Judas zusammen, verzerrt sich sein Bild vollends. Und je genauer man hinschaut, desto mehr verschwimmen die Konturen des Verräters.

Was ist damals wirklich vorgefallen? Welche geheimen Schachzüge sind der Verhaftung Jesu tatsächlich vorausgegangen? Und was bewog diesen Judas zu seiner Tat, was wollte er erreichen? Die Theologen waren an solchen Fragen nie sonderlich interessiert – zu perfekt erfüllt das überkommene Bild des bezahlten Verräters das dramaturgische Bedürfnis nach einem – teuflischen, verruchten oder auch nur irregeleiteten – Gegenspieler des Gottessohns. Die christliche Verkündigung hat sich daher durch alle Jahrhunderte mit einem Judas zufriedengegeben, der seinen Herrn aus niedrigen Beweggründen ans Messer liefert und als Handlanger satanischer Mächte de facto das göttliche Erlösungsprojekt vorantreibt. Es waren die Schriftsteller, die sich an dem offensichtlichen Zerrbild störten, das die Evangelisten von Judas zeichnen. Also Leute, die Geschichten in ihrer stofflichen Substanz ernst nehmen, die an Erzählungen den Maßstab der Plausibilität, der inneren und äußeren Stimmigkeit anlegen. Mit ihren Mitteln, zumeist in Romanform, haben sie darauf hingearbeitet, Judas ein erkennbares Gesicht zu geben und in eine nachvollziehbare Geschichte einzubetten. In Einzelfällen mag Ehrenrettung der Antrieb gewesen sein, die Ehrenrettung eines Verkannten und Verteufelten. Doch den meisten Judasbüchern scheint das Verlangen nach historischer Wahrscheinlichkeit, gepaart mit psychologischer Glaubwürdigkeit oder theologischer Stringenz, zugrunde zu liegen. In jedem Fall ist der Ehrgeiz zu spüren, den Jünger Judas aus der Gewalt der Evangelisten zu befreien.

Dabei sind höchst unterschiedliche Judasentwürfe zustande gekommen. Schon deshalb, weil einige Autoren darauf achten, mit den Evangelientexten und ihrem religiösen Gehalt so wenig wie möglich in Konflikt zu geraten, während andere keine Bedenken haben, sich von der biblischen Vorlage weit zu entfernen und die Vorgänge ganz aus der Logik der politischen Verhältnisse in der Unruheprovinz Palästina zu rekonstruieren. Schriftsteller sind eben nicht zu theologischen Rücksichten verpflichtet; es ist ihr gutes Recht, das eigene Einfühlungsvermögen über alle theologischen Vorgaben zu stellen und im Zweifelsfall die Fantasie zu Hilfe zu nehmen, und der italienische Autor Petruccelli della Gattina (1813–1890) hat sich große Freiheiten genommen. Er soll den folgenden Überblick über die Judasbilder der Schriftsteller eröffnen, wobei ich mich auf fünf Autoren beschränken werde. Man hätte für diesen Vergleich leicht die zehnfache Anzahl heranziehen können, doch schon diese kleine Auswahl zeigt, welche verblüffende Wandlungsfähigkeit Judas Iskariot unter dem Zugriff der Schriftsteller beweist.

Della Gattinas Memoiren des Judas von 1866 führen den Leser in eine turbulente Welt politischer Intrigen ein. Das ganze jüdische Volk lechzt nach Befreiung von den Römern und fiebert dem großen Aufstand entgegen. Koordinator des gewaltsamen Widerstands ist Judas, ein Sprössling der jüdischen Aristokratie und welterfahrener, umsichtiger Meister der Konspiration, in den Palästen des Herodes Antipas genauso häufiger Gast wie im Amtssitz des Pontius Pilatus. Die Vorbereitungen zum Aufstand sind bereits weit gediehen, als Judas in Kafarnaum Jesus begegnet und sogleich den Wert des volkstümlichen Wanderpredigers für seine antirömische Koalition erkennt: als unverdächtige Galionsfigur des Widerstands. Es gelingt Judas, Jesus nach Jerusalem zu holen, dorthin, wo alle Fäden des Aufstands zusammenlaufen. Doch statt sich in die zugedachte Rolle eines Propagandisten des Widerstands zu fügen, ruft Jesus unbeirrt zur Versöhnung auf, so lange, bis der ebenfalls in die Aufstandspläne eingeweihte Hohe Rat sich gezwungen sieht, ihn zu verhaften.

Das Szenario, das della Gattina hier entwirft, ist unverkennbar den italienischen Befreiungskämpfen entlehnt. Als Korrespondent französischer Zeitungen und Abgeordneter im ersten italienischen Parlament kannte er sich aus; er wusste, dass in Zeiten des gewaltsamen Umbruchs die seltsamsten strategischen Koalitionen hinter den ideologischen Kulissen geschmiedet werden. Auch alles Weitere in seinen Memoiren des Judas zeugt vom Scharfsinn des gewieften Politikers: Judas setzt alles daran, das schlimmste Unheil von Jesus abzuwenden, und versucht selbst in Getsemani noch, sich mit ihm abzustimmen. Doch alle Rettungsversuche scheitern an dem unerschütterlichen Sendungsbewusstsein des Rabbis Jesus von Nazareth, in dem Judas nur die Begriffsstutzigkeit des Provinzlers erkennen kann, eines Arg- und Ahnungslosen, der die Spielregeln der großen Politik nicht zu begreifen vermag. So wird Jesus gegen den Willen des Judas hingerichtet, und seine nicht minder einfältigen Jünger setzen später die Mär vom Verrat in die Welt; ihre Verleumdung verdunkelt seither die ehrenwerte Rolle des Judas Iskariot in diesem Drama.

Judas, der eigentliche Drahtzieher und Arrangeur der Ereignisse, die in den Evangelien aus der naiven Perspektive des Fußvolks wiedergegeben werden ... eine tollkühne Volte. Und wie della Gattina nimmt auch der Russe Michail Bulgakow (1891–1940) Zuflucht zu gewagter dichterischer Spekulation, nur dreht er den Spieß um. Die wüste Romanhandlung seines Hauptwerks Der Meister und Margarita spielt im Moskau des Jahres 1928, ist aber von einem zweiten Erzählstrang durchsetzt, der das Verhör und die Hinrichtung Jesu behandelt. Diesmal bleibt Judas bloß eine klägliche Nebenrolle vorbehalten.

Der gutaussehende Judas Iskariot arbeitet in einer Jerusalemer Wechselstube, scheint sich aber auch dem Hohen Rat gelegentlich als Spitzel und Lockvogel zu verdingen. Jedenfalls lädt er Jesus, dem er wie zufällig gerade erst beim Tempel begegnet ist, zu sich nach Hause ein, beköstigt ihn und benachrichtigt dann durch ein verabredetes Zeichen die Tempelwache, die seinen Gast vom Tisch weg verhaftet. Damit könnte Judas schon wieder abtreten, doch Bulgakow bereitet ihm noch ein ebenso überraschendes Ende: Am Abend der Hinrichtung holt Judas seinen Agentenlohn im Palast des Hohepriesters ab und begibt sich, die Aussicht auf ein Rendezvous vor Augen, in den Olivenhain des Landguts Getsemani, wo ihn statt der Angebeteten zwei dolchbewehrte Männer des römischen Geheimdienstes erwarten. Sie machen kurzen Prozess mit ihm, und Judas erleidet das Schicksal des kleinen Kollaborateurs, der zwischen den Mühlsteinen höherer Interessen zerrieben wird. Allerdings, und das ist der eigentliche Clou: Auch Pilatus droht zerrieben zu werden, nämlich zwischen den Mächten des Göttlichen und des Teuflischen. Damit verlagert Bulgakow den inneren Kampf um das rechte Verhältnis zu diesem wunderlichen Rabbi Jesus aus der Brust des Judas in die des Pilatus, der für ihn – das wird bald klar – der eigentliche Verräter ist.

Weiter als Bulgakow kann man sich von der biblischen Vorlage kaum entfernen. Ahnt er vielleicht trotzdem die wahren Zusammenhänge, wenn er den Verräter zum bedeutungslosen, austauschbaren Werkzeug herabstuft? Seinem Jesus ergeht es im Übrigen nicht viel anders. Wie bei della Gattina macht der Mann aus Nazareth auch hier eine Verwandlung zum seltsam weltfremden Eigenbrötler durch, der – blind für das abgefeimte politische Ränkespiel der großen Parteien – in seinen Untergang stolpert. Der galiläische Volksheld scheitert an seiner Naivität und verglüht in dem Moment, in dem er dem weltpolitischen Brennpunkt Jerusalem zu nahe kommt.

Wie man sieht, messen della Gattina wie Bulgakow der Politik die Bedeutung der schicksalsbestimmenden Kraft zu. Völlig anders geht Nicos Kazantzakis (1883–1957) in seinem Roman Die letzte Versuchung (erschienen 1953) vor. Der Autor von Alexis Sorbas konzentriert sich ganz auf die spirituelle Dramatik der Beziehung zwischen Jesus und Judas, wobei Judas nach anfänglichem Zögern immer mehr in die Rolle des Antreibers hineinwächst: Seine hochgespannten Glaubenserwartungen sind nur durch den Opfertod seines Meisters zu befriedigen.

Über dem Palästina von Nicos Kazantzakis liegt wie ein giftgelber Nebel die Verbitterung. Seine Bewohner leiden unter der Willkürherrschaft der Römer, aber größer noch als die äußere Not der Erniedrigung ist die innere Not, die Zerrissenheit zwischen ratloser Verzweiflung und verzweifelter Erwartung eines gottgesandten Befreiers, eines Erlösers. In Jesus verdichtet sich dieser Seelenzustand zu qualvoller Getriebenheit: Von Selbstzweifeln gepeinigt, fühlt er sich gleichzeitig als Auserwählter  – ein geschlagener Gottesknecht von Anfang an. Mit seiner Botschaft eröffnet er seinen Zuhörern immerhin einen Mittelweg zwischen Fatalismus und offener Rebellion. So gewinnt er die ersten Anhänger.

Der rotbärtige Schmied Judas gehört dem bewaffneten Widerstand an. Eigentlich hat er den Auftrag, Jesus zu ermorden – dessen zwiespältige Haltung gegenüber den Römern wird ihm von dieser Seite als Verrat ausgelegt. Doch Judas, der Mann der Tat, erliegt der Faszination der Botschaft wie der Person Jesu und wächst mit der Zeit in die Rolle des engsten Vertrauten hinein. Als Jesus, zum freiwilligen Sterben entschlossen, ihn als Einzigen in seinen Plan einweiht, erklärt Judas sich bereit, dessen Verhaftung in die Wege zu leiten. »Du musst mich verraten«, lässt Kazantzakis seinen Jesus sprechen, »wir zwei müssen die Welt retten.« Und während alle übrigen Jünger nach dem triumphalen Einzug in Jerusalem mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung rechnen, bestärkt Judas seinen Meister in seinem Entschluss, den schmachvollen Tod am Kreuz auf sich zu nehmen. Beim letzten Abendmahl weiht Jesus die anderen Jünger in sein erschütterndes Vorhaben ein, ohne allerdings näher auf die Funktion des Judas einzugehen; der verlässt den Saal, bevor der Rest aufbricht, und erweist seinem Meister den letzten Liebesdienst, indem er das Verhaftungskommando nach Getsemani führt.

Die Tragödie nimmt ihren Lauf, Jesus wird gekreuzigt, und nun überrascht Kazantzakis mit einem kühnen Einfall: Am Kreuz hängend, erlebt Jesus im Traum die Erde als freudensprühendes Paradies und verliebt sich ins Leben. Der Jammer der Welt bekümmert ihn plötzlich nicht mehr – mit dem Dasein versöhnt, zeugt er Kinder mit seinen vormaligen Jüngerinnen Maria und Martha und lebt zufrieden in den Tag, bis seine Jünger Jahrzehnte später auf der Flucht aus dem brennenden Jerusalem vor seinem Haus auftauchen. Beim Anblick des sorglosen Jesus übermannt Judas der Zorn. »Verräter! Dein Platz ist am Kreuz!«, brüllt er ihn an und wirft ihm vor, durch seinen Rückzug ins private Glück die Hoffnung verraten, den Glauben zerstört zu haben. In diesem Augenblick erwacht Jesus aus seinem Traum – und stirbt in der seligen Gewissheit, mit seinem Tod seinen göttlichen Auftrag zu erfüllen.

Kazantzakis folgt also nicht dem Weg, den della Gattina und Bulgakow gewiesen haben. Die Politik bleibt bei ihm ausgespart, sie ist jedenfalls für den Untergang Jesu nicht ausschlaggebend. Vielmehr entwickelt Kazantzakis das Bewusstsein seiner beiden Hauptfiguren ganz aus allgemein menschlichen Glaubensbedürfnissen heraus und lässt, was den Fortgang der Ereignisse angeht, nichts als dieses Bewusstsein gelten; mit beinahe quälender Ernsthaftigkeit erkundet er dabei die existenziellen Bedingungen des Glaubens. Wie fruchtbar dieses Verfahren ist, wie nah er damit der Wahrheit kommt, wird sich noch zeigen.

Man kann sich aber auch, wie Luise Rinser (1911–2002), treu an die biblische Vorlage halten und Judas trotzdem vor dem Vorwurf der Hinterhältigkeit bewahren. Mit Mirjam lieferte sie 1983 eine romanhafte Nacherzählung der Evangelien aus der Perspektive der Maria Magdalena, in der Jesus und Judas von Anfang an in einem spannungsgeladenen Wechselverhältnis stehen. Judas ist hier der finster-entschlossene Freiheitskämpfer, der Jesus gläubig beim Wort nimmt, ohne ihn je zu verstehen. »Handeln muss man, nicht reden«, lässt Rinser ihn sagen und immer wieder abtauchen, für Stunden oder Tage, um Kontakt zu seinen Gesinnungsgenossen im Untergrund zu halten. Wenn Judas Geld aus der Gemeinschaftskasse abzweigt, dann ebenfalls in der Absicht, den nationalen Widerstand gegen die Römer zu unterstützen. Jesus weiß von seinem Treiben, lässt ihn aber gewähren – auch dann noch, als Judas sich dem Hohen Rat als Verräter andient. Nach seinem Verständnis ebnet Judas ihm damit den Weg zum Kreuz, der ohnehin gegangen werden muss. Was Judas hingegen antreibt, ist die Ungeduld: Er will seinen zögernden Herrn zur Selbstoffenbarung zwingen, weil die Not des Volkes keinen Aufschub duldet. Dieser Judas liebt seinen Herrn, er glaubt auch an ihn, nur dass er ihn als Mann der politischen Aktion fortwährend missversteht. Ein Abtrünniger ist er also nicht, eher ein irregeleiteter Idealist, den sein Scheitern in den Selbstmord treibt.

Luise Rinser schildert Judas mit unverhohlener Sympathie. Auch sie arbeitet mit der Hypothese, Judas sei von der Nachwelt genauso missverstanden worden, wie er seinerseits seinen Herrn missverstand. Als Urheber der schwarzen Legende, die sich um den Mann aus Kariot rankt, identifiziert sie den Jünger (und Evangelisten) Johannes, der in ihrem Roman den Gegenpol zu Judas bildet: Während dieser aus Jesu Worten hartnäckig einen Aufruf zum Umsturz heraushört, siedelt Johannes alles, was Jesus von sich gibt, in den luftigen Gefilden der Allegorie an. Hier der Terrorist, dort der Philosoph, und beide haben füreinander nichts übrig: Diese Abneigung führt Johannes bei der Abfassung seines Evangeliums später die Feder.

Anders, auch formal anders, geht Walter Jens (1923–2013) in seinem Buch Der Fall Judas von 1975 vor. Formal handelt es sich um einen fiktiven Bericht, inhaltlich stellt es eine systematische Auseinandersetzung mit der Figur des Judas dar. Ihr Anlass ist höchst originell: Der katholische Patriarch von Jerusalem soll über den Antrag entscheiden, Judas selig zu sprechen. »Ohne Judas kein Kreuz, ohne Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans«, so die Begründung des Antragstellers, und weiter: »Er hat getan, was getan werden musste. Er hat gewollt, was Gottes Wille war. Einer musste es tun.« In Wirklichkeit sei Judas eingeweiht, sei der vermeintliche Verräter sogar der Komplize seines Herrn gewesen. Auch er habe in seiner letzten Stunde sagen dürfen: Es ist vollbracht.

So weit der Antrag auf Seligsprechung. Im Folgenden überprüft Jens die drei gängigen Thesen zu Judas auf ihre Überzeugungskraft: 1. die psychologische, also die klassische These, Judas sei ein Dieb gewesen und aus schnöder Geldgier zum Verräter geworden. Sie wird verworfen, weil der gewöhnliche Kleinganove, den der Evangelist Johannes aus ihm machen will, nicht zum satanischen Gegenspieler Gottes tauge. Im Übrigen sei für einen Dieb bei Jesus sowieso nichts zu holen gewesen, die psychologische These breche mithin aus Mangel an Glaubwürdigkeit in sich zusammen. 2. die politische These, nach der Judas ein jüdischer Nationalrevolutionär gewesen sei. Jesu rätselhafte Uneindeutigkeit in politischen Fragen habe Judas dazu verleitet, ihn auf die Probe zu stellen, ihn bis zur Selbstoffenbarung zu provozieren, um den Triumph Israels zu beschleunigen. Auch diese These wird verworfen, und zwar deshalb, weil sie keinerlei Rückhalt im biblischen Text findet. 3. die eschatologische These. Sie besagt, dass Judas den Jüngsten Tag herbeizwingen wollte. Judas habe demnach die Rede Jesu vom nahen Gottesreich als Ankündigung des Weltuntergangs missverstanden und seinen Herrn gewaltsam dazu bringen wollen, seine Herrlichkeit zu offenbaren. Mit anderen Worten: Um Christi willen habe Judas den Satan gespielt. Aber auch diese Argumentation überzeugt nicht – zu viel geistreiche Spekulation, zu wenige Anhaltspunkte im Text.

Der Seligsprechungsprozess wird folglich gar nicht erst eingeleitet, doch damit lässt es Walter Jens nicht bewenden. Im letzten Teil verfolgt er eine weitere Spur. Ausgehend von der unwahrscheinlichen Annahme, Jesus könne sich bei der Berufung des Judas geirrt haben, sei also von Judas hereingelegt worden, kommt er zu dem Schluss, die Wahl sei auf ihn gefallen, weil er der Frömmste unter den Jüngern war. Weil nur er fähig war, eine Aufgabe zu erfüllen, der niemand sonst gewachsen war. Es gab keinen Verräter, urteilt Jens abschließend – die Unterstellungen des Evangelisten Johannes seien die Tiraden eines Moralisten, und die Maler hätten später den Stereotyp des Verräters geschaffen: den Mann mit der Adlernase, dessen versteckte Hand unterm Tisch beim letzten Abendmahl den Geldbeutel umklammert.

Diese fünf Beispiele sollen genügen. So unterschiedlich die Judasbilder der Schriftsteller bei dieser Stichprobe ausfallen – eines ist ihnen gemeinsam: Die Fratze des Verräters wird Judas wie eine Maske vom Gesicht gerissen, und je nach Autor blicken wir in das Antlitz eines kleinen, gedungenen Spitzels, eines idealistischen Freiheitskämpfers oder des engsten Vertrauten Jesu. Ungewohnte Anblicke. Nichts bleibt übrig von der hinterhältigen Bosheit des Mannes, der seinen eigenen Herrn an dessen Todfeinde ausliefert. Judas, sagt Luise Rinser, sei womöglich der Einzige gewesen, der Jesus wirklich für den Messias gehalten habe. Walter Jens stellt die Frage, ob wir in Judas nicht den ersten Märtyrer des Christentums sehen müssen. In jedem Fall beobachten wir die Autoren dabei, wie sie durch die Oberfläche des Evangelientextes zu dem wahren Judas vorzustoßen suchen, denn darin sind sich alle einig: Die Evangelisten machen sich in diesem Punkt verdächtig. Ihr Verräter überzeugt nicht. Er wirkt wie eine unbeholfene Stilisierung. Als wollten sie sich den realen Judas so gut es geht vom Leib halten. Allerdings werfen die Antworten der Schriftsteller neue Fragen auf. Denn wenn uns mit jeder Antwort ein neues Judasbild zugespielt wird, avanciert der Mann aus Kariot bloß vom Verräter zum großen Unbekannten.

Der böse Judas

Die Schriftsteller können für sich in Anspruch nehmen, in eine weit ausgreifende, dramatische Form gebracht zu haben, was in den Evangelien angedeutet, aber nicht ausgeführt ist: die Dauerspannungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und der verhassten römischen Besatzungsmacht, die fiebrige Heilserwartung der einen, das eiskalte Machtkalkül der anderen, die für Israel typische Verquickung von Religion und Politik und seine innere Zerrissenheit, kurzum, die ganze Lebenswirklichkeit des von Unruhen erschütterten Landes. Und, verdienstvoller noch: Sie führen uns Jesus wie Judas als Prototypen dieser brodelnden Zeit vor Augen. Aber gehen die fünf Autoren nicht zu weit? Zu weit in ihrem Versuch, die Ehre des Judas zu retten? Zu weit in ihrer Umdeutung des Verräters zum edlen Wilden im Kreis der Jünger, zum Komplizen Jesu sogar? Mit anderen Worten: Entfernen sie sich nicht allzu leichtfertig von einem Text, der als Grundlage des Glaubens größte Zuverlässigkeit beansprucht?

Darauf lässt sich nur sagen: Es ist das gute Recht von Künstlern, ihrer Eingebung zu folgen, es ist sozusagen ihr Beruf. Und grundsätzlich ist der Glaube bei den Künstlern in guten Händen. Seit jeher sind uns die großen Momente der Bibel mehr im Bild als im geschriebenen Wort präsent, und die Theologie hat immer gut daran getan, die Kunst hinzuzuziehen. Nicht nur zur Vermittlung bestimmter Glaubensinhalte, bestimmter Ereignisse der Heilsgeschichte, sondern mehr noch, um die Abstraktionen der Theologie, ihre kühnen, aufs Jenseits gerichtete Spekulationen den Gläubigen sichtbar, hörbar und fühlbar, kurzum: sinnlich nachvollziehbar zu machen. Was Maler, Komponisten und Schriftsteller liefern, sind also weniger Ausschmückungen als vielmehr Interpretationen von Heilsereignissen und Glaubensaussagen, die Augen, Ohren und Herzen zugänglich sind. Gerade das komplexe Gebilde der christlichen Theologie bedurfte seit jeher der künstlerischen Umgestaltung. Insofern darf man auch von den zitierten Schriftstellern erwarten, dass sie uns näher an Judas heranführen und Dinge zeigen, die vorher dem Blick entzogen waren. Wenn Judas aus der Gewalt der Evangelisten befreit werden muss, dann ist von ihrer Seite jedenfalls mit Unterstützung zu rechnen.

Greifbarer Erfolg ist ihnen nicht beschieden gewesen. Die christliche Öffentlichkeit hat sich bislang kaum beirren lassen, sie hängt an ihrem Verräter. Vielleicht, weil eine Gemeinschaft zu ihrer Selbstvergewisserung nicht nur äußere Feinde, sondern auch innere braucht – als Blitzableiter, als Sündenböcke. Oder hat die herkömmliche, fromme Interpretation doch mehr für sich, als die Schriftsteller wahrhaben wollen? Schaden kann es nicht, als letzten Gutachter in diesem Fall einen Theologen heranzuziehen; fassen wir also kurz zusammen, was der argentinische Theologe Horacio Lona in seinem Buch Judas Iskariot – Legende und Wahrheit an Befunden zusammengetragen hat.

Beginnen wir mit dem Beinamen Iskariot. Er wirft Fragen auf, denn er kann wie »Ish Kariot«, genauso gut aber auch wie »Skariot« gelesen werden. Im ersten Fall würde er »Mann aus Kariot« lauten, im zweiten Fall wäre er von dem lateinischen Wort »sicarius« abgeleitet und würde so viel wie »Dolchmann« bedeuten. Keine Lesart ist sicher, aber beide sind aussagekräftig. Als Mann aus Kariot wäre Judas ein Judäer und damit der Einzige im Jüngerkreis, der aus dem alten Kernland Israels stammt – könnte er dann nicht über gute Beziehungen in Jerusalem verfügt haben? Als Dolchmann wiederum wäre Judas, wie die Zeloten (»Eiferer«), dem terroristischen Untergrund zuzuordnen, der jüdischen Résistance. Die Sicarier erstachen ihre Opfer im städtischen Menschengewühl, sie bildeten eine Art Stadtguerilla, während die Zeloten ihre Anschläge gewöhnlich auf dem Land verübten; zusammen verfuhren sie nach dem Motto: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.

Denn eigentlich war es an dem Gott Israels, das Land zu befreien – von der römischen Besatzungsmacht wie von den jüdischen Kollaborateuren. Dabei konzentrierten sich die Hoffnungen des Volks auf den vielbeschworenen Messias, einen gottgesandten Retter, einen zweiten König David, der Israel zu neuem Glanz und neuer Größe verhelfen würde. Ein politischer Hoffnungsträger also, dieser Messias, ausgestattet mit überirdischer Machtfülle. Den ungeduldigen jungen Männern in den Bergen Galiläas wäre sicher nichts lieber gewesen, als sich um eine solche Führergestalt zu scharen, doch solange kein glaubhafter Anwärter dafür in Sicht war, handelten sie auf eigene Faust. Da trat Jesus auf. Besaß er das Format eines Messias? War er für Zeloten und Sicarier attraktiv?

Allem Anschein nach hat einer der zwölf Jünger – zumindest vorübergehend – tatsächlich dem bewaffneten Widerstand angehört: Simon der Zelot. Unter diesem Namen wird er in der Jüngerliste der Evangelisten geführt, mit größter Selbstverständlichkeit. Hätte dann nicht auch ein Sicarier namens Judas die Botschaft Jesu von der unmittelbar bevorstehenden Gottesherrschaft als Ankündigung großer politischer Umwälzungen verstehen – und ein Anhänger des Rabbis aus Nazareth werden können? Horacio Lona warnt vor allzu gewagten Schlüssen (man bewege sich hier auf dem Gebiet reiner Vermutungen), aber er gibt zu bedenken: Wer unter den Jüngern habe Jesus denn überhaupt richtig verstanden? Hätten nicht alle eine Wiederherstellung der alten Größe Israels von ihm erwartet? Wäre Judas als Sicarier im Jüngerkreis womöglich gar nicht aufgefallen ? Und verkehrte Jesus selbst nicht ungeniert mit allen möglichen Außenseitern? Denkbar, dass es zum Schluss keinen Jünger mehr gegeben habe, dessen Erwartungen Jesus nicht enttäuscht hätte – und der Hitzkopf Judas seiner Verbitterung nur in einem besonders drastischen Akt der Verachtung Luft gemacht habe, als er sich zum Verrat hinreißen ließ ...

Vermutungen, wie gesagt. Aber auch Lona räumt ein: Wie Lukas zu erklären, Judas sei vom Satan besessen gewesen, wie Johannes zu versuchen, Judas als Dieb moralisch zu diskreditieren, das bringe uns einem Verständnis nicht näher. Genauso unbrauchbar seien theologische Deutungen, die Judas als Inkarnation des Bösen bzw. umgekehrt als unfreiwilliges Werkzeug Gottes sehen. Andererseits verwahrt sich Lona aber auch gegen die Vorstellung, Jesus habe seine eigene Hinrichtung in die Wege leiten wollen und Judas für seine Zwecke eingespannt, indem er ihn gewähren ließ, womöglich sogar anstiftete; in diesem Fall »würde das Geschehen seinen grundsätzlichen, ja Heil bringenden Ernst einbüßen« – unvorstellbar, mithin unmöglich. Letztendlich geht auch Horacio Lona in klassischer Manier davon aus, Judas sei eigene Wege gegangen, als er das große, gemeinsame Werk im Stich ließ und seinem Herrn in den Rücken fiel – ob aus Enttäuschung, aus Geldgier oder politischem Kalkül, sei nicht mehr zu klären –, weshalb ihn die ganze Schwere der Schuld am Tod des Jesus von Nazareth treffe.

Judas – ein Sicarier, der sich von Jesus getäuscht fühlte? Sein Verrat – der Racheakt eines Menschen, der sich um die große Hoffnung seines Lebens betrogen sah? Das Motiv – am Ende doch rasende Wut auf einen, der sich als völliger Versager herausgestellt hat? Nichts schreit so laut nach Rache wie enttäuschte Liebe. Judas mithin alles andere als fromm und edel, vielmehr durchaus der große Gegenspieler, der Mann des Zorns, der Mann der Gewalt von Anfang an und als Enttäuschter, als Verbitterter zu allem fähig?

Möglich, ja. Aber unmöglich, sich festzulegen. Denn auch für dieses Judasbild geben die Texte zu wenig her, und letztlich bleibt wieder nur die Erkenntnis: Alle Eindeutigkeit scheitert an der Verschleierungstaktik der Evangelisten. Müssen wir uns also damit abfinden, dass der reale Judas nicht zu fassen ist – weder durch den intuitiven Zugriff der Schriftsteller noch durch die reine Textbefragung? Ich möchte einen weiteren Versuch wagen, hinter das Geheimnis des Judas zu kommen. Denn noch hat niemand daran gedacht, bei denen anzusetzen, deren Verschleierungstaktik bisher so erfolgreich war. Bei den Evangelisten und ihren Motiven, ihren verdeckten Absichten. Aber – sind die überhaupt noch zu ermitteln?