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Oliver Schröm
Al Qaida

Oliver Schröm

Al Qaida

Akteure, Strukturen, Attentate

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Für Christoph

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliographie;
detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über
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1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von Mai 2003)
© Christoph Links Verlag – Linksdruck GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
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Satz: Ch. Links Verlag, Berlin
Lithos: LVD, Berlin

Inhalt

Prolog

Die Verhaftung von Khalid Scheich Mohammed, dem Gehirn von Al Qaida, im März 2003

In tödlicher Mission

Die erste große Aktion von Khalid Scheich Mohammed und Ramzi Yousef: Der Bombenanschlag auf das World Trade Center im Februar 1993

Die Operation »Bojinka«

Sprengstoffanschläge gegen US-amerikanische Flugzeuge (1994/95) – Vorbereitungen für ein Papst-Attentat in Manila – Der Aufbau des internationalen Terrornetzwerkes von Osama Bin Laden

Im Krieg gegen die »Kreuzzügler«

Die Verhaftung der ersten Attentäter (1996) – Ausbau von Al Qaida in Afghanistan – Bombenanschläge auf US-Einrichtungen in Saudi-Arabien, Kenia und Tansania (1998)

Die Operation »Heiliger Dienstag«

Die Hamburger Terrorzelle um Mohammed Atta und Ramzi Binalshibh – Anschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole (2000) – Vorbereitung der Hamburger Zelle und ihrer Helfershelfer auf die Attentate in New York und Washington – Die Anschläge vom 11. September 2001

Touristen im Visier von Al Qaida

Die Jagd nach den Drahtziehern vom 11. September – Bombenattentate auf den Ferieninseln Djerba und Bali – Verhaftung von Ramzi Binalshibh, Koordinator der Anschläge in den USA – Das geheime Biowaffenprogramm der Al Qaida

Epilog

Der Kampf gegen den Terror darf nicht zur Preisgabe demokratischer Rechte führen

Anhang

Anmerkungen

Chronik des internationalen Terrorismus

Die Attentäter vom 11. September 2001

Bibliographie

Personenregister

Prolog

Die Verhaftung von Khalid Scheich Mohammed, dem Gehirn von Al Qaida, im März 2003

Es ist kurz vor Morgengrauen, als sich mehrere Männer an das Grundstück in der Nisar Road Nr. 18 a heranschleichen. Sie tragen schußsichere Westen und haben automatische Waffen im Anschlag. Geduckt huschen sie an der mannshohen Grundstücksmauer entlang, die weiß getüncht ist. An den Stellen, wo Efeu wächst und sie nicht so sehr auffallen, halten sie kurz inne.

Die Männer gehören zu einem Sonderkommando des Inter-Service Intelligence (ISI), des berüchtigten pakistanischen Militärgeheimdienstes. Einige der Agenten bereiten das Überklettern der Mauer vor, andere schleichen sich an die Einfahrt heran. Das schmiedeeiserne Tor ist mit einer Kette und einem Vorhängeschloß gesichert. Mit einem Bolzenschneider wird das Schloß nahezu lautlos geknackt. Die Agenten entsichern ihre Schnellfeuergewehre.1

Auf dem Schild neben der Toreinfahrt steht »Dr. A. Q. Khan«. Der vollständige Name des Hausbesitzers lautet Abdul Qadoos Khan. Der 72jährige Mikrobiologe ist am Kardiologischen Institut von Rawalpindi, neun Meilen südöstlich von Pakistans Hauptstadt Islamabad, ein angesehener Wissenschaftler. In dem zweistöckigen Haus lebt er zusammen mit seiner Frau, seinem 42jährigen Sohn Ahmed Abdul sowie seiner Schwiegertochter und den beiden Enkelkindern von acht und zwölf Jahren. Ganz in der Nähe befindet sich auch die Residenz des pakistanischen Präsidenten General Pervez Musharraf.

Khan ist ein führendes Mitglied der pakistanischen Partei Jamaat-e-Islami, die eine Schlüsselrolle im Oppositionsbündnis gegen die amerikafreundliche Militärregierung einnimmt. Das ist aber nicht der Grund, warum sein Anwesen seit Tagen überwacht wird, wobei sogar modernste, satellitengestützte Technik aus den USA Anwendung findet. Die ISI-Agenten wissen, daß Khan und seine Frau gar nicht zu Hause sind. Ihnen geht es auch weniger um den Mikrobiologen als vielmehr um seinen Gast. In ihm vermuten sie den weltweit gesuchten Khalid Scheich Mohammed, den Operationschef von Al Qaida, den vermutlich brutalsten Terroristen der Weltgeschichte.

Osama Bin Laden ist wohl die Symbolfigur von Al Qaida, aber Scheich Mohammed gilt als der Architekt der Organisation. Der 37jährige Pakistani soll neben einer Reihe von Attentaten auch für die Anschläge vom 11. September 2001 verantwortlich sein. Er hat sich offenbar den teuflischen Plan ausgedacht, entführte Flugzeuge als Waffen einzusetzen und Tausende von Menschen auf einmal zu ermorden. Für ihn ist das ein legitimes Mittel im Kampf gegen die westliche Welt und alle Ungläubigen.

Auf seinen Kopf hat die US-Regierung eine Belohnung von 25 Millionen US-Dollar ausgesetzt, genausoviel wie für Osama Bin Laden. Aber KSM, wie Khalid Scheich Mohammed in amerikanischen Ermittlerkreisen der Einfachheit halber genannt wird, ist schlau, weltgewandt und spricht mehrere Sprachen. Wenn es die Situation erfordert, wird aus dem frommen Moslem in traditioneller Tracht ein charmanter, unterhaltsamer Frauenheld im Smoking. Obwohl er ständig auf der Flucht ist, gejagt von US-Bundespolizei FBI und der CIA sowie einem halben Dutzend anderer Geheimdienste, dirigiert er weiterhin verschiedene Terrorzellen der Al Qaida in der ganzen Welt.

Mehrmals ist es ihm schon gelungen, seinen Häschern zu entwischen. Am 10. September 2002, kurz vor dem ersten Jahrestag der Anschläge in den USA, hatten ihn Zielfahnder des FBI und der CIA in einem Wohnblock in Karatschi ausfindig gemacht. Doch als ISI-Agenten dann das Versteck stürmten und nach einer wilden Schießerei mehrere Personen verhaftet wurden, war KSM nicht darunter. Er hatte es geschafft, in letzter Sekunde zu entkommen.

Aber diesmal sind die ISI-Agenten besser vorbereitet. Tagelang haben sie das Haus observiert. Sie wissen, daß sich Scheich Mohammed zusammen mit fünf weiteren Personen in dem Gebäude aufhält. Alles ist umstellt, sämtliche Fluchtwege sind abgeschnitten, KSM sitzt in der Falle. Sie warten nur noch auf den Einsatzbefehl.

Über Funk kommt um drei Uhr morgens der Befehl zum Zugriff. Es ist Samstag, der 1. März 2003. In Sekunden rennen die Einsatzkräfte durch den Vorgarten auf die Haustür zu. Sie wird mit grobem Gerät blitzschnell aufgebrochen. Im Innern des Hauses fallen dann Schüsse. Es ist ein Schrei zu hören. Ein Mitglied des Kommandos wird durch eine Salve aus einer AK-47 getroffen und am Bein verletzt. Während die eine Gruppe Ahmed Abdul überwältigt und dessen Frau und Kinder in das Badezimmer sperrt, stürmt die andere Gruppe ins Gästezimmer zu Scheich Mohammed und einem weiteren Mitglied der Al Qaida.

Sie überraschen die Terroristen im Schlaf. Bevor KSM richtig weiß, wie ihm geschieht, wird er von ISI-Agenten aus dem Bett gezerrt und gegen die Zimmerwand gedrückt. Man zieht ihm eine schwarze Kapuze über den Kopf und legt Handschellen an. Er wird sofort abgeführt. Die Verhaftung verläuft ohne weitere Zwischenfälle.

Die Männer des Sonderkommandos stellen anschließend das gesamte Haus auf den Kopf. Sie reißen alle Schranktüren und Schubladen auf und werfen den Inhalt meist achtlos auf den Boden. Am ergiebigsten ist die Durchsuchungsaktion im Zimmer von Scheich Mohammed. Dort finden sie Mobiltelefone, Computerdisketten, Adreßbücher und Kalender. Die wertvolle Beute füllt den ganzen Kofferraum eines Einsatzwagens und wird sofort zum Flughafen gebracht und nach Washington ausgeflogen. Dort gibt es im CIA-Hauptquartier in Langeley seit langem eine hundertköpfige Spezialeinheit, die sich ausschließlich mit dem Aufspüren von Osama Bin Laden und seiner Führungsgruppe befaßt.

Scheich Mohammed wird derweil zu einem Militärstützpunkt in Rawalpindi gebracht. ISI-Agenten wollen ihn noch vernehmen, bevor sie ihn den Amerikanern übergeben. Er könnte vermutlich die Lücken der Ermittler schließen, die seit einiger Zeit versuchen, hinter die Strukturen von Al Qaida zu kommen und die wichtigsten Akteure zu enttarnen. KSM ist ein Veteran des Terrors. Der »Graubart«, wie er sich selbst nennt, gilt mit seinen 37 Jahren als eines der ältesten Mitglieder in der Führungsriege der Untergrundorganisation. Er ist vermutlich der einzige, der die Zusammenhänge der Attentate kennt, der weiß, wie sie finanziert wurden und wer daran beteiligt war. Über ihn könnte auch eine direkte Spur zu Osama Bin Laden führen.

Als auf dem Militärstützpunkt dem kleinen, beleibten Mann die schwarze Kapuze vom Kopf gezogen wird, macht sich Aufregung breit. Die ISI-Agenten sind sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie den Richtigen erwischt haben. Der Mann vor ihnen sieht völlig anders aus als auf den beiden Fotos des FBI-Fahndungsplakates. Dort ist er mit traditioneller Kopftracht, Brille und langem Vollbart zu sehen sowie mit gestutztem Bart in Anzug und Krawatte. Aber weder mit dem einen noch mit dem anderen Foto scheint der Mann vor ihnen etwas gemein zu haben. Er sieht deutlich älter aus und hat einen schwarz-grauen Oberlippenbart. In seiner Nachtbekleidung, einem weißen T-Shirt mit großem Ausschnitt, das seine kräftige Brustbehaarung hervortreten läßt, wirkt er zudem völlig anders. Die Vernehmungsbeamten blickt er müde, doch voller Verachtung an.

»Es wird Pakistan überhaupt nichts helfen, wenn ihr hier die Ersatz-Amerikaner spielt«,2 beschimpft er sie plötzlich. Das Schweigen ist gebrochen. Die Vernehmer haken nach. Sie wollen wissen, ob Osama Bin Laden noch lebt.

»Gelobt sei Allah, unser Scheich lebt. Ich traf ihn vor nur einem Monat«, erklärt KSM. »Der Scheich ist ein Held des Islams, und ich bin sein kleiner Diener. Mein Leben, meine Familie, mein Geld, alles würde ich für ihn opfern.«3 Nun sind sich die ISI-Agenten sicher, daß sie doch den richtigen Mann gefaßt haben.

US-Präsident George W. Bush ist geradezu aus dem Häuschen, als er von der Verhaftung erfährt: »Das ist fantastisch!« triumphiert er in Camp David an diesem Samstagmorgen. »Wir müssen der Welt klarmachen, was für ein großer Schlag das ist«, weist er seine Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice an.4 Erfolgsmeldungen im Kampf gegen den Terrorismus hat Bush auch dringend nötig. Nach den Anschlägen vom 11. September erklärte er die Jagd nach den Verantwortlichen zum Schwerpunkt seiner Amtszeit. Bush verknüpfte seine politische Zukunft mit einem notwendigen Erfolg im »Krieg gegen den Terrorismus«. Per Dekret erteilte er der CIA die Lizenz zum Töten und verkündete im Fernsehen, er wolle Osama Bin Laden »tot oder lebendig«.

In seiner Schreibtischschublade im Büro im Oval Office des Weißen Hauses bewahre er ein Fahndungsplakat des FBI mit Namen und Fotos der 22 meistgesuchten Terroristen auf, verriet Bush dem internationalen Pressekorps. Sobald einer davon verhaftet oder erschossen werde, wolle er eigenhändig dessen Namen und Foto durchstreichen.

Bislang gibt es auf dieser Liste erst ein einziges Kreuz. Es überdeckt das Foto von Mohammed Atef, dem Militärchef von Al Qaida, der bei der Bombardierung Afghanistans eher zufällig getötet wurde. Nach 18 Monaten »Krieg gegen den Terror« ist die Bilanz von Bush ernüchternd. Weder ist es dem US-Präsidenten gelungen, das Netzwerk der Al Qaida zu zerschlagen, noch deren führende Köpfe dingfest oder unschädlich zu machen. Vielmehr muß sich Bush zwischenzeitlich kritische Fragen über den Sinn und Zweck der heftigen Bombardements auf Afghanistan gefallen lassen. Bereits nach den ersten Angriffsflügen waren der US-Luftwaffe die Ziele ausgegangen. Terrorismus läßt sich eben nicht mit herkömmlichen, militärischen Mitteln bekämpfen.

Von seinen vollmundigen Versprechen, Osama Bin Laden alsbald erledigt zu haben, will Bush längst nichts mehr wissen. Er wagt es nicht einmal mehr, den Namen des Terrorpaten überhaupt in den Mund zu nehmen. Das letzte Mal hat er Osama Bin Laden vor gut einem Jahr in einer Rede erwähnt, und in der Öffentlichkeit wird seit acht Monaten so gut wie nicht mehr von ihm gesprochen. Statt dessen hat er nun den irakischen Diktator Saddam Hussein zum Staatsfeind Nummer Eins auserkoren.

Die Verhaftung von Khalid Scheich Mohammed verschafft Bush etwas Luft in seinem bislang erfolglosen »Krieg gegen den Terror«. Auf der Web-Seite des FBI werden dicke rote Balken über die beiden Fahndungsfotos von Scheich Mohammed gesetzt. Darauf ist in weißen Lettern zu lesen: Verhaftet.

Die Festnahme beendet zugleich eine frustrierend lange Phase im Antiterrorkampf der USA. Fast ein Jahrzehnt lang hatten die Ermittler KSM erfolglos auf fünf Kontinenten gejagt, wobei sie seine Bedeutung jedoch völlig verkannten. Der kleinwüchsige, korpulente Scheich war bis zu seiner Verhaftung das Gehirn von Al Qaida. Noch nie zuvor hatte ein Akteur des internationalen Terrorismus so viele Menschenleben auf dem Gewissen.

Die Blutspur von Scheich Mohammed reicht zurück bis 1993, als am 26. Februar Terroristen erstmals versuchten, die Zwillingstürme des World Trade Center zum Einsturz zu bringen. Damals zündeten sie in der Tiefgarage eine 1200-Pfund-Bombe, die in einem Lieferwagen versteckt war.

In tödlicher Mission

Die erste große Aktion von Khalid Scheich Mohammed und Ramzi Yousef: Der Bombenanschlag auf das World Trade Center im Februar 1993

Es ist kalt an diesem frühen Freitagnachmittag in New Jersey. Ramzi Yousef steht am Ufer des Hudson River. Es schneit. Gebannt schaut er hinüber auf die Südspitze Manhattans. Aus dem Nordturm des World Trade Center steigen dicke schwarze Rauchschwaden, aber das Gebäude selbst bewegt sich nicht. Yousef überlegt angestrengt, was sie falsch gemacht haben.1

Monatelang war alles sorgfältig und bis ins kleinste Detail geplant worden. Den Lieferwagen mit der 1200-Pfund-Bombe hatten sie in der Tiefgarage direkt neben der Wand mit den Stützpfeilern geparkt. Seinen Berechnungen nach hätte die Druckwelle ausreichen müssen, um den ganzen Turm zum Einsturz zu bringen. Das Monstrum aus Stahl, Glas und Beton sollte wie ein Baum fallen und dabei den Südturm mitreißen.

Aber womöglich hatten sie die solide Konstruktion der Zwillingstürme unterschätzt. Immerhin waren über 180000 Tonnen Stahl beim Bau verarbeitet worden, um die Kolosse mit 415 und 417 Meter Höhe stabil zu bekommen. Es sind die höchsten Gebäude in New York, die seit der Eröffnung 1973 als Wahrzeichen der Stadt gelten. 50000 Menschen arbeiten in den beiden Türmen. Zudem kommen täglich 80000 Besucher, um die Aussicht auf der Terrasse des Südturms zu genießen. Insgesamt 104 Aufzüge sorgen dafür, daß sich über 100000 Menschen gleichzeitig in den Türmen aufhalten können. Sie alle sollten sterben.

Das Blutbad war gedacht als gerechte Strafe dafür, daß die Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten die Israelis dabei unterstützten, Palästinenser zu unterdrücken und arabische Nachbarstaaten zu attackieren. Für Yousef bedeuteten die USA das Böse schlechthin. Die Amerikaner sollten jetzt mit Menschenleben für ihre Taten bezahlen. Der »große Satan«, wie Yousef gegenüber seinen Freunden die USA stets bezeichnete, hätte danach zur Kenntnis nehmen müssen, daß sie sich im Krieg befinden und einen ernstzunehmenden Gegner haben.2

Yousef hadert mit sich. Die Zwillingstürme, das Symbol für den wirtschaftlichen Erfolg der USA, leuchten ihm wie eh und je entgegen. Er befürchtet, daß nur die Zünder explodiert sind, aber nicht die eigentliche Bombe. Anders kann er es sich nicht erklären, daß die Gebäude nicht wie geplant eingestürzt sind.3 Die Mission ist jedenfalls gescheitert.

Es bleibt ihm jedoch nicht viel Zeit zum Grübeln, jetzt gilt es, das Land schnellstens zu verlassen. Bereits in wenigen Stunden werden alle Ausfahrtstraßen, Bahnhöfe und Flughäfen strengstens kontrolliert sein. Zum Glück ist er darauf eingestellt, seine Flucht gehört genauso zum Plan wie das Attentat selbst. Schon vor zwei Monaten hat er sich einen neuen Paß besorgt. Am Silvestertag, als das diplomatische Personal mit den Gedanken schon ganz bei den Feierlichkeiten zum neuen Jahr weilte, war er zum pakistanischen Konsulat gegangen und hatte sich mit Hilfe einer Fotokopie alter amtlicher Unterlagen einen Paß auf seinen richtigen Namen Abdul Basit Mahmoud Abdul Karim ausstellen lassen. Das Dokument mit der Nummer AA 662 804 weist ihn als einen 1968 in Kuwait geborenen Sohn pakistanischer Einwanderer aus. Damit dürfte es bei der Paßkontrolle auf dem New Yorker John-F.-Kennedy-Flughafen keine Schwierigkeiten geben. Von dort soll es mit der Pakistan International Airlines nach Karatschi gehen und dann weiter nach Quetta, der alten Handelsstadt an der Grenze zu Afghanistan. Dort warten seine Frau und seine kleine Tochter auf ihn. Monatelang hat er die beiden nicht mehr gesehen. Nun sind es nur noch wenige Stunden bis zum Abflug. Das Erste-Klasse-Ticket hat er bereits in der Tasche. Es müssen nur noch ein paar Sachen zusammengepackt werden.

Yousef fährt zurück in sein Appartement in Jersey City. Auf dem Weg dorthin hört er die Sirenen der Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr und der Ambulanz. Sie rasen zum Holland-Tunnel, der Jersey mit Manhattan verbindet. Die New Yorker Zentrale hat Unterstützung angefordert. Die Explosion im World Trade Center ist die bislang größte Katastrophe in der 128jährigen Geschichte der New Yorker Feuerwehr. Und nicht nur das. Sie ist zugleich auch der bis dahin größte Terroranschlag innerhalb der Vereinigten Staaten, denn bisher fanden vergleichbare Bombenattentate nur im Ausland statt. Von diesem Tag an ist alles anders. Es ist der 26. Februar 1993.

Sechs Monate zuvor, am 1. September 1992, hatte die Mission begonnen. Damals war Ramzi Yousef mit dem Flug PK-703 von Pakistan nach New York gekommen. An seiner Seite befand sich Ahmed Mohammed Ajaj, der ihn in Amerika einführte. Bis zum Frühjahr 1992 hatte sich Ajaj schon in den USA aufgehalten und als Lieferant für Domino’s Pizza in Houston/Texas gejobbt. Am 24. April 1992 war er zu seinem Chef gegangen und hatte ihm erzählt, er würde nach New York ziehen und sich dort nach einem besseren Job umsehen. Doch in Wirklichkeit hatte er etwas ganz anderes im Sinn. Mit einem Billigticket flog er nach Pakistan, wo er im nordwestlichen Grenzgebiet zu Afghanistan in der Nähe von Peschawar auf die Universität »Dawa al Dschihad« (Sammlung der Kämpfer für den Heiligen Krieg) ging, an der junge Islamisten vorwiegend das Kriegs- und Terrorhandwerk beigebracht bekamen. Die Kontakte dorthin hatten ihm militante Mitstreiter in Texas vermittelt.

Im Camp wurde der schmächtige Pizza-Lieferant im Nahkampf sowie im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausgebildet. Dort lernte er auch Yousef kennen. Der damals 24jährige Pakistani war sein Ausbilder. Seit über einem Jahr betätigte sich Yousef bereits als Lehrer in verschiedenen Terrorcamps. Die Kenntnisse dafür hatte er sich während eines Ingenieurstudiums in Wales angeeignet. Finanziert worden war die Ausbildung von seinen Eltern, die in den 60er Jahren als Gastarbeiter im ölreichen Kuwait eine Anstellung gefunden hatten. Da sie aber im Golfstaat keine Staatsbürgerschaft erhielten und als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden, ging die Familie später zurück nach Pakistan.

Yousef unterbrach 1988 sein Studium und ging von Wales nach Afghanistan, um sich in einem Trainingscamp der Mudschaheddin zum »Gotteskrieger« ausbilden zu lassen. Es handelte sich um das Camp Sadda an der pakistanisch-afghanischen Grenze.4 Leiter des Lagers war zu jener Zeit Abdul Rasul Sayyaf, einer der engsten Vertrauten des saudi-arabischen Millionärssohns Osama Bin Laden, der mit seinem Erbe den Krieg der Mudschaheddin gegen die sowjetischen Invasoren in Afghanistan finanzierte. Yousef zeigte sich dort während seiner sechsmonatigen Grundausbildung äußerst gelehrig und geschickt, besonders was das Bauen von Bomben anbetraf. Bald nannte man ihn nur noch den »Chemiker«5 und betraute ihn mit Spezialaufgaben. Nach der Vertreibung der sowjetischen Truppen aus Afghanistan Ende 1989/Anfang 1990 kehrte Yousef vorübergehend nach Wales zurück, um seinen Abschluß als Elektronikingenieur zu machen. Doch in dem Beruf arbeiten wollte er nicht. Seine innere Berufung war inzwischen der Kampf gegen die Ungläubigen. Deshalb stellte er sein Wissen anschließend auch in den Dienst der Islamisten und übernahm die Technikausbildung in mehreren Lagern im Norden Pakistans. Hier brachte er Rekruten wie Ajaj bei, aus handelsüblichen Materialien möglichst unauffällig tödliche Bomben zu bauen. So lernte Ajaj beispielsweise von ihm, wie man mit ein paar Handgriffen eine billige Casio-Uhr zum Zeitzünder umfunktionierte.

Die Ausbildung war hart und fand immer mit scharfen Materialien statt. Viele der Rekruten erlitten beim Umgang mit den selbstgebauten Bomben schwere Verletzungen. Die Ausbilder nahmen dies billigend in Kauf, denn die Unfälle führten zu einer gewissen Auslese. Nur die Fähigsten überstanden die Lehrgänge unbeschadet, so daß gewährleistet war, daß keine »Versager« zu einer Mission geschickt wurden.

Ajajs Ausbildung verlief ohne Zwischenfall. Mitte Juli 1992 war er einsatzbereit und wurde Yousef zugeteilt. Für die geplante USA-Mission schien er der ideale Mann zu sein, denn der Pizza-Job in Houston sollte ihn mit den Gepflogenheiten in den Vereinigten Staaten hinlänglich vertraut gemacht haben.

Als erstes erhielt Ajaj von Yousef den Auftrag, in der pakistanischen Hauptstadt auf der US-Botschaft Visa zu besorgen. Der Beamtin auf der Konsularabteilung in Islamabad erzählte er dann, daß er bereits ein Fünf-Jahres-Visum für die USA besitze, dies nur leider in Houston, wohin er jetzt zurückkehren wolle, vergessen habe. Die Beamtin zeigte sich davon wenig beeindruckt. Jeden Tag hörte sie Dutzende solcher Geschichten. In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft versuchten viele Pakistani, mit allen möglichen Ausreden an eine Aufenthaltsgenehmigung für die USA zu kommen. Die Beamtin verweigerte das Visum. Es schien auch keinen Sinn zu haben, mit einer anderen Geschichte für Yousef einen ähnlichen Versuch zu unternehmen. Da es offensichtlich keine Möglichkeit in Pakistan gab, an legale Papiere heranzukommen, wollten beide einen anderen Weg einschlagen und es mit einem Trick direkt vor Ort versuchen. Yousef hatte bereits eine Idee.

Am 1. September 1992 trafen beide mit einem Flug aus Karatschi in New York ein. Auf dem internationalen JFK-Airport verließen sie das Flugzeug in traditionell arabischer Kleidung: weit geschnittene Hosen, darüber ein über die Knie reichendes Hemd mit Ballonärmeln. Bei der Paßkontrolle am Ende der großen Ankunftshalle legte Yousef am Schalter der US-Einwanderungsbehörde INS einen irakischen Paß vor. Die Beamtin musterte ihn skeptisch.

»Ihr vollständiger Name?« fragte sie.

»Ramzi Ahmed Yousef.«

Als die Beamtin keine Anstalten machte, ihm einen Einreisevermerk in den Paß zu stempeln, begann Yousef seine einstudierte Inszenierung. Theatralisch hob er eine Hand und schwor, daß er im Irak das Schlimmste zu befürchten hätte, falls ihn die USA dorthin zurückschicken würden, denn er sei vor dem Militärdienst geflüchtet und wolle politisches Asyl beantragen. Eineinhalb Jahre nach dem Golf-Krieg, so sein Kalkül, würden die USA keinen irakischen Deserteur an den Diktator Saddam Hussein überstellen.

Ein paar Meter weiter versuchte derweil Ajaj an einem anderen Schalter sein Glück. Er legte der Beamtin einen schwedischen Reisepaß vor, ausgestellt auf den Namen Khurram Khan. Doch auch diese Kollegin war äußerst mißtrauisch. Der Mann vor ihr sah in seiner arabisch anmutenden Tracht nicht aus wie ein schwedischer Staatsbürger. Ajaj bemerkte ihre Skepsis und antwortete möglichst selbstsicher: »Meine Mutter ist Schwedin. Wenn Sie mir nicht glauben, schauen Sie doch in Ihrem Computer nach.«6 Doch statt dessen nahm die Mitarbeiterin der Einwanderungsbehörde seinen Reisepaß in kritischen Augenschein. Dabei fiel ihr auf, daß das Foto einfach auf das des eigentlichen Paßinhabers geklebt war. Als sie mit ihren langen Fingernägeln begann, das aufgeklebte Foto abzulösen, fing Ajaj empört an zu schreien. Die Beamtin zeigte sich wenig beeindruckt und ließ ihn abführen. In einem der INS-Büros begann dann das Verhör:

»Wie lautet Ihr richtiger Name?«7

Ajaj versuchte, Ruhe zu bewahren. Yousef hatte ihn als Ausbilder auf diese Situation vorbereitet, und im Flugzeug war er die Liste mit all den Fragen, die von den Beamten der INS in solchen Fällen gestellt werden, noch einmal durchgegangen. Auf die tatsächlich nun routinemäßig gestellten Fragen wußte er daher zunächst auch immer eine möglichst nebulöse Antwort zu geben, die sich schwer nachprüfen ließ. Doch dann durchsuchte ein INS-Inspektor auch Ajajs Lederhandtasche. Dabei fielen ihm neben dem Fragenzettel weitere Reisedokumente in die Hände. Es handelte sich um einen jordanischen, einen britischen und einen saudi-arabischen Reisepaß, alle mit einem Foto von Ajaj, doch alle auf unterschiedliche Namen ausgestellt. Auf die Fragen, die nun kamen, wußte Ajaj keine plausiblen Antworten mehr. Umgehend wurde er wegen des Verstoßes gegen die Einreisebestimmungen der USA verhaftet. Die Beamten ließen nun auch sein Reisegepäck kommen und stießen bei der Untersuchung auf brisantes Material: ein Videoband über Selbstmordanschläge, einen Lehrfilm über die Herstellung von Sprengstoff sowie mehrere Handbücher mit ausführlichen Anleitungen zum Bau von Bomben. In einem der Bände lagen mehrere handschriftliche Zeichnungen, auf denen in arabisch vermerkt war, wie man ein größeres Gebäude in die Luft sprengt. Ein Sachverständiger übersetzte später den Titel des Buches fälschlicherweise mit »Die Grundregeln«. Korrekt übersetzt heißt es: Al Qaida – Die Basis.8 Das 1989 in Afghanistan hergestellte Handbuch war der Leitfaden der Terrororganisation, mit dem die von Osama Bin Laden finanzierten Gruppen nicht nur gegen die Sowjets im Hindukusch, sondern gegen die Ungläubigen in der ganzen Welt kämpfen sollten.

Yousef wurde derweil in einem anderen Raum vernommen. Die Beamten brachten ihn nicht in Zusammenhang mit Ajaj, der gegen seine Festnahme laut vernehmlich protestiert hatte. Yousef versuchte den Eindruck zu erwecken, daß er nichts zu verbergen habe. Freundlich und Verständnis erheischend lächelte er die Vernehmungsbeamtin an.

Doch diese blieb mißtrauisch. Yousef schien nicht der Typ zu sein, der sich verfolgt fühlte und deshalb politisches Asyl beantragen mußte. Zumindest zeigte er keine Anzeichen von Nervosität oder gar Angst. Völlig gelassen beantwortete er ihre Fragen in einem makellosen Englisch. Er erklärte dies damit, daß er ein paar Jahre in Schottland gelebt und an der Universität von Edinburgh Elektrotechnik studiert habe. Die Beamtin interessierte sich für ganz andere Dinge und fragte ihn auf den Kopf zu, ob er schon einmal in terroristische Aktivitäten verwickelt gewesen sei. Yousef wies dies empört zurück.

Die Beamtin glaubte ihm nicht und schlug ihrem Vorgesetzten vor, Yousef so lange in Sicherheitsverwahrung zu nehmen, bis ein Richter über seinen Asylantrag entschieden hatte. Zu diesem Zweck sollte er in eine der über 100 Internierungszellen auf dem Kennedy-Airport gebracht werden. Doch an diesem Tag waren bereits alle Zellen belegt. Der Vorgesetzte entschied daraufhin, den vermeintlichen Iraker nach erkennungsdienstlicher Behandlung laufenzulassen. Yousef wurde fotografiert, man nahm die Fingerabdrücke ab, und er erhielt die Auflage, am 8. Dezember 1992 in New York vor einem Asylrichter zu erscheinen. Yousef bedankte sich für das Entgegenkommen. Er war erst einmal ein freier Mann und hatte drei Monate Zeit, die Mission zu erfüllen. Allerdings war er nun gezwungen, den Plan etwas zu ändern. Er mußte Ersatz für Ajaj finden und den Verlust der Handbücher ausgleichen. Für einen solchen Fall war vorgesorgt. Er wußte, an wen er sich wenden konnte.

Yousef winkte ein gelbes Taxis herbei und nannte dem Fahrer die Adresse in Manhattan.9 Die Fahrt dorthin würde ihn mindestens 30 Dollar kosten, doch da er sich in der Riesenstadt nicht auskannte, war ihm das Nahverkehrssystem zu unsicher. Seinen Kontaktmann traf er in einer Moschee im Stadtteil East Village im Herzen von New York. Es war ein alter Freund: Mahmud Abouhalima. Der 33jährige stammte aus Ägypten und wurde wegen seiner Haarfarbe nur der »rote Mahmud« genannt.10 Yousef hatte ihn während seines ersten Aufenthalts in einem Ausbildungscamp in Pakistan kennengelernt. Der »rote Mahmud« war schon damals eine Legende, da er auf seiten der afghanischen Mudschaheddin als unerschrockener Minensucher galt. Mit einem bloßen Holzstock zog er regelmäßig los und spürte die gefährlichen Sprengfallen auf. Alle riskanten Einsätze überstand er unbeschadet.

Vor der Zeit in Afghanistan hatte Mahmud fünf Jahre lang in München gelebt. Drei Wochen nach dem Attentat auf den ägyptischen Staatspräsidenten Anwar al-Sadat war er im Oktober 1981 in die bayerische Hauptstadt gekommen und hatte beim Kreisverwaltungsreferat einen Asylantrag gestellt. Es war ihm gelungen, rechtzeitig das Land zu verlassen, denn nach dem Mord an Sadat hatte man in Ägypten mehrere hundert Fundamentalisten verhaftet.

Allerdings wurde sein Asylantrag ein Jahr später abgelehnt. Der »rote Mahmud« schaffte es daraufhin, binnen kürzester Zeit eine Deutsche zu heiraten, so daß ihm eine Duldung in Deutschland vorerst sicher war. Doch die Frau ließ sich trotz zweier Kinder noch vor Ablauf der Aufenthaltserlaubnis wieder von ihm scheiden. Mahmud heiratete kurzentschlossen gleich eine andere Deutsche. Aus dieser Ehe gingen ebenfalls zwei Kinder hervor, wodurch sich die Aufenthaltsmöglichkeit verlängerte. Doch ein erneuter Asylantrag wurde 1987 abgelehnt, da keine akute Verfolgungsgefahr mehr bestand. Als die bayerischen Behörden Mahmud schließlich abschieben wollten, fanden sie an seiner Adresse in einer Münchener Vorortgemeinde nur eine leere Sozialwohnung vor.11

Der »rote Mahmud« hatte sich nach Afghanistan abgesetzt und den radikal-islamischen Mudschaheddin angeschlossen. Zuvor war er allerdings noch mit seinem deutschen Fremdenpaß auf dem Münchener Generalkonsulat gewesen und hatte sich ein Visum für die Vereinigten Staaten besorgt. Nach Ende des Afghanistan-Krieges reiste er damit im Dezember 1990 in die USA ein und erklärte der Einwanderungsbehörde, daß er geradewegs aus München käme.


In New York arbeitete Mahmud offiziell als Taxifahrer, doch tatsächlich war er der Privatchauffeur und Vertraute von Scheich Omar Abdel Rahman, dem Anführer einer verschworenen Gemeinde von fundamentalistischen Muslimen. Rahman brauchte ständige Begleitung, denn er war bereits in seiner Kindheit an Diabetes erblindet, weshalb ihn seine Anhänger auch ehrfurchtsvoll den »blinden Scheich« nannten. Rahman war ein höchst eigenwilliger und sehr energischer Mann. Seine tief berührende, sonore Stimme setzte er ein, um Widerstand zu predigen, Haß zu säen und falsche Versprechungen zu machen. »Die Polizei mißhandelt euch, nur weil ihr Moslems seid, wehrt euch, Gott gibt euch die Kraft dazu!« rief er seinen Anhängern in New York zu, die seine Predigten auf Tonbandkassetten mitschnitten und an Muslime in den gesamten Vereinigten Staaten verschickten. »Die Tyrannei wird sich gegen die Unterdrücker kehren, und die Knechtung der Gläubigen wird sich zu ihrem Schaden wenden. Jede Minute, die ihr in Gefängnissen oder Konzentrationslagern verbringt, wird euch am Tage des Jüngsten Gerichts hoch angerechnet.«12

Der »blinde Scheich« forderte seine Zuhörer in letzter Konsequenz dazu auf, in den Dschihad, den Heiligen Krieg, zu ziehen. Eigentlich steht der Begriff Dschihad (zu deutsch: Bemühen, Anstrengung) im Koran für das Streben eines jeden Muslim, seine schlechten Gewohnheiten zu bekämpfen und sich darum zu bemühen, ein gottgefälliges Leben zu führen. Aber in der Diktion des Scheichs war damit etwas anderes gemeint. Ihm ging es um den Kampf gegen alle Ungläubigen, und zwar mit allen Mitteln. »Es gibt keine Lösung für unsere Probleme, ausgenommen den Dschihad, geführt im Namen Gottes. (…) Es gibt keine Lösung, es gibt keine Heilung, es gibt keine Medizin, ausgenommen den Dschihad, der Gottes Wille ist, wie uns der Islam lehrt. (…) Und wenn sie uns Terroristen nennen, dann sind wir eben Terroristen. Und wir sind gern Terroristen. Und wir leugnen es nicht. Denn wenn man den Koran richtig deutet, ist Terrorismus nichts anderes als die Ausführung des Dschihad im Namen Allahs. Das bedeutet, daß wir die Feinde Gottes terrorisieren, die auch unsere Feinde sind.«13 Nach dem Verständnis des »blinden Scheichs« waren somit Gewalt, Terror und Mord ein göttliches Gebot.

Seine Botschaften wurden bald erhört. Am 5. November 1990 erschoß ein fanatischer Anhänger des Scheichs im New Yorker East Side Hotel den orthodoxen Rabbiner Meir Kahane, Anführer der radikalen Kach-Partei. Nach der Verhaftung des ägyptischen Attentäters al-Sayyad Nosair durchsuchte die Bundespolizei FBI dessen Appartement in New Jersey und beschlagnahmte neben dem Computer insgesamt 47 Kartons mit persönlichen Unterlagen, zumeist auf arabisch. Die Beamten hielten dies nach einer ersten Durchsicht für belangloses, religiöses Zeug und verzichteten auf eine Übersetzung der Papiere und Dateien.14 Das sollte sich später als verhängnisvoller Fehler erweisen, denn auf dem Computer des Mörders befand sich ein Text – vermutlich der Auszug aus einer Predigt des »blinden Scheichs« –, der schreckliche Ereignisse vorwegnahm: »Wir müssen die Feinde Gottes vollständig demoralisieren. Dazu müssen wir die Türme, die die Säulen ihrer Zivilisation sind, in die Luft jagen und zerstören – zum Beispiel ihre Touristenattraktionen und Hochhäuser, auf die sie so stolz sind.«15

Nach der Verhaftung des Rabbiner-Mörders mußte dieses Konzept nun von anderen Kämpfern verwirklicht werden. Über längere Zeit wurden die geeigneten Leute dafür gesucht. Im August 1992 war es dann soweit. Nach einem Telefonat des »blinden Scheichs« von New York mit einem Vertrauten in Pakistan machten sich Yousef und Ajaj auf den Weg in die Metropole der »Feinde Gottes«.

Yousef wurde gleich nach der Ankunft von seinem Freund Mahmud dem Scheich vorgestellt. Dies geschah anläßlich einer Privataudienz in der Wohnung des Religionsführers in Jersey City. Der »blinde Scheich« gewährte ihnen über eine Stunde und lud sie sogar zum Essen ein.16 Für Yousef war dies eine große Ehre, denn in den afghanischen Camps und den pakistanischen Ausbildungslagern war immer mit großer Hochachtung vom »blinden Scheich« gesprochen worden, der in islamistischen Kreisen bereits seit den 70er Jahren hohes Ansehen genoß. Damals betätigte sich der Scheich noch in Ägypten als Theologiedozent und war einer der frühen öffentlichen Verfechter des Heiligen Krieges. Seine Studenten ermunterte er, christliche Ladenbesitzer und kleine Geschäftsleute auszuplündern, wofür er auch die erforderlichen religiösen Verordnungen (Fatwa) ausstellte. Schließlich herrsche, so der Scheich, zwischen Christen und Muslimen ein Kriegszustand.17