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Meir Shalev

Judiths Liebe

Roman

Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1994 bei

Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Kejamim achadim‹

Copyright © 1994 by Meir Shalev

Die deutsche Erstausgabe erschien 1998

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Zinaida Serebriakova,

›Selbstbildnis am Frisiertisch‹,

1909 (Ausschnitt)

Copyright © 2014, ProLitteris,

Zürich

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23119 9 (14. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60402 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Erste Mahlzeit

1

An heißen Tagen verströmen die Mauern meines Hauses leichten Milchgeruch. Die Wände sind verputzt und gestrichen, Fliesen bedecken die Erde, aber aus Mauerporen und Bodenritzen weht mir dieser Duft entgegen, hartnäckig schleichend wie der Schweiß uralter Liebe.

Früher ist mein Haus mal ein Stall gewesen. Das Heim eines Pferdes, einer Eselin und zweier Milchkühe. Es gab dort eine große Holztür mit einem Eisenriegel über die ganze Breite, Futtertröge aus Beton, Ochsengeschirre, Kannen und Melkschemel.

Und eine Frau wohnte in dem Stall, in dem sie arbeitete und schlief, träumte und weinte. Und auf einem Sacklager brachte sie ihren Sohn zur Welt.

Tauben spazierten den Dachfirst entlang, in den Mauerwinkeln umschwirrten Schwalben ihre Lehmnester, und so angenehm war ihr Flügelschlag, daß ich ihn jetzt noch beim Erinnern übers Gesicht streichen und meine Alters- und Zornesrunzeln glätten spüre.

Morgens malte die Sonne durch die Stalluken Lichtpunkte an die Wände und vergoldete die tanzenden Staubkörnchen in der Luft. Tau sammelte sich in den Kannendeckeln, und auf den Strohballen flitzten Feldmäuse wie kleine graue Blitze umher.

»Die Eselin war sehr ungestüm und klug«, erzählte mir meine Mutter als eine jener Erinnerungen, die sie von mir bewahrt wissen wollte, »sogar im Schlaf schlug sie noch aus, und wenn man auf ihrem Rücken reiten wollte, mein Sejde, galoppierte sie zur Tür, duckte sich unter der Eisenstange durch, und so man nicht [6] rechtzeitig absprang, Sejde, mejn Kind, schlug einem der Stab gegen die Brust und warf einen zu Boden.« Die Eselin war sogar fähig, dem Pferd Gerste zu klauen und laut wiehernd mit dem Huf an die Haustür zu klopfen, um ein Stück Zucker zu ergattern.

Ein mächtiger Eukalyptusbaum stand im Hof, mit ausladender, würziger, ewig raschelnder Krone. Kein Mensch wußte, wer ihn gepflanzt, welcher Wind seinen Samen hierhergetragen hatte. Er war größer und älter als all seine Brüder im nahen Eukalyptuswäldchen, stand schon an Ort und Stelle und wartete, bevor noch das Dorf gegründet wurde. Oft bin ich hinaufgeklettert, weil Krähen hoch oben in ihm nisteten und ich schon damals ihre Lebensweise studierte.

Jetzt ist meine Mutter längst tot, der Baum gefällt, der Stall zum Haus geworden, und die Krähen fliegen und vergehen, kehren zu Staub zurück und schlüpfen aus ihren Eiern. Dennoch sind diese Krähen und jene Geschichten, der Stall und besagter Eukalyptusbaum die Ankerpunkte, die ewigen Bilder meines Lebens.

Die Höhe des Baums betrug an die zwanzig Meter, das Krähennest saß nahe der Spitze, und im Gewirr der niedrigen Zweige hingen die Reste einer ›Tarzan-Hütte‹ von Kindern, die dort hinaufgeklettert und untergeschlüpft waren, bevor ich das Licht der Welt erblickt hatte.

Auf alten Luftaufnahmen der britischen Luftwaffe und in den Geschichten der Dorfbewohner zeichnet sich der Baum deutlich ab, aber heute ist nichts mehr von ihm übrig als ein mächtiger Stumpf, auf dem der Tag, an dem er gefällt wurde, eingebrannt steht wie der Todestag auf einem Grabstein: 10. FEBRUAR 1950. Mosche Rabinowitz, der Mann, auf dessen Hof ich aufwuchs und in dessen Stall ich wohne, der Mann, der mir seinen Namen gab und mir seinen Besitz vermachte, war, kaum von der Beisetzung meiner Mutter zurückgekehrt, zur Tat geschritten, hatte die große Axt geschärft, um den Baum hinzurichten.

[7] 2

Drei Tage lang fällte Rabinowitz den Baum.

Wieder und wieder wurde die Axt geschwungen, wieder und wieder landete sie. Immer rundum hackte der Mann, holte ächzend aus und schlug stöhnend zu.

Ein Mann von kleinem Wuchs ist er, schweigsam und stämmig, mit dicken, kurzen Armen. Noch heute, im Alter, nennen ihn die Leute im Dorf – seiner Stärke und Duldsamkeit wegen – ›Rabinowitz, der Bulle‹, und eine dritte Generation Kinder spielt das ›Böser-Bär-Spiel‹ mit ihm: Mit einer Hand umklammert er drei schmale Kinderärmchen, deren drei Besitzern es bei allem Lachen und Kreischen nicht gelingt, sich aus seinem Griff zu befreien.

Späne und Seufzer flogen, Tränen und Schweiß troffen, Schneeflocken wirbelten umher, denn es war jener kalte Winter, in dem sogar hier Schnee fiel, und trotz der Meinungsverschiedenheiten, die hier um jede Erinnerung ausbrechen, gibt es in unserm Dorf keine Debatten über diesen Racheakt, den jedes Kleinkind bis ins einzelne kennt:

Mit einem Dutzend Handtüchern wischte Rabinowitz sich Gesicht und Nacken ab.

Acht Axtstiele zerbrach und wechselte er.

Vierundzwanzig Liter Wasser und sechs Kannen Tee trank er.

Alle halbe Stunde schärfte er die Axtschneide mit Drehstein und Wetzstahl.

Neun Laibe Brot mit Wurst und eine Kiste Orangen aß er.

Siebzehnmal sank er in den Schnee, sechzehnmal stand er auf und hackte weiter.

Und die ganze Zeit hielt er seine zweiunddreißig Zähne zusammengepreßt, alle zehn Finger verkrampft, und sein keuchender Atem dampfte in der Kälte, bis das große berstende Knacken erschallte, begleitet von dem lauten Seufzer der Umstehenden, [8] wie das Murmeln beim Verlöschen der Lichter im Volkshaus, nur stärker und angstvoller.

Dann der Entsetzensschrei und das Getrappel flüchtender Füße und danach der Todeslärm, für den es nichts Vergleichbares gibt, nur die Feststellung als solche: das Getöse beim Fall und Tod eines großen Baumes, das keiner, der es gehört hat, je vergessen wird – das krachende Abbrechen, der laute Sturz, das pfeifende Aufschlagen auf dem Boden.

So hören sich die Sterbelaute eines Menschen nicht an, aber auch die Lebensgeräusche von Baum und Mensch sind ja verschieden, ebenso wie die Stille, die ihrem Hinscheiden folgt.

Die Stille des gefällten Baums ist ein dunkler Vorhang, der sehr schnell von menschlichen Schreien, schneidenden Windstößen und den Rufen von Vögeln und Vieh zerrissen wird. Doch die Stille, die beim Tod meiner Mutter die Welt erfüllte, war zart und hell, blieb kristallklar und unverbrüchlich bestehen.

Hier ist sie, für immer an meiner Seite, neben allen Geräuschen der Welt. Weder verschlingt sie die Geräusche, noch vermischen sich diese mit ihr.

3

Flickt die Mamme Federn,

Federn und Puch,

Sejdele – a Kissele

Von helln-roiten Tuch.

Dieses Lied konnte ich schon singen, bevor ich seinen Sinn verstand. Es erzählt von einer Mutter, die Federn und Daunen rupft, um ihrem Sohn ein Federkissen aus rosa Stoff zu machen.

Vermutlich haben viele Mütter ihren Kindern dieses Lied gesungen, und jede hat den Namen ihres Kindes eingesetzt. [9] ›Sejdele‹ war ich. Es war kein Beiname, den man mir angehängt hatte, sondern so heiße ich wirklich. ›Sejde‹, also ›Großvater‹, ist der Name, den meine Mutter mir bei meiner Geburt gab.

Schon jahrelang möchte ich ihn ändern, ohne es zu tun. Anfangs hatte ich nicht den Mut, dann fand ich nicht die Kräfte dazu, und zum Schluß gaben wir auf, mein Name und ich, und versöhnten uns miteinander.

Ich war ein paar Monate alt, als meine Mutter mir das Kissen nähte und das Lied sang, und dennoch meine ich, jene Nächte deutlich in Erinnerung zu haben. Herbstlich kalt waren sie im Rabinowitzschen Stall, und noch im Sommer war Mutter mit unserem Nachbarn Elieser Papisch, dem Gänsezüchter, handelseinig geworden und hatte zum Entgelt für die Federn seiner Gänse auch Kissen für ihn und seine Angehörigen genäht.

Elieser Papisch hieß bei uns übrigens ›Dorfpapisch‹, und zwar zur Unterscheidung von seinem reichen Bruder, der in Haifa einen Baumarkt besaß und daher ›Stadtpapisch‹ genannt wurde. Vielleicht werde ich später auch noch von ihm erzählen.

Ja also, ich heiße Sejde, Sejde Rabinowitz. Der Name meiner Mutter ist Judith, und im Dorf nannte man sie Rabinowitzes Judith. Ihre Hände dufteten angenehm nach Zitronenblättern, und immer trug sie ein blaues Kopftuch. Sie hörte auf dem linken Ohr schlecht und ärgerte sich, wenn jemand sie von dieser Seite ansprach.

Den Namen meines Vaters kennt kein Mensch. Auch ich kann darüber nur schweigen, denn drei Männer hielten mich für ihren Sohn.

Von Mosche Rabinowitz habe ich Hof, Stall und das blonde Haar geerbt.

Von Jakob Scheinfeld erbte ich ein hübsches Haus, schönes Geschirr, leere Kanarienvogelkäfige und die hängenden Schultern.

[10] Und vom Sojcher, das heißt dem Viehhändler Globermann, habe ich Knippele von Geld – Batzen von Geld – und die riesigen Füße.

Trotz dieses Wirrwarrs habe ich mehr unter meinem Namen als unter den Umständen meiner Geburt gelitten. Ich war nicht das einzige Kind im Dorf oder im Emek, das einem unbekannten Vater oder nicht seinem eigenen geboren worden war, aber im ganzen Land, ja vielleicht auf der ganzen Welt gab es kein weiteres Kind, das Sejde hieß. In der Schule wurde ich Metuschelach – kleiner Methusalem – oder Chetjar – Alter – gerufen, doch jedesmal, wenn ich mich dann zu Hause über meinen Namen beklagte und wissen wollte, warum man ihn mir gegeben hatte, erklärte mir meine Mutter einfach: »Wenn der Todesengel kommt und ein kleines Kind sieht, das Sejde heißt, merkt er sofort, daß hier ein Irrtum vorliegt, und geht woandershin.«

Notgedrungen redete ich mir ein, mein Name schütze mich vor dem Tod, und entwickelte mich zu einem Jungen, der keine Furcht kannte. Selbst die Urängste, die im Herzen eines jeden Menschen nisten, bevor er noch geboren ist, waren mir ausgetrieben.

Furchtlos streckte ich meine Hand nach Schlangen aus, die in den Ritzen des Hühnerstalles nisteten, und sie verfolgten mich mit neugierigen Halsbewegungen, ohne mir etwas zu tun.

Oft kletterte ich auf den Stall und rannte mit geschlossenen Augen das steile Ziegeldach hinunter.

Mein Herz hing daran, den Dorfhunden nahezukommen, die, ewig an der Kette, blutrünstig und rachsüchtig geworden waren, mir aber freundlich mit dem Schwanz zuwedelten und die Hand leckten.

Einmal, als ›Großvater‹ von acht Jahren, attackierte mich ein Krähenpaar, zu dessen Nest ich emporgeklettert war. Ein harter dunkler Schlag traf mich auf die Stirn, ich wurde schwindlig und lockerte meinen Griff am Ast. Schwindlig vor Lust am Fallen [11] stürzte ich weiter und weiter in die Tiefe. Kleine Äste umfingen mich sanft, bremsten meinen Fall, und ich landete wohlbehalten auf dem Polster des erwarteten Laubteppichs, weicher Erde und dem Aberglauben meiner Mutter.

Ich stand auf und lief nach Hause, wo Mutter mir meine Schrammen mit Jod bepinselte.

»Der Todesengel ist ein ordentlicher Typ. Er hat Kopierstift und Notizbuch und schreibt alles auf«, lachte sie, wie sie jedesmal lachte, wenn ich gerettet war, »aber auf den Engel-von-Schlaf, den Schlafengel, ist kein Verlaß. Der schreibt nie was auf und kann sich nichts merken. Manchmal kommt er, manchmal verpennt er’s.«

Immer ging der Todesengel an mir vorüber, und nur der Saum seines Gewandes streifte mir übers Gesicht. Doch einmal, im Herbst 1949, wenige Monate vor dem Tod meiner Mutter, sah ich ihn Auge in Auge.

Ich war damals zehn Jahre alt. Dorfpapischs riesige Stute war in Hitze, unser Hengst hörte ihr klagendes Wiehern und begann in seinem Pferch zu toben. Er war ein gutmütiger Rotbrauner. Mosche Rabinowitz, der alles so tat, »wie es sich gehört«, und sich daher gemeinhin nicht mehr als recht und üblich mit seinen Tieren anfreundete, verwöhnte ihn mit Streicheln und Johannisbrot, und einmal sah ich ihn sogar seinen Schweif mit blauen Schmuckbändern zu einem dicken goldenen Zopf flechten.

Entgegen allen Forderungen und Ratschlägen weigerte er sich auch, den Hengst zu kastrieren. »Das ist grausam«, sagte er, »reine Tierquälerei.«

Manchmal schlug sich der Hengst mit dem steifen Glied gegen den Bauch. Stundenlang tat er das, mit großer, verzweifelter Ausdauer. »Armer Kerl«, sagte dann Viehhändler Globermann, »die Eier hat man ihm gelassen, ein Weib gibt man ihm nicht, und Hände hat er keine – was soll er denn machen?«

[12] Jene Nacht setzte der Hengst über den Zaun und gesellte sich zu der Stute, und am Morgen gab Mosche mir das Halfter und schickte mich los, ihn zurückzuholen.

»Guck ihm geradewegs in die Augen«, sagte er, »und ruf ihm ›komm-komm-komm-komm‹. Aber wenn er mit den Augen rollt, leg dich nicht mit ihm an, hörst du, Sejde? Laß sofort von ihm ab, und ruf mich.«

Es war früh am Morgen. Das Muhen hungriger, ungeduldiger Kälber erfüllte die Luft. Ermahnungen der Bauern an ihre verträumten Milchkühe klangen auf. Dorfpapisch rannte schon schreiend und fluchend um den Pferch herum, aber das Paar schenkte nichts und niemandem Beachtung. Beider Augen waren vor Liebe vernebelt, ihre Lenden troffen, der Pferdegeruch hatte sich mit neuen Nuancen angereichert.

»Kommst du etwa den Hengst abholen?« rief Dorfpapisch. »Ist Rabinowitz denn auf den Kopf gefallen? Einen kleinen Jungen zu schicken?«

»Er melkt«, sagte ich.

»Er melkt?! Ich könnte jetzt auch melken!« Dorfpapisch schrie laut genug, um bis zu unserem Hof durchzudringen, damit Mosche es hören sollte.

Ich ging in den Pferch.

»Komm schnell da raus!« rief Dorfpapisch. »Das ist sehr gefährlich, wenn sie zusammen sind.«

Aber ich hob schon das Halfter hoch, flötete die Zauberworte: »Komm-komm-komm-komm…«, und der Hengst trottete heraus und ließ mich ihm sogar die Riemen über die Nase ziehen.

»Gleich wird er toben, Sejde«, rief Papisch, »laß ihn sofort los!«

Genau in dem Moment, in dem wir den Hof verließen, wieherte die Stute. Der Hengst blieb abrupt stehen und stieß mich zu Boden. Seine Augen liefen rot an und quollen hervor. Ein lautes Schnauben entrang sich ihm aus tiefster Brust.

[13] »Laß die Leine los, Sejde!« rief Dorfpapisch. »Laß los, und roll dich schnell zur Seite!«

Aber ich ließ nicht locker.

Der Hengst stieg auf die Hinterbeine, die Leine spannte sich, ich wurde in die Höhe geschleudert und rücklings zu Boden geworfen. Die Vorderhufe schlugen in die Luft, wirbelten die Erde neben mir auf, und durch die Staubwolke sah ich den Todesengel, das Notizbuch gezückt, die Augen auf mich geheftet.

»Wie heißt du?« fragte er mich.

»Sejde«, antwortete ich, ohne die Leine loszulassen.

Der Todesengel zuckte zurück wie von einer unsichtbaren Ohrfeige getroffen, leckte die Fingerspitze an und blätterte in seinem Notizbuch.

»Sejde?« schnauzte er. »Wie kann denn ein kleiner Junge Sejde heißen?«

Mein Körper wurde unsanft hin und her gerüttelt, die furchtbaren Hufe pfiffen neben mir wie die Messer, die Zirkuskünstler auf ihre mit geschlossenen Augen verharrenden Partnerinnen werfen, die Leine riß mir schier den Arm aus dem Schultergelenk, und meine Haut schürfte über den rauhen Erdboden, aber in meinem Herzen nisteten Ruhe und Sicherheit.

»Sejde«, wiederholte ich dem Todesengel, »ich heiße Sejde.«

Im gleißendweißen Licht sah ich ihn seinen Kopierstift anlecken, erneut in sein Notizbuch blicken und einsehen, daß hier ein Irrtum vorlag.

Er knirschte bedrohlich mit den Zähnen vor Ärger und machte sich wutschnaubend auf, um woandershin zu gehen.

Das gellende Wiehern und Dorfpapischs Geschrei brachten Mosche Rabinowitz auf den Plan. In schwerfälligem Lauf überwand er die zwanzig Meter zwischen den beiden Höfen, und was ich dann sah, werde ich nie vergessen.

Mit der linken Hand packte Rabinowitz das Halfter des Pferdes und zog es herab, bis ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren, [14] dann landete er mit der rechten Faust einen einzigen Hieb auf die weiße Blesse.

Der Hengst tat einen verblüfften Satz zurück, der Stolz seiner Männlichkeit sackte nieder wie abgehackt. Er senkte den Kopf, seine Augen wurden klar, und beschämten Schritts trottete er zu unserem Hof und in sein Gatter zurück.

Die ganze Affäre hatte kaum dreißig Sekunden gedauert. Aber als ich heil und gesund wieder aufstand, waren auch schon meine beiden anderen Väter zur Stelle: Jakob Scheinfeld lief aus seinem Haus herbei, und der Viehhändler Globermann, der Sojcher, fuhr mit seinem grünen Lieferwagen vor, schrammte, wie üblich, den großen Eukalyptus, sprang armwedelnd heraus und ließ seinen dröhnenden Baß erschallen.

Meine Mutter kam indes gelassen an, zog mir das Hemd aus, schüttelte den Staub ab, wusch und desinfizierte mir die Schrammen auf dem Rücken und sagte lachend: »Ein kleiner Junge, der Sejde heißt – dem kann nichts passieren.«

Kein Wunder also, daß ich im Lauf der Zeit Vertrauen in die Einsicht meiner Mutter und in die Kraft des Namens gewann, den  sie mir gegeben hatte. Daher befolge ich seither entsprechende Vorsichtsmaßnahmen. Einmal habe ich mit einer Frau zusammengelebt, aber sie ist mir nach mehrmonatiger Enthaltsamkeit bestürzt und verzweifelt weggelaufen.

»Ein Sohn bringt einen Enkel, und der Enkel bringt den Todesengel auf den Plan«, erklärte ich ihr.

Zuerst lachte sie, dann ärgerte sie sich, und zum Schluß ging sie. Wie ich hörte, hat sie einen anderen geheiratet und ist unfruchtbar. Aber ich kannte damals schon alle Finten und Ränke des Schicksals und mißtraute ihm von ganzem Herzen.

So hat mich mein Name gleichzeitig vor dem Tod und vor der Liebe bewahrt. Aber das hat nichts mit der Geschichte vom Leben und Tod meiner Mutter zu tun, und im Gegensatz zur [15] Wirklichkeit müssen Geschichten sich vor jeglichem Exkurs und Zusatz hüten.

Möglicherweise schwingt leichter Trübsinn in meinen Worten mit, in meinem Leben dagegen tritt er nicht hervor. Wie jeder Mensch habe auch ich meine traurigen Momente, doch die Annehmlichkeiten des Lebens sind mir nicht fremd, ich bin Herr meiner Zeit, und wie ich schon sagte, spendeten drei Väter mir von ihren Gütern.

Ich habe Knippele von Geld und einen alten grünen Lieferwagen vom Viehhändler Globermann geerbt.

Ich habe ein großes, schönes Haus in der Eichenstraße in Kiriat Tivon, geerbt von dem Kanarienvogelzüchter Jakob Scheinfeld.

Und ich habe Landbesitz im Dorf, den Rabinowitzschen Hof. Mosche Rabinowitz lebt noch dort, hat ihn aber bereits auf meinen Namen überschrieben. Er bewohnt sein altes Domizil mit Front zur Straße, ich sitze in dem hübschen kleinen Haus im Hof, das früher mal Stall gewesen ist. Bougainvilleen ringeln sich wie bunte Schläfenlocken an den Seiten nieder, Schwalben umschwirren sehnsüchtig seine Fenster, und leichter Milchduft weht noch immer aus den Mauerritzen.

In längst vergangenen Tagen gurrten dort Tauben und gaben Kühe Milch. Tau sammelte sich in den Kannendeckeln, goldener Staub tanzte. Einst wohnte dort eine Frau, lachte und träumte, arbeitete und weinte und brachte mich dort in ihre Welt.

Das ist eigentlich die ganze Geschichte. Oder wie Tatmenschen in ihrem widerwärtigen Brustton der Überzeugung zu sagen pflegen: »Das wär’s unterm Strich.« Und alles, was fortan darauf gehäuft wird, ist nichts als sinnloser Detailkram, zur Befriedigung jener heißhungrigen beiden Tierchen, der Neugier und der Lust, in alten Geheimnissen herumzustöbern, die in unser aller Seele nisten.

[16] 4

Anno 1952, eineinhalb Jahre nach ihrem Tod, lud Jakob Scheinfeld mich zur ersten Mahlzeit ein. Er kam in den Stall – mit hängenden Schultern, die Narbe auf der Stirn glänzte, die Akne der Einsamkeit schwärzte seine Runzeln.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sejde.« Er legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm bitte morgen zu mir zum Abendessen.« Sagte es, machte kehrt und ging.

Ich war damals genau zwölf Jahre alt, und Mosche Rabinowitz richtete mir eine Geburtstagsfeier aus.

»Wenn du ein Mädchen wärst, Sejde, würden wir jetzt deine Bat-Mizwa feiern«, sagte er lächelnd, und ich war überrascht, denn Rabinowitz redete sonst nicht mit ›wenn‹ und ›wäre‹.

Oded, Rabinowitzes älterer Sohn, der damals schon der Lastwagenfahrer des Dorfes war, schenkte mir eine silbrige Bulldogge von Mack Diesel. Naomi, Rabinowitzes Tochter, kam eigens aus Jerusalem und schenkte mir ein Buch mit dem Titel Der alte Silberfleck mit Zeichnungen von Krähen und den Notenzeilen ihrer Rufe. Sie hörte gar nicht wieder auf mit Küssen und Weinen und Umarmen und Streicheln, so daß mich Verlegenheit, Leidenschaft und Ehrfurcht auf einmal überkamen.

Dann tauchte der grüne Lieferwagen auf, schrammte wie gewöhnlich den mächtigen Eukalyptusstamm, dessen viele Narben schon von früheren Zusammenstößen zeugten, und spie einen weiteren Vater aus: den Viehhändler Globermann.

»Ein guter Vater vergißt keinen Geburtstag«, verkündete der Sojcher, der noch nie eine Elternpflicht versäumt hatte.

Er brachte ein paar erstklassige Rippenstücke mit, und mir überreichte er eine Summe Bargeld.

Globermann schenkte mir bei jeder Gelegenheit Geld. Zu Geburtstagen, an Feiertagen, zum Schluß jedes Schuljahrs, beim ersten Herbstregen, am kürzesten Wintertag und am längsten Tag [17] des Sommers. Sogar zu Mutters Todestag drückte er mir jedesmal ein paar Münzen in die Hand, was allseits Empörung und Abscheu erregte, aber niemanden überraschte, denn Globermann war im ganzen Emek als grober, geldgieriger Mann verschrien. Im Dorf erzählte man sich, fünf Minuten nachdem die Engländer die deutschen Templer aus dem nahen Waldheim ausgewiesen hätten, sei Globermann dort schon mit seinem Lieferwagen vorgefahren, um in die verlassenen Häuser einzubrechen und das zurückgebliebene Kristall und Porzellan zu plündern.

»Als wir mit Pferd und Wagen ankamen, war schon nichts mehr übrig«, berichteten die Erzähler wütend.

Einmal hörte ich Dorfpapisch in dieser Angelegenheit auf Globermann einschimpfen. Das Wort »Räuber« verstand ich, den Ausdruck »Eilebeute« erriet ich, aber den »Marodeur« kapierte ich nicht.

»Du hast gestohlen, hast Plünderei getrieben!« fauchte Dorfpapisch ihn an.

»Ich hab nicht gestohlen«, kicherte Globermann, »ich hab beigeschafft.«

»Beigeschafft? Was soll das denn heißen?«

»Einen Teil habe ich durch Zerren beigeschafft, einen Teil durch Schleppen, aber gestohlen habe ich gar nichts«, erklärte der Sojcher mit dröhnendem Lachen, das mir noch heute, viele Jahre nach seinem Tod, in den Ohren klingt.

»Ich erklär dir mal den Unterschied zwischen einem einfa-chen und einem Geldgeschenk«, sagte er jetzt laut, damit alle es hörten: »Überlegen, was man jemandem als Geschenk kaufen könnte, is a Loch in Kopp, aber jemandem Bargeld geben is a Loch in Herz, Punkt.«

Und als er meine Finger um die Münzen schloß, verkündete er: »So hat mich mein Vater gelehrt, und so lehre ich dich. Du  sollst wie einer werden, der selbst auf dem Klotz – dem Metzgerblock – geboren ist.«

[18] Danach zog er den Flachmann heraus, den er immer in der Rocktasche mitführte, und ich erkannte den Geruch des Grappa, den Mutter gern trank. Er goß viel Schnaps in seine Kehle und ein wenig ins Feuer, grillte die mitgebrachten Koteletts und sang lauthals in der für ihn typischen Mischung aus Hebräisch und Jiddisch:

»Sejdele ging in kurzen Hosen,

Für einen Grusch zu kaufn Aprikosen.

Oi Sejdele, was für schlimme Chosen,

Weg ist der Grusch und nix mit Aprikosen.

Mammale mit dem Stock,

Pappale mit dem Pflock

Werden Sejdele was geben auf ’en Rock.«

Mosche Rabinowitz indes, der älteste und stärkste meiner drei Väter, packte mich, warf mich für jedes Lebensjahr einmal in die Luft und fing mich jedesmal wieder mit seinen kurzen, dicken Armen auf. Und als Naomi rief: »Und noch einmal fürs nächste Jahr«, und ich zum dreizehnten Höhenflug ansetzte, sah ich eine Wolke schwirrender Flügel, die das Dorf zu bedecken drohten.

»Seht mal«, rief ich, »Stare im Sommer!«

Tatsächlich ähnelte die dunkle, wimmelnde Schwade einem Schwarm Stare, denen das Zeitgefühl abhanden gekommen war. Doch sogleich stellte sich heraus, daß ich dank Mosche Rabinowitzes starken Armschwüngen die Heuschrecken gesehen hatte, die in jenem Jahr, 1952, das Emek heimsuchten.

Mosches Gesicht verfinsterte sich. Naomi erschrak. Und Globermann sagte zum wer weiß wievielten Mal: »A Mensch tracht, un Gott lacht« – der Mensch macht Pläne, und Gott lacht.

Es waren keine fünf Minuten vergangen, als man jenseits der Hügel das dumpfe Fußtrappeln der arabischen Fellachen hörte, die aus ihren Häusern auf die Felder liefen, gerüstet mit [19] kreischenden Frauen, langen Stöcken und scheppernden leeren Petroleumkanistern, um den Feind zu vertreiben.

Globermann trank noch und noch Grappa aus seiner Flasche und gab Mosche noch und noch Fleisch, und am Abend, als alle Kinder mit Fackeln und Säcken, Spaten und Besen auf die Felder zogen, um die Heuschrecken zu töten, kam mein dritter Vater, nämlich Jakob Scheinfeld, legte mir die Hand auf die Schulter und lud mich zum Abendessen ein.

»Alle Geschenke sind nix wert. Geld geht aus, Kleidung zerreißt, Spielzeug zerbricht, aber ein gutes Essen bleibt im Gedächtnis haften, das heißt, es geht nicht verloren wie andere Geschenke. Aus dem Körper weicht es sehr schnell, aber aus dem Gedächtnis sehr langsam.«

So sagte Jakob, und auch seine Stimme war, wie die des Sojchers, laut genug, aller Ohren zu erreichen.

5

»Ein komischer Vogel«, hieß es von Jakob Scheinfeld im Dorf.

Er lebte allein, besaß ein kleines Haus, einen einstmals gepflegten Garten und ein paar leere Kanarienvogelkäfige, Nachlaß eines riesigen Schwarms, der bereits in alle Winde zerstoben war.

Seine Ländereien, auf denen einst Zitrusbäume und Reben, Gemüse und Futterpflanzen gediehen waren, hatte er längst dem genossenschaftlichen Ackerbauzweig des Dorfes verpachtet. Seine Brutmaschine war längst stillgelegt. Seine davongelaufene Frau hatte er längst vergessen.

Jakobs Frau hatte Rivka geheißen. Ich wußte, daß sie ihn wegen meiner Mutter verlassen hatte. Ich habe sie nie gesehen, aber alle sagten, sie sei die schönste aller Frauen im Dorf gewesen.

»Aller Frauen im Dorf? Aller Frauen im Emek!« korrigierte [20] Dorfpapisch. »Aller Frauen des Landes! Eine der schönsten Frauen der ganzen Welt und aller Zeiten!«

Dorfpapisch gehörte zu den glühenden Verehrern weiblicher Schönheit und hatte zu Hause wunderbare Kunstbände, in denen er mit frisch gewaschenen, zärtlichen Händen zu blättern pflegte, wobei er seufzte: »Schejner als die siebn Schtern – schöner als die sieben Sterne.«

Wie ein ferner, funkelnder Nebelfleck zeichnete sich Rivka in seiner Erinnerung und im Kollektivgedächtnis des Dorfes ab. Selbst heute – nachdem sie weggegangen ist, wieder geheiratet hat, im Alter zurückgekehrt ist und Jakob noch vor ihrem Tod zu sich zurückholen konnte – erzählt man hier weiterhin von ihr. Trifft eine hübsche Besucherin ein oder wird ein besonders niedliches kleines Mädchen geboren, zieht die Erinnerung auf der Stelle Vergleiche zu dem Abbild jener schönen Frau, die hier einst wohnte, betrogen wurde und wegging, um uns alle »in Häßlichkeit, Öde und schwarzer Erde suhlen zu lassen«.

Zwölf Jahre war ich alt, als ich auf anfangs verschwommene, dann schmerzlich klare Weise begriff, daß ich für Jakobs Unglück und Einsamkeit verantwortlich war. Ohne mich und meine Tat hätte meine Mutter seinem Werben und Flehen nachgegeben und ihn geheiratet.

Wie in einem Kästchen verbarg ich meinen drei Vätern die Geheimnisse, die sie und meine Mutter betrafen. Ich offenbarte ihnen nicht, warum Mutter so und nicht anders gehandelt, warum sie diesen und nicht jenen gewählt hatte. Ich sagte kein Wort davon, daß ich aus meiner durch Zweige und Gräser getarnten Spähkiste auch Menschen, nicht nur Krähen gesehen hatte.

Auch von dem Spott und Hohn, den ich in der Schule abbekam, erzählte ich ihnen nichts.

»Wie heißt du?« hatten lachend die kleinen Kinder gefragt.

»Wie heißt dein Vater?« stichelten die großen Kinder und [21] stellten lauthals Vermutungen an, wer von den dreien wohl mein richtiger Vater sein mochte.

Da sie vor Rabinowitz und Globermann Angst hatten, zogen sie über Jakob Scheinfeld her, der wegen seiner Einsamkeit und Trauer leicht angreifbar war. Außerdem besaß er eine merkwürdige Angewohnheit, die allgemein Mitleid und Verachtung erregte: Er saß an der Bushaltestelle an der Hauptstraße und sagte wie zu sich selbst oder an die verstaubten Kasuarinen, die vorbeifahrenden Autos oder vielleicht Besucher, die nur er sah, gerichtet: »Kommt herein, kommt herein, Freunde. Schön, daß ihr da seid, Freunde, kommt herein.«

Gelegentlich leuchtete sein Gesicht wie von innen her auf, und er erhob sich feierlich und sagte, als deklamiere er ein altes Motto: »Kommt herein, Freunde, kommt herein, wir feiern Hochzeit heute.«

Wenn Oded Rabinowitz mich im Milchtanker des Dorfes mitnahm, sahen wir ihn häufig dort sitzen.

»Schau dir bloß an, wie er aussieht«, sagte Oded, »wenn er ein Pferd wäre, hätte man ihm längst die Kugel geben müssen.«

Aber selbst Oded oder seiner Schwester Naomi verriet ich nicht, was ich Jakob als Kind angetan hatte.

Nachdem ich am nächsten Abend meine Schulaufgaben gemacht, Mosche beim Melken geholfen und mich gewaschen hatte, zog ich ein weißes Hemd an und ging zu Scheinfelds Haus hinüber.

Kaum hatte ich die kleine Pforte aufgemacht, war ich von herrlichen, fremden Essensdüften umgeben, die aus dem Haus drangen, jedoch nicht über die Hecke waberten, sondern im Hofbereich blieben.

Jakob öffnete die Haustür, und als er sein »kommt herein, kommt herein« sagte, schwollen die Gerüche an und legten sich mir um Hals und Fesseln, trugen mich förmlich vom Hof ins Haus hinein und ließen mir vor Erregung den Mund wäßrig werden.

[22] »Was hast du da gekocht, Jakob?« fragte ich.

»Gutes Essen«, sagte er, »ein Geschenk für dich auf dem Teller.«

Jakobs Geschenke kamen nicht häufig und in aller Öffentlichkeit wie die des Sojchers, waren aber interessanter. Zu meiner Geburt schenkte er mir einen schönen, gelben Kanarienvogel aus Holz, der dann über meiner Wiege baumelte. Als ich drei Jahre alt wurde, faltete er mir gelbe Papierschiffchen, die wir im Wadi gemeinsam schwimmen ließen. Zum achten Geburtstag bereitete er mir eine große Überraschung, die mir viel Freude machte: Er hatte für mich eine große Spähkiste gebaut, sie zur Tarnung scheckig bemalt und mit Guck- und Luftlöchern, zwei Griffen und einem Räderpaar versehen.

»Von dieser Kiste aus kannst du deine Krähen beobachten, ohne daß sie es merken«, erklärte er mir, »aber nutze sie nicht dazu aus, Menschen zu beobachten. Das wäre sehr unschön.«

Im Innern der Spähkiste hatte Jakob Halterungen für Papier und Bleistifte angebracht und Platz für eine Wasserflasche geschaffen.

»Auch Stecklöcher für Zweige und Blätter hast du hier, Sejde, damit die Krähen nicht etwa was merken und davonfliegen«, sagte er. »Bei mir sitzen die Kanarienvögel im Käfig, und ich bin draußen, und bei dir sitzt du im Käfig, und die Krähen sind draußen.«

»Sie fliegen nicht vor mir davon«, sagte ich, »sie kennen mich schon, und ich kenn sie auch.«

»Krähen sind haargenau wie Menschen«, sagte Jakob lächelnd, »sie fliegen dir nicht davon, aber sie spielen dir Theater vor. Wenn du dich in der Kiste versteckst, benehmen sie sich wie normale Vögel.«

Am nächsten Tag bat ich Globermann, mich samt Kiste auf seinem Lieferwagen zum Eukalyptuswäldchen mitzunehmen.

Der Wald lag am östlichen Rand, hinter dem Ackerland des [23] Dorfes, und danach kam der Schlachthof. Dicht und dunkel war das Gehölz, und nur ein Weg führte hindurch, der Pfad, auf dem der Sojcher das Vieh seinem Schicksal zuführte.

In den hohen Wipfeln nisteten Krähen, und zu dieser Jahreszeit konnte man bereits ihre Sprößlinge sehen, die, fast so groß wie die Eltern, mit den Flugstunden begannen. Die alten Krähen führten ihnen allerlei Übungen vor, während die Jungen, die im ersten Jahr noch leicht an den spärlichen, zerzausten Federn zu erkennen waren, gruppenweise auf den Zweigen saßen. Hin und wieder rutschte eine vom Ast, flatterte erschrocken in der Luft, fing sich wieder und kehrte an ihren Platz zurück, wobei sie ihren Zweignachbarn stupste, so daß der ebenfalls fiel und flatterte.

Ich saß in der Kiste, sah alles, und die Krähen spürten mich nicht. Als Globermann mich am Abend wieder abholte, waren meine Glieder steif, aber das Herz war weit und froh.

Jakob ließ mich am Küchentisch Platz nehmen, einem großen, glatten Tisch, auf dem weiße Teller wie Vollmonde schimmerten, flankiert von funkelndem Silberbesteck.

»Zu Ehren deines Geburtstags«, sagte er.

Seine Augen verfolgten meinen Gesichtsausdruck beim Essen, und ich konnte und wollte meinen Genuß nicht verhehlen.

Mit zwölf Jahren wußte ich schon, was ich gern aß und was ich nicht ausstehen konnte, aber ich hatte nicht geahnt, daß Essen einen derart tiefen, intensiven Genuß bereiten kann. Nicht nur Zunge und Gaumen, auch Kehle, Därme und Fingerspitzen ließen winzige Geschmacksknospen sprießen. Der Duft kitzelte meine Nase, Speichel erfüllte meinen Mund, und obwohl ich noch ein Kind war, wußte ich, daß ich nie und nimmer diese Mahlzeit vergessen würde, die ich da aß.

Sonderbarerweise begleitete eine zarte Trauer meinen Genuß, nagte am Glück, am Wohlgeschmack und Duft, die meinen Leib erfüllten.

[24] Ich dachte an die einfachen Mahlzeiten mit meinem andern Vater, Mosche Rabinowitz, der sich im allgemeinen mit dem Kochen von Kartoffeln, harten Eiern und Hühnersuppe begnügte, wobei er letztere in einem derartigen Tempo zubereitete, daß man hätte meinen können, er wollte sichergehen, daß das von ihm bereits eigenhändig geköpfte, gerupfte und zerteilte Huhn nicht etwa wieder zum Leben erwache.

Er ist ein Mann fester Regeln und Gewohnheiten. Damals wie heute spricht er nicht beim Essen. Er kaut seine Nahrung sehr sorgfältig, schiebt sie im Mund von einer Seite auf die andere, und wenn seine Hand erneut etwas auf die Gabel häuft, weiß ich, daß er nach sechs weiteren Kaubewegungen schlucken wird.

Nur er und ich sind noch im Haus verblieben. Mutter ist längst tot, Naomi hat geheiratet und lebt in Jerusalem, Oded hat das Dorf nicht verlassen, wohnt aber in einem andern Haus. Damals wie heute sitzen wir allein zusammen, Mosche und ich, und essen schweigend. Nach dem Essen trinkt er ein paar Gläser glühendheißen Tee, eins nach dem anderen, und ich spüle das Geschirr und räume die Küche auf, genau wie Mutter es einst getan hat.

Sobald ich fertig bin, sage ich »gute Nacht, Mosche«, denn keinen meiner drei Väter habe ich je »Vater« genannt, und gehe zu dem kleinen Haus im Hof hinüber, in dem ich mich allein niederlege, in mein Bett, das heißt eigentlich ihr Bett, in ihrem Stall, der mein Haus geworden ist.

6

Jakob setzte sich nicht zu mir an den Tisch. Er umsorgte mich, bewirtete mich, guckte mir beim Essen zu, redete ununterbrochen, und wenn in seinem Mund mal eine Pause zwischen zwei Worten entstand, stopfte er einen Bissen von dem Rührei hinein, das er für sich gebraten hatte.

[25] Ich befürchtete, er würde mir von meiner Mutter erzählen, denn viele Leute im Dorf verspürten das Bedürfnis, mir von ihr zu berichten oder mich nach ihr zu fragen, aber Jakob erzählte mir wieder eine Geschichte, von der ich manches schon kannte: über seine Kindheit in der Ukraine, seine Liebe zu Vögeln, den Fluß, in dem junge Mädchen ihre Kleider wuschen und junge Burschen unterdessen Papierschiffchen schwimmen ließen, deren Falze Worte der Liebe bargen.

»Korablik ljubwi«, sagte er, »ein Schiffchen der Liebe.«

Der Fluß hieß Kodima, ein Name, der mich sehr amüsierte, weil er mich an Dorfpapischs Anfeuerungsrufe – »kodima« statt kadima (vorwärts) – bei Reitwettbewerben zwischen unserer Jugend und der des Nachbardorfs erinnerte. Ich brach in schallendes Gelächter aus, und auch Jakob schmunzelte.

»Ich war damals ein kleiner Junge, noch kleiner als du, Sejde, und der Kodima-Fluß war für mich so groß wie ein Meer. Kinderaugen vergrößern, das habe ich mal von Bialik gehört. Er war hier im Dorf zu einem Vortrag, und so hat er gesagt: ›Die Schweizer Alpen sind wirklich hoch, aber nicht so hoch wie der Misthaufen, den wir auf dem Hof meines Großvaters im Dorf hatten, als ich fünf Jahre alt war.‹ Das hat Bialik zwar in viel schönerem Hebräisch gesagt, aber ich hab nicht Bialiks Wortschatz und kann nicht so reden wie er.«

Große Ahornbäume wuchsen an den Ufern des Kodima-Flusses. Im Schatten ihrer Zweige schwammen die Enten mit glänzend grünen Köpfen. Im dichten Ried säuselte der Wind, und die Bauern sagten, er wiederhole die Seufzer der Ertrunkenen.

An der Biegung des Flusses ragte ein mächtiger schwarzer Schieferfelsen auf, und eine Trauerweide neigte sich darüber. Hier kauerten die jungen Wäscherinnen, die Knie gegen das dunkle Gestein gedrückt, die Hände vom eisigen Wasser gerötet und die Nasen vor Kälte triefend. Jakob hatte sich hinter den grünen[26] den Zweigen am Ufer versteckt und sie beobachtet. Er war damals noch ein kleiner Junge, und von seinem Schlupfwinkel aus betrachtet, schienen ihm die jungen Mädchen durch das Spiel des Wassers in einem goldgrünen Meer ohne Klippen zu schwimmen.

Paarweise lösten sich die Störche vom Himmel und landeten auf ihren alten Schornsteinen und Nestern. Sie neigten die Hälse zurück, vollführten ihre Hüpftänze des Werbens und der Treue, zum Zeichen, daß ein weiteres Jahr vergangen, ihre Liebe aber unverbrüchlich bestehen geblieben war. Sie klapperten mit den roten Schnäbeln, brachten einander Frühlingsgaben dar, und ihre Beine erröteten vor Lust.

»Denn die Liebe ist die gleiche, bei den häßlichen Störchen genau wie bei meinen schönen Kanarienvögeln.«

Der Frühlingswind spielte mit den Röcken der Wäscherinnen, glättete und bauschte den Stoff auf ihren Schenkeln, und die Sonnenstrahlen zeichneten bläuliche Aderschatten auf die wringenden Hände. Das Licht, so hell und zart wie Porzellan, malte das Bild, das Jakob überraschend feierlich »das ewige Bild der Liebe« nannte.

»Ein kleiner Junge, der schöne Frauen beobachtet, will nicht das, was ein Erwachsener möchte«, erklärte er mir. »Du bist ja selbst noch ein Kind, Sejde, aber bald wirst du ein Jüngling sein, da mußt du all diese Dinge wissen. Nicht die Zitzkes und den Tuches – die Brüste und den Hintern – will der Junge, er will viel mehr. Nicht die Schönheit dieser oder jener begehrt er, sondern die Schönheit der ganzen Welt. Die Sterne vom Himmel sammeln möchte er, die ganze Erde und das ganze Leben und das große Meer umarmen. Und eine Frau kann nicht immer all diese Dinge geben. Einmal hatte ich hier einen Arbeiter auf dem Hof, dem ich all das erzählte, was ich dir jetzt erzähle. Da hat er mir erwidert: ›Es gibt vielleicht nur sechs Frauen auf der ganzen Welt, die diese Dinge geben können, Scheinfeld.‹ Aber Kinder wissen das noch [27] nicht, und Erwachsene kommen nicht mehr darauf. Erinnerst du dich an den dicken Arbeiter, den ich hier mal hatte?«

Das Liebesklappern der Störche erschallte laut, wie Punkte und Kommata, die ein verborgener Grammatiker in das Lachen der Wäscherinnen setzte. Flußaufwärts versammelten sich die ledigen Burschen zum Versenden der Liebesbriefe. Einer nach dem andern schrieben sie, was sie schreiben wollten, und falteten das Papier.

»Guck mal, Sejde, so haben sie es gefaltet.« Jakob zog einen gelben Bogen Papier aus einer Schublade. »So und so… und jetzt so… nun umdrehen und auseinanderziehen, hier und hier, und noch einmal so, und mit dem Fingernagel glattstreichen, da hast du’s – ein Korablik.« Damit überreichte er mir ein hübsches, akurates Papierschiffchen, wie ein Vater es für seinen kleinen Sohn faltet.

Manchmal steckte ein ganzer Brief im Korablik, mal nur das Bild eines durchbohrten Herzens, bluttriefende Zweiglein oder ungelenke, schmachtende Zeichnungen mit Haus, Baum, Kuh und Kind.

Die Burschen setzten die Papierschiffchen aufs Wasser und ließen sie in seinem Strom treiben. Rund zweihundert Schritte lagen zwischen ihnen und den Wäscherinnen, viele Schiffchen sogen Wasser und lösten sich auf, andere kenterten und versanken oder wurden ans Ufer gedrängt und blieben im Schilfdickicht hängen. Die wenigen, die ankamen, wurden von den Mädchen geschnappt, die derart erpicht darauf waren, daß sie einander gut und gern die Augen ausgehackt hätten, um ein Korablik ljubwi zu ergattern.

»Ein Liebesschiffchen«, erklärte Jakob erneut.

Keiner der Briefschreiber unterzeichnete seinen Brief, denn alle wußten, daß das Schicksal, das das dürftige Schiffchen vor den wütenden Fluten gerettet, es der Auserkorenen zugeführt und ihr die Hände im Kampf mit den Gefährtinnen gestärkt [28] hatte, ihr auch mitteilen würde, wer der ihr bestimmte Absender war.

Die Geschichte hatte die trockenen Falten der Enttäuschung auf seinem Gesicht geglättet und sein Kinn zum Beben gebracht.

Erst Jahre später begriff ich, daß er mich auf diese Weise testen, aufklären, öffnen wollte, und vielleicht wollte er sich auch für eine Sünde entschuldigen, die nicht er begangen hatte, für eine Schuld, die nicht er trug und von der er nicht ahnte, daß es meine war.

»Vielleicht trinkst du jetzt ein bißchen Maschke – einen Branntwein – mit mir, was, Sejde?«

Auch er betonte das Wort Maschke auf der ersten Silbe, wie meine Mutter, Globermann und Mosche Rabinowitz.

»Mosche wäre böse«, sagte ich, »ich bin ja erst zwölf.«

»Erstens bin auch ich dein Vater, Sejde, nicht nur Rabinowitz. Und zweitens werden wir’s ihm ganz einfach nicht erzählen.«

Er holte zwei Gläser aus dem Küchenschrank. So dünnwandig und durchsichtig waren sie, daß ich ihre runde Form erst erkannte, als der Kognak eingeschenkt war. Selbst heute, da sie schon mein sind und bei mir im Schrank stehen, habe ich Angst, sie anzufassen.

Ich trank ein wenig und nieste. Meine Schultern erschauerten, mir wurde heiß in den Knochen.

»Ist das gut?«

»Das brennt furchtbar«, stöhnte ich.

»Deine Mutter hat sehr gern was getrunken«, sagte Jakob, »sie trank starken Likör aus Granatäpfeln und auch Kognak, und noch lieber als Kognak mochte sie Grappa. Das ist ein italienischer Schnaps. Globermann brachte ihr manchmal eine Flasche, und einmal in der Woche tranken sie gemeinsam, er schob ihr kleine Pralinen in den Mund und erzählte ihr eine kleine Geschichte. Sie konnten mehr als eine halbe Flasche so zusammen leeren und dann aufstehen und an die Arbeit gehen wie nichts. So wahr ich hier sitze. Eine halbe Flasche mitten am Tag ist nicht [29] sehr viel, aber auch nicht gerade wenig. Am Anfang hat sie ihn gehaßt wie den Tod, den Sojcher. Wenn sie ihm auf der Straße oder auf dem Feld begegnete, hätte sie ihm die Augen auskratzen mögen, aber durch die Trinkerei wurden sie Freunde für einen Tag in der Woche. Du mußt wissen, Sejde, es braucht keine großen Dinge, um Freunde zu sein, auch fürs Hassen genügen sehr kleine Gründe, und sogar für die Liebe.«

Jakobs Stimme brach einen Moment: »Hier im Dorf fragten alle, warum ich mich in sie verliebt hätte, fragten es hinter meinem Rücken und auch offen heraus: Warum hast du dich in Rabinowitzes Judith verliebt, Scheinfeld? Wie konntest du bloß deine Rivka gehen lassen, Scheinfeld?«

Diese Dinge sagte er wie als Antwort auf eine Frage, die ich gar nicht gestellt hatte, weder laut noch im stillen.

»Das ist doch genau das, was ich dir vor einer Minute gesagt habe, Sejde, es braucht keine großen Gründe, um eine Frau zu lieben, und die Größe der Liebe hängt niemals von der Größe des Grundes ab. Manchmal genügt ein einziges Wort, das sie sagt, manchmal nur ihre Taillenlinie, die einem Mohnblumenstengel gleicht. Manchmal, wie ihre Lippen aussehen, wenn sie schewa oder schmone sagt. Schau her, bei der Zahl schewa, sieben, setzen die Lippen wie zu einem Kuß an, dann sieht man sie einen Moment die Zähne für den Buchstaben ›Wet‹ berühren, und danach öffnet sich der Mund ein wenig… so… sche-wa. Siehst du? Bei der Zahl schmone, acht, schließt der Buchstabe ›Mem‹ die Lippen, und die Zungenspitze guckt für den Buchstaben ›Nun‹ hervor, sch-mo-ne…«

Er heftete den Blick auf mich, als wolle er sehen, ob ich verstanden hatte, was er meinte.

»Um das zu verstehen, habe ich Stunden vor dem Spiegel verbracht. Ich habe dagestanden und mir all diese Zahlen ganz langsam vorgesprochen und mir dabei angeguckt, wie jede einzelne Zahl auf dem Mund aussieht, und einmal habe ich sie sogar [30] gefragt, sag mal, Judith, wieviel ist drei und vier, bloß um das schewa auf ihrem Mund zu sehen, aber sie hat mich sicher für verrückt gehalten. Und manchmal, Sejde, daß du’s weißt, manchmal können allein die Augenbrauen einer Frau einen Mann fürs ganze Leben bei der Stange halten.«

Er schenkte sich noch einen kleinen Kognak ein, schloß die Flasche und stellte sie in den Schrank zurück. »Du kriegst heute nichts mehr, Sejde. Das war jetzt nur zum Probieren, für die Erinnerung später mal. Ich bewahr dir diese Flasche auf, soll sie hier liegen und gemeinsam mit mir auf unsere nächste Mahlzeit warten. Für Kognak ist das Warten gut; und die Gläser, das Geschirr und all das hier bekommst du von mir, wenn ich mal tot bin. Und unterdessen sieh du nur zu, daß du weiter wächst, spielst und den Krähen nachrennst, und wir drei, Rabinowitz, Globermann und ich, sorgen inzwischen dafür, daß du eine schöne Kindheit hast, denn was hat ein Junge schon außer der Kindheit? Kraft hat er nicht, Verstand hat er nicht, und eine Frau hat er auch noch nicht. Nur Liebe hat er, die ihm Leib und Leben ruiniert.«

7

Jakob spülte die beiden Gläser, trocknete sie behutsam ab und hielt sie prüfend gegen das Licht, um zu sehen, ob sie klar waren.

»Auch ich habe immer eine Schwäche für Vögel gehabt«, sagte er, »und auch mir ist meine Mutter gestorben, als ich noch ein Kind war, aber ich, Sejde, ich hab keine Kindheit gehabt. Mein Vater hat eine andere Frau geheiratet, und die hat mich sofort zu ihrem Bruder, meinem Stiefonkel, abgeschoben, der eine Werkstatt in der Großstadt hatte, weit weg von zu Hause und vom Dorf. Sie meinte: Er soll lieber einen Beruf lernen, statt sich am Fluß bei den Wäscherinnen herumzutreiben. Und bei ihrem Bruder in der Werkstatt habe ich wie ein Knecht von morgens bis in [31] die Nacht hinein geschuftet. Seine Kinder gingen in die Schule und trugen hübsche Kleider mit den Knöpfen des Gymnasiums daran, aber ich habe kaum lesen und schreiben gelernt, und mein Hebräisch ist bis heute so holprig, daß ich mich schon die ganzen Jahre über schäme, bei Dorfversammlungen zu sprechen. Manchmal hab ich absichtlich ein schönes Wort in meine Rede eingeflochten, um sie ein bißchen zu schmücken, und dann haben alle gelacht. Einmal habe ich anochi statt ani für ›ich‹ gesagt, und da hat Dorfpapisch vor allen erklärt: ›Dein anochi, Scheinfeld, zusammen mit deiner sonstigen Sprache – das ist wie eine Perle auf dem Misthaufen.‹ Er selbst stinkt vom Dung seiner Gänse, und bei mir sagt er ›Mist‹. Als er hier mit seinem Karren voller Abfalltonnen vom Gefangenenlager vorbeigekommen ist, um seinen Gänsen Essen zu bringen, sind die Vögel tot vom Himmel gefallen vor lauter Gestank, und mir sagt er ›Mist‹. Damals, als Kind, waren die Vögel mein einziger Trost. Denn wozu sind die Vögel schließlich erschaffen, wenn nicht als Trost für die Menschen? Hat der Gott der Juden denn irgendein Interesse daran, daß Tiere am Himmel fliegen? Gibt es auf der Erde nicht genug Platz? Dort auf dem Hof des Onkels waren armselige Spatzen. Morgens sah ich sie genauso frieren wie ich, wie kleine graue Kugeln, mit aufgeplusterten Federn vor lauter Kälte, auch sie mit einem kleinen schwarzen Käppchen auf dem Kopf und auch sie ohne einen Funken Verstand im Schädel. Deswegen sagt man doch von einem Dummkopf, er hätte ein Spatzengehirn; aber wer fliegen kann – was braucht der Verstand? Solche Spatzen, die sehen so grau aus, aber während der Herr Spatz noch seine Jungen füttert, bändelt die Frau Spatz doch tatsächlich vor seinen Augen schon mit einem neuen Kavalier an. Hast du das gewußt, Sejde? Da hab ich mir den Kanten Brot, den sie mir gaben, so in den Mund gesteckt und hab mich im Hof mit dem Rücken auf den Boden gelegt, guck, so, Sejde, und dann sind die Spatzen gekommen und haben sich mir hier aufs Kinn und auf die Stirn [32] Schmendrik!Tate, Tate, kumm aher un nehm mich a heim.