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Christian Schünemann

Daily Soap

Ein Fall
für den Frisör

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2011

im Diogenes Verlag

Umschlagfoto: Jérôme Ducrot

Copyright © Condé Nast Archive/

Corbis/Dukas

 

 

Für die Freunde guter Seife

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24052 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60404 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Tina Schmale starrte geradeaus in ihre eigenen Augen und versuchte, sich im Spiegelbild ihr neues Aussehen vorzustellen. Mit den Händen umklammerte sie dabei die Armlehnen, erschrocken über ihre eigenen Worte.

Ich wickelte mir ihr kräftiges Haar um den Handrücken und versteckte den Knoten in ihrem Nacken. Zum Vorschein kamen das Oval von Tinas Gesicht und ein Schimmer in ihren Augen. Ich war mir nicht sicher, ob es der Ausdruck von Trauer und Schmerz über den bevorstehenden Verlust war oder die Neugier auf das Leben danach. »Warum sollte ich das tun?«, fragte ich.

Tina drückte sich mit der flachen Hand gegen die Nasenspitze, eine Angewohnheit, die – glaubt meine Farbstylistin Bea – »Ausdruck eines sexuellen Verlangens« ist oder ein Zeichen dafür, »dass sie einen Parasiten in sich trägt«. Das war natürlich Quatsch. Tina litt an Heuschnupfen, und das ging jetzt im Februar schon wieder los.

Sie sagte: »Kein Typ. Nicht, was du denkst. Ich habe einen neuen Job.«

Ich ließ das Haar los, so dass es wie ein duftender Vorhang über ihren Rücken fiel. Wie viele Jahre hatten wir es lang und länger gezüchtet? Im Stehen reichte es ihr bis zum Po. Wir hatten es immer geliebt. Und jetzt hieß es plötzlich: [6] »Zu viel Gewicht. Zu viel zu schleppen. Es belastet mich. Kannst du das nicht verstehen?«

Ich war mir nicht sicher, ob Tina ihren Entschluss wirklich ernst meinte oder ob es eine Laune war, die so schnell verfliegen würde wie die Hoffnung, dass mit der ersten Krokusblüte der Frühling kommt. Nach ein paar Stunden Sonne tobte seit heute Mittag ein sibirischer Schneesturm durch die Hans-Sachs-Straße und verwandelte die Welt in eine weiße Hölle. Keine Ahnung, ob Aljoschas Maschine bei diesem Wetter überhaupt landen konnte. Heute Abend ohne ihn – ich wollte jetzt nicht schwarzmalen.

»Schau mal«, sagte ich, »du kannst es jederzeit hochstecken, wenn es dich stört. Das sieht dann ungefähr so aus.« Tina als Dame, vielleicht zur Abwechslung mal auf Absätzen statt immer in diesen Turnschuhen. Aber klar, dieses Styling würde sie jeden Morgen ein paar Minuten kosten – zu viel für Tina und all die anderen Frauen. Morgens muss es fix gehen. Keine Zeit für die Schönheit.

Tina drehte den Kopf, betrachtete sich seitlich, die Mundwinkel nach unten verzogen, aber von dem, was sie sagte, verstand ich kein Wort. Aus den Lautsprechern dröhnte mein geliebter Russenrock, aus dem Föhn die heiße Luft, mit der Dennis, mein Topstylist, zwei Positionen von mir entfernt das Resthaar seiner Kundin für meinen Geschmack viel zu sehr aufbauschte. Aber die Dame mochte, was Dennis mit ihr veranstaltete, und lächelte verliebt in ihr Spiegelbild. Kitty servierte Kräutertee und schlenderte zum Telefon, das hinter der Theke seine eigene Melodie sang. »Tomas Prinz für Haare – was kann ich für Sie tun?« Den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, blätterte sie [7] in der Hängevorrichtung mit den Termintafeln. »Sofort? Ausgeschlossen. Übernächste Woche kann ich Ihnen anbieten… Nein. Herr Prinz selbst nimmt keine neuen Kunden.«

Tina schnitt kleine Grimassen, Härchen auf dem Näschen. Ich nahm die weiche Bürste und fragte: »Dein neuer Job – um was geht’s da eigentlich?«

»So ist das Leben.«

»Wie?«

»›SidL‹.«

»Ach so, die Fernsehserie. Hab ich früher regelmäßig geguckt. Meine Mutter schaut es immer noch jeden Abend. 19.30 Uhr ist ›SidL‹-Zeit. Versuch mal, sie dann anzurufen. Sie ist total süchtig. – Und wieso bist du jetzt bei dem Verein gelandet?«

»Das ging alles ganz schnell«, sagte Tina. »Anfang Januar kam der Anruf aus dem Headquarter in Berlin, ob ich Producerin von ›So ist das Leben‹ werden will. Ich dachte, ich dreh durch. ›SidL‹, der Klassiker! Vor zwanzig Jahren, als die Serie anfing, war ich vierzehn.«

»Und ich – mein Gott. Da war ich noch bei Sassoon in London und hätte im Traum nicht daran gedacht, dass ich einmal hier, in München, in der Hans-Sachs-Straße einen Salon aufmachen würde.«

»Ich bin jetzt Chefin von einer ganzen Produktion. 180 Leute – Schauspieler, Regisseure, Kostümbildner, Techniker, Kameraleute, und ich sage denen, wo es langgeht.«

Angenehm kühl fühlte sich Tinas Haar an, als es mir durch die Finger glitt. Ich überlegte, was möglich ist. Natürlich, man könnte alles unterschneiden. Den Nacken, die Seiten – alles in sich kurz. Ein radikaler Neuanfang.

[8] »Und jetzt noch das Jubiläum«, sagte Tina. »Folge 5000 steht an, wir ziehen eine riesige Pressekampagne auf. ›SidL‹ wird wieder überall Thema sein. Aber das ist auch nötig. Die Einschaltquoten sind zum Heulen. Die jungen Zuschauer gucken ›SidL‹ nicht mehr, die ticken heute anders. Und ich soll da jetzt ein Wunder vollbringen. Alles neu machen und trotzdem nichts verändern. Das ist jedenfalls mein Eindruck nach den ersten beiden Wochen.«

Das Deckhaar wollte ich auf jeden Fall länger lassen, damit wir damit noch etwas anstellen konnten.

»Und darum renne ich in der Produktion den ganzen Tag von einem zum anderen und sage: Hey, aufwachen! Wenn wir nicht ab sofort besser werden, schmeißt der Sender ›SidL‹ aus dem Programm. Dies hier ist unsere letzte Chance! – Die Kollegen in der Ausstattung, zum Beispiel, hassen mich vermutlich jetzt schon.«

Unordnung machen. Chaos stiften. Ich dachte an Anarchie, Patchwork und Parkas, Öko und Punk. Kein Retrochic, nein, eine ganz neue Interpretation. Langsam bekam auch ich Spaß an der Vorstellung.

Unsere Augen trafen sich im Spiegel. »Du bleibst also dabei?«, fragte ich. »Alles ab?«

Es war mehr ein Augenschließen als ein Nicken. Wenn Tina etwas beschlossen hatte, dann galt das.

»Aber da ist eine Sache«, sagte Tina und verfolgte jede meiner Bewegungen. »Gleich an meinem ersten Tag kam diese furchtbare Nachricht.«

Ich hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und nahm die Schere. In diesem Moment verstummte der Föhn von Dennis, und die silberne Scheibe im [9] CD-Player hörte auf, sich zu drehen. In der Stille schnitt ich ab, und Tina sagte: »Die Nachricht, dass ein Kollege tot ist.«

»Sehr schön!«, lobte die Kundin links von uns Dennis’ Werk.

Tinas Haar, abgetrennt, ungefähr fünfzig Zentimeter lang und zwei Pfund schwer, fiel in die Tüte, die Kitty bereithielt. Manchmal wird ein großer Verlust klein, wenn er von einem anderen Ereignis überschattet wird.

»Tot?«, fragte ich. »Welcher Kollege?«

Die Musik dudelte wieder, und Tina sagte: »Ein Schauspieler. Er war seit der ersten Folge dabei. Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst, schon ein bisschen älter, Johannes Beyerle heißt er.«

»Wann ist das passiert?«

»Vergangene Woche, stand doch groß in der Zeitung. Man hat ihn bei der Großhesseloher Brücke aus der Isar gefischt. Mein Vorgänger hatte ihn aus der Serie geschrieben und den Fernsehtod sterben lassen. ›Frischen Wind‹ hat er es genannt. Aber nach so vielen Jahren bei ›SidL‹ hast du als Schauspieler natürlich eine ›SidL‹-Fresse‹ und bekommst nirgendwo mehr eine neue Rolle. Aus. Mit sechsundfünfzig auf der Straße.«

Ich suchte nach Tinas Scheitel.

»Und seitdem sind die Einschaltquoten erst richtig in den Keller gegangen. Beyerles Gesicht fehlt einfach. Die Zuschauer vermissen ihn. Ich wollte die Entscheidung rückgängig machen und hatte mit unseren Autoren schon die passende Geschichte entwickelt. Sie liegt fertig in der Schublade. Beyerle steht von den Toten auf und kommt zurück – diese Maßnahme stand ganz oben auf meinem Zettel.«

[10] Ich nahm den großen Kamm – mit dem komme ich besser durchs trockene Haar –, kämmte alles aus dem Gesicht und klemmte eine Partie zwischen Zeige- und Mittelfinger.

»Er muss meine Nachricht verpasst haben. Ich bin so doof: Warum quassele ich ihm auch auf den AB? Warum bin ich nicht einfach direkt hin zu ihm? Hier, bitte schön, ist der Vertrag, unterschreiben, danke, das war’s. Die Sache wäre geritzt gewesen und alle zufrieden. Stattdessen springt der Mann. Es ist wirklich eine Tragödie.«

Büschel für Büschel fiel auf den Umhang und glitt zu Boden. »Hat die Polizei den Fall untersucht?«

»Wieso?«

»Es ist nur…« Indem ich die Haare auf die richtige Länge brachte, schuf ich eine glatte, kompakte Linie. »Vergiss es. Ich sehe Gespenster.«

»Und ich stehe vor einem Scherbenhaufen. Eine Stimmung herrscht bei uns in Unterföhring: zum Aus-dem-Fenster-Springen.«

Ich achtete darauf, genügend Stützhaare zurückzubehalten. Ich suchte Fransen und Kanten. Ich schnitt Ecken hinein. »Du musst irgendwie für einen Befreiungsschlag sorgen«, murmelte ich. »Neu durchstarten.«

»Ich brauche dringend einen neuen Hauptdarsteller oder eine neue Hauptdarstellerin. Jemanden, der Erfahrung hat, der mit seiner Aura und seinem Können die Geschichten zusammenhält. Am liebsten ein Gesicht, das bekannt ist, mit dem die Leute etwas verbinden. Ein Gesicht, das Quote bringt.«

Ich wechselte zur Modellierschere, nur so ein Gefühl, und überarbeitete von hinten. Ich dünnte noch einmal richtig aus.

[11] Tina rieb sich wieder die Nase. »Aber wer von den Stars in Deutschland gibt sich schon für eine Daily Soap her? Wir sind ja schließlich nicht in den USA, wo mal eben ein George Clooney um die Ecke kommt. Oder eine Jennifer Aniston.«

Ich zog mit leichter Hand runde Bahnen zum Wirbel, steckte die Partie fest und schnitt den Rest auf zwei Zentimeter, als ich sah, wie ein Taxi vorfuhr. Der Fahrer eilte im Schneegestöber um den Wagen herum und riss die hintere Tür auf. Ich beugte mich etwas zur Seite, um besser hinaussehen zu können. Doch schon Aljoscha? Dieses Gefühl von Glück ist immer zuerst so eine kleine Drehung im Bauch.

Die Dame, die ausstieg, trug Kopftuch und huschte über den Gehweg, als wäre sie auf der Flucht vor den Paparazzi. Aber es waren ja nur Schneeflocken, die sich von allen Seiten auf sie stürzten. Als sie in den Salon trat, stampfte sie bei jedem Schritt mit den nassen Stiefeln auf, blieb am Tresen stehen und schaute auf Kitty herab, die da nur halb geschützt auf ihrem Hocker saß.

»Ich habe angerufen«, sagte die Fremde in einem Ton, der eigentlich meinte: Du weißt genau, Süße, wir hatten bereits das Vergnügen.

Kittys Gesichtsausdruck erinnerte nur ganz entfernt an ein Lächeln. Das hier war kein Spaß.

»Ich brauche einen Termin. Beim Chef. Jetzt.«

Etwas an dieser Frau war mir unheimlich vertraut. Klar, von meinen Münchner Kundinnen sind viele ähnlich… wie soll ich sagen: selbstbewusst. Und alles so gestrafft, die Schichten von Make-up schwer zu durchdringen.

[12] »Mein Name ist Auerbach«, sagte die Frau.

Natürlich! Ich legte die Schere zur Seite. »Charlotte!«, rief ich.

»Tommy!«

»Wie viele Jahre? Vier? Fünf?« Küsschen links. »Santa Monica, der Clairmont-Event! Ich erinnere mich genau. Dein Auftritt bei der Show, du warst hinreißend.«

»Tommy, you are so sweet! Dein Styling war ja auch« – Küsschen rechts – »ein Geschenk.«

Ihr Kopftuch verrutschte, ein merkwürdiges Blond kam zum Vorschein. Ich fragte: »Was treibt dich im Februar aus der kalifornischen Sonne zu uns nach München?« Ein ausgelaugtes, billiges Beach-Blond. Ich half ihr aus dem Mantel, während sie sich das Tuch vom Kopf zog.

Der Anblick brachte mich aus der Fassung: Das Haar war verfilzt, mit Chemie malträtiert und kaputtgemacht. Derart überdehnt und ohne Spannkraft ist das Haar ohne Leben, fühlt sich im trockenen Zustand an wie Stroh, im nassen wie Gummi. Zu allem Überfluss baumelten in diesem Gestrüpp auch noch Extensions, diese scheußlichen künstlichen Haarverlängerungen, mindestens drei Zentimeter herausgewachsen und kurz davor, abzufallen. »Mein Gott, Charlotte«, entfuhr es mir, »was ist denn passiert?«

Tränen hatte sie in den Augen. »Meine Mutter.« Zwinkernd schaute sie zur Decke, herrje, die Wimperntusche. »Vor zwei Tagen kam die Nachricht: Wasser in den Lungen. Weißt du, wie das ist? Ein Gefühl, als ob du ganz langsam ertrinkst. Ich bin sofort in den nächsten Flieger und hierher. Aber es war zu spät.«

Ich nahm Charlotte in den Arm. »Mein Beileid. Das tut [13] mir sehr leid.« Noch so eine Nachricht. Und ich wollte heute noch feiern.

Charlotte wedelte mit den Händen, um Tränen und Trauer zu verscheuchen. Nein, ihre Gesichtszüge waren immer noch schön, ihre grünen Augen vielleicht noch ausdrucksstärker als früher. Dieses Leuchten war schon vor dreißig Jahren ihr großes Kapital gewesen, als sie als Teenie-Star durch die TV-Komödien und Hitparaden hüpfte.

Als hätte sie – ganz wie früher – den Schalter wiedergefunden, sagte sie jetzt vergnügt: »Und wo ich schon hier bin, nach so vielen Jahren wieder daheim in München, dachte ich: Ruf doch mal bei Tommy an.«

»Gute Idee«, sagte ich. Mit diesen Haaren, das war klar, würde ich sie nicht mehr auf die Straße lassen. »In einer halben Stunde bin ich bei dir. Kitty, bringst du Charlotte bitte einen Kaffee? Oder lieber einen Kräutertee?« Ich fuhr herum.

In ihrem schwarzen Umhang stand Tina hinter uns, noch nicht perfekt gestylt, aber die Idee war bereits deutlich zu erkennen. Sie gab Charlotte die Hand und sagte sanft: »Guten Tag, Frau Auerbach. Ich bin ein großer Fan von Ihnen. Schon immer. Tina Schmale ist mein Name.«

Charlotte lächelte, wie man lächelt, wenn man noch keine Ahnung hat, dass man bereits dazu auserkoren ist, ein Problem zu lösen. Und auch ich muss zugeben, dass mir die Bedeutung dieser Begegnung damals noch nicht klar war. Wie auch? Bei mir im Salon prallen ständig Leute aufeinander, wie zuletzt die verwitwete Unternehmerin und der blutjunge Tierpfleger, der in ihrem Schlafzimmer plötzlich seine Katzenhaarallergie entdeckt hat und jetzt umschult. Alles [14] schicksalhaft. Die frischgebackene Producerin und die ein wenig gealterte Schauspielerin betrachteten einander im Rauschen der Föhne und stellten im sanften Schein der Downlights eiskalt ihre Berechnungen an, ob sie einander irgendwie nützen könnten.

»Tina«, sagte ich, »wir machen dir eine neue Farbe. So, wie es jetzt ist, mit diesem kastanienbraunen Schimmer, das ist mir zu…« Mir fiel das Wort nicht ein. Zwei Augenpaare schauten mich an und wurden durch das Hochziehen der Brauen nur noch größer. Irgendwie musste ich den Satz zu Ende bringen. Ich sagte: »…seicht. Das ist mir einfach zu seicht.«

Zwei Stunden später drehte ich von innen zweimal den Schlüssel im Schloss herum. Im Licht der Straßenlaterne glitzerten die Schneehauben auf den geparkten Autos. Der Sturm hatte sich gelegt. Weißer Friede herrschte. Tina Schmale und Charlotte Auerbach, zwei schöne Frauen, hielten da draußen immer noch aneinander fest, als könnten sie sich nicht trennen. Bei beiden hatte ich massiv eingegriffen und dabei ihre Unterschiede noch stärker herausgearbeitet. Tina hatte ich zum Schluss noch Strong-hold ins feuchte Haar massiert, um den Punk in ihr stärker hervorzuheben. Charlotte dagegen hatte ich damenhaft weich frisiert.

Schalter für Schalter brach die Dunkelheit über den Salon herein, hinten, im Färbebereich, im Flur, bei den Waschbecken und hier vorne, über Spiegel und Theke. Ich tauchte unter der Garderobenstange hindurch, die mit den Umhängen die Seitentür zum Treppenhaus verbirgt. Ich wusste, was mich oben in meiner Wohnung erwartete: Čechovs [15] Erzählungen auf dem Nachtschrank und Aljoschas weiche Stimme auf dem Band mit einer Erklärung, welcher vertrackte Umstand ihn nun wieder in Moskau aufgehalten hatte. Start- und Landeschwierigkeiten gehörten von Anfang an zu unserer Beziehung. Nichts gegen Čechov, aber schließlich habe auch ich nur einmal im Jahr Geburtstag.

Siebzig Treppenstufen mit glatten Ledersohlen auf diesem Kokosteppich, da muss man bei jedem Schritt aufpassen. Vor meiner Wohnungstür war es nass, als hätte einer der Nachbarn hier seinen Schirm ausgeschüttelt.

Ohne im Esszimmer Licht zu machen, schmiss ich die Schlüssel auf den Tisch und meine Schuhe durch den Raum. Ich hatte Glückwünsche bekommen, Blumen und Torte. Und Ruhe ist schließlich auch ein Geschenk. Ich schaute auf die Uhr.

Halb acht. Ich könnte tatsächlich mal wieder reinschalten und gucken, was bei ›So ist das Leben‹ los war und was aus den Leuten geworden ist. Aber etwas irritierte mich. Die Flügeltüren zum Wohnzimmer stehen sonst immer offen.

Ich stand auf Socken, als johlend das Feuerwerk losging, Wunderkerzen, ungefähr ein Dutzend. Nein, es war kein Traum. Jeder der funkensprühenden Stengel beleuchtete ein lachendes Gesicht. Das von Kim, zum Beispiel, die mit ihrem Organ deutlich die Stimmchen von Theadora und Lissy, Eva und Vera übertönte, all die Bewunderinnen meiner Kunst, die mit übereinandergeschlagenen Beinen dasaßen und ein schräges Geburtstagsständchen anstimmten. Im Halbdunkel suchte ich nach meiner Hauptperson.

Konstantin und Hugo hockten da, Sascha und Micha – vertraute Gesichter mit Knautschzonen und Knitterfalten – [16] und mein Schwager Christopher, alleine, wie nett, er war auch ohne Regula gekommen. Und Jeremy strahlte um die Wette mit den weißen Zähnen seines Portugiesen. Zu viel Glanz in meinem Wohnzimmer.

In dem Sessel nahe bei der Tür versuchte Mutter standhaft zu lächeln, aber die große Handtasche, griffbereit auf dem Boden, verriet, dass ihr Urteil, ob sie sich hier wohl oder unwohl fühlen sollte, noch nicht gefällt war. Bea und Kitty standen hinter ihrer Lehne und würden sich im Notfall um sie kümmern. Der Champagnerkorken knallte, als ich die Hand auf meiner Schulter spürte.

Sein Gesicht war überschüttet mit frischen Sommersprossen, eine gehörige Portion, die er sich bei seinem Aufenthalt auf der Krim eingefangen haben musste. Aber der Rest – Wangen, Kinn und die schöne Partie oberhalb des Schwungs seiner Lippen – war bedeckt von glattem, fein gestutztem Haar. Aljoscha trug Bart. Aber das Kopfhaar war noch immer irgendwie zur Seite gekämmt, und das sah einfach unglaublich lässig aus.

»Alles okay?«, fragte er.

Nach dem Kuss hatte ich den Eindruck, dass jemand den Dimmer vom Kronleuchter hochgedreht hatte. Und ganz still war es plötzlich. Ich stand da wie ein Dirigent, nur dass die Mitglieder meines Orchesters keine Instrumente, sondern abgebrannte Stäbchen in den Händen hielten. Was sollte ich sagen? Vierundvierzig war ich heute geworden und mein Plan, mit Aljoscha alleine zu feiern, im Eimer. Ich umarmte und umarmte. Jemand drehte die Musik auf.

Kitty und Kim bearbeiteten mit ihren Spinatstechern das Parkett. Mein Schwager Christopher saß, geographisch [17] gesehen, etwas unglücklich zwischen den gutfrisierten Luxusweibern, die sich von Bea die Sterne deuten ließen. In champagnergeschwängerter Atmosphäre sagte sie die Ankunft nicht nur glücklicher Momente voraus.

Auf der anderen Seite ging es ruhiger zu. Mutter erzählte meinen Freunden von ihrer letzten Reise nach Guadeloupe und von Monsieur, ihrer Romanze, der im Moment wieder in Nizza auf sie wartete. Mutter hatte von den Langstreckenflügen langsam genug. »Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man einem rastlosen Mann hinterherreist«, sagte sie.

Mutter gondelte durch die Weltgeschichte, während meine Schwester Regula neuerdings nach Zürich pendelte, um sich, dienstags bis donnerstags, in die Geschäfte einzuarbeiten. Bis zum Sommer wollte sie entscheiden, ob sie die Leitung der Firma selber übernehmen oder einem Geschäftsführer den Vortritt lassen sollte.

Ein merkwürdiger Gedanke, dass meine Schwester mit ihrer Familie München verlassen und nach Zürich ziehen könnte. Auch die Kinder würden mir fehlen. Wer machte da heute Abend eigentlich den Babysitter?

Mutter kramte aufgeräumt in ihrer Handtasche und fragte: »Geht einer der Herren morgen früh zum Schwimmen?« Sie sog am Zigarillo, den Jeremy ihr charmant in Brand setzte.

»Avec plaisir«, sagte er. »Ins Müllersche Volksbad?«

Der Portugiese, der allen zu Füßen saß, hielt eisern den Aschenbecher unter Mutters Zigarillo. Mutter pustete ihm mit dem Rauch den nächsten Satz ins Gesicht: »Meine Herren, wer redet hier von Volksbad? Wenn ich schwimmen [18] gehe, dann in der Isar.« Und weil das noch nicht reichte: »Was sind Sie eigentlich für Mannsbilder?«

Jeremy polierte die Fingerabdrücke von seinem Feuerzeug, Konstantin drehte verwundert das leere Champagnerglas in der Hand.

Mutter war der lebende Beweis dafür, dass es Siebzigjährige im Twinset mit Perlenkette gab, die an einem See nicht nur wohnten, sondern bei Wind und Wetter auch ihre Bahnen darin zogen. Aber hier, bei uns, in der Isar?

Christopher und ich schauten uns an. Ich war mir sicher: Mutter kokettierte. Christopher jedoch zuckte die Schultern. Er hielt alles für möglich.

»Madame«, sagte der Portugiese und streckte träge seine Glieder. »Wenn Sie gestatten: Ich bin dabei.«

Ich ging in die Kammer hinter der Küche. Agnes bewahrt hier die alten Zeitungen auf.

Die Isar. Ich rechnete. Anfang Februar war Tina Producerin geworden und hatte dem Schauspieler Beyerle auf den AB gesprochen. Einen Tag später wird der Mann tot aus dem Wasser gefischt. Warum hatte er nicht Tinas Nachricht abgehört? Warum sprang er so überstürzt von der Brücke? Warum lagen die Zeitungen hier alle durcheinander?

Zwei Arme umschlangen mich von hinten, Härchen mit vertrautem Muster. Aljoscha flüsterte: »Eine Party ist immer dann gut, wenn niemand merkt, dass der Gastgeber verschwunden ist.«

»Ich suche eine Meldung. Muss in den letzten Tagen im Lokalteil erschienen sein.«

»Lokalteil?«, nuschelte Aljoscha.

Vielleicht war es bloß Zufall, dass wir rückwärts [19] taumelten, die Tür ins Schloss fiel und Aljoscha mit dem Schulterblatt gegen den Kippschalter stieß, der das Licht löschte.

Möglicherweise waren wir länger in dieser Kammer gewesen, als es mir zunächst vorkam. Ich verstand zuerst gar nicht, warum es im Flur plötzlich auch so hektisch zuging. Jeremy lief auf und ab und schrie ins Telefon: »Hausnummer, welche Hausnummer?«

Statt zu antworten, hielt Bea sich die Hand vor den Mund.

»Zehn«, antwortete ich. »Warum?«

Die Wohnungstür stand offen.

Auf halber Treppe lag unbeweglich Kittys schmaler Körper, ihr Kopf im Schoß von Christopher, ihre Augen halb geschlossen. Diese verdammten Ledersohlen. In einer Art Dreisprung war ich bei ihr.

Nein, tot war sie nicht.

[20] 2

Von einem Abschied in aller Stille konnte keine Rede sein. Ob die Menschen, die sich da quetschten und drängelten, alles Verwandte und Freunde waren oder ob sich auch Schaulustige unter die Menge gemischt hatten, war schwer zu sagen. Charlotte Auerbach befand sich mittendrin, aber einen halben Schritt hinter ihrem Vater, der gebeugt ging, ohne hinfällig zu wirken. Man musste schon sehr genau hinschauen, um im Gedrängel zu erkennen, wer von beiden wen stützte. Vielleicht war es so, dass Vater und Tochter sich gegenseitig Halt gaben und einander zeigten: Ich bin da. Du bist nicht allein. Wir stehen das hier gemeinsam durch. Mit Kopftuch und Sonnenbrille war Charlotte auf Zurückhaltung bedacht und tat alles, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass sie die Beerdigung der Mutter zur Bühne für ihren eigenen Auftritt machte. Ihre noble Haltung war vierfarbig auf das Hochglanzpapier einer Doppelseite gedruckt und millionenfach für eine Leserschaft vervielfältigt, die neugierig der Frage nachspürte: »Versöhnung nach dreißig Jahren?« Die Schlagzeile darunter, etwas kleiner: »Charlotte Auerbach steht in schwerer Stunde zu ihrem Vater.«

»Hollywoodreif, die Szene«, sagte ich.

»Perfekt inszeniert«, meinte Bea.

[21] Aljoscha beugte sich über die Zeitschrift und fragte: »Wer, bitte, ist diese Frau, und wen interessiert es, ob sie sich mit ihrem Vater versöhnt?«

Ich vergaß einfach immer wieder: Aljoscha stammte aus einer ganz anderen Welt. Hinter dem Eisernen Vorhang hatte er eben nicht im Pyjama vor dem Fernseher gesessen und die Filme mit Charlotte Auerbach gesehen, war nicht in den Diskotheken zu ihren Liedern gehüpft und hatte gegrölt: »Die Bakterien haben Ferien« oder: »Klappstühle für die Klapsmühle.« Mein Gott, was hatte er alles verpasst! Bei uns wollte eine ganze Teenie-Generation aussehen wie Charlotte. Auch ich hatte damals versucht, Regulas Haar mit klebrigem Spray so hinzustylen, dass es aussah, als ob der Wind es in eine Richtung gepustet hätte, ohne das Nest darin zu zerstören. Wir kopierten ihren merkwürdig schleppenden Tanzschritt und imitierten diesen Kiekser in ihrer Stimme. Für die meisten Jungs war sie das erste Sexsymbol, in der Vorstellung vieler Mädchen die beste Freundin, für die Eltern das Wunschkind. Charlotte war »Charly«, lustig, frech und – harmlos.

Aljoscha sagte: »Ich hätte sie gehasst.«

Charlotte muss es irgendwann ähnlich gegangen sein. Jeder Pups nur in Abstimmung mit dem Management. Ein Leben wie in einem Korsett, das jede Entwicklung, jedes Wachstum und damit auch jede ungeplante Blüte verhinderte. Bis das Angebot aus Hollywood kam.

Ein Aufschrei ging damals durch die Republik. Mit ihrem Entschluss, den Sprung über den großen Teich zu wagen, polarisierte Charlotte das ganze Land. Für die einen war sie die Heldin, die erwachsen wurde, ihren Weg ging [22] und der Welt endlich ein neues Deutschlandbild vermitteln könnte. Für die anderen war sie eine Verräterin, die ihre Fans und alle im Stich ließ, denen sie ihren Erfolg zu verdanken hatte, allen voran ihren Vater, der auch ihr Manager war. Zwischen ihm und seiner Tochter kam es zum Bruch. Dass die beiden jemals wieder so einträchtig nebeneinanderstehen würden wie jetzt am Grab der Ehefrau und Mutter, war damals nicht vorstellbar. Ich erinnerte mich noch an die Schlagzeile, die damals für Aufruhr sorgte, ein echtes »Charly«-Zitat: »Ich scheiß auf euch!« Und bald danach: »Ich bin Amerikanerin!« Auch wenn sie in den Folgejahren weniger mit ihren Filmen als mit ihren Affären und Abtreibungen von sich reden machte, hatte sie eines geschafft: Aus der »lustigen Charly« wurde irgendwann »die Auerbach«.

Bea schaute mit diesem unbestimmten Ausdruck durch mich hindurch und sagte: »Als Löwe will Charlotte die Welt gestalten, und zwar nach ihren ganz eigenen Vorstellungen. Dabei überschätzt sie allerdings schnell mal ihre Fähigkeiten. Die Würde wird dann zur Pose, die aristokratische Haltung zum Hochmut. Darum ist ihr Glück nie beständig.« Bea lehnte sich zurück. »Ich müsste wissen, was ihr Aszendent ist. Schütze?«

Aljoscha blätterte und fragte: »Tomas, wo sind jetzt eigentlich deine Styling-Tipps?«

»Weiter hinten, Schatz. Bei den Beauty-News.«

Dass Charlotte Auerbach zwei Tage nach ihrem Styling schon wieder bei mir auf der Matte stehen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte andere Sorgen.

Mich beschäftigte die Frage, wie ich Kitty am Empfang [23] ersetzen könnte. Da war zum Beispiel Florentine, seit Anfang Januar die Neue bei mir im Salon. Ihre Kollegen nannten sie bereits »Flo«, aber ich war davon noch weit entfernt. Mir war sie bisher vor allem durch die Lautstärke aufgefallen, mit der sie eine Reihe unnötiger Fragen durch den Salon krakeelte: »Warum ist bei uns der Kaffee so schlecht? Warum sind die Handtücher so ausgefranst?« Und jetzt: »Was macht die Tüte eigentlich hier beim Sofa?«

»Tüte? Keine Ahnung. Stell sie halt weg.«

Plötzlich kam es mir vor, als ob sich eine dunkle Wand vor den Salon schob. Ich schaute hinaus.

Ein riesiger Geländewagen hielt da in zweiter Reihe, eines dieser allradgetriebenen Monster, wie sie meine Kundinnen aus Grünwald als Zweitwagen benutzen, zum Beispiel für Fahrten zum Frisör.

Das getönte Seitenfenster fuhr herunter und machte die Sicht frei auf den Kopf von Charlotte Auerbach. Sie winkte. Ich winkte zurück und hängte die Termintafeln weg. Wollte sie vor ihrer Abreise nach L.A. noch mal einen Termin? Ich kann leider nicht von den Lippen ablesen.

Normalerweise hätte Kitty jetzt unter dem Tresen nach ihren Pumps geangelt, wäre raus auf die Straße und zu Charlotte ans Auto. Ach, Kitty. Wie oft hatte ich schon gepredigt: Passt mit den glatten Ledersohlen auf den steilen Stufen mit dem Kokosteppich auf.

Für zwei Küsschen mit rosafarbenem Lippenstift streckte ich mich durchs Fenster über den Beifahrersitz, und ich gestehe: Ich war fast ein wenig überwältigt. Was für eine Schinderei war es vorgestern gewesen, mit der Zange all die Schweißnähte dieser Extensions aufzubrechen und mit Öl [24] die Plastikrückstände aus dem Haar zu ziehen. Aber es hatte sich gelohnt. Mit dem schweren Pony, dem gestuften Nacken und den graduierten Seiten hatte ich nicht nur eine Fülle kreiert, die problemlos alle Narben von allen kleinen und großen Liftings zudeckte, sondern Charlotte auch so etwas wie Klasse zurückgegeben. Auch Bea hatte mit der Farbe ganze Arbeit geleistet: Strawberry-Blond, Level zehn, mit dem Aufheller Sunrise und dem Mattierer Violet-red – perfekt.

»Ich muss etwas mit dir besprechen«, sagte Charlotte. »Hast du kurz Zeit?«

»Worum geht’s denn?«

»Um meinen Kopf. Du hast wieder mal ein mittelgroßes Wunder vollbracht! Darum habe ich gesagt: Nur Tommy, sonst niemand.«

»Lieb von dir. Wenn du wieder in L.A. bist, gehst du zu Bob-Hermann. Sag ihm schöne Grüße. Die Adresse gebe ich dir.«

»Tommy, ich muss etwas mit dir besprechen. Zehn Minuten, okay?« Ein Hupen. Das Müllauto näherte sich scheppernd, und schräg gegenüber parkte schon seit dem Morgen ein Umzugswagen. Charlotte gab Gas.

Zehn Minuten für die Besprechung oder um einen Parkplatz zu finden? Letzteres ist im Glockenbachviertel jedenfalls nicht möglich.

Im Salon fühlte ich durch das Haar von Frau Weber und ordnete an, den Pony dieses Mal etwas länger zu lassen. Der Fall ist dann einfach schöner. »Wenn Charlotte kommt«, sagte ich, »schickt sie bitte runter zu mir ins Büro.«

Ich telefonierte mit meinem Steuerberater. Ich schaute die [25] Post durch, aber ich war nicht bei der Sache. Oben war Aljoscha wahrscheinlich schon dabei, die Kascha anzusetzen, die russische Buchweizengrütze, die jeden Tag dicker wird und die ich, solange er da war, jeden Morgen mit einem gelben Klacks Butter und dem Großmutter-Argument vorgesetzt bekäme, dass der graue Brei die Widerstandskräfte stärkt – gegen welche Krankheit auch immer. Ich musste zugeben, ich empfand eine gewisse Vorfreude auf dieses Zeug. Es bedeutete: Aljoscha ist da! Trotzdem würde ich gleich mal eine große Portion für Kitty abzweigen und sie ihr ins Krankenhaus mitbringen, weg ist weg.

Als ich beschloss, kurz ins Internet zu gehen, hörte ich Charlotte auf der Treppe. Ich öffnete ihr die Tür.

Wie in der Eröffnungsszene einer Boulevardkomödie warf sie eine riesige Handtasche und einen riesigen Pelz von sich und rief: »Wusstest du eigentlich, dass mein Daddy bei deiner Schwester den Babysitter macht? Mein Daddy – Babysitter! Das musst du dir mal vorstellen!«